Volume 1, No. 1, Art. 9 – Januar 2000

Kriminalität und soziale Kontrolle als Bereiche qualitativer Sozialwissenschaft

Gabi Löschper

Zusammenfassung: Die Eigenschaft "kriminell" wohnt einem Vorfall nicht inne, sondern ist Resultat sozialer Beurteilungsprozesse – "Kriminalität" wird in Interaktions- und Aushandlungsprozessen in und mit den Instanzen sozialer Kontrolle und in gesellschaftlichen Diskursen konstituiert. Daher kann "Kriminalität" sinnvoll nur qualitativ untersucht werden. Der Beitrag nennt Beispiele der Anwendung qualitativer Forschung (Ethnographie, hermeneutische Wissenssoziologie, Ethnomethodologie/Konversationsanalyse, Diskursanalyse und Erzählmodell) vor allem zu devianten Subkulturen, Anzeigeverhalten und polizeilicher Ermittlung und Strafgerichtsprozeß.

Keywords: Soziale Konstruktion, Zweiter Code des Strafjustizsystems, Ethnographie, Ethnomethodologie, Diskursanalyse, Narrationsmodell

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. "Devianz" und Alltag

3. Kriminalitätskonstitution im Strafverfahren

3.1 Polizei und Anzeige

3.2 Staatsanwaltschaft, Gericht und Strafvollzug

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Wie der Titel des Beitrages andeutet, wird hier eher von der qualitativen Untersuchung spezifischer Gegenstände und Phänomene als von qualitativer Forschung einer umrissenen Disziplin die Rede sein. Kriminalität und gesellschaftlicher Umgang mit Devianz sind Phänomene, die von verschiedensten Wissenschaften untersucht werden: insbesondere von der (Kriminal- und Rechts-) Soziologie, der (Rechts-) Psychologie, der Rechtswissenschaft, der Politologie und der Kulturwissenschaft. Die Kriminologie – zwar auch im deutschsprachigen Raum als eigenständiger Forschungs- bzw. Wissenschaftsbereich angesehen, hier jedoch, anders als in vielen anderen westeuropäischen Ländern und insbesondere im angelsächsischen Raum, institutionell nahezu ausnahmslos als Nebenfach der Rechtswissenschaft (Strafrecht) oder der Soziologie ("Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle" oder "Soziale Probleme") zugeordnet – hat keinen eigenen Gegenstand. [1]

Würde "Kriminalität" (Abweichung im strafrechtlichen Sinne) als von der Kriminologie zu analysierendes Phänomen festgelegt, hätte sich die Wissenschaft damit einen vom Strafrecht und seinen Prozeduren definierten Gegenstand vorgeben lassen. Die unter "Kriminalität" zusammengefaßten Handlungen und Phänomene eint nichts, außer daß sie gegen geltendes Strafrecht verstoßen. Zum einen beziehen sich "Diebstahl, Mord, Vergewaltigung, Betrug, Prostitution, Waffenschmuggel, Urkundenfälschung, Beförderungserschleichung, Drogenkonsum" etc. auf äußerst unterschiedliche Formen von Interaktionen bzw. "Taten". Zum anderen ist "kriminell" zu sein nicht Eigenschaft einer Handlung, sondern Ergebnis eines sozialen Beurteilungsprozesses. Sowohl hinsichtlich der allgemeinen Inhalte derartiger Bewertungen als auch im Hinblick auf die Zuordnung einer bestimmten abstrakten Norm zu einer konkreten Handlung besteht hohe Variabilität: Strafrechtliche Normen sind historisch und sozio-kulturell spezifisch. Beispielsweise hätten deutsche Kriminologinnen Abtreibung als kriminelle Tat, chinesische Kriminologen hätten Schwangerschaftsabbrüche dagegen als konformes, erwünschtes Verhalten zu betrachten. Offenbar identische Handlungsmuster, beispielsweise ein k.o.-Schlag mit der Faust, sind je nach situativem und sozialem Kontext des Vorfalls einmal als Körperverletzung und einmal als Sport zu bewerten. [2]

