Volume 10, No. 1, Art. 16 – Januar 2009

Qualitative Sozialforschung – interkulturell gelesen: Die Reflexion der Selbstauslegung im Akt des Fremdverstehens

Jan Kruse

Zusammenfassung: In diesem Beitrag sollen die beiden Thesen begründet werden, dass interkulturelle Kommunikation im Grunde genommen das kommunikative Paradigma qualitativer Interviewforschung ist und vice versa die qualitative Interviewforschung das methodische Paradigma interkultureller Kommunikation: Denn auf der einen Seite vermag aus linguistischer Perspektive das qualitative Paradigma mit seinen methodischen Grundprinzipien der Kommunikativität und Kontextsensitivität zwar das Problem der Indexikalität menschlicher Sprache und Kommunikation nicht zu lösen, aber doch fruchtbar aufzuarbeiten. Die "Be-" bzw. "Abarbeitung" von Indexikalität ist dabei auch eine Kernaufgabe von interkultureller Kommunikation. Auf der anderen Seite steht die Aufarbeitung des linguistischen Problems der Indexikalität menschlicher Sprache und Kommunikation selbst wiederum im Schatten des erkenntnistheoretischen Problems des Fremdverstehens. So wie Fremdverstehen der zentrale Modus von interkultureller Kommunikation ist, stellt die im Paradigma der rekonstruktiven Forschung entwickelte methodische Kontrolle des Fremdverstehens den Verfahrenskern qualitativer Interviewforschung dar. Qualitative Interviewforschung und interkulturelle Kommunikation konvergieren also deutlich in zweifacher Hinsicht. Im Anschluss an diese theoretischen Überlegungen sollen die Ausführungen anhand eines Praxisbeispiels veranschaulicht werden.

Keywords: Indexikalität; Fremdverstehen; qualitative Interviewführung; Selbstreflexivität; theoretische Sensibilität; Prozessualität

Inhaltsverzeichnis

1. Die Aufarbeitung von Indexikalität: methodische Stärke qualitativer Interviewforschung und Grundprinzip interkultureller Kommunikation

2. Das Prinzip des Fremdverstehens: die zweite methodische Stärke qualitativer Interviewforschung und Basis interkultureller Kommunikation

3. Was erfahren wir über uns selbst, wenn wir qualitativ forschen? – Ein Beispiel zur reflexiven Entdeckung fremder indexikaler Bedeutung

4. Schlussbemerkung

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Die Aufarbeitung von Indexikalität: methodische Stärke qualitativer Interviewforschung und Grundprinzip interkultureller Kommunikation

Empirische Sozialforschung hat das Ziel, der "Wirklichkeit" auf die Spur zu kommen, wie immer diese auch aussehen mag (vgl. WATZLAWICK 1976). Hierfür gibt es bekanntermaßen zwei große methodische Paradigmen: die quantitative und die qualitative Forschung: Die quantitative Sozialforschung ermöglicht mit ihrem standardisierten, d.h. stark kontrollierenden und a priori konzeptualisierten Zugang zur "Wirklichkeit" das Messen großer Fallzahlen und die Identifizierung von Häufigkeiten und Regelmäßigkeiten, von Zusammenhängen und Strukturen. Ihr zentrales Problem ist dabei, wie diese Kontrolle des Zugangs erfolgt und mit welchen vorab definierten Konzepten der Zugang zur "Wirklichkeit" gewählt wird (vgl. SCHÜTZE, MEINEFELD, SPRINGER & WEYMANN 1973; BOHNSACK 2000; SEIPEL & RIEKER 2003). Genau hierin liegt nun m.E. die Stärke der qualitativen Sozialforschung im Allgemeinen, aber im Besonderen der qualitativen Interviewforschung, auf die im Folgenden fokussiert wird. Mit ihren beiden Grundprinzipien der Kommunikativität und der Kontextsensitivität (HOFFMANN-RIEM 1980) ermöglicht sie es, die Vielfältigkeiten und Kontingenzen von "Wirklichkeit" aufzuspüren, um die komplexen Muster zu beschreiben, nach denen die befragten Subjekte ihre Wirklichkeit selbst konzeptualisieren (vgl. HELFFERICH 2005). Dies ist möglich, da die qualitative Interviewforschung mit ihren beiden Stärken der Kommunikativität und Kontextsensitivität es vermag, die Indexikalität menschlicher Sprache und Kommunikation, mit der Sinn bzw. Wirklichkeit ja konstruiert wird, aufzuarbeiten. Und das zentrale Wesensmerkmal menschlicher Sprache und Kommunikation ist ihre Indexikalität (siehe GARFINKEL 1973; AUER 1999, S.127ff.; NÖTH 2002; LUTZEIER 2002; LINKE, NUSSBAUMER, PORTMANN & WILLI 2004). [1]

Die Indexikalität von Sprache, von begrifflichen Zeichen, meint ganz allgemein, dass sich die Bedeutung eines Begriffs immer nur in seinem konkreten Zeichengebrauch und in Relation zu anderen begrifflichen Konzepten konstituiert (AUER 1999, S.127ff.; LINKE et al. 2004, S.17ff.). Es können hierbei eine situativ-kontextuelle und eine begrifflich-referenzielle Dimension von Indexikalität unterschieden werden. Beide Dimensionen hängen jedoch eng miteinander zusammen, da der situative Kontext eines Begriffes immer auch schon seine referenzielle Bedeutung setzt. Bereits Harold GARFINKEL hat sich im Rahmen seiner ethnomethodologischen Studien mit der Indexikalität von Begriffen umfassend auseinandergesetzt und diese in Anlehnung an Edmund HUSSERL als "Gelegenheitsausdrücke" (GARFINKEL 1973, S.202, 212) bezeichnet, um die kontextuelle und referenzielle Vagheit eines jeden Begriffs zu betonen:

"Gelegenheitsausdrücke, wie wir etwas vereinfacht sagen wollen, sind solche sprachlichen Formulierungen, deren Sinn von einem Hörer (in der doppelten Bedeutung des Wortes) 'nicht festgestellt' werden kann, ohne dass letzterer mit Notwendigkeit über folgendes etwas wissen oder annehmen muss: über die Lebensgeschichte und die Absichten des Benutzers des Gelegenheitsausdruckes, über die situativen und textlichen Umstände der Äußerung, über den vorangehenden Gesprächsverlauf oder über die besondere tatsächliche oder potentielle Interaktionsbeziehung, die zwischen Sprecher und dem Hörer besteht. Gelegenheitsausdrücke müssen Ausdrücken entgegengestellt werden, deren Gegenstandsinhalte dadurch festgestellt sind, dass eine geordnete Menge von Verarbeitungsregeln herangezogen wird. Von diesen Verarbeitungsregeln wird angenommen, dass sie ohne Ansehung der Eigenarten und Lebensgeschichte des Benutzers ihre Stellung behaupten, d.h. in strikt mechanischer Anwendung ohne irgendwelche interpretativen Vermittlungen oder gar Abstriche durchgehalten werden können." (GARFINKEL 1973, S.202f.; siehe auch ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN 1973, S.258f.; AUER 1999, S.129f.) [2]

