Volume 1, No. 1, Art. 23 – Januar 2000

Mit Andern eine Grube graben. Projektorganisation und Fakten-Schaffen auf der Großbaustelle "Regionalbahnhof Potsdamer Platz"

Gesine Bär

Zusammenfassung: Mit der Absicht etwas über Organisationsprozesse bzw. das Ordnen von "Europas größter Baustelle" zu lernen, wird der Frage nachgegangen, wie komplexe Interaktionsnetzwerke zeitlich und translokal stabilisiert werden können. Die Bahnhofsbaugrube Potsdamer Platz wird exemplarisch als wenig routinisierte, komplexe Projektorganisation vorgestellt. Es wird gezeigt, wie in der Schlußphase des Projektes die Produktion "objektiver Fakten" zum Hauptproblem der Investoren wird. Eine eindeutige Repräsentation der Baugrube ist den Akteuren nicht möglich. Eine solche ist aber für die Kostenteilung zwischen den Investoren eine unbedingte Voraussetzung. Die soziologische Analyse der Versuche, eine allgemein anerkannte Repräsentation auszuhandeln, deutet die Schwierigkeiten als Begleiterscheinungen einer Institutionalisierung komplexer Projektorganisationen.

Keywords: Projektorganisation, Institutionalisierung, Repräsentation, Praktiken, Negotiated Order Approach, Actor Network Theory

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ortsbesichtigung

3. Projektzeiten

4. Ordnen auf der Baustelle

5. Ergebnisse: Vermittlernetze und Ressourcenmobilisierung

Anhang 1: Methodisches Vorgehen

Anhang 2: Interviewzitate

Anhang 3: Glossar

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Was passiert, wenn Vertragspassagen und standardisierte Verfahren, die am Beginn einer Projektzusammenarbeit vereinbart worden sind, durch die Projektausführung so verändert sind, daß ihre Inhalte für den Kooperationsabschluß neu definiert werden müssen? Wie kann man unter solchen Bedingungen noch zu einer tragfähigen und auch translokal1) gültigen Endabrechnung kommen? Dies sind die Kernfragen des vorliegenden Artikels und des hier vorgestellten Forschungsprojektes. [1]

Die Studie, deren Gegenstand der Neubau des unterirdischen Regionalbahnhofes "Potsdamer Platz" war, wurde zwischen 1996 und 1999 durchgeführt und basiert auf insgesamt vier kurzen Organisationsethnographien an unterschiedlichen Orten des Feldes, auf einer Reihe problemzentrierter Interviews sowie einer umfassenden Dokumentenanalyse. [Zur Methode] [2]

Warum aber ist eine Bahnhofsbaustelle für eine soziologische Betrachtung interessant? Die Baugrube "Potsdamer Platz" erwies sich als lehrreicher Ort, da hier an der Schnittstelle verschiedener Bauvorhaben die Kontinuität der Zusammenarbeit als ein Stabilisierungsproblem komplexer Organisationsfelder besonders virulent wurde. Per Vertragsvereinbarung entstand, was mit dem Klassifikationsschema von Anselm STRAUSS (1988, S.169f.) eine komplexe und schwach routinisierte Projektorganisation genannt werden kann. Zwei Investoren haben sich auf Grund der engen räumlichen und zeitlichen Verbindung ihrer beiden Bauprojekte zusammengeschlossen, um die Baukörper aus einer Hand zu realisieren. Die Zusammenarbeit beschränkt sich dabei auf die Dauer des Projektes. Es hat keine vorherige und wird vermutlich auch keine nachfolgende Kooperation geben. Das Projekt selbst wird von den beteiligten Experten auf Grund der Größe, des Zeitdrucks und der zu bewältigenden Aufgaben als außergewöhnlicher Sonderfall beurteilt. Die Bauverträge, die Definition des zu errichtenden "Bau-Soll" und die Vereinbarung von Verfahren, die das tatsächlich ausgeführte "Bau-Ist" mit dem Soll abgleichen und so für eine Sicherung der Vertragsgrundlagen sorgen sollen, sind die Garanten für eine erfolgreiche Zusammenarbeit über den avisierten Projektverlauf von 5 Jahren. [3]

Hinter der Frage, wie eine Stabilität der vereinbarten Vertragsinhalte über die gesamte Dauer des Projektes gewährleistet werden kann, stehen hier Konzepte des Processual ordering (STRAUSS 1993), Anselm Strauss' Modifikation des berühmten Negotiated Order Ansatzes, sowie das der Übersetzung (LATOUR 1998). Die Projektkooperation wird als eine Kette von Aushandlungen und Übersetzungen begriffen. Die dabei entstehenden "Tatsachen" sind also sozial-konstruierte Tatsachen, die entstehende Ordnung ist eine soziale Ordnung. Ziel der Untersuchung war es entsprechend, die Praktiken zu identifizieren, die für die nötigen Übersetzungen (überörtlich und zwischenzeitlich) von handlungsleitenden Repräsentationen der Vertragsgrundlagen, des Bausolls und des gebauten Ist konstitutiv waren. [4]

Im folgenden soll zunächst die Konfliktkonstellation des Projektes "Bahnhof Potsdamer Platz" in seiner örtlichen und zeitlichen Dimension näher vorgestellt werden, um das Problem der Manufaktur "objektiver Fakten" deutlich zu machen. Daran anschließend werden als Ergebnis der Studie zwei zentrale Ordnungsmechanismen skizziert. Im Fazit wird abschließend eine Bewertung der Institutionalisierung dieser Projektorganisation vorgenommen. [5]

2. Ortsbesichtigung

Für diejenigen, die mit dem Ort nicht vertraut sind, soll zunächst der größere Kontext des Bauvorhabens benannt werden. [6]

