Volume 1, No. 2, Art. 19 – Juni 2000

Kritische Psychologie: Methodik vom Standpunkt des Subjekts

Morus Markard

Zusammenfassung: Kritisch-psychologische Methodik, fundiert im kategorial begründeten Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik, hat sich in der Realisierung der Einheit von Erkennen und Verändern und in der emanzipatorischen Relevanz der empirischen Resultate zu erweisen. Angesichts der Persistenz und Systematik kapitalistischer Produktion von Ungleichheit ist die situationsenthobene Abstraktheit quantitativ orientierter Psychologie nicht durch die Auflösung gesellschaftlicher Struktur in ein Sammelsurium von pseudokonkreten Situationen zu überwinden. An den methodischen Konzepten der Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse und der Entwicklungsfigur wird gezeigt, wie der Zusammenhang gesellschaftlicher und individueller Reproduktion und Entwicklung konkret-psychologisch fassbar und verallgemeinerbar gemacht werden soll. Dazu ist erforderlich, Theorien nicht als Bedingungs-Ereignis-Relationen, also im kontrollwissenschaftlichen Bedingtheitsdiskurs, sondern als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge, also im subjektwissenschaftlichen Begründungsdiskurs, zu formulieren. Gegenstand einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts sind nicht die Subjekte, die nämlich selber auf der Forschungsseite stehen; Gegenstand ist vielmehr die Welt, wie die Subjekte sie erfahren.

Keywords: Kritische Psychologie, Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse, Entwicklungsfigur, Prämissen-Gründe-Zusammenhänge, Datenfunktion, Datenmodalität, Relevanz der Psychologie, Handlungsforschung, Begründungsdiskurs

Inhaltsverzeichnis

1. Kategoriale Voraussetzungen: Das Relevanzproblem oder der Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik

2. Das Verhältnis von historisch-empirischer und aktual-empirischer Forschung

3. Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz und das Subjektivitäts-Objektivitäts-Problem

4. Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse

5. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge statt Bedingungs-Ereignis-Relation

6. Forschung vom Standpunkt des Subjekts

7. Einheit von Erkennen und Veränderung: Entwicklungsfigur

7.1 Datenanalyse: Datenfunktion und -modalität

7.2 Mitforscherprinzip

8. Subjektivität, Geltung, Verallgemeinerung

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Kategoriale Voraussetzungen: Das Relevanzproblem oder der Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik

Die Spezifik kritisch-psychologischer Methodik ergibt sich weder aus den Eigenarten der dafür in Frage kommenden Einzelmethoden (wie Interview, Gruppendiskussion, [teilnehmende] Beobachtung) noch aus ansatz-übergreifenden methodischen Orientierungen ("qualitativ" vs. "quantitativ"), sondern aus der Entwicklung der begrifflich-theoretischen und methodologischen Voraussetzungen psychologischer Forschung vom Standpunkt des Subjekts, wie sie für die Kritische Psychologie konstitutiv wurden1). [1]

Da "kritische Psychologie" und vor allem das englische Etikett Critical Psychology mittlerweile für alles stehen können, was nicht experimentell-statistisch orientiert ist: vom Sozialen Konstruktionismus über Diskurstheorie bis zur psychoanalytisch orientierten Gruppentherapie, ist zu spezifizieren, was mit Kritischer Psychologie gemeint ist. Wesentlich für die hier (re)präsentierte – marxistisch orientierte – Kritische Psychologie ist der Anspruch, fundamentale Psychologie- und Gesellschaftskritik zu verbinden bzw. im Begreifen des Zusammenhangs von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung emanzipatorische Psychologie als Subjektwissenschaft zu entwickeln (vgl. FRIED et al. 1998). [2]

Dies begann mit der Kritik der Funktion der Psychologie: In der Tat gibt es (nach wie vor) ja so gut wie keinen Problembereich der Gesellschaft, an dessen Entwicklung oder Reproduktion Psychologinnen und Psychologen – methodisch so reflektiert wie ansatzübergreifend – nicht beteiligt wären: Sie betreuen Bomberpiloten in Angriffskriegen, sie versuchen ihnen anvertraute Minderjährige mit Erziehungsstrategien zu übertölpeln, sie waren an der Optimierung von Folter ebenso beteiligt wie daran, ökonomisch-soziale Problemen zu personal-psychologischen umzuformulieren: wenn etwa aus zwei Zimmern für eine fünfköpfige Familie deren mangelnde Frustrationstoleranz oder aus der Kombination von Armut und der "Karstadt"-Werbung "aufgepasst – zugefasst" der psychologisch zu behandelnde minderjährige Ladendieb wird. Indes: Es gibt nicht nur Psychologen, die sich an der Reproduktion gesellschaftlicher Fehlentwicklungen beteiligen, sondern auch andere, die versuchen, gerade dies herauszuarbeiten, die versuchen, gegen rassistische Entwicklungen zu arbeiten und etwa herauszufinden, warum in der S-Bahn einem drangsalierten Schwarzen niemand hilft. [3]