Innerhalb der situativ-kontextuellen Dimension von Indexikalität zeigt sich, dass die Bedeutung eines Begriffes für sich immer nur in seinem situativen Verwendungskontext verstehbar wird. Die anschaulichsten Beispiele hierfür sind die klassischen Deiktika, also Zeigewörter wie "hier", "da", "dort" usw. Neben diesen Deiktika weisen jedoch alle Begriffe und gerade auch ganze Sprechakte eine situativ-kontextuelle Indexikalität auf. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks bzw. eines Sprechaktes – und hierauf hat bereits Karl MANNHEIM hingewiesen – wird immer nur durch seinen situativen Zeichengebrauch im Kontext einer historisch gewachsenen bzw. lebendigen kommunikativen Szene verständlich1):

"Das ist eben das Wunder der lebendigen Rede, dass sie ein jedes Wort stets in einen einmaligen Zusammenhang stellt und von der spezifischen Totalität des Satzes, und noch mehr von der tragenden Unterströmung der Mitteilung vom Rhythmus und vom Assoziationsfluss her einem jeden Worte einen individuellen Sinn zu verleihen imstande ist." (MANNHEIM 1980, S.218) [3]

Ein anschauliches Beispiel hierfür ist auch Ironie: Die Aussage des Tagungsveranstalters zum Referenten: "Ihren Vortrag haben Sie ja toll hingekriegt" kann ganz Unterschiedliches bedeuten, je nachdem, ob sich das Auditorium in stehenden Ovationen oder im Tiefschlaf befindet. [4]

Neben der situativ-kontextuellen Dimension von Indexikalität weist aber jeder Begriff an sich auch eine begrifflich-referenzielle Dimension von Indexikalität auf. Das heißt, dass die Bedeutung eines Begriffes immer nur verständlich wird in einem semantischen Netzwerk von Begriffen bzw. begrifflichen Konzepten, mit denen er in Relation steht. Ein Beispiel hierzu: Der Begriff "Dorf" kann in seinem konkreten Gebrauch ganz Unterschiedliches bedeuten, je nachdem, ob er in dem semantischen Netzwerk von "langweilig", "nur eine Straße", "die Kirche steht in der Mitte", "Jauchegeruch" und "Kaff" steht, oder in dem semantischen Netzwerk von "Gemeinschaft", "Ordnung", "Besinnlichkeit" und "Kraft spendender Rückzugsort". Die Genese dieser referenziellen Indexikalität von Begriffen hat wiederum Karl MANNHEIM bereits herausgearbeitet:

"Wir wollen […] darauf hinweisen, dass ein Wort in benennender Funktion eine ganz andere Bedeutung aufweist als dasselbe Wort als Allgemeinbegriff in definitorischer Charakterisiertheit. Während erstere Wortbedeutung nur einen Sinn hat, wenn man sie in die anschaulichen, erlebnismäßigen Unterlagen zurückversetzt, besitzen die letzteren Wortbedeutungen zumindest eine relative Abhebbarkeit vom jeweiligen Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang, wodurch die Täuschung entsteht, dass das Erkennen, ein jegliches Erkennen, sich in dieser Ebene der Abhebbarkeit abspielt und das Gedachte vom existentiellen Unterstrome stets abgehoben und verselbstständigt werden kann." (MANNHEIM 1980, S.220) [5]

MANNHEIM unterscheidet – vergleichbar mit der Differenzierung in denotativ und konnotativ – einen generalisierten bzw. immanenten (oder auch objektiven) Sinngehalt und einen konjunktiven bzw. dokumentarischen Sinngehalt eines Begriffes. Hierzu nochmals MANNHEIM selbst:

"Der Berg als Berg bleibt Berg; der Berg in konjunktiver Erfahrung dagegen ist vielleicht für einige Generationen ein 'Zaubergarten', mag dann zur 'Landschaft' werden oder sonst etwas für die Erfahrungsgemeinschaft bedeuten. Der Berg ist, die Kollektivvorstellung bezieht sich auf ihn. Die Kollektivvorstellung mag sich in ihrem Inhalte verändern, aber ihre Seinsweise ist auch später die des Sichbeziehens auf seiende Dinge." (MANNHEIM 1980, S.231) [6]

Der konnotative bzw. dokumentarische Sinngehalt eines Begriffes, den ein/e Sprecher/in verwendet, umfasst dabei nicht nur, wie das Zitatbeispiel verdeutlicht hat, die Ebene eines konjunktiven Erfahrungsraumes durch die kollektive Eingebundenheit des Sprechers bzw. der Sprecherin in eine konjunktive Erfahrungsgemeinschaft wie Generation, Milieu oder Kultur. Er umfasst auch die individualbiografische Erfahrungsaufschichtung eines Sprechers/einer Sprecherin, die sich in einem Begriff symbolisch verdichten kann. Diese Dimension könnte als idiosynkratische Indexikalität bezeichnet werden. [7]

In der qualitativen Sozialforschung hat Harold GARFINKEL die Problematik der Indexikalität menschlicher Sprache und Kommunikation im Rahmen seiner ethnomethodologischen Studien weit bekannt gemacht. Prominent geworden sind seine Krisen- oder auch Brechungsexperimente, hierzu zwei kurze Beispiele2):

"P: Hallo Ray, wie fühlt sich deine Freundin?

S: Was meinst Du mit der Frage, wie sie sich fühlt? Meinst du das körperlich oder geistig?

P: Ich meine: wie fühlt sie sich? Was ist denn mit dir los? (Er wirkt eingeschnappt.)

S: Nichts. Aber erklär mir doch ein bisschen deutlicher, was du meinst.

P: Lassen wir das. Was macht deine Zulassung für die medizinische Hochschule?

S: Was meinst du damit: Was macht sie?

P: Du weißt genau, was ich meine.

S: Ich weiß es wirklich nicht.

P: Was ist mit dir los? Ist dir nicht gut?"

   

"Freitagabend saßen mein Mann und ich gerade vor dem Fernseher. Mein Mann bemerkte, er sei müde. Ich fragte:

S: In welcher Hinsicht bist du müde? Körperlich, geistig oder nur gelangweilt?

P: Ich weiß es nicht genau. Ich nehme an, hauptsächlich körperlich.

S: Meinst du, dass deine Muskeln schmerzen bzw. deine Knochen wehtun?

P: Ich nehme an … Sei nicht so spitzfindig.

(nach weiterem Zuschauen)

P: In all diesen alten Filmen gibt es dieselbe Art von Eisenbettgestell.

S: Woran denkst du dabei? Meinst du alle alten Filme, oder einige von ihnen, oder gerade nur diejenigen, die du selbst gesehen hast?

P: Was ist mit dir los? Du weißt was ich meine.

S: Ich wünschte, du würdest mehr ins Einzelne gehen.