Daß "Kriminalität" Beurteilungsprädikat ist, erfordert Analysen gerade der Interpretationen und Deutungen von Situationen und Handlungen, diese sind über quantitative Verfahren nicht zugänglich. Die Untersuchung von "Kriminalität" ist untrennbar mit der Analyse sozialer Kontrolle durch (vor allem) das Strafrecht und seiner institutionellen (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Strafvollzug etc.) Praktiken der Interpunktion, Typisierung, Kategorisierung und Bewertung verknüpft. Die von den verschiedenen Beteiligten (z.B. Täter, Opfer, Zeuge, Polizist, Richter etc.) vorgenommenen und interaktiv ausgehandelten Situationsdefinitionen und Interpretationen konstituieren "Kriminalität", d.h. bestimmen ob ein Vorfall bemerkt, als Fall registriert und im Gang durch die strafrechtlichen Instanzen als "kriminell" eingestuft wird oder nicht. Akten, Daten und Statistiken offiziell registrierter Delikte sind nicht Abbild der "Delinquenzwirklichkeit", sondern spezifische Kriminalitätskonstruktionen und Dokumente/Nachweise der institutionell geleisteten Beurteilungs- und Definitionsarbeit. Diese Aspekte von "Kriminalität" können daher angemessen nur qualitativ untersucht werden. Insgesamt bedeutet diese Blickrichtung eine Transformation von Kriminologie in Soziologie des Strafrechts. [3]

Die folgende Darstellung ausgewählter Beispiele für qualitative kriminologische Forschung (aus unterschiedlichen Disziplinen) orientiert sich an den sich in verschiedenen informellen und formellen Deutungs- und Interaktionsvorgängen vollziehenden Produktionsprozesses von "Kriminalität". [4]

2. "Devianz" und Alltag

Studien mit teilnehmender Beobachtung delinquenten Verhaltens oder biographische Forschung zu (Lebens-) Geschichten von Kriminellen, denen es um das Nachzeichnen der Binnenperspektive der in ihren eigenen Lebenswelten aufgesuchten Randgruppen geht, gelten als kriminologische Klassiker, so die berühmten Arbeiten der "Chicago School" (WHYTE 1955) oder die Beiträge zu Dieben von JACKSON (1972), zu Drogenkonsumenten von GERDES und WOLFFERSDORFF-EHLERT (1974), zu Falschspielern von POLSKY (1967). Neuere ethnographische bzw. Sinnwelten rekonstruierende Arbeiten liegen beispielsweise von ADLER und ADLER (1998), BOURGOIS (1995), MAHER (1998), MURPHY und ROSENBAUM (1999) zu Drogendealern, von TERTILT (1996) zu einer Straßengang, von BOHNSACK et al. (1995) zu Hooligans vor. Auch (Sub-) Kulturstudien des "Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS)" (zsf. BROMLEY, GÖTTLICH & WINTER 1999) werden in der Kriminologie herangezogen; ebenso ethnographische Studien von GIRTLER zu verschiedenen Subkulturen, etwa Schmugglern (1992). Autobiographen von Straftätern untersucht CREMER-SCHÄFER (1985). [5]

Ein besonderer Wert qualitativer Kriminalitätsstudien liegt darin, daß sie die Normalität und Alltäglichkeit des scheinbar Unnormalen aufzeigen. Bei kriminologischer Forschung stellt sich in besonderer Weise das Problem der moralischen Bewertung des untersuchten, gerade durch sein Abweichungsetikett definierten Handlungsfeldes. Den qualitativen Analysen geht es um das Verstehen ohne Verurteilung der Abweichungsphänomene. Die Arbeiten kontrastieren so den strafjustitiellen, "offiziellen" Blick mit der Binnenperspektive und zeigen unhinterfragte Problemfokussierungen (z.B. STEINERT & MORAWETZ-KARATZMAN 1993 zur Gewalt) oder Stigmatisierungen auf. Allerdings lenken sie durch ihre Konzentration auf untere Gesellschaftsbereiche den Blick nur auf eine spezifische Form der "Devianz". Untersuchungen der "Kriminalität der Mächtigen", wie PILGRAMs (1998) Interviewstudie mit Unternehmern zum Bereich Organisierte Kriminalität, sind selten. [6]