In diesem Widerspruch zwischen Anpassung und Emanzipation ging und geht es um die sog. Relevanz der Psychologie. HOLZKAMP (1972) beschäftigte sich mit dem Problem derart, dass er gesellschaftlich-politische und fachlich-methodische Aspekte verband. Das heißt, er fasste Relevanz weder allein unter politischen Aspekten noch bloß als Problem experimental-methodologisch erzwungener Reduktion der Komplexität und Vielfalt alltäglicher menschlicher Aktivitäten und gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge auf einige davon isolierte Variablen. Vielmehr unterschied er – unter Bezug auf HABERMAS – zwischen "technischer" und "emanzipatorischer Relevanz". Zu Klärung der Bedeutung "technischer Relevanz" muss man sich auf das variablenpsychologische Experiment beziehen, das unter der Kontrolle der Forscher/Vl die Wirkung der von diesen hergestellten Bedingungen auf Erleben und Verhalten der Vpn fassbar machen soll. Was damit – günstigstenfalls, also bei interner und ggf. externer Validität – erfasst werden kann, ist, wie Menschen sich unter fremdgesetzten, von ihnen unbeeinflussbaren Bedingungen verhalten. "Technische" Relevanz meint eben diese – potenzielle – Bedeutung psychologischer Resultate für außerexperimentelle Lebensverhältnisse, bei denen davon abstrahiert wird, dass Menschen nicht nur unter Bedingungen leben, sondern ihre Lebensbedingungen auch schaffen und verändern. Mit "emanzipatorischer Relevanz" soll demgegenüber in psychologischen Konzepten und methodischen Anordnungen der Doppelbestimmung menschlicher Existenz – objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung – Rechnung getragen werden, als Voraussetzung dafür, eine gegenüber problematischen, d.h., subjektive Bestimmung einschränkenden, gesellschaftlichen Verhältnissen praktisch eingreifende Psychologie entwickeln zu können. [4]

Zweierlei wurde schnell deutlich, erstens, dass diese Einschränkungen mit der kapitalistischen Struktur 'unserer' Gesellschaft verbunden sind, und zweitens, dass die Perspektive einer emanzipatorischen Psychologie kaum ohne die Perspektive materieller Verhältnisse formuliert werden kann, in denen der Mensch – mit dem kategorischen Imperativ von MARX (1972, S.385) gesprochen – nicht mehr "ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen" ist, anders formuliert, Verhältnisse, worin real "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (MARX & ENGELS 1969b, S.482), ein Standpunkt, der einschließt, gegenläufige Verhältnisse "umzuwerfen" (ebd.), nicht bloß – typisch 'psychologisch' – umzuinterpretieren oder wegzudiskutieren. Denn die bloße "Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer anderen Interpretation nur anzuerkennen" (MARX & ENGELS 1969, S.20). [5]

Wenn man davon ausgeht, dass die gegenwärtige Verfasstheit der Gesellschaft die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten bzw. freier individueller Entwicklung behindert und das "Elend der Welt" (BOURDIEU) reproduziert, hätte eine emanzipatorische Psychologie jene menschlichen Möglichkeiten auf den Begriff zu bringen und praktisch zu unterstützen, die in der vorfindlichen Psychologie begrifflich unterschritten und in der bürgerlichen Gesellschaft real behindert werden, so auch eine als objektiv sich in Szene setzende Psychologie als in Wirklichkeit parteilich zu blamieren und einen jenseits gesellschaftlicher Widersprüche operierenden Objektivitätsbegriff methodologisch zu problematisieren. [6]

2. Das Verhältnis von historisch-empirischer und aktual-empirischer Forschung

Der Versuch, die begriffliche Verstricktheit der Psychologie in bürgerliche Existenzformen aufzuweisen, lief methodisch darauf hinaus, in Anlehnung an das logisch-historische Verfahren von Marx mit interdisziplinären Bezügen das Psychische (bzw. das Subjektive als dessen humane Form) in seiner Geschichtlichkeit "historisch-empirisch" (also auf einer eigenen Empirie- und Methoden-Ebene) in der widersprüchlichen Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte zu re-konstruieren (vgl. MAIERS 1999). Diese eigenständige methodische Ebene ist aus folgenden Gründen unumgänglich: (1) Die empirischen Erkenntnisbestände der Psychologie können zur Gewinnung inhaltlicher Relevanzkriterien nichts beitragen, weil auch 'bewährte' Hypothesen über die "anthropologische" Angemessenheit der Begriffe, in denen sie formuliert sind, grundsätzlich nichts aussagen können. So kann bspw. die empirische Bewährung des Zusammenhangs von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz nicht über die humanwissenschaftliche Angemessenheit der dabei verwendeten Grundbegriffe "Reiz", "Reaktion" und "Verstärkung" entscheiden. Entsprechend ist der differentielle Erkenntnisgehalt konkurrierender Konzepte und Definitionen und damit verbundener Daten auf dieser "aktual-empirischen" Ebene, nicht auszumachen. (2) Die gesuchten Kriterien sind auch nicht durch die schlichte Rücknahme methodischer Reduktionen zu gewinnen. Denn damit landet man bloß bei jenen Alltagsvorstellungen, von denen diese Reduktionen ihren Ausgang nehmen, und deren Verkürzungen zu überwinden gerade die potenzielle Funktion von Wissenschaft ist (MARKARD 1991, S.87ff; vgl. von einem anderen Ansatz aus auch WERBIK [1986]). [7]

3. Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz und das Subjektivitäts-Objektivitäts-Problem

An einem wesentlichen Resultat der historisch-empirischen Rekonstruktion von Subjektivität, der "gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz" (HOLZKAMP 1983), will ich zwei (auch) methodologisch relevante Aspekte herausheben:

Wie gesagt, wird die Weltseite (die Bedingungen) dabei gefasst als Bedeutungen, zu denen sich das Individuum als seinen – subjektiv akzentuierten Handlungsprämissen – verhalten kann und muss, wenn es im Zuge gegebener Lebensproblematiken aus subjektiven Lösungsnotwendigkeiten heraus Handlungsintentionen entwickelt. Prämissen sind Bedingungen, wie je ich sie akzentuiere, sie sind sozusagen der subjektiv begründete Weltbezug. Theoretische Aussagen über Handlungen fassen wir dementsprechend als Aussagen über Prämissen-Gründe-Zusammenhänge. Die dezidiert anti-deterministische Absicht, das Subjekt in seiner Intentionalität theoretisch und methodisch zur Geltung zu bringen, soll also nicht dazu führen, Handeln zu bloßen Sinnstiftungen zu sublimieren, "freigesetzt" von den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen, die Sinngeschehen – in je aufzuschließender Weise – formieren, womit – wieder einmal – das Verhältnis von "objektiver Bestimmtheit" und "subjektiver Bestimmung" verfehlt würde. [9]

Um einem allfälligen Missverständnis vorzubeugen: "Begründet" bedeutet hier weder "rational" oder zwangsläufig "bewusst", wie sich am Beispiel überkochender Milch veranschaulichen lässt: Milch kocht gewiss nicht bewusst über, wohl aber auch nicht unbewusst, sondern unter bestimmten Bedingungen, sie kocht 'bedingt' über. "Begründet" wird von uns als Gegenbegriff zu "bedingt" verstanden. "Unbewusstes" macht nur im Begründungsdiskurs Sinn. Begründetheit und deren Rekonstruktion schließt auch die Rede von Irrationalität aus: Das Verdikt der Irrationalität des anderen zeugt nur davon, dass aus der Außensicht die Prämissenlage des anderen nicht begriffen wurde. [10]

4. Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse

Wenn, wie gesagt, gesellschaftliche Verhältnisse dem Individuum nie in ihrer Totalität, sondern immer nur in Ausschnitten, mit unmittelbar nicht sicht- und erfahrbaren Verweisungszusammenhängen, gegeben sind, dann ist den "situativen Kontexten" deren Vermittlung mit gesellschaftlichen Strukturen nicht auf die Stirn geschrieben, sondern in einem Schritt der "Bedingungs-Bedeutungsanalyse" erst herauszuarbeiten. [11]

Dass Situationen zu ihrem psychologischen Verständnis bedeutungsanalytisch auf ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge hin analysiert werden müssen, mag das Beispiel eines als konzentrationsschwach diagnostizierten Schülers verdeutlichen: Die Fixierung des Blicks auf diesen Schüler und seine vermeintliche Eigenschaft verstellt den Blick darauf, dass zu diesem konzentrationsschwachen Schüler womöglich ein didaktikschwacher Lehrer gehört, der seinerseits wiederum seinen Stoff stur durchzieht, weil er sich unter dem Druck von Lehrplänen sieht, deren Zustandekommen sich Einflüssen verdankt usw. usf. Die Konzentrationsstörung, die im Gewande phänomenaler Konkretheit erscheint, ist in Wirklichkeit abstrakt oder "pseudokonkonkret" (KOSIK 1967), und zwar deswegen, weil dabei – im Alltagsdenken wie in dessen blinder Reproduktion in der Psychologie – von den skizzierten gesellschaftlichen Vermittlungen des Phänomens abgesehen, also abstrahiert wird. Damit werden Konkretheit und Abstraktheit verkehrt. [12]

Wie sich an diesem Beispiel zeigt, wird in dieser Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit auch von gesellschaftlichen Machtkonstellationen abgesehen, ein Umstand, der in dem Maße wahrscheinlicher wird, in dem Machtverhältnisse selber abstrakter werden. Es zeigt sich hier auch, warum aus unserer Sicht Psychologie eines Bezuges auf Gesellschaftstheorie bedarf – natürlich im Wissen darum, dass auch gesellschaftstheoretische Konzeptionen konkurrierend und strittig sind, marxistische Konzeptionen allemal – aber das ist ja ein generelles Problem interdisziplinärer Bezüge. [13]