P: Du weißt was ich meine. Hör bloß auf!"3) [8]

GARFINKEL rekurriert ausführlich auf Karl MANNHEIM, der lange Zeit im deutschsprachigen Raum nicht rezipiert wurde. Erst über die Arbeiten von Ralf BOHNSACK, der sich mit seiner dokumentarischen Methode sowohl auf Harold GARFINKEL als auch auf Karl MANNHEIM bezieht, wurde MANNHEIM quasi als Re-Import wieder bekannter. GARFINKEL definiert das Ziel ethnomethodologischer Forschung als "the investigation of the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishments of organized artful practices of everyday life" (GARFINKEL 1967, S.11, zit. n. AUER 1999, S.130). In diesem Zusammenhang können die beiden herangezogenen Beispiele sehr schön illustrieren, wie sich interkulturelle Kommunikation respektive qualitative Interviewführung vom Kommunikationsmodus bzw. der Gesprächsführung her im Prinzip gestalten müssten: nämlich indexikalisierend ("was meinst du damit?"). [9]

Diese Ausführungen können verdeutlichen, dass interkulturelle Kommunikation und qualitative Interviewforschung in der linguistischen Problematik der Indexikalität stark konvergieren. Die Grundproblematik interkultureller Kommunikation ist gerade, dass Sprecher/innen sehr unterschiedlicher konjunktiver Erfahrungsgemeinschaften miteinander kommunizieren – mit Begriffen, die eine differente Füllung von indexikalen Bedeutungen haben. Die Aufgabe interkultureller Kommunikation im Sinne eines geglückten Verstehensprozesses ist damit die gegenseitige Entschlüsselung hochgradig indexikaler Begriffe und Sprachhandlungen. Interkulturelle Kommunikation wird im Grunde genommen darüber zu einem kommunikativen Paradigma qualitativer Sozial- bzw. Interviewforschung – und vice versa: Denn die Stärke gerade qualitativer Interviewverfahren ist die Ermöglichung und Eröffnung "inter-kultureller" Kommunikation, um die indexikalischen Bedeutungen der subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen der zu beforschenden Subjekte zu entschlüsseln. Dies ist, wie bereits ausgeführt, auch ihre Stärke gegenüber dem quantitativen Paradigma, das aufgrund seines standardisierten Zugangs zur sprachlichen Wirklichkeit der zu erforschenden Subjekte im Prinzip immer genötigt ist, Begriffe zu verwenden, die von ihrer Indexikalität gereinigt bzw. "geheilt" (GARFINKEL 1973, S.213) sind. Dies ist aber grundsätzlich unmöglich:

"Mit Indexikalität gehen die Gesprächsteilnehmer und die Wissenschaftler verschieden um. Für die ersteren ist sie ein unbemerktes und nicht kommentierenswertes Faktum. Zwar sind wir im Alltag oft nicht mit dem zufrieden, was der Andere oder wir selbst gesagt haben; wir elaborieren, reparieren oder reformulieren es. Es kommt natürlich auch vor, dass wir von unserem Gesprächspartner gebeten werden, die Bedeutung einer sprachlichen Handlung metakommunikativ zu erläutern. […] Allerdings wären alle Antworten auf solche Reparaturinitiierungen, wiewohl sie einen Teil der indexikalischen Vagheit der ursprünglichen Äußerung beseitigen könnten, selbst wieder indexikalisch und daher prinzipiell reparaturbedürftig. […] Würde man nun versuchen, die Indexikalität der Antwort in einem weiteren metakommunikativen Schritt aufzuklären […], so erhielte man erneut indexikalische und daher reparaturbedürftige Antworten. Vermutlich kämen wir schnell an die Grenzen, wo unser Gesprächspartner Bedenken über unser Befinden äußern würde. Der theoretisch infinite Regress von Erklärungen, die jeweils die vorausgehende Äußerung des Anderen ein Stückchen zu de-indexikalisieren suchen, dabei aber neue erklärungsbedürftige Äußerungen nach sich ziehen, ist in der Praxis des Alltagslebens schon nach wenigen 'Reparaturrunden' am Ende." (AUER 1999, S.130) [10]

Und GARFINKEL (1973, S.213f.) führt zum Umgang mit Indexikalität in der Wissenschaft aus:

"Das Ärgernis mit indexikalischen Ausdrücken wird immer dann dramatisch, wenn Untersuchungen angestellt werden, um für die praktische Rede die Formulierung und Entscheidbarkeit von Sinnalternativen, von Tatsachenalternativen, von Alternativen in der methodischen Vorgehensweise oder von Alternativen im Sinnverständnis zwischen 'kulturellen Kollegen' zu erreichen. Merkmale indexikalischer Ausdrücke haben unter Berufswissenschaftlern endlose methodologische Studien hervorgerufen, die auf ihre 'Heilung' bzw. Abhilfe abzielen. […] In welcher Wissenschaft auch immer – konkrete Situationen in der Praxis ablaufender Forschungsaktivitäten bieten Forschern endlos viele Gelegenheiten und Motive für Versuche, indexikalische Ausdrücke zu heilen bzw. ihnen abzuhelfen. […] Gerade derartige Studien beharren unnachgiebig auf ihren Zielen, einerseits eine programmatisch bedeutsame Unterscheidung zwischen objektiven und indexikalischen Ausdrücken durchzuhalten, und andererseits eine programmatisch bedeutsame Ersetzbarkeit der indexikalischen Ausdrücke durch objektive zu erreichen. In solchen programmatischen Untersuchungen über formale Eigenschaften menschlicher Sprachen und des praktischen Denkens bleiben die Eigenschaften von indexikalischen Ausdrücken notorisch unvermeidlich und unheilbar […]." [11]

Hierzu ein Beispiel: Fragt man in einer standardisierten Studie im Feld der Beziehungs- und Familienforschung nach dem Beginn einer Partnerschaft, um ein messbares Datum zu erhalten, wird man in einer qualitativen Studie erfahren, dass "Partnerschaft" ein hoch indexikaler Begriff ist. Denn was bedeutet "Partnerschaft" und wann beginnt eine solche? [12]

Der methodische Vorsprung von qualitativen gegenüber standardisierten Verfahren ist also die Möglichkeit, die Indexikalität sprachlicher Wirklichkeitskonstruktionen selbst zum Forschungsgegenstand werden zu lassen und zu bearbeiten, ein Punkt, den bereits in den 1970er Jahren die ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN mit Bezug auf CICOUREL insgesamt für die empirische Sozialwissenschaft als methodologische Grundvoraussetzung gefordert hatte: "[…] die sozialwissenschaftliche Methodologie könne nur dann gerettet werden, wenn sie sich explizit dem Indexikalitätsproblem und den mit ihm zusammenhängenden praktischen Idealisierungen zur Bewältigung der indexikalischen Verflechtungen in der jeweiligen Interaktionssituation […] widme" (ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN 1973, S.259). [13]