Darüber hinaus ist für das Verständnis von "Kriminalität" als gesellschaftliches Phänomen zentral, daß die Alltagsrekonstruktionen, z.B. bei "Gewaltkriminalität", enge Zusammenhänge "abweichender" Verhaltensmuster mit alltäglichen Reproduktionsprozessen gesellschaftlicher Strukturkategorien (etwa "doing gender", "doing class", MEUSER 1999) zeigen. Zudem arbeiten qualitative Analysen massenmedialer "Kriminalitätsdarstellungen" die Bedeutung kultureller Deutungsmuster für alltägliche und institutionelle Konstruktionen von "Kriminalität" heraus (z.B. HALL et al. 1978, ALTHOFF 1998; s.a. STEHR 1998 zum alltäglichen Moralisieren mit modernen Sagen). [7]

3. Kriminalitätskonstitution im Strafverfahren

3.1 Polizei und Anzeige

Analysen der Beurteilungs- und Interaktionsprozesse, mittels derer soziale Konflikte in strafrechtliche Fälle transformiert und in die Strafjustiz eingespeist werden, machen das Bestehen unterschiedlicher Wirklichkeiten der "Kriminalität" und die Selektivität ihrer Entdeckung und Registrierung deutlich. Beispielsweise zeigen die von HANAK et al. (1989) gesammelten Erzählungen, daß längst nicht jedes erlebte, prinzipiell strafrechtsrelevante Ereignis als "kriminell" gedeutet und angezeigt, sondern im Alltag in sehr unterschiedlicher Form ver- und bearbeitet wird. Studien zur polizeilichen Arbeit geht es um Alltagstheorien des Verdachtes (z.B. Streifendienst etc., SKOLNICK 1966, FEEST & BLANKENBURG 1972, GIRTLER 1980) und die polizeiliche "Definitionsmacht" bei der Beurteilungsaushandlung des fraglichen Ereignisses (z.B. in Vernehmungen, BRUSTEN & MALINOWSKI 1975). SCHRÖER (1992), DONK und SCHRÖER (1999) und REICHERTZ (1991) untersuchen das (kriminal-) polizeiliche Ermittlungs- und Vernehmungsverfahren wissenssoziologisch-hermeneutisch, WATSON (1983, 1990) und WOWK (1984) aus ethnomethodologischer Perspektive. [8]

Unabhängig von der jeweils eingenommenen Theorieperspektive belegen diese Studien insgesamt die ungeheure kommunikative Arbeit, die in zahlreichen Interaktionen geleistet werden muß, damit aus einem im sozialen Sinne unspezifischen Geschehen ein strafrechtlich zu traktierender Fall wird. Keinesfalls übersetzt die Polizei als Schnittstelle zwischen Strafjustiz und Gesellschaft lediglich Alltagsvorfälle in strafrechtliche Sprache oder wendet sie Strafrecht bei der Ausübung ihrer Tätigkeit bloß auf die "Wirklichkeit" an, vielmehr wird Realität kontinuierlich kreiert. Dem Labeling-Ansatz der "kritischen Kriminologie" (AJK 1974) verpflichteten Arbeiten geht es über das "Wie" der Konstruktionsprozesse hinaus um deren systematische, sich am gesellschaftlichen Status des Verdächtigen orientierende, Selektivität und Funktion, d.h. um den "second code" (McNAUGTHON-SMITH 1975) der polizeilichen Anwendungsregeln von Strafrecht. [9]