Gesellschaftlicher Machtverhältnisse implizieren, dass Handlungsmöglichkeiten dem Individuum nicht ungebrochen, sondern immer in einem je zu klärenden und konfliktträchtigen Verhältnis zu gesellschaftlich vermittelten Handlungsbehinderungen gegeben sind. Eine "der Hauptaufgaben unserer Analyse (liegt) darin, die Vermittlung zwischen Gesellschaftsstruktur und Individuum ... herauszuarbeiten" (HOLZKAMP 1996, S.48). Das bedeutet aber auch eine Absage an alle Konzeptionen, die die Gesellschaft in ein Sammelsurium von Situationen auflösen und die in Situationsansätzen die traditionelle Psychologie zu überwinden versuchen. Die situationsenthobene Abstraktheit der traditionellen Psychologie ist u.E. nicht durch pseudokonkrete Situationsanalysen zu überwinden, welche wiederum mit postmoderner Eskamotage gesellschaftlicher Strukturen harmonieren (vgl. MARKARD 2000b). [14]

5. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge statt Bedingungs-Ereignis-Relation

Um weitere methodische Konsequenzen der hier vorgestellten Überlegungen zu verdeutlichen, sei noch einmal auf das Bedingtheitsdenken rekurrieren, das im Experiment seinen prägnantesten forschungspraktischen Ausdruck findet. Dort werden Theorien als Bedingungs-Ereignis-Relationen formuliert2). Bedingungs-Ereignis-Relationen sind nicht vom Standpunkt des Subjekts aus gedacht, sondern von einem Außenstandpunkt, von dem aus das Subjekt (Manipulations-) Objekt ist. In einer subjektwissenschaftlichen Psychologie sind aber, wie gesagt, theoretische Aussagen als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge zu konzeptualisieren. Diese sind, da Gründe immer erster Person sind, nur vom Standpunkt des Subjekts aus zu formulieren. Daraus folgt, dass psychologische Theorien Theorien zur Selbstverständigung der Subjekte sein müssen – über eigene Interessen, Motive, Gründe und über die Konsequenzen des Handelns in wichtigen bzw. problematischen Lebenssituationen vom Standpunkt des Subjekts aus: "Begründungsanalyse", die sozusagen die andere Seite der Medaille "Bedingungsanalyse" darstellt. [15]

Die sich hier aber immer wieder stellende Frage zum Verhältnis von Bedeutungs- und Begründungsanalyse ist die, welche der unendlich vielen vorstellbaren Bedingungen / Bedeutungen eigentlich in welchem Ausmaß analysiert werden müssen. Ein Ansatzpunkt ergibt sich daraus, dass die Bedingungs-Bedeutungs-Analyse nicht von eigenständigem Wert oder Interesse, sondern unselbständiger Bestandteil einer psychologischen Untersuchung ist. Der Erkenntnisweg ist nicht der einer zunehmenden Konkretisierung allgemeiner gesellschaftlicher Bedingungen auf ein subjektives Problem hin, sondern umgekehrt der von ungelösten Aspekten des Problems hin zu Bedingungen / Bedeutungen, die für die Analyse und Lösung des Problems relevant sein können. "Die Bedingungs-Bedeutungs-Analyse ist also in diesem Sinne problemzentriert. Ihre grundsätzliche Notwendigkeit ergibt sich konkret immer da, wo entweder überhaupt dem Forschenden unbekannte institutionelle Abläufe geklärt werden müssen oder mit Blick auf bloß interaktive Beziehungen oder unmittelbare Bewältigungsstrategien der Beteiligten das Problem unklärbar bleibt." (MARKARD 1988, S.69) Dies sei an einem Beispiel erläutert: [16]