Der Potsdamer Platz liegt im Zentrum Berlins. Er war Teil des Niemandslandes zwischen Ost und West. Erst 1989 durch den Fall der Mauer ist der Platz zurück in ein wiedervereinigtes Zentrum der Stadt gerückt. In diesem Zusammenhang gab es in den 90er Jahren neben der physischen Rekonstruktion des Stadtraumes eine intensive symbolische Arbeit an der Wiederbelebung des "Herzen Berlins". Die Grundstücke wurden an potente und repräsentative Firmen verkauft. Stadtentwicklung als Aufgabe der öffentlichen Hand wurde somit erstmalig vom Land Berlin an private Investoren abgegeben. Neben der Rekonstruktion eines ganzen Viertels ist das "historische" Projekt der unterirdischen Nord-Süd-Achse der Deutschen Bahn Teil des Stadtentwicklungsvorhabens. [7]

Mit hohem Tempo hat sich die Innenstadt seit den frühen 90er Jahren verändert: Bauunternehmen sind mit Hunderten von Arbeitern und Duzenden von Kränen an die Plandurchführung gegangen.2) [8]

Zur Untersuchung der hier skizzierten Fragestellung liegt der Fokus auf der Baugrube Potsdamer Platz. Der dort zu errichtende unterirdische Regionalbahnhof bildet die Schnittstelle zwischen dem 4-Milliarden-DM-Projekt der Wiederbebauung des Stadtviertels und der mit ebenfalls 4 Milliarden DM veranschlagten Nordsüd-Achse der Bahn. Der größere Kontext ist es, der den Ort für die Untersuchung neuer Institutionalisierungen von öffentlichen und privaten Akteuren interessant macht. [9]

3. Projektzeiten

Der Projektverlauf zwischen 1994 und 1999 kann in drei Phasen unterteilt werden:

Diese Unterteilung wird plausibel, wenn man das Verhältnis von Wandel und Kontinuität der Organisationsstruktur mit Hilfe eines Konzeptes von Evertett C. HUGHES (1971) faßt. Mit HUGHES können Projektorganisationen als dynamisches Netz von Interaktionsbeziehungen mit einem "aktiven Kern" im Zentrum – dem sogenannten "Going concern" – definiert werden.3) [11]

Der "Going concern" der ersten Phase, der Vertragsaushandlung, war ein möglichst zügiger Start der Bauarbeiten. Nach dem ersten Spatenstich stand dann in der zweiten Phase das Abwenden von Baustopps und Verzögerungen im Mittelpunkt, während nach der Fertigstellung des Rohbaus und des Stadtquartiers 1998 nur noch das Vermeiden eines Gerichtsverfahrens bei der endgültigen Kostenlegung den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den Investoren darstellte.



Grafik 1: The Project's Life Cycle [12]

Neben einer genauen Analyse des organisationellen Feldes, die ich hier nicht referieren werde, hat sich die Benennung der phasenspezifischen "Going concerns" als erkenntnisreich erwiesen. Die Aufmerksamkeit wird so auf die Anstrengungen gelenkt, die unternommen werden müssen, um die Kontinuität der Zusammenarbeit auch über die sich wandelnden Rahmenbedingungen hinweg zu gewährleisten. Somit erscheint die im Feld häufig geäußerte Klage, die Projektpartner würden jeweils ihre Partikularinteressen auf Kosten des gemeinsamen "Geistes der Verträge" [Interviewzitate] durchsetzen, in einem weniger normativen Deutungsrahmen: Die institutionellen Merkmale der jeweiligen Projektzeiten machen eine Reihe von Schwierigkeiten strukturell erklärbar. Formalisierungsdefizite in der Vertragsausführung, die am Ende des Projektes zu einer komplizierten baurechtlichen Auseinandersetzung über das beauftragte Bausoll geführt haben, werden als divergierenden Phasenlogiken und nicht als individuelles Versagen sichtbar: Die Logik der Bauausführung lief den Standardisierungen, die eine wichtige Voraussetzung für die Kostenlegung am Ende des Projektes sind, entgegen. Diese Tatsache verlangt den beteiligten Akteuren eine große Kunstfertigkeit ab, die Arbeit dennoch am Laufen zu halten und das Projekt unter diesen schwierigen Umständen erfolgreich beenden zu können. Der gemeinsame Wille, Baustopps zu vermeiden und so zügig wie möglich das Vorhaben umzusetzen, hat zu einem Handlungsmuster eines "Muddling through", um einen Begriff von LINDBLOM (1996) aufzunehmen, geführt; oder anders gesagt, zu einem an der Praxis geschulten Krisenmanagement. Eine strikten Anwendung der vereinbarten Standardisierungstechniken wäre zur konkreten Realisierung des Projektes kontraproduktiv gewesen. [13]

4. Ordnen auf der Baustelle

Welcher Repräsentationstechniken, welcher Praktiken bedarf es folglich in der Phase des Projektabschlusses, um dennoch eine Kostenvereinbarung auszuhandeln? [14]

Die Situation am Ende der Projektdurchführung ist auf Grund der veränderten Vertragsauslegungen knifflig. Vielfältige Übersetzungen sind zu leisten. In eine konsensfähige Kostenteilung müssen zum einen lokale Repräsentationen, d.h. die Verträge von 1994 und die ausgeführten Bauleistungen zwischen 1995 und 1997, zum anderen die translokalen Repräsentationen, d.h. technische und juristische Standards sowie Regeln öffentlicher Finanzierung etc., eingehen.