Damit ist aber noch nicht das Problem gelöst, wie die Indexikalität von Begriffen bzw. von menschlicher Sprache und Kommunikation aufgearbeitet werden kann. Und so kommen wir zu dem zweiten Moment, in dem interkulturelle Kommunikation und qualitative Interviewforschung konvergieren. Denn in den Kommunikationsprozessen dieser beiden Settings wird zur Entschlüsselung indexikaler Bedeutungen zwangsläufig auf das Prinzip des Fremdverstehens rekurriert. Dieses ist im Grundsatz in allen hermeneutischen Ansätzen aufgearbeitet worden (vgl. SCHÜTZE, MEINEFELD, SPRINGER & WEYMANN 1973) und findet sich im Paradigma rekonstruktiver Forschung methodisiert wieder, z.B. gerade in der dokumentarischen Methode. Ein weiterer Forschungsstrang, in dem das Prinzip des Fremdverstehens methodisch umfassend konzeptualisiert worden ist, ist die Ethnografie, in der die "Befremdung der eigenen Kultur" (AMANN & HIRSCHAUER 1997) die Voraussetzung dafür bildet, andere Kulturen "fremd-zu-verstehen". Auch in der interkulturellen Kommunikation bildet dieses "Fremd-Verstehen" den modus operandum: Denn wenn ich als Angehöriger einer konjunktiven Erfahrungsgemeinschaft – einer Kultur – mit Angehörigen einer ganz anderen konjunktiven Erfahrungsgemeinschaft – einer anderen Kultur – kommuniziere, so sind mir die indexikalen Bedeutungsfüllungen ihrer sprachlichen Wirklichkeitskonstruktionen grundsätzlich fremd, und diese Fremdheit gilt es zu deuten, um sie "fremd-zu-verstehen". Noch virulenter wird es, wenn dann diese beiden Beteiligten auch noch ihren sprachlichen Code wechseln, um scheinbar die Verständigung untereinander zu erleichtern. Interkulturelle Kommunikation und somit das Problem des Fremdverstehens beginnen jedoch nicht erst, wenn eine deutsche Ethnologin mit einem Eingeborenen aus Papua Neuguinea kommuniziert. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich im Folgenden nochmals einen Schritt zurücktreten und rekapitulieren, was denn Fremdverstehen überhaupt ist. [14]

2. Das Prinzip des Fremdverstehens: die zweite methodische Stärke qualitativer Interviewforschung und Basis interkultureller Kommunikation

Das zentrale Erkenntnisprinzip qualitativer Sozialforschung im Allgemeinen und qualitativer Interviewforschung im Besonderen ist das des Verstehens. Verstehen ist allerdings ein ganz alltägliches "Programm" der Welterschließung, der Wirklichkeitsauslegung (vgl. SOEFFNER 2004; HITZLER, REICHERTZ & SCHRÖER 1999). Doch was heißt "Verstehen"? Ronald HITZLER (1993, S.223f.) definiert Verstehen als "jenen Vorgang […], der einer Erfahrung Sinn verleiht". Verstehen ist also ein Prozess der Bedeutungsgabe und somit der Sinnkonstruktion. Bereits Alfred SCHÜTZ (1974) hat allerdings darauf hingewiesen, dass Verstehen genau genommen stets ein Fremdverstehen darstellt. Ronald HITZLER (a.a.O.) definiert Fremdverstehen in Anlehnung an SCHÜTZ als "jenen Vorgang […], der einer Erfahrung den Sinn verleiht, dass sie sich auf ein Ereignis in der Welt bezieht, dem alter ego bereits einen Sinn verliehen hat". Was dies bedeutet, wird leicht verständlich, wenn wir betrachten, dass menschliche Fremdverstehensleistungen in der Regel in Kommunikationsprozesse eingebettet sind, womit auch wieder eine direkte Verbindung zur qualitativen Interviewforschung und zur interkulturellen Kommunikation hergestellt ist. Die folgenden Ausführungen sind dabei im Wesentlichen an das Kommunikations- bzw. Fremdverstehensmodell von Alfred SCHÜTZ (1974) angelehnt. [15]

Verstehen in Kommunikationssituationen ist ein Prozess, bei dem ein Kommunikant (ego) stets eine Deutung dessen vornimmt, was ihm von einem anderen Kommunikanten (alter) mitgeteilt wird. Jeder der beiden Kommunikanten kommuniziert dabei auf der Basis des eigenen Wissenshintergrundes bzw. Relevanzsystems, das semantisch-indexikal angelegt ist: Die zu verstehende Mitteilung, die der oder die eine Gesprächsbeteiligte kommuniziert, kann der/die andere Gesprächsbeteiligte nur verstehen, indem sie an das eigene Relevanzsystem adaptiert wird. Verstehen ist also – kognitionspsychologisch betrachtet – die Übersetzung des zu Verstehenden in das eigene semantisch-indexikale Relevanzsystem. Verstehen stellt damit immer das Verstehen von Fremdem dar, denn alles, was außerhalb unseres eigenen Relevanzsystems existiert, ist uns grundsätzlich fremd. Genau diese Tatsache wird jedoch in alltäglichen Kommunikationsprozessen bewusst ausgeblendet: Wie Alfred SCHÜTZ (1974) herausgearbeitet hat, wird nur mit der "Reziprozität der Perspektiven", welche auf zwei idealisierenden Unterstellungen beruht, nämlich auf der "Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte" und der "Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme" Kommunikation praktisch überhaupt möglich. Auch Harold GARFINKEL (1973) pointiert diesen Umstand – und was geschieht, wenn hiermit gebrochen wird, hat GARFINKEL sehr anschaulich mit seinen bereits referierten "Krisenexperimenten" demonstriert (s.o.). [16]

Fremdverstehen ist somit grundsätzlich eine Deutung von Fremdem. Aber es bleibt stets eine Selbstdeutung, eine Selbstauslegung, da wir eben nur mit unserem Relevanzsystem verstehen können. Hierauf hat ebenfalls Alfred SCHÜTZ (1974, S.156) bereits ausdrücklich hingewiesen, was in der Methodologie qualitativer Sozial- bzw. Interviewforschung aber immer wieder allzu leicht vergessen zu werden scheint.4) Mit anderen Worten: Wenn wir mit Fremdverstehen beschäftigt sind, verstehen wir in gewisser Weise letztlich doch immer nur uns selbst – oder eben auch nicht. [17]