WILLEN (1994) untersuchte psychologische Probleme in der Betreuung von Multiple-Sklerose-Erkrankten, welche im Rahmen eines Modellprojektes in einer betreuten WG lebten. Im Mittelpunkt der Analyse standen die Spannungen zwischen Sozialarbeiterinnen und Betreuten, die, wie sich zeigte, damit zusammenhingen, dass sich die Betreuten von den Sozialarbeiterinnen, die die Urheberinnen und Motoren des von den Betreuten im Grunde hoch geschätzten Modellversuches waren, bevormundet, "pädagogisch" behandelt fühlten. So wurde auf einen Bewohner erheblicher Druck ausgeübt, an einer für ihn anstrengenden bis quälerischen Gymnastik teilzunehmen, deren positiver Effekt nach gegenwärtigem Stand des Wissens außerordentlich unsicher ist. Was bedeutete es hier, die Beziehungsprobleme in der WG bedeutungsanalytisch aufzuschlüsseln? WILLEN stieß dabei auf gesellschaftliche Widersprüche im Rehabilitationsgedanken: Sie befasste sich mit der Konzeption der WG und der dahinterstehenden rechtlichen und finanziellen Konstruktion und stellte fest, dass die Alternative zur WG die von den Betreuten, die keinen einschlägigen Familienzusammenhang haben (den ich hier keineswegs schönreden will), gefürchtete Pflege- (End-) Station ist. Diese liegt sozusagen jenseits des das WG-Projekt bestimmenden Rehabilitationsgedankens. M.a.W.: Eintrittsbillett für die WG war die Rehabilitierbarkeit der Betroffenen, die bspw. durch die Teilnahme an – der Rehabilitation dienenden – Maßnahmen und Tätigkeiten (wie Gymnastik) zu beweisen war, auch wenn das hohe Maß an Unsicherheit des Effektes solcher Maßnahmen für den Betroffenen in keinem Verhältnis zu den dafür erforderlichen psychischen und physischen Aufwendungen stand. Am auf den ersten Blick unzweifelhaft positiven Rehabilitationskonzept, das eben zu den Grundlagen des Modellprojekts gehörte, wurde im Kontext der psychologischen Beziehungs- und Betreuungskonflikte bedeutsam, dass es vor dem skizzierten rechtlich-finanziellen Hintergrund einen, wie die Autorin schreibt, "Widerspruch zwischen humanem Impetus und institutioneller Selektion" enthält, der, solange er unanalysiert blieb, das Klima in der WG zerrüttete. Denn erst nachdem sich die Beteiligten die negativen Implikationen des Rehabilitationsgedankens bewusst gemacht hatten, wurde es möglich, die Beziehungsprobleme zwischen Betreuerinnen und Bewohnerinnen und Bewohnern der WG 'konstruktiv' anzusprechen, und zwar als Probleme, die mit der unbewussten Reproduktion der Widersprüchlichkeit des Rehabilitationskonzepts vermittelt waren. So waren z.B. vorher unterschiedliche Widerstände des Bewohners, der nicht an der Gymnastik teilnehmen und sich nicht regelmäßig waschen lassen wollte, von den Betreuerinnen über einen Leisten geschlagen worden: Herr X, der Problemfall. Die betreffenden Vorwürfe der Betreuerinnen "du stinkst" und "du machst bei der Gymnastik nicht mit" lassen sich aber, so WILLEN, folgendermaßen unterscheiden: "Stinken" ist weniger eine Eigenschaft als ein interpersonelles Phänomen, das irgendwie zwischen vorurteilshafter Zuschreibung und subjektiver Unerträglichkeit seitens derer, die das "Stinken" bemerken (und den "Stinkenden" unter den Armen anfassen und anheben müssen), angesiedelt ist. Die Retourkutsche, dem Vorwurf "du stinkst" bloß ein 'trotziges' "ich stinke nicht" entgegenzuhalten, fällt aus einem möglichen Diskurs heraus, ist aber verständlich, wenn die Aussage "du stinkst" im Gesamtklima pädagogischer Bevormundung in denselben pädagogisierend-normativen Kontext gebracht wird wie die Anforderung "Du musst turnen". Dieser Kontext verhinderte, die unterschiedlichen Ansprüche der Betreuerinnen auf ihre mögliche Berechtigung hin zu durchdenken. Eine differenzierende Diskussion der Interessen der an der WG Beteiligten wurde erst möglich, als mit der Klärung der Widersprüchlichkeit des Rehabilitationskonzeptes auch die Pädagogisierung des Verhältnisses zwischen den Beteiligten und damit blinder Widerstand gegen Ansprüche der Betreuerinnen überwunden wurde. Die genannte Klimaverbesserung in der WG drückte sich allgemein auch darin aus, dass Betreuerinnen und Betreute eine 2wöchige gemeinsame Reise unternahmen. [17]

6. Forschung vom Standpunkt des Subjekts

Wenn Theorien der Selbstverständigung der Subjekte dienen, dann ergibt sich daraus methodisch, dass Menschen nicht Gegenstand der psychologischen Forschung sind, dass sie nicht 'beforscht' werden, sondern dass sie – zusammen mit den psychologischen Professionellen – auf der Forschungsseite stehen. Die Selbstcharakterisierung unseres Ansatzes als einer "Psychologie vom Standpunkt des Subjekts" ist also nicht metaphorisch, sondern wörtlich gemeint. Gegenstand der Forschung ist nicht das Subjekt, sondern die Welt, wie das Subjekt sie – empfindend, denkend, handelnd – erfährt. Aus diesem Grunde sind subjektwissenschaftliche Aussagen keine Aussagen über Menschen, schon gar keine zu Klassifikationen von Menschen (z.B. als konzentrationsschwach, s.o.), sondern Aussagen über erfahrene – und ggf. verallgemeinerbare – Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen. [18]

Dass dies möglich ist, ergibt sich methodisch aller Unmittelbarkeit und Authentizität von Erfahrung zum Trotz daraus, dass individuelle Erfahrungen in gesellschaftlichen Denkformen gemacht werden. Deswegen sind das Erlebnis der Unmittelbarkeit bzw. die Unmittelbarkeit der Erfahrung zwar evident und weder in Zweifel zu ziehen noch zu hintergehen – diese Evidenz aber ist hinterfragbar. Dies hat die zentrale Implikation, dass Authentizität und Theoretizität individueller Erfahrung keinen Gegensatz, sondern eine widersprüchliche Einheit bilden. Insofern bedeutet Aufschlüsseln und Mitteilen der Unmittelbarkeit (der Erfahrung) an andere die Explikation ihrer wirklichen Vermitteltheit, und das Methodenproblem dreht sich um das Problem der – intersubjektiven – Selbstverständigung über Erfahrungen. [19]