Grafik 2: Translations [15]

Diese Repräsentationen sind zum Teil allerdings ihrerseits umstritten. So müssen die einzelnen Dokumente, Listen, Tabellen und Zahlen, die schließlich eine solide Kostenvereinbarung bilden sollen, im Detail überprüft, überarbeitet und neu zusammengestellt werden. Diese Art von Arbeit stand im Mittelpunkt der Anstrengungen beider Investorengesellschaften in den letzten zwei Jahren. Es sind zentrale Tätigkeiten zur Integration der unterschiedlichen Repräsentationen zu einem abschließenden Kostenrechnungsdokument. [16]

Diese Übersetzungsleistungen können sog. Vermittlern zugeschrieben werden. Im Rückgriff auf die Actor-Network-Theory und hier im speziellen auf LAW (1986) sind mit der Kategorie "Vermittler" sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Akteure gemeint – in diesem Fall also das Zusammenspiel aus Dokumenten, standardisierten Verfahren und geschulten Spezialisten.4) [17]

5. Ergebnisse: Vermittlernetze und Ressourcenmobilisierung

Ein Ziel der Forschung am Potsdamer Platz war es, die Praktiken des Vermittelns und Repräsentierens zu identifizieren oder anders gesagt, etwas über die soziale Ordnung des Bauprozesses zu lernen. Eine Liste von Praktiken und ein Modell der im Verlauf des Aushandlungsprozesses komplexer werdenden Repräsentationen (Primärdokumente, Sekundärdokumente und Zahlen) sind Ergebnisse dieser Untersuchung. [18]

Auf die unterschiedlichen Formen der Repräsentationen und Praktiken möchte ich allerdings im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher eingehen. Statt dessen sollen zwei zentrale Handlungsmuster erwähnt werden, die in der Untersuchung herausgearbeitet werden konnten. Sie dienten der Klärung grundsätzlicher Streitpunkte zwischen den Investoren also der Überwindung von Übersetzungsbarrieren: Das erste Muster läßt sich als ein zyklischer Prozeß von Dekonstruktion und Schließung erarbeiteter Repräsentationen beschreiben. Neben dem Prozeß der Schließung , also der Staffelung verschiedener Repräsentationen5), wurde ein gegenläufiger Prozeß augenfällig. Die vom Vertragspartner entworfenen Darstellungen wurden jeweils detailliert überprüft und auf mögliche Fehldeutungen abgeklopft. Erst nach einer solchen Dekonstruktion konnte eine Aushandlung einer gemeinsamen Repräsentation stattfinden. [19]

Als zweiter Prozeß wurde eine Erweiterung des komplexen Vermittlernetzwerkes durch die Mobilisierung weiterer Wissensressourcen wichtig. Hierbei führte die Frage der abschließenden Kostenvereinbarung dazu, daß bei beiden Investorengesellschaften spezielle Expertengruppen mit den Kostennachträgen betraut wurden. Die Arbeit an den sog. Nachträgen erforderte neben einer guten Projektkenntnis auch ingenieurtechnische, juristische, betriebswirtschaftliche und methodische Qualifikationen. Jede wird durch mindestens einen ausgewiesenen Experten vertreten. Darüber hinaus werden bei Spezialaufgaben Vertragspartner wie die Bauüberwachung oder beratende Ingenieure hinzugezogen. Diese Zusammensetzung stellt sicher, daß verschiedene Kompetenzen in die Vereinbarung einfließen: Juristen, Ingenieure, Projektsteuerer und Kaufleute achten auf die Kompatibilität zu translokalen Formaten. Die Projektexperten, die das Projekt durch die Ausführung hindurch betreut haben, sind Garanten dafür, daß das Repräsentierte auch mit den lokalen Vorgängen übereinstimmt.6) Auf diese Weise entstehen kollektive Repräsentationen aus der Perspektive der jeweiligen Firma, die dann in weiteren Dekonstruktion/Schließungs-Schritten mit dem Vertragspartner verhandelt werden können. In den Vermittlernetzwerken spielt eine solche Kombination unterschiedlicher Wissensformen eine zentrale Rolle. Die Schriftlichkeit der Dokumente und deren Deutung durch die jeweiligen Experten stehen dabei für eine wichtige Ressource für das Repräsentieren. Darüber hinaus gewährleisten die Nachtragsgruppenexperten durch ihre Mitarbeit gewährleisten, daß bisher nicht verschriftlichtes Wissen im Formalisierungsprozeß nach Bedarf einfließen kann.7) [20]

Im Fall der Baugrube Potsdamer Platz scheinen die Verhandlungen allerdings zu keinem Ende zu kommen. Wie läßt sich das Versagen der Projektformalisierung und der nachträgliche Mehraufwand erklären, wenn wir es doch, wie die Beteiligten sagen, mit der "Bundesliga" des Baugewerbes zu tun hatten? Die unzureichenden Formalisierungsarbeiten während der Projektausführung sind aus meiner Perspektive nicht etwa, wie es im Feld häufiger zu hören ist, auf Unvermögen der lokalen Akteure rückführbar. Auch möchte ich mich nicht der Rede der Nachtragsverantwortlichen vom " aufkommenden Egoismus" anschließen. Vielmehr meine ich, daß mit der hier vorgelegten Untersuchung das Problem als eine defizitäre Institutionalisierung beschrieben werden kann. [21]

Die Studie zeigt, daß es gute Gründe für ein unverbundenes Nebeneinander von bestehenden Vereinbarungen und lokalen Praktiken in manchen Projektphasen gibt. Um das konkrete Projektvorhaben (den Bahnhofsbau) umzusetzen, bedarf es keiner kontinuierlichen Arbeit an Formalisierungen. Im Gegenteil wäre dies vermutlich mit zusätzlichem Zeitaufwand verbunden. Über mündliche Absprachen, kurzfristige Zwischenlösungen und in der gegenseitigen Unterstellung einer gemeinsamen Interpretationsfolie konnte die Zusammenarbeit in der Bauausführung gelingen. Für die Kostenvereinbarung zum Abschluß des Projektes wäre hingegen die stete Kopplung von Praktiken und Repräsentationen hilfreich gewesen. Diese Zielkonflikte der verschiedenen Projektphasen konnte nur in wenigen Fällen mit geschickten Institutionalisierungen umgangen werden.8) [22]