Verstehen ist damit im Grunde genommen immer nur als eine relative Annäherung aufgrund von Idealisierungen sowie Annahmen in Hinblick auf eine sozial geteilte Welt und von praktischen Aushandlungen sowie akzeptierten kommunikativen Basisregeln möglich. Hieraus ergibt sich auch die Begründung des zentralen Prinzips der Offenheit für die qualitative (Interview-) Forschung: Wenn wir keine andere Möglichkeit haben, als nur mit unserem eigenen Relevanzsystem zu verstehen, ist es notwendig, soweit wie möglich zu versuchen, unser eigenes Relevanzsystem zwar nicht zurückzustellen, was nicht möglich ist, aber zurückzunehmen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn man sich für das eigene, semantisch-indexikale Relevanzsystems reflexiv sensibilisiert. Dies bedeutet gerade auch, sich auf die eigenen Akte der Selbstauslegung beim Fremdverstehen insbesondere theoretisch zu sensibilisieren.5) Nur hierdurch wird es möglich, das eigene Relevanzsystem weitgehend zu öffnen, um das Fremde an sich heranzulassen6), damit dessen Sinnstrukturen sich entfalten können (vgl. hierzu auch BOHNSACK 2000, S.20ff.). Diese selbstreflexive, theoretische Sensibilisierung kann dabei in enger Anlehnung an das Konzept der theoretischen Sensibilisierung ("theoretical sensitivity") in der Grounded-Theory-Methodologie verstanden werden, das von GLASER ausgearbeitet wurde und auf das sich auch STRAUSS und CORBIN beziehen (siehe GLASER 1978; STRAUSS & CORBIN 1996; KELLE 1996). Dieses Konzept stellt dabei erstens auf der Basis von Vorwissen und Fachliteratur eine lediglich heuristische anstatt eine determinierende Funktion für die Gestaltung von Erkenntnisprozessen dar. Zweitens bedeutet es, die eigenen Relevanzkonzepte und deren Wirkung auf den Forschungs- und Analyseprozess zu reflektieren. Es zeigt sich hierbei also auch eine starke Überschneidung mit dem in der Ethnografie entwickelten Konzept der "Befremdung der eigenen Kultur" (AMANN & HIRSCHAUER 1997) und dem Konzept des "methodisch kontrollierten Fremdverstehens" (vgl. BOHNSACK 2000; SCHÜTZE, MEINEFELD, SPRINGER & WEYMANN 1973), worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden soll. Im Zusammenhang mit dem weit bekannten "induktivistischen Selbstmissverständnis" (KELLE 1996; KRUSE 2008) sei an dieser Stelle allerdings darauf hingewiesen, dass diese erkenntnistheoretische Bewegungsumkehr natürlich nicht im strengen Sinne möglich ist, da Verstehen stets einen dialektisch verschränkten Prozess von Induktion und Deduktion darstellt. Dies ist auch der Grund dafür, dass die häufig zitierte "Attitüde der künstlichen Dummheit" (HITZLER 1986) m.E. eine völlig irreführende Metapher sowohl für qualitative (Interview-) Forschung (ausführlicher KRUSE 2008) als auch für interkulturelle Kommunikation ist. Sie suggeriert nämlich, die deduktiven Anteile der Verstehensprozesse ausschalten zu können, frei nach dem Motto: "wir tun so, als ob wir nichts wüssten und dumm sind". Die im Rahmen des ethnografischen Paradigmas herausgearbeitete "Befremdung der eigenen Kultur" bedeutet also auch nicht, wie bereits ausgeführt, das Zurückstellen der eigenen Vorannahmen und eine theorielose oder theorieabstinente Forschung. Es verdeutlicht – wie alle anderen angeführten Konzepte – die Notwendigkeit der reflexiven theoretischen Sensibilisierung auf die eigenen präsuppositiven Konzepte, um so Offenheit zu ermöglichen. Es soll damit vermieden werden, im Forschungsprozess das eigene Relevanzsystem und damit die eigenen Sinnstrukturen zu stark in die fremden Sinnstrukturen hineinzulegen. Denn ansonsten verstehen wir von dem fremden Sinnsystem nichts, sondern nur uns selbst bzw. nur das, was uns passt, und somit nur das, was wir ohnehin bereits wissen.7) Hieraus folgt, dass neue Erkenntnis nur dann möglich wird, wenn wir irritiert werden, worauf bereits DEVEREUX hingewiesen hat (vgl. DEVEREUX 1973; SCHOLZ 2005, S.393ff.): Die Irritation unseres eigenen Relevanzsystems ist der Wegweiser zu neuer Erkenntnis bzw. zum Verstehen fremden Sinns. Wer im Forschungsprozess nicht mannigfaltige Situationen der Irritation verspürt und diese Irritation zum Anlass der Reorganisation des eigenen Relevanzsystems nimmt, forscht tautologisch. Forschung, so folgt daraus weiter, muss stets in höchstem Maße reflexiv sein: Wer forscht, muss nicht nur die eigenen Forschungsgegenstände erforschen, sondern stets auch noch die eigene Forschung erforschen. Dies bedeutet praktisch, dass wir, wenn wir andere erforschen, meistens mehr über uns selbst erfahren, und dass wir uns dies vergegenwärtigen müssen, um Erkenntnisfortschritte im weiteren Forschungsprozess ermöglichen zu können.8) [18]

Fazit: Die abschließenden Überlegungen zum Problem des Fremdverstehens und seiner ansatzweisen Lösung im Paradigma qualitativer Interviewforschung gelten ganz analog für die erkenntnistheoretische und kommunikationspraktische Modalisierung von interkultureller Kommunikation. Damit wären meine Ausführungen zu der These, dass interkulturelle Kommunikation im Grunde genommen das kommunikative Paradigma qualitativer Interviewforschung ist und vice versa die qualitative Interviewforschung das methodische Paradigma interkultureller Kommunikation, in ihrer Argumentationsfigur auch abgeschlossen. Es gilt sie nun anhand eines Praxisbeispiels aus der qualitativen Interviewforschung – das zudem aus einem interkulturellen Setting stammt – zu veranschaulichen. [19]

3. Was erfahren wir über uns selbst, wenn wir qualitativ forschen? – Ein Beispiel zur reflexiven Entdeckung fremder indexikaler Bedeutung

Das folgende Beispiel soll in Anlehnung an die beiden referierten Probleme der Indexikalität menschlicher Sprache und Kommunikation sowie des Fremdverstehens verdeutlichen, wie wichtig in der qualitativen Forschung eine theoretische Sensibilisierung in Hinblick auf die eigenen Relevanzsysteme ist, d.h. in welchem Ausmaße in der qualitativen Forschung die eigenen Relevanzsysteme zum Erkenntnisgegenstand gemacht werden müssen – und nur in dieser Reflexivität die Möglichkeit besteht, fremde indexikale Sinnstrukturen zu rekonstruieren. [20]

Das herangezogene Textmaterial stammt aus einem Interview aus der Pilotstudie "Beziehung, Partnerschaft, Familiengründung. Familienbildungsprozesse in gegengeschlechtlichen Partnerschaften". Im Rahmen dieses Lehrforschungsprojektes am Institut für Soziologie an der Universität Freiburg wurden auf der Basis eines rekonstruktiven Ansatzes in drei Wellen (in dem Zeitraum Sommer 2005 bis Sommer 2007) Paare teil-narrativ dazu befragt, wie es sich in ihrer Partnerschaft ergeben hat, dass sie zu Kindern gekommen sind – nicht im biologischen Sinne, dies scheint hinreichend geklärt zu sein –, oder – bei befragten Paaren, die noch keine Kinder haben – wie ihre Familienplanung aussieht.9) [21]

In den ersten beiden Wellen wurden die Paare jeweils getrennt befragt (mit N=30 Paare, also 60 Interviews), in der 3. Welle wurden weitere Paare befragt, nun aber gemeinsam (N=12), zudem wurden auch einige Paare aus den vorherigen beiden Wellen nochmals gemeinsam nachbefragt (N=8). Waren in der ersten Welle vor allem deutsche Paare befragt worden, wurden in der zweiten Welle systematischer auch Paare mit Migrationshintergrund befragt, um in dieser Hinsicht komparative Analysen der Familienplanungsmuster zu ermöglichen. Die vorliegende Textpassage ist entnommen aus einem Interview mit einer 31-jährigen verheirateten Libanesin mit mehreren Kindern, die biografisch früh geheiratet hat und während des Libanon-Krieges nach Deutschland gekommen ist. Das Interview wurde geführt von einer deutschen Soziologiestudentin. Der Transkriptauszug gibt die Einstiegspassage des Interviews wieder10):