Dabei bedeutet "Psychologie vom Standpunkt des Subjekts" natürlich nicht Psychologie vom Standpunkt des jeweiligen Subjekts. Es geht vielmehr um eine Psychologie vom verallgemeinerten Subjektstandpunkt aus, das heißt um eine Psychologie im Begründungs- statt im Bedingtheitsdiskurs. Dass die jeweiligen Subjekte nicht beforscht werden, sondern auf der Seite der Forschung stehen, bedeutet auch nicht, dass die professionell Forschenden sich inhaltlich auf die Seite dieser jeweiligen Mitforschenden schlügen. Das ist formal ja schon dann ausgeschlossen, wenn es sich um mehrere, ggf. in Konflikt befindliche Mitforschende handelt (etwa den "Stinker" und die Betreuenden, s.o.). Dass die professionell Forschenden nicht einfach auf der Seite der jeweiligen Mitforschenden stehen können, ergibt sich aber auch aus der genannten Differenzierung von Erfahrung zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltheit und den damit verbundenen ideologiekritischen Überlegungen und aus dem praktischen Weltbezug der Subjekte, der für subjektwissenschaftliche Forschung konstitutiv ist – durchaus entsprechend der berühmten MARXsche Feuerbach-These, der gemäß es nicht nur drauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern: Spätestens dann, wenn es um praktische Konsequenzen aus Forschung / Analysen geht, gibt es ja Meinungsverschiedenheiten – auch eben zwischen Forschenden (ein Problem, das sich durch Rückzug der Forschung von praktischen Veränderung natürlich vermeiden lässt). Der für die Kritische Psychologie konstitutive Gedanke emanzipatorischer Veränderung schließt Kritik an Verhältnissen und Verhalten ein. Hier sind inhaltliche Kontroversen kaum zu vermeiden, jedenfalls dann nicht mehr, wenn praktische Forschung praktische Änderungen ins Auge fasst. [20]

7. Einheit von Erkennen und Veränderung: Entwicklungsfigur

Idealtypisch ist die subjektwissenschaftliche Orientierung am Zusammenhang vom Erkennen und Verändern im Konzept der "Entwicklungsfigur" gefasst (HOLZKAMP 1996b, S.155ff; MARKARD 1985, 2000, S.239ff). Das Konzept ist in vier sog. Instanzen gegliedert: 1. Diskussion / Deutung eines von Mitforschern eingebrachten "kritischen" oder "problematischen" Sachverhalts bzw. der ihm zugrundeliegenden Daten (etwa Erziehungs- oder Betreuungskonflikte, s.o.). 2. Analyse und Durcharbeitung der ggf. gegen die entwickelten Interpretationen gerichteten Kritik / Abwehr der Betroffenen, damit das Aufeinandertreffen und – der Intention nach – Klären unterschiedlicher, konkurrierender Konfliktdeutungen, und – sofern möglich – die Entwicklung einer Lösungskonzeption. 3. Umstrukturierung der Praxis der Betroffenen gemäß den in der Lösungskonzeption entwickelten Handlungsvorschlägen. 4. Rückmeldung über – möglicherweise auch intentionswidrige und fehlende – Effekte der (ggf. auch aus verschiedenen Gründen nicht wie intendiert geglückten) Umstrukturierung der Praxis an das Forschungsprojekt (was die Grundlage eines neuen Durchgangs einer Entwicklungsfigur sein kann). Insoweit in dieser Instanzenfolge nur die formalen, (entwicklungs-) 'logischen' Stadien einer potenziellen Problemlösung sichtbar werden, ist das Konzept "Entwicklungsfigur" natürlich trivial. Sein nicht-trivialer Charakter ergibt sich aus den methodologischen Bestimmungen, mit denen die Instanzen ausformuliert wurden, und von denen hier einige Momente angeführt werden sollen. [21]

7.1 Datenanalyse: Datenfunktion und -modalität

1. Die in den Forschungsprozess eingebrachten Daten unterliegen keinerlei methodisch induzierten Restriktionen – eine Konsequenz des Anspruchs, das Niveau intersubjektiver Beziehungen der Beteiligten nicht schon durch Regulierungen zugelassener Daten – wie etwa bei der Skalierung – zu unterminieren. Dies wiederum macht es erforderlich, im Verlaufe der Diskussionen die ja als Argumente eingebrachten Daten zu gewichten und bewerten, sie z.B. auf ihre Funktion für die Beschreibung und Lösung des betreffenden Problems hin zu analysieren. Wichtig für die Nachvollziehbarkeit von Darstellungen und die Strukturierung theoretisch kontroverser Diskussionen darüber sind die darin enthaltenen Datenbezüge, die wir in Datenfunktionen (1. primär-fundierend, 2. sekundär-fundierend, 3. stützend-konkretisierend und 4. veranschaulichend) und Datenmodalitäten (1. Realbeobachtung, 2. allgemeine Beobachtbarkeit, 3. Objektivation) unterscheiden (vgl. MARKARD 1985, S.109ff.). [22]