Es ist eine Stärke des Begriffspaares Repräsentationen und Praktiken, auf die sich wandelnden Kopplungsnotwendigkeiten im Projektverlauf aufmerksam zu machen. In diesem Punkt lassen sich Unterschiede zu den Konzepten der Grenzobjekte von STAR und GRIESEMER (1989) sowie "Plans and situated action" von SUCHMAN (1987) zeigen. Die Vorteilhaftigkeit einer gewissen Abstraktheit in der Definition der gemeinsamen Vereinbarungen kann zwar auch wie in den genannten Studien für bestimmte Handlungssituationen im Projekt der Gemeinsamen Baugrube angenommen werden. Jedoch wird für den Abschluß des Projektes am Potsdamer Platz ein sehr enges Kopplungsverhältnis der gemeinsamen Repräsentationen relevant. Unter diesen Umständen wird "Vertrauen" zu einer wichtigen Vokabel. Zu einem Zeitpunkt, da sich mit den Vertragsdokumenten allein ein gemeinsames Fortkommen nicht herstellen läßt, wird an den "Geist der Verträge" und den "Willen der Parteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses" appelliert. Da die Routineverfahren in der Handlungsvermittlung versagt haben, müssen andere "Praktiken des Formalisierens" die Projektarbeit einem gemeinsamen Ende zuführen. [23]

Zusammenfassend läßt sich sagen, eine stabile Zusammenarbeit der beiden Investoren, einem mit öffentlichen Mitteln haushaltenden und einem privatwirtschaftlich agierenden, ist im Rahmen einer vertragsbasierten Projektorganisation prekär. Es gibt keine hierarchische Spitze, die wie bei einer Zusammenarbeit zweier öffentlicher Organisationen regelnd eingreifen würde – etwa in Gestalt einer übergeordneten Behörde. Und im Gegensatz zur Interaktion im Rahmen einer von beiden Seiten unterhaltenen GmbH, eine Form die sich bei der Organisation der Baulogistik im Feld bewährt hat, ist das gemeinsame Interesse auch nicht in ein wirtschaftliches Interesse übersetzt worden. Letzteres würde bedeuten, daß allein aus dem Interesse am wirtschaftlichen Überleben der gemeinsamen Firma heraus, beide Investoren sich regelmäßig über die gemeinsame Sache verständigen müssen. [24]

Um eine vertragliche Kooperation wie im Fall der "Gemeinsamen Baugrube Potsdamer Platz" auf eine stabilere Basis zu stellen, bedarf es einer steten Pflege des gemeinsamen Repräsentationenbestands (Verträge, Termin- und Kostenpläne, Forderungskataloge). Dieses Bemühen um Formalisierungen entlang der gewöhnlichen Routinen konnten allerdings während der Durchführungsphasen nicht in ausreichendem Maße implementiert werden, da das Einhalten der Zeitpläne eher auf ein Krisenmanagement zurückzuführen ist, das von auf Grund von pragmatischen Zwischenlösungen und mündlichen Absprachen erfolgreich war. Trotz der entgegenlaufenden Eigenlogiken der Projektphasen ließen sich in der vorgelegten Analyse einige wenige Beispiele einer gelungener Integration der verschiedenen Managementansprüche finden. Insgesamt wurde für dieses Beispiel einer Projektorganisation deutlich, daß Transparenz und Stabilität nicht unbedingt handlungsleitende Kriterien sind. Sie sind sogar für das "Zusammen-Weiterkommen" nicht unbedingt förderlich. Jenseits eines (noch ausstehenden) erfolgreichen Abschlusses der Zusammenarbeit im konkreten Beispiel, bleibt für die weitere Untersuchung von Kooperationszusammenhängen und Projektorganisationen, die nicht oder nur teilweise über die Prinzipien Hierarchie und Markt geregelt sind, die Frage, wie eine längerfristige Stabilisierung gemeinsamer Vorhaben gelingen kann. [25]

Anhang 1: Methodisches Vorgehen

Gegenstand der Forschung sind die Formen der Zusammenarbeit eines komplexen Organisationsnetzwerkes. Ich möchte kurz ausführen, wie forschungspraktisch mit dem Problem umgegangen wurde, nicht überall sein zu können und doch eine ausreichende "Materialdichte" für eine detaillierte Analyse zu erhalten.

Vier kurze Organisationsethnographien wurden von unterschiedlichen Orten in der Arena der Gemeinsamen Baugrube angefertigt. Die Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle stellen daher eine Form der hier verwendeten Daten dar.9) Zur Auswahl eines relevanten Falls und zur Rekonstruktion seiner Geschichte wurden problemzentrierte Interviews10) im Zusammenhang mit der Erhebung und Ausarbeitung des ethnographischen Materials wie auch umfassende Dokumentenanalysen genutzt.

Mit Hilfe einer Datentriangulation wurden die Materialien der teilnehmenden Beobachtungen, sowie problemzentrierte Interviews und Dokumente aufeinander bezogen.11) Das Material konnte so zu einer Fallgeschichte verdichtet werden. Mit dem Kodierverfahren der Grounded Theory12) wurden erste strukturierende Analyseschritte unternommen. Diese Arbeit hat das auf qualitative Datensätze ausgerichteten Computerprogramm Atlas.ti sehr erleichtert. Hier konnten ausgewählte Felddokumente, Interview- und Feldprotokolle in einer "hermeneutischen Einheit" zusammengefaßt und gemeinsam kodiert werden. Diese analysierende Verschlagwortung war eine wichtige Grundlage für die fallbezogene Konzeptualisierung des Begriffspaares Repräsentationen/Praktiken.