I: So (.) ALso (.) ÄHM (.) BEVOR ich jetzt mit dem interview ANFANGE (.) nochmal kurz worums GEHT (.) also es geht um PARTNERSCHAFT BEziehung und FAMILIE (.) in dem INTERVIEW (1) äähm ja und es geht halt drum wie wie wies zu ner FAmiliengründung kommt also die ENTSCHEIdungsprozesse und so was (.) ähm und des GANZE isn OFFENES interview also des heisst ich hab schon nen LEITfaden wo ich halt FRAgen stelle zu bestimmten THEMENKOMPLEXEN [mhm] aber es is halt offen also des heisst sie können ERZÄHLEN so viel wie sie MÖCHTEN (.) äh ich werd sie da auch gar nicht UNTERBRECHEN des auch gibt auch kein RICHTIG oder kein FALSCH oder so was sondern des is einfach (.) [ja erzä-] also (.) ziemlich offen (.) JA also un die erste FRAGE WÄR dass sie mir einfach mal ERZÄHLN wie sie ihren jetzigen PArtner kennengelernt haben.

P: oh je (.) also EIgentlich war das wie (.) äh TRADITION (.) HEIRAT [mhm] JA also äh ich hab ihn überhaupt nischt kennengelernt (.) äh unsere FAmilie s:-sind verwandt, [mhm] JA. [mhm] äh MEIne mutter un sein VATER und MUTTER sind äh COUSIN [mhm]. JA. und bei UNS WENN gute familie und andere gute familie ah ja gibts ja guts MÄDCHEN er guter JUNGE [mhm] und JA (.) so wars dann äh HAM wir einfach mal GETROFFEN [mhm] ja ABER natürlich reischt nischt zum KENNENGELERNT [mhm] kennenlernen (.) und äh NA JA (.) dann ham wir (.) war gründlisch gut [mhm] isch auch (.) dann ja ham wir oke: gesagt [mhm] JA und [mhm] JA ham wir geheiratet.

[Unterbrechung: Teepause]

I: ALSO sie ham ja jetzt ERZÄHLT wie sie ihren jetztigen PARTNER KENNengelernt HABEN [mhm] ähm (.) also dass es eben ähm faMILIENVERMITTelt war QUASI

P: ähm JA

I: Fällt ihn ja?

P: ja VERWANDT ja also wir sind halt VERWANDT

I: A okay. (.) Fällt ihnen da noch was ein DAZU oder [äh] gibts da noch was zu ERZÄHLEN

P: eigentlich (.) ni:scht [22]

Im Folgenden sollen anhand einer sequenziellen mikrosprachlichen Analyse11) die zentralen Motive und Thematisierungsregeln12) herausgearbeitet werden. Es soll verdeutlicht werden, wie wichtig eine theoretische Sensibilisierung in Hinblick auf die eigenen Relevanzkonzepte ist, um so die notwendige Selbstreflexivität bzw. eine Verfremdungshaltung (vgl. AMANN & HIRSCHAUER 1997) im Forschungsprozess zu ermöglichen. Dabei zeigt sich, wie viel wir über uns selbst als Forschende erfahren können bzw. müssen, um so an fremde indexikale Bedeutungsstrukturen zu gelangen. [23]

Die Anfangspassage des Interviews beginnt mit der Einstiegsinformation seitens der Interviewerin. Eine solche Einstiegsinformation zu Beginn des Interviews ist methodisch gesehen sehr wichtig: Sie hat die Funktion, die interviewte Person sozusagen dort abzuholen, wo sie gerade ist, kurz zu skizzieren, worum es inhaltlich geht. Sie verdeutlicht nochmals den Ablauf des Interviews und muss dabei die Spezifika des Kommunikationsmusters im qualitativen Interview hervorheben: Nämlich dass offene Fragen gestellt werden und dass innerhalb dieses offenen Gesprächs die befragte Person mit ihren eigenen Relevanzkonzepten im Mittelpunkt steht, dass die befragte Person von sich aus ganz eigenstrukturiert erzählen soll, dass der oder die Interviewende nicht unterbricht oder wertet. Da dies eine hohe und auch ungewohnte Anforderung für die interviewte Person darstellt, sollte in diesem Zusammenhang auch auf Ängste eingegangen und verdeutlicht werden, dass es aus der Perspektive der Forschenden kein "Richtig" und kein "Falsch" gibt, was meistens eine sehr entlastende Wirkung zeigt. [24]

Die vorliegende Einstiegsinformation ist relativ standardisiert, wird aber im konkreten Fall von der Interviewerin stark alltagssprachlich modalisierend und mit dialektalen Elementen umgesetzt, was im Sinne des "Schlüsselprinzips" (HOFFMANN-RIEM 1980) ebenfalls eine öffnende und angstnehmende Wirkung zu haben scheint.13) Problematisch bleibt aus methodischer Perspektive der Interviewführung allerdings, dass die Interviewerin zweimal einen starken ICH-Bezug setzt: das Interview stellt jedoch eine gemeinsam zu bewältigende Aufgabe dar, die ein kooperatives WIR verlangt. [25]