Primär-fundierende Daten sind diejenigen Daten, ohne die der problematische Sachverhalt nicht verständlich werden kann. In ihnen kommt in gewisser Weise auch die Widerständigkeit der Realität zum Ausdruck, um derentwillen die Theoriebildung überhaupt erforderlich ist. Sie müssen danach differenziert werden, ob sie sich auf institutionelle Sachverhalte, auf theoretische Denkfiguren oder auf interpersonelle Konstellationen beziehen. (Ein Beispiel für letztere wäre die hartnäckige Erfolglosigkeit von Bemühungen, Kinder zur von den Erwachsenen vorgesehenen Zeit ins Bett zu kriegen, der Widerstand der Kinder; die Kaschierung von Erwachseneninteressen im erzieherischen Umgang mit Kindern, indem die Erwachsenen sagen: "Kinder brauchen Schlaf", aber meinen: "Ich will meine Ruhe haben". Das Problem besteht hier hypothetisch darin, dass Kinder, die keinen Schlaf brauchen, einem insbesondere dann keine Ruhe lassen, wenn man ihnen ein Schlafbedürfnis insinuiert.) [23]

Sekundär-fundierende Daten meinen Änderungen in der Datenlage, etwa bei zeitlich längerer Erstreckung des problematischen Sachverhalts (wenn eine PraktikerIn, um deren Arbeitsprobleme es geht, z.B. eine(n) andere(n) Vorgesetzte(n) bekommt, die/der andere Erwartungen hat, oder wenn ein Kind, dessen Familienbeziehungen als problematisch diskutiert wurden, in ein Heim kommt). [24]

Als stützend-konkretisierend werden Daten bezeichnet, die die Hypothese, die auf Grundlage der primär-fundierenden Daten gebildet wurde, zusätzlich in der Realität verankern. Es sind weitere Daten, die z.B. mit der Kenntnis des Arbeitszusammenhangs der PraktikerIn zur Verfügung stehen und mit denen fundierende Daten angereichert werden können. (Bezogen auf das 'Schlaf'beispiel: anderweitige interessenverleugnende Bevormundungen der Kinder, anderweitige Versuche der Durchsetzung eigener Lebens- und Ordnungsvorstellungen im Gewande der Vertretung kindlicher Interessen.) In gewisser Weise wird damit das aus analytischen Gründen eingegrenzte Handlungsproblem wieder auf den umfassenden Arbeits- oder Lebenszusammenhang rückbezogen. Die zweite Funktion stützend konkretisierender Daten ergibt sich daraus, dass Theorienbildung keine logische Deduktion ist, sondern notwendig 'freie' Momente enthält: dies ist einer der Gründe für das Zustandekommen konkurrierender Theorien und unterschiedlicher Gewichtungen von Sachverhalten in den jeweiligen Theorien. An der Funktion stützend-konkretisierender Daten ist aber auch das allgemeinere und pragmatische Moment der Theorienbildung hervorzuheben, dass dem brainstormartigen Prozess, in dem der 'chaotische' Datenpool Konturen gewinnen soll, zunehmend eine datenbezogene Begründungspflicht der vorgetragenen Hypothesen folgen muss, sowohl, was die Funktion der Daten angeht, auf die man sich bezieht, als auch, was deren Reichhaltigkeit angeht. [25]

Veranschaulichende Daten schließlich sind solche, die der Verständigung in der Diskussion über die Hypothesenbildung dienen – weitere Beispiele also, die auch wegfallen könnten, ohne dass die Hypothese substanziell an empirischer Verankerung verlöre. [26]

Derartige methodischen Überlegungen sind u.E. auch unter dem Gesichtspunkt wesentlich, dass "das Problem" ja eine – gegenüber dem "Stream of behavior" – dem Anspruch nach zwar verständige, gleichwohl abstraktive Konstruktion ist, deren Bezug zu den prozessierenden und sich kreuzenden Ereignissen immer wieder herzustellen sein muss. Dabei ist auch zu berücksichtigen, wer in welcher Datenmodalität redet: werden zum Beispiel raumzeitlich konkrete Vorgänge präzise beschrieben ("Modus der Realbeobachtung"), oder werden in den Darstellungen schon Deutungen ("herablassende / bevormundende Art gegenüber dem Kind") und Verallgemeinerungen ("für ihn typische herablassende / bevormundende Art gegenüber dem Kind" bis hin zu Subsumtionen von Daten unter Common-sense-Auffassungen ("übliche herablassende / bevormundende Art gegenüber Kindern") (Formen des "Modus der allgemeinen Beobachtbarkeit") so in den Vordergrund gestellt, dass dahinter konkrete raumzeitliche Ereignisse nicht mehr auszumachen sind? Der erwähnte Modus der Objektivation meint Tagebücher, Fotos, etc. [27]

Indem die Datenbezüge der Diskussionsbeiträge spezifizierbar werden, können diese methodisch gewichtet werden. [28]