Bei dem von mir gewählten Forschungsansatz ist das Ziel der Kombination unterschiedlicher Datentypen, den im Feld vorhandenen Perspektiven und Repräsentationsebenen in der Untersuchung Rechnung tragen zu können. Ein einheitliches oder gar "objektives" Bild wird und soll daraus nicht entstehen. CZARNIAWSKA (1998, S.30) führt eine Möglichkeit am Beispiel von Interviews und teilnehmender Beobachtung aus, wie die Differenzen in den unterschiedlichen Materialien produktiv genutzt werden können. Interviews ermöglichen es beispielsweise, etwas über die Selbstrepräsentation der beforschten Organisationen zu erfahren. Eine teilnehmende Beobachtung hingegen versetzt die Forscherin in die Lage, eigene Repräsentationen der betreffenden Organisation zu erarbeiten. Die Differenzen, die sich aus der Gegenüberstellung beider Darstellungen ergeben, generieren neue Fragen und Hypothesen über die Formen des Organisierens vor Ort. Die Ergebnisse der Forscherin dienen somit als Kontrastfolie für die Repräsentationen des Feldes. Dieses Verfahren läßt sich auch auf Vergleiche der "geschichteten" Repräsentationen des Feldes übertragen, d. h. in diesem Zusammenhang auf Repräsentationen, die an unterschiedliche Adressaten gerichtet sind, wie z.B. Öffentlichkeit und Presse, Interview-, VertragspartnerInnen oder MitarbeiterInnen.

Dabei gilt prinzipiell, alle Arten von Repräsentationen und Praktiken innerhalb der Organisationen am Potsdamer Platz ernstzunehmen. Eine Darstellung der Praktiken in der Infobox oder gegenüber der Presse ist nicht weniger "echt" als die in einem Gespräch zweier Nachtragsgruppenmitglieder. Auch die wissenschaftliche Perspektive kann nicht gegen eine andere als die "richtigere" ausgespielt werden. Durch ein solches Vorgehen läßt sich ein Bild zusammensetzen, das detaillierter Auskunft über die Praktiken des Organisierens geben kann.

Welche Methoden welche Art von Informationen liefern würden, stand anfangs nicht fest. Es stellte eine wichtige Felderfahrung dar zu lernen, was beispielsweise von einem Interview zu erwarten war. Manche Gesprächsverläufen ich enttäuschten, da die Antworten zeigten, daß es nicht gelungen war, die Differenzen der Deutungsfolien der soziologischen Perspektive und der bauwirtschaftlichen oder juristischen zu überbrücken. Wartezeiten in einem mit den Arbeitsmaterialien einer Nachtragsgruppe dekorierten Besprechungszimmer oder die bloße Anwesenheit im Büro meines Gesprächpartners waren in diesen Situationen oft instruktiver als das Interview selbst. Im folgenden soll kurz auf die einzelnen Datenquellen vorgestellt werden.

Dokumente

Eine Einsichtnahme in soziale Verhandlungsprozesse war im Vergleich zu Interviews und insbesondere zur teilnehmenden Beobachtung über den Weg der Aktenanalyse am unproblematischsten. Als nützliche Dokumente erwiesen sich vor allem Schriftwechsel zwischen den Vertragsparteien sowie zwischen den Mitarbeitern und Beratern innerhalb einer Organisation, weiterhin Sitzungsprotokolle, die Dokumentation des Bauprozesses, interne Positionspapiere, Pläne, Datentabellen und Übersichten über Prozeßabläufe.

Interviews

Bei dieser Erhebungsmethode wurde es für mich besonders deutlich, daß der erste Erkenntnisschritt beim Arbeiten in einem ethnographischen Feld der ist, eine gemeinsame kommunikative Ebene zu finden. Erst wenn das gelingt, können die Forschungsdokumentationen zu analysierbaren "Daten" werden.

Techniksoziologische Studien, wie die zur "Visual culture of engineers" von HENDERSON (1995), sensibilisieren für dieses Problem der im Vergleich zu den Sozialwissenschaften anderen Kommunikationsformen von Ingenieuren. Skizzen, Pläne, Grafiken etc. werden in den Arbeitsfeldern von Ingenieuren zu Mitteln der Verständigung. Die Lernerfahrung für mich bestand darin, mich auf diese feldspezifischen narrativen Formate einzulassen, anstatt allein mit meinen Fragen Erzählungen generieren zu wollen. Eine Grafik vorzulegen oder einen Gedanken anhand einer Skizze auszuführen, wurde zu einer nützlichen Verständigungsform. Meine Gesprächspartner benutzten häufig meine graphischen Andeutungen, um ihre Sicht der Dinge in derselben Zeichnung einzutragen.

Die Interviews habe ich im Zeitraum zwischen 1996 und 1999 meistens vor der Teilnehmenden Beobachtung in einer Organisation geführt sowie verschiedene "Feedback-Gespräche" einige Wochen nach dem Feldaufenthalt. Bei letzteren habe ich jeweils einen Bericht von etwa 15-30 Seiten an die an der Forschung beteiligten Akteure zurückgegeben. Die Feedbackgespräche haben verschiedene Funktionen erfüllt. Erstens konnte ich prüfen, ob die geschilderten Fallbeispiele sachlich richtig dargestellt waren. Zweitens haben diejenigen, die mir einen Einblick in ihr Arbeiten ermöglicht hatten, sich ein Bild von der soziologischen Verarbeitung dieser Eindrücke machen können. Drittens war dies eine Form, die Fragestellung und Thesen in der Diskussion zu präzisieren sowie weitere Informationen und möglicherweise einen erneuten Feldzugang zu erhalten.

Die Feedbackgespräche haben mir außerdem Erkenntnisse darüber vermitteltet, welche Anpassungsleistungen im Feld vollzogen wurden, um sich der soziologischen Perspektive auf ihr Tätigkeitsfeld anzunähern. Die Rückmeldungen waren sehr verschieden. Aus den gesammelten Reaktionen der Mitarbeiter habe ich eine kleine Typologie zusammengestellt, in die die sozialwissenschaftliche Forschung eingebettet wurde:

1) Schadensbegrenzung: Die Texte werden nicht daraufhin gelesen, "ob dies alles stimmt, was Sie hier schreiben". Es wird kurz auf das Bild der Organisation hin überprüft, das dort gezeichnet wird. Ziel ist es abzuschätzen, ob das Firmenimage durch die Analyse Schaden nehmen könnte.