Die Interviewerin eröffnet sodann mit dem Einstiegsstimulus: "JA also un die erste FRAGE WÄR dass sie mir einfach mal ERZÄHLN wie sie ihren jetzigen PArtner kennengelernt haben". Der Stimulus ist eine Vorgabe durch den Gesprächsleitfaden und enthält in zentraler Weise die Konzepte "Partner" und "kennengelernt". Die Modalpartikel "einfach" ist ad hoc durch die Interviewerin selbst hinzugefügt und ist vermutlich erneut ein Versuch, der Interviewten zu signalisieren, dass die ihr gestellte Aufgabe ja nicht schwierig sei. Dies erscheint so jedoch nur aus der Perspektive der Interviewerin, denn die Interviewte reagiert ganz anders: nämlich mit der problematisierenden Interjektion "oh je", mit der sie dem "einfach" der Interviewerin eine Schwierigkeit gegenüberstellt. Und anhand des Explikationsmarkierers "also" signalisiert sie, auch gleich weiter auszuführen, worin die Schwierigkeit besteht und baut hierfür eine Analogie auf: "eigentlich war das wie (.) äh TRADITION". Damit setzt sie bereits ein Gegenmotiv zu dem Konzept des "kennengelernt", dessen präsuppositiver, d.h. sinnvoraussetzender Kern als westliches Konzept sie implizit erkannt hat, und worauf sie abgrenzend eingeht, indem sie fortführt: "JA also ich hab ihn überhaupt nischt kennengelernt". Es zeigt sich hier in auffälliger Weise, dass sowohl das Konzept des "kennengelernt" als auch das Ich in einer Negation thematisiert werden: Anstelle eines individualisierten Handlungs-Ich wird in der Folge ein Kollektiv gesetzt. Das narrative Ich ist familiär verbunden, also in ein kollektives System eingebunden, dessen Beziehungsverhältnis zudem verdeutlicht wird: "unsere FAmilie sind verwandt, JA. MEIne mutter un sein VATER und MUTTER sind COUSIN". Die Anschlussproposition, d.h. die folgende Satzaussage ist nun insofern interessant, als sie eine konditionale Qualifizierung dieses kollektiven Verhältnisses darstellt, die in ihrer pragmatischen Funktion, d.h. in Hinblick auf die Gestaltung der kommunikativen Beziehung, als analogisierende Abgrenzung gegenüber der Interviewerin gelesen werden kann: "und bei UNS WENN gute familie und andere gute familie ah ja gibts ja guts MÄDCHEN er guter JUNGE". Diese Qualifizierung stellt also eine antizipierende Rezeptionssteuerung dar, d.h. eine vorwegnehmende Reaktion in Bezug auf einen westlichen Topos gegenüber – in diesem Fall – islamischer Heiratspraxis: Verwandtschaftssysteme erzwängen eine Heirat. Die Analogisierung dieser Abgrenzung besteht nun darin, dass sich zwar die Interviewte von den antizipierten westlichen Konzepten und Topoi abgrenzt, dies aber erzählpraktisch in einer diskursiven Orientierung auf die Konzepte der Interviewerin hin realisiert, um so einen verstehenden Nachvollzug überhaupt zu ermöglichen – was im Übrigen durch die affimierenden Rezeptionssteuerungssignale "mhm" der Interviewerin bestätigt wird. Die Befragte realisiert die analogisierende Abgrenzung dabei anhand zahlreicher semantischer Differenzierungen: dem "Hier-und-Jetzt" setzt sie ein "bei uns" entgegen, und in zentraler Weise setzt sie dem Konzept des "kennengelernt" ein "getroffen" gegenüber, das sie mit den Selbstverständlichkeitsmodalisierungen "und ja", "so", "dann" "einfach" rahmt: "und JA so wars dann äh HAM wir einfach mal GETROFFEN". Mit der Unverbindlichkeitspartikel "mal" unterstreicht die Interviewte dabei nochmals die Ergebnisoffenheit des Handlungsprozesses. Darauf folgt in einem syntaktisch schnellen Anschluss wiederum eine antizipierende Rezeptionssteuerung, die erneut eine analogisierende Abgrenzung in Hinblick auf die präsuppositive, d.h. sinnvoraussetzende Perspektive der Interviewerin darstellt: "ja ABER natürlich reischt nischt zum kennenlernen". Auf diese analogisierende Abgrenzung folgt in einem parenthetischen Einschub über das "gründlisch gut" zum zweiten Male eine Qualifizierung, mit der sie das im westlichen Verständnis akzidentelle "getroffen" als relevant und bedeutsam – im Sinne einer Prüfung – markiert und damit verdeutlicht, dass sich hieraus eine handlungslogische Konsequenz ergibt: die Heirat. Es fällt zudem auf, dass die Befragte hierbei wiederum mehrfach einen starken Wir-Bezug setzt, der als die Hervorhebung von Gemeinsamkeit und Konsensualität gedeutet werden kann: "und äh NA JA (.) dann ham wir (.) war gründlisch gut isch auch (.) dann ja ham wir oke: gesagt JA und JA ham wir geheiratet" Das ebenfalls parenthetische "isch auch" kann als eine Einverständniserklärung durch das narrative Ich in die damaligen Handlungsabläufe interpretiert werden. [26]

Daraufhin folgt im Interview eine Unterbrechung: Im Rahmen orientalischer Gastfreundlichkeit wird erst einmal Tee getrunken, bevor das Interview fortgeführt werden kann.14) Nach der Unterbrechung versucht die Interviewerin den Anschluss an zuvor zu knüpfen, indem sie die bisherigen Aussagen der Befragten paraphrasierend zusammenfasst. Dass dies keine paraphrasierende Zusammenfassung ist, sondern eine starke subjektive Deutung darstellt, zeigt sich darin, dass die Interviewerin im Rahmen der Abarbeitung ihrer Konzepte eine Rückübersetzung in die eigenen theoretischen Relevanzkonzepte vornimmt und das "Kennenlernen" des "Partners" mit dem Neologismus "faMILIENVERMITTelt" deutet. Das nachgeschobene "quasi" weist allerdings auf eine Irritation der Interviewerin an dieser Stelle hin, die sie aber nicht zum Anlass nimmt, an ihren eigenen, vorbewussten theoretischen Konzepten in reflexiver bzw. sensibilisierender Weise zu arbeiten und mit weiteren offenen, erzählgenerierenden Stimuli zu dem "Kennenlern-Prozess" der Befragten von damals anzuschließen.15) Die Befragte reagiert hierauf ebenfalls mit einer kurzen Irritation und dann mit einer scheinbaren Konzession: "ähm Ja", wobei sich aber das "Ja" als Gliederungspartikel erweist und keine Affirmation bedeutet, sondern im Gegenteil den Auftakt zu einer Korrektur des "familienvermittelt" der Interviewerin bildet: "ja VERWANDT ja also wir sind halt VERWANDT". Die Semantik "familienvermittelt" der Interviewerin stellt dabei den Versuch einer abgrenzenden Reintegration in das westliche Konzept des "kennengelernt" dar, in dem zwei autonome Individuen einen Beziehungsentwicklungsprozess gestalten und darin als "Partner" in einem quasi-ökonomischen, vertragstheoretischen Rahmen agieren.16) Diesem Konzept wird durch die Befragte wiederum ein kollektives Prinzip ("verwandt") gegenübergestellt. Damit wird verdeutlicht, dass in diesem Konzept die Entwicklung von Beziehungen und die Heirat keine individuellen, autonomen Ereignisfolgen bedeuten, sondern in kollektive Verbundenheiten eingebettet sind, was dem modernen westlichen Konzept widerspricht. Die Interviewerin verharrt jedoch in diesem westlichen – und eben auch ihrem – Konzept und geht über die analogisierende Abgrenzung der Befragten hinweg, welche auf die Frage der Interviewerin "gibts da noch was zu ERZÄHLEN" dann auch kapituliert: Sie hat realisiert, dass die Interviewerin erfolgreich ihr eigenes Konzept abgearbeitet hat, ohne dass sie die fremden Sinnstrukturen aus sich heraus zu deuten vermochte: "eigentlich (.) ni:scht". Das "eigentlich" verweist allerdings darauf, dass das Konzept der Befragten inhaltlich eben doch noch hätte gefüllt werden müssen. [27]