3.2 Staatsanwaltschaft, Gericht und Strafvollzug

Die Frage nach der "heimlichen Grammatik" des Strafrechts stellt sich auch hinsichtlich der Entscheidungsspielräume von Anklagebehörde und Strafrichtern. In den letzten Jahren ist ein "Versanden" der Justizforschung festzustellen, besondere Beachtung verdienen daher heute noch CICOURELs (1968) Studie zu den Anwendungsregeln der amerikanischen Jugendgerichtsbarkeit und die von SOEFFNER und anderen vorgelegten Studien zum deutschen Jugendstrafverfahren (REICHERTZ 1984), die ein Dominanzgefälle zwischen Richtern und Angeklagten belegen. Neuere Arbeiten aus ethnomethodologisch konversationsanalytischer Perspektive zum (englischen, amerikanischen, niederländischen, deutschen) Strafgerichtsverfahren (Überblick bei LÖSCHPER 1999, HESTER & EGLIN 1992), etwa zur Geständnisaushandlung (MAYNARD 1984), zu Verhandlungs- und Verteidigungsstrategien von Strafrichtern und Angeklagten (KOMTER 1998, DREW 1990) und zur Glaubwürdigkeitsaushandlung (WOLFF & MÜLLER 1997), bilden zusammengenommen einen Korpus, der es erlauben würde, von einer ethnomethodologischen (Straf-) Rechtssoziologie zu sprechen (TRAVERS 1993). Eine Ergänzung bzw. Fortführung dieser, auf die "in situ" bewerkstelligten Herstellungsprozeduren von Ordnung bzw. Wirklichkeitskonstruktionen konzentrierten Studien, leisten (sozialpsychologische, linguistische und rechtswissenschaftliche) Arbeiten, die Strafrecht und Strafverfahren als Diskurse oder als Narrationen beleuchten (Überblick bei LÖSCHPER 1999, HOFFMANN 1989). Sie zeigen, daß und wie über diskursive Praktiken oder das Erzählmuster soziale Strukturen im Strafverfahren hergestellt und reproduziert werden. [10]

Teilnehmende Beobachtungen und ethnographische Studien der Staatsanwaltschaft und der Interaktion zwischen Strafverteidigern und Klienten fehlen. Die "Subkultur" eines Jugendgefängnisses untersuchen KERSTEN und WOLFFERSDORFF-EHLERT (1980). [11]

Die im Verhältnis zu quantitativen Analysen von "Kriminalität" und sozialer Kontrolle vergleichsweise geringe Anzahl qualitativer Forschung könnte auf große Zugangsprobleme, die sich qualitativen Arbeiten nicht nur hinsichtlich Subkulturen sondern in spezifischer Weise auch für Situationen/Orte der Herrschaftsausübung stellen, zurückgeführt werden. Belege selektiver Kriminalisierung, von Stigmatisierungen und des Machtgefälles im Strafverfahren widersprechen (Selbst-) Bild und Anspruch der Strafjustiz auf Gleichheit vor dem Gesetz. Die Justiz scheint sich derartige Vorwürfe und eine Absage an unmittelbare, technokratische Verwertungsinteressen der strafjustitiellen und kriminalpolitischen Praxis seitens einer Kriminologie, die nicht im Schatten des Strafrechts stehen will, nur ungern gefallen zu lassen, darauf weisen von qualitativen Forschern berichtete Erfahrungen über Behinderungen bis zu Repressalien hin (MATHIESEN 1989, JUPP 1989, S.157ff.). Daß Kriminologie bzw. Strafrechtssoziologie ohne qualitative Forschung zu "Kriminalität" und sozialer Kontrolle jedoch keinen Sinn macht, ist hoffentlich deutlich geworden. [12]

Literatur

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Zur Autorin

Gabi LÖSCHPER ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie der Universität Hamburg. Arbeitsbereiche: Rechtspsychologie (insbesondere Strafverfahren), soziale Konstruktion der Wirklichkeit, Gewalt, Narrationsanalyse.

Kontakt:

PD Dr. Gabi Löschper

A/KSTK
Universität Hamburg
Troplowitzstr. 7
D-22529 Hamburg

Zitation

Löschper, Gabi (2000). Kriminalität und soziale Kontrolle als Bereiche qualitativer Sozialwissenschaft [12 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1), Art. 9, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs000195.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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