2) Nachwuchsförderung: Als jemand mit langer Berufserfahrung sei man verpflichtet, die jungen Leuten in ihrem Fortkommen zu unterstützen. Schließlich sei man früher selbst auf die Unterstützung älterer Kollegen angewiesen gewesen.

3) Reflexivitätsangebot: Die soziologischen Betrachtungsweisen böten die Möglichkeit, mal die eigene Arbeit mit anderen Augen zu sehen, denn eigentlich müßte man mal ein paar Wochen aussteigen, um dann mit neuer Übersicht im Projekt weiterarbeiten zu können.

4) Übersetzungshilfe: Der Text sei sehr hilfreich gewesen, denn man habe endlich einmal seiner Familie gegenüber darstellen können, "was man da den ganzen Tag so macht."

5) Wissensvermittlung: Die Forschung müsse unbedingt zu Ende geführt werden, wenn die Nachtragsvereinbarung zustande gekommen sei. Dann könne man daraus eine "Pflichtbettlektüre" für alle zukünftigen Projektleiter und Ingenieure machen, damit ähnliche Schwierigkeiten vermieden werden könnten.

Teilnehmende Beobachtung

Die Grundproblematik einer Teilnehmenden Beobachtung im Kontext eines saumlosen Organisationsfeldes ist, daß die Forscherin auf das Hier und Jetzt ihrer räumlichen Anwesenheit an nur einem Ort angewiesen ist. Damit steht sie hinter der Mobilität und Vielörtlichkeit zurück, in denen sich zu verhandelnde Sachverhalte zwischen den Organisationen und ihren Untereinheiten hin und her bewegen. Es wäre vermessen, als einzelne Forscherin die gesamten Organisationsprozesse eines Bauprojektes einfangen zu wollen. Aber auch generell kann es in einer ethnographischen Forschung nicht um die vollständige Erfassung aller sozialen Prozesse des Feldes gehen. Vielmehr zielt das Erkenntnisinteresse auf ein Identifizieren von für das Feld spezifischen Grundmustern (AMANN & KNORR CETINA 1995, S.423). CZARNIAWSKA schlägt zur Lösung des Problems der Ortsgebundenheit einer Ethnographie eine teilnehmende Beobachtung qua "Shadowing", dem Wandern durch das Feld an der Seite eines Managers, vor (CZARNIAWSKA 1998, S.28) Dieser Weg konnte im Projekt jedoch nicht gegangen werden, da die fraglichen Personen sich auf die Angebote einer sozialwissenschaftlichen Begleitung nicht einließen. Statt einer Begleitung der Feldakteure auf der Geschäftsführungsebene wurden Aufenthalte in einzelnen Projekten und Abteilungen möglich. Mit vier kurzen Aufenthalten13) wurde die Beobachtung an verschiedenen Orten des Organisationsnetzes angesiedelt. Damit konnten ein paar Mosaiksteine wichtiger Knotenpunkte des Projektzusammenhangs gesammelt werden.

Anhang 2: Interviewzitate

Anhang 3: Glossar

Aktor-Network-Theory (ANT)

Die ANT ist in den 1980er Jahren in Paris von einigen Technik- und Wissenschaftssoziologen entwickelt worden. Bruno LATOUR, Michel CALLON und John LAW haben sich in ihren Forschungen für die Produktion von "objektiven Fakten" in naturwissenschaftlichen Forschungslaboren sowie für die technischen Artefakte der Ingenieure interessiert. Das Ziel dieser Forschungen war es, Fakten und Artefakte als wichtige Teilnehmer eines Handlungsnetzwerkes in der Konstruktion der Wirklichkeit zu berücksichtigen. Mit der symmetrischen Behandlung von Menschen und Dingen präsentiert die ANT einen sehr weit gefaßten Handlungsbegriff. Dort wird entsprechend der semiotischen Definition alles und alle zum "Aktant", also zum Handelnden, was als Subjekt eines Satzes stehen kann. Ein Akteursnetzwerk setzt sich somit aus menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten zusammen. Die Untersuchung der Verbindungen zwischen diesem ausgeweiteten Kreis der Handelnden wird nun zum eigentlich interessanten soziologischen Forschungsgegenstand: "The sociologist studies all associations, but in particular the transformation of weak into strong ones and vice versa." (CALLON & LATOUR 1981, S.300).

Bedeutsam ist daran, daß die ANT damit auch neutral gegenüber Metaerklärungen oder Hintergrundordnungen ist. Im Netzwerk gibt es kein Außen. Alles, was bedeutsam wird, ist Teil des Netzwerkes. Diese Zusammenhänge in ihrer Heterogenität nachzuzeichnen und zu analysieren ist daher die Aufgabe. LATOUR bezeichnet deshalb die ANT auch als eine "Networktracing activity" (LATOUR 1996, S.378). Das Ziel einer Forschung unter diesen Prämissen ist es, mehr über die jeweiligen Übersetzungen, über die Vermittler und über die Faktenstabilisation zu erfahren.

Komplexe Organisationsfelder

Dieser Terminus bezeichnet als analytisches Hilfsmittel den für die Untersuchung relevanten Ausschnitt aus dem Organisationsgefüge. Das Organisationsfeld ist beispielsweise bei DiMAGGIO (1983, S.148) definiert als: "sets of organizations that together accomplish some task in which a researcher is interested." Der Begriff "Feld" geht dabei in einer doppelten Konnotation von gemeinsamer Zielsetzung einerseits und Interessenkonflikten andererseits auf BOURDIEUs "Champ" zurück.