Fassen wir die Analyse dieser Textpassage nochmals ergebnisorientiert zusammen: Anhand der Thematisierungsregel der Befragten, nämlich der analogisierenden Abgrenzung, und des zentralen Motivs innerhalb dieser Einstiegspassage, nämlich der Abarbeitung differenter theoretischer Konzepte von Beziehungsentwicklung, zeigt sich in sehr anschaulicher Weise, wie wichtig eine selbstreflexive, sensibilisierende Forschungshaltung in Hinblick auf die eigenen präsuppositiven, theoretischen Relevanzkonzepte ist, um indexikalen Sinn zu rekonstruieren. Dies setzt das Ziel, sich der eigenen indexikalen Relevanzkonzepte bewusst zu werden, während man Fremdes erforscht, um so eine methodische Offenheit zu erreichen, die eben ermöglicht, den fremden Sinn überhaupt rekonstruierbar zu machen. Diese "Befremdung der eigenen Kultur" ist in dem vorliegenden Fallbeispiel seitens der Interviewerin nicht gelungen17): Sie hat in einer alltagspraktischen Idealisierung ihre eigenen indexikalen Sinnkonzepte von "Partnerschaft" und "kennenlernen" im Sinne eines präsuppositiven Zugriffs einfach auf die Befragte übertragen. [28]

4. Schlussbemerkung

Qualitative Interviewforschung kann, wie anhand des Textbeispiels im vorangegangenen Abschnitt verdeutlicht wurde, als ein sehr lebendiges "In-Kontakt-Treten" nicht nur mit fremden Wirklichkeiten, sondern vor allem mit der eigenen subjektiven Wirklichkeit des oder der Forschenden beschrieben werden und ist insofern in einem doppelt gelagerten Sinne "inter-kulturelle" Kommunikation. Qualitative Interviewforschung muss dabei – wie überhaupt jede Art der qualitativen Forschung – innerhalb des gesamten Forschungsprozesses auf reflexiven Sensibilisierungen aufbauen, um eine "Befremdung der eigenen Kultur" (AMANN & HIRSCHAUER 1997) respektive eine Kultur der Befremdung und damit die Realisierung von Offenheit zu ermöglichen, welche das Grundprinzip im qualitativen Erkenntnisprozess ist. Die ethnografische Regel der Befremdungshaltung im qualitativen Forschungsprozess bedeutet also, dass über eine kritische Selbstreflexion eine Bewusstwerdung der eigenen theoretischen bzw. semantisch-indexikalen Relevanzkonzepte erzielt wird. Folglich ist eine theoretische Suspension im Sinne der von Ronald HITZLER beschriebenen "Attitüde der künstlichen Dummheit" als Grundhaltung im qualitativen Forschungsprozess (HITZLER 1986) eine falsche Alternative zum streng deduktiv-nomologischen Forschungsparadigma: Da die Relevanzkonzepte der Forschenden vor allem – aber nicht nur (vgl. MEINEFELD 2003) – theoretische Konzepte sind, ist eine theoretische Sensibilisierung sogar Voraussetzung für induktive Erkenntnisprozesse. Wird dieser Ansatz nicht verfolgt, bleibt die Forschung zwangsläufig tautologisch. Die empirische Erkenntnis des Fremden bzw. Neuen ist also nur über theoretische Sensibilisierung und kritische Selbstreflexivität möglich. Und hierfür gibt es auch einen forschungspraktischen Gradmesser: Überraschung und Irritation. In Forschungsprozessen, in denen es keine "Aha-Effekt"' und Geistesblitze gibt – im wissenschaftstheoretischen Terminus als "Abduktionen" bezeichnet –, finden stets nur rekursive Selbstdeutungen statt, welche fremde Sinnstrukturen nicht zu erfassen vermögen. Und der Weg zu "Aha-Effekten" ist die Irritation (DEVEREUX 1973; AMANN & HIRSCHAUER 1997, S.36ff.; SCHOLZ 2005, S.393ff.). Denn wenn die Selbstdeutung – und etwas Anderes stellt das Deuten von fremdem Sinn ja nicht dar – misslingt, stellen sich erkenntnispraktische Irritationen ein, die dazu genutzt werden können, die eigenen Relevanzsysteme zu restrukturieren, um so den Blick auf das Fremde zu schärfen und das Prinzip der Offenheit umzusetzen. Mit diesen abschließenden Ausführungen zeigt sich, wie interkulturelle Kommunikation und qualitative Interviewforschung im kommunikativen und methodischen Aspekt der Sensibilisierung in Hinblick auf den angestrebten Fremdverstehensprozess von fremdem indexikalen Sinn koinzidieren. [29]

Bei dem oben zitieren Interviewbeispiel konnte durch eine solche Verfahrensweise, d.h. durch die reflexive Sensibilisierung in Hinblick auf die vorbewusst verfolgten indexikalen Relevanzkonzepte "Partner" und "kennengelernt", der Blick auf die indexikal ganz anders gelagerten Partnerschafts- und Familienplanungskonzepte bei Paaren mit Migrationshintergrund geschärft werden. Die gewonnenen Erkenntnisse sind dabei in ein nächstes Forschungsprojekt eingegangen, und auch in dem Projekt "Beziehung, Partnerschaft, Familiengründung" selbst wurde im Sinne eines spiralförmig hermeneutischen Erkenntnisfortschritts (vgl. STRÜBING 2004, S.47) der Eingangsstimulus des Gesprächsleitfadens für Paare mit Migrationshintergrund weiterentwickelt und abgeändert: Anstelle der stark präsuppositiven Erzählaufforderung: "Erzählen Sie doch mal, wie Sie Ihren jetzigen Partner kennengelernt haben" wurde sodann gefragt: "Erzählen Sie doch mal, wie es dazu gekommen ist, dass Sie mit Ihrem Mann zusammen sind." [30]

Anmerkungen

1) Harold GARFINKEL nennt diese Ebene sprachlicher Kommunikation auch Reflexivität, die im Sinne eines Gegenspielers zur Indexikalität von Sprache und Kommunikation intersubjektive Verständigung im Prinzip erst ermöglicht. Hierauf soll jedoch nicht weiter eingegangen werden (siehe ausführlicher AUER 1999), da die Reflexivität die Indexikalität m.E. niemals absolut auflöst, weil sie wiederum auf indexikalen Elementen sprachlicher Kommunikation beruht (siehe hierzu auch weiter unten im Text). <zurück>

2) P = Proband/in, S = Seminarist/in <zurück>

3) GARFINKEL (1973, S.206f., siehe auch AUER 1999, S.131). Der spielerische und witzige Umgang mit Indexikalität in der menschlichen Sprache und Kommunikation findet sich auch oftmals als ein Thema in der Kinderbuchliteratur (vgl. hierzu bspw. "Eine Woche voller SAMStage" von Paul MAAR (1973, exemplarisch S.91ff.). Dies übernimmt – neben der humoristischen Funktion – vor allem auch die Aufgabe, den Kindern die Kenntnis der Problematik der Indexikalität zu vermitteln sowie die Kompetenz, damit umzugehen. <zurück>

4) Vgl. als aktuelles Beispiel hierzu die Rezension von Simon MEIER (2007, 5. Absatz) zum Sammelband "Selbstauslegung im Anderen" von Alfred SCHÄFER und Michael WIMMER. <zurück>

5) Wobei unter "Theorie" ganz allgemein selektive Modelle oder