7.2 Mitforscherprinzip

Diejenigen, um deren Probleme es geht, müssen entsprechend der beanspruchten Wahrung des intersubjektiven Beziehungsniveaus unter allen am Forschungsprozess Beteiligten methodologisch als Mitforscher begriffen werden. Dies schließt ein, dass über die unterschiedlichen selbst-, interaktions- und weltbezogenen psychologischen Vorstellungen der Beteiligten Auseinandersetzungen stattfinden müssen, welche Bereitschaft und Möglichkeit zur Selbstreflexion implizieren. Der Umstand, dass die Bestimmung eines Problems ebenso ein theoretischer – und damit potenziell und hochwahrscheinlich kontroverser – Prozess ist wie die Herausarbeitung von Lösungswegen, macht es erforderlich, die theoretischen Vorstellungen der Beteiligten in ihren Kompatibilitäten und Unvereinbarkeiten "auf den Punkt" zu bringen. Nur so können sich die Betroffenen ja Handlungsvorschläge emotional und kognitiv so zu eigen machen, dass sie sie "umsetzen" können (zu hierbei entstehenden Problemen vgl. KALPEIN [2000] und KATSCH [2000]). [29]

Die seitens der "professionell" Forschenden in den Forschungsprozess eingehenden Annahmen basieren auf den – am Maßstab des Problems zu explizierenden – Grundvorstellungen der Kritischen Psychologie, an denen hier nur herausgehoben werden soll, dass durch entsprechende Daten imponierende und konstruierte Lebensprobleme auf eine darin liegende "restriktive" subjektive Funktionalität hin zu analysieren sind, also darauf, wie die Betroffenen zur Aufrechterhaltung ihres Problems selber beitragen. Der Umstand, dass sich die Sichtweisen – auch der professionell Forschenden – gegenüber denen der anderen Teilnehmer am Forschungsprozess, wenn sie zur Geltung kommen wollen, argumentativ "durchsetzen" müssen, ist auch ein Regulativ gegenüber der naheliegenden Dominanz professioneller Forscher. Diese Gefahr der Forscher-Dominanz taugt allerdings nicht als genereller Einwand dagegen, dass inhaltliche Vorstellungen der Kritischen Psychologie in den Forschungsprozess eingebracht werden. Denn, soweit sich Beteiligte auf diesen Ansatz beziehen, ist das ja so unvermeidlich wie auch andere Vorstellungen zum verhandelten Problem eingehen. [30]

8. Subjektivität, Geltung, Verallgemeinerung

Fallbezogen, wie Prämissen-Gründe-Zusammenhänge sind, enthalten sie keine Feststellungen zu Häufigkeit bzw. Verbreitung der in ihnen behandelten Phänomene (MARKARD 1993). Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt. Einzelfälle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander "verrechnet" werden. Es sind die individuellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge artikulieren vom Subjekt gestiftete Sinnzusammenhänge, sind Ausdruck subjektiv guter Gründe. Wenn jemand unter denselben Prämissen einen anderen Handlungsvorsatz fasst, spricht das nicht gegen die Geltung des vorigen Zusammenhangs, sondern dafür, dass im zweiten eine andere Vorstellung subjektiver Vernünftigkeit vorliegt (vgl. HOLZKAMP 1986; MARKARD 2000). Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selber ab vom Gedanken der Subjektivität. Verallgemeinerungsmöglichkeiten liegen nicht in zentralen Tendenzen, sondern in der Herausarbeitung gesellschaftlich vermittelter Handlungsmöglichkeiten. Es kommt dabei darauf an, dass die subjektive Sinneinheit des Falles analytisch nicht verloren geht – allerdings auch nicht jener reale Weltbezug, der subjektiven Sinn formiert und der im Sinne einer Handlungsforschungsorientierung zu verändern ist. [31]

Anmerkungen

1) In der folgenden Darstellung rekurriere ich z.T. ohne besondere Quellenangabe auf eigene unveröffentlichte Papiere bzw. schon veröffentlichte Texte. <zurück>

2) HOLZKAMP hat allerdings an vielen Beispielen aus der Sozial- (1986) und Lernpsychologie (1993) nachgewiesen, dass sich in offiziell als Bedingungs-Ereignis-Konstellationen formulierten Hypothesen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge verbergen. Unter dieser Voraussetzung kann von einer kontingenten Beziehung zwischen der Wenn- und der Dann-Komponente keine Rede mehr sein. Dies hat nun erstens methodisch zur Konsequenz, dass die 'Prüfung' dieser Theorien ein Missverständnis, pseudoempirisch, ist. Zweitens – und vielleicht noch wichtiger – zeigt sich daran, dass Annahmen über Handlungsgründe nicht in eine hermeneutische Exklave der Psychologie abgeschoben werden können, sondern wesentliche Konzeptionen und Theorien des psychologischen Mainstream prägen, dessen Offizialdiskurs sich damit als theoretisch und methodologisch irrig erwiese (vgl. dazu auch Beiträge und Diskussionen in BRANDTSTÄDTER et al. 1994). <zurück>

Literatur

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Zum Autor

Morus MARKARD, geb. 1948, Dr. phil. habil., Dipl.-Psych., Privat-Dozent für Psychologie am Studiengang Psychologie der Freien Universität Berlin.

Kontakt:

Morus Markard

FU Berlin, Studiengang Psychologie
Habelschwerdter Allee 45
D - 14195 Berlin

E-Mail: mmarkard@zedat.fu-berlin.de

Zitation

Markard, Morus (2000). Kritische Psychologie: Methodik vom Standpunkt des Subjekts [31 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2), Art. 19, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0002196.

Revised 7/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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