Negotiated Order Approach

1978 hat Anselm STRAUSS in seinem Buch "Negotiations" eine systematische Beschäftigung mit Aushandlungsprozessen sozialer Ordnung vorgeschlagen. Eine der prägnantesten Beschreibung dessen, was demzufolge als "Negotiated Order Approach" eine breite Rezeption erfahren hat, geben MAINES und CHARLETON (1985, S.271f.): "It [the 'negotiated order perspective'] stresses the point of view that one of the principal ways that things get accomplished in organizations is through people negotiating with one another, and it takes the theoretical position that both individual action and organizational constraint can be comprehended by understanding the nature and contexts of those negotiations."

In Erweiterung dieses Fokus' auf Aushandlungen schlägt STRAUSS später (1993, S.254ff.) vor, anstelle von "Negotiated order" von "Processual ordering" zu sprechen. Auf diese Weise soll eine Überbetonung der Aushandlungsaspekte bei der Konstruktion sozialer Ordnung vermieden werden. Als alternative Koordinationsmodi wurden bereits im Buch über Aushandlungen "persuading, eduction, maipulating, appealing to the rules or to authority, and coercion" (STRAUSS 1978, S.x) genannt.

Praktiken

Wenn jede Repräsentation einer Übersetzung in konkrete Handlungssituationen bedarf, rücken – wie im Fall der Baugrube Potsdamer Platz – die Praktiken des Übersetzens in den Blickpunkt. Der Praktikenbegriff liegt damit nah an dem, was bei STRAUSS mit der Bezeichnung "Articulation process" gemeint ist: "'Articulation process' refers to the overall organizational process that brings together as many as possible of the interlocking and sequential elements of total work, at every level of organization – and keeps the flow of work going." (STRAUSS 1988, S.164) In diesem Zusammenhang ist die Teilnehmende Beobachtung ein wertvolles Instrument, um auch die eher impliziten Formen dieses Prozesses zu erfassen.

Zu den wichtigen Praktiken im hier vorgestellten Fall gehören: der Aufbau kompetenter Bearbeitungsgremien auf beiden Seiten und die Abstimmung der Arbeitsweisen zwischen den Gremien, das Standardisieren von Abläufen und eine explizite parteiliche Positionierung, die Identifikation und die hierarchische Delegation von Problemen sowie das Bilden strategischer Allianzen mit externen Experten.

Repräsentationen

Verträge, Pläne, Tabellen, Listen und sonstige Dokumente stellen in den Verhandlungen der Baugrube Repräsentationen dar. Sie sind Versuche, das, was war/ist/sein soll, schriftlich oder bildlich zu fixieren. Repräsentationen sind die Produkte von Übersetzungsprozessen. In der Analyse der Nachtragsverhandlungen konnten drei wichtige Typen von einander unterschieden werden: Primärdokumente, Sekundärdokumente und Zahlen – als Repräsentationen dritten Grades.

Die Typen unterscheiden sich anhand ihres unterschiedlichen Grades an Faktenaggregation und ihres zeitlichen Bezuges. Während ein Primärdokument meist ein Ereignis wie eine Sitzung oder die Bauleistungen eines Tages zusammenfaßt, werden in einem Sekundärdokument Verläufe eines längeren Zeitraumes abgebildet. Sekundärdokumente entstehen daher in der Regel als Zusammenfassung einer Vielzahl von Primärdokumenten. Zahlen schließlich werden aus dem Abgleich von verschiedenen Prozeßabbildungen generiert und sollen als Grundlage einer Monetarisierung dienen. Die Übersetzungsarbeiten, die auf dem Weg zu einer Kostenvereinbarung geleistet werden müssen, führen also zu einer Staffelung der unterschiedlichen Repräsentationen, einer Verdichtung der Vorgänge auf wenige Ziffern und Linien in schriftlichen und visuellen Formaten.

Obwohl sie mit dem Geltungsanspruch "so ist es gewesen" bzw. "so soll es sein", vorgebracht werden, bleiben sie im hier vorgestellten Beispiel meist nicht unwidersprochen. So entstehen entweder zeitgleich oder in der Reaktion auf vorgelegte Darstellungen, konkurrierende Repräsentationen desselben Phänomens. Inhalt und Geltung der jeweiligen Version sind entsprechend umstritten.

Übersetzungen

Mit diesem Konzept ist nicht an die Übertragung von Bedeutungen von einer Sprache in eine andere gedacht. Vielmehr schließe ich hier an die Definitionen an, die im Rückgriff auf Michel SERRES in den wissenschafts- und techniksoziologischen Arbeiten von CALLON, LAW und LATOUR geprägt worden sind. Übersetzen heißt, eine neue und zugänglichere Form für viele bisher noch unverbundene Objekte zu finden (CALLON & LAW 1989, S.64). Bei LATOUR (1998, S.34) lautet die Definition kurz gefaßt: "Wie Michel Serres verstehe ich unter Übersetzung eine Verschiebung oder Versetzung, eine Abweichung, Erfindung und Vermittlung, die Schöpfung einer Verbindung, die in dieser Form vorher nicht da war und in einem bestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten modifiziert."

Der Übersetzungsprozeß führt zusammen, was vorher verschieden war, er verändert und vereinfacht. Dabei verweist die neue Form trotzdem noch auf ihre unterschiedlichen Vorgängerelemente, sie repräsentiert sie. Der Übersetzer hat sich zum Sprecher dieser Repräsentation gemacht (CALLON 1986, S.223). Im Begriff der Übersetzung ist also immer eine Balance zwischen Bedeutungsveränderung und -stabilität impliziert. Die Autorität eines Sprechers, der Definitionsmacht bei der Repräsentation hat, impliziert neben der Bedeutungsdimension auch noch eine Machtdimension: "To speak for others is to first silence those in whose name we speak." (CALLON 1986, S.216)

Anmerkungen

1) Der Begriff "translokal" soll andeuten, daß an kontextgebundene Gültigkeiten von Vereinbarungen gedacht ist. Eine Allgemeingültigkeit jenseits aller lokalen Aneignung wird somit verneint. Ein Wandern der verhandelten Dokumente vom Entstehungszusammenhang in andere Geltungskontexte erfordert jeweils eine erneute Einbettung zu den dort geltenden Bedingungen. <zurück>

2) Im Internet ist der schnelle Wandel und die Bebauung des Stadtraums archiviert. Seit 1994 wurde jeden Tag ein Panoramabild der Baustelle (http://www.cityscope.de/cityscope_de/kameras/potsdamerplatz/paktuell.html) der virtuellen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. <zurück>

3) Der englische Terminus "Going concern" soll wegen seiner alltagssprachlichen Konnotationen beibehalten werden. Als Bedeutungsannäherungen schlägt STRÜBING (1997, S.369) "gemeinsames Vorhaben" vor und stellt die implizite Bedeutung von einem "prozeßhafte[n] Zueinander-in-Bezug-Setzen von Akteuren über ein solches Vorhaben" heraus. <zurück>

4) Entsprechend ist mein Begriff von Übersetzern hier weiter gefaßt als beispielsweise der von BROWN und DUGUID (1999, S.85), die ihn den externen Fachberatern vorbehalten. In meiner Verwendung werden auch die firmeninternen Wissensmakler, wie die Projektexperten bei BROWN und DUGUID heißen, eingeschlossen sowie "nicht-menschliche" Akteure wie Dokumente und Verfahren, also "Grenzobjekte" in der Sprache von STAR und GRIESEMER (1989). <zurück>

5) Vgl. hier die ähnlichen Konzepte der "Layered representation" (STAR 1995, S.94) und der "Cascades of representations" (LATOUR 1986, S.17f.). Bei beiden AutorInnen wird allerdings der Aspekt der Schließung bzw. der Immunisierung gegen eine erneute Dekonstruktion betont. Ein solches Stadium haben die Repräsentationen in der Zeit meiner Forschung allerdings nicht erreicht. Die Dekonstruktion und die prinzipielle Klärung einzelner Grundsatzfragen stellte einen Hauptbestandteil der Arbeit in den Nachtragsgruppen dar. <zurück>

6) Dieser Prozeß läßt sich sehr schön anhand von Schriftwechseln nachvollziehen. In den Nachtragsgruppen werden Schreiben gemeinsam verfaßt, die offiziell vom Geschäftführer der einen Firma an den Geschäftsführer der anderen Firma gerichtet sind. Der erste Entwurf in einigen Beispielen der Knoten-Nachtragsgruppe wird vom ingenieurtechnischen Experten per Fax an die anderen Gruppenmitglieder versandt. Der Rechtsanwalt macht handschriftlich einige Korrekturen und ergänzende Bemerkungen. Der Projektleiter schreibt schließlich die Endfassung und legt sie seinem Chef zur Unterschrift vor. <zurück>

7) Vgl. KNORR CETINA (1988), die den Aspekt der Körperlichkeit impliziten Wissens am Beispiel naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit sehr gut veranschaulicht. <zurück>

8) Das Beispiel des Bautagebuchvordrucks stellt so einen gelungenen Fall dar: Die Bauüberwachung hat die Formatvorgaben des Bauherrn Bahn als Teil ihrer Dokumentationsroutine übernommen. Auf diese Weise konnten teilweise Praktiken der Formalisierung im Bauverlauf stabilisiert werden. Vgl. dazu LAWs Konzept von "Long-distance control" (1986) sowie STAR und GRIESEMERs vierten Typus von Grenzobjekten (1989). <zurück>

9) Ausführlich zur Methode siehe SPRADLEY (1980). <zurück>

10) Damit ist eine Form von Leitfadeninterviews gemeint, in der neben der thematische Fokussierung die Fragen offen gehalten sind, um "den Befragten sehr weitgehende Artikulationschancen einzuräumen und sie zu freien Erzählungen anzuregen." (HOPF 1995, S.178) <zurück>

11) Vgl. FLICK (1995, S.432f.) für die Beschreibung verschiedener Triangulationsformen in der qualitativen Datenanalyse. <zurück>

12) Siehe zum Kodieren, dem Bilden von Kategorien und "Theoretical sampling" des von GLASER und STRAUSS (1967) entwickelten Verfahrens zur datengenerierten Theoriebildung STRAUSS und CORBIN (1990, S.57ff.) sowie STRAUSS (1994, S.90ff.). <zurück>

13) Die Orte der einwöchigen Beobachtungsphasen waren die Arbeitsplätze der Mitarbeiter der baulog, der Gesamtprojektsteuerung, der Bauüberwachung und des sogenannten Überwachungszentrums beim Knoten. <zurück>

Literatur

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Zur Autorin

Gesine BÄR ist Diplomsoziologin und arbeitet derzeit in der Forschungsgruppe "Public Health" am Wissenschaftszentrum Berlin. Ihre Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen Wissens- und Organisationssoziologie. Als Projekttutorin am Nordeuropa-Institut der Humboldt Universität Berlin beschäftigt sie sich außerdem mit dem Thema Die Konstruktion von Stadt: Stockholm und Berlin im Vergleich.

Kontakt:

Gesine Bär

Wissenschaftszentrum Berlin
Arbeitsgruppe Public Health
Reichpietschufer 50
D-10785 Berlin

E-Mail: gbaerlin@zedat.fu-berlin.de

Zitation

Bär, Gesine (2000). Mit Andern eine Grube graben. Projektorganisation und Fakten-Schaffen auf der Großbaustelle "Regionalbahnhof Potsdamer Platz" [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1), Art. 23, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0001236.

Revised 7/2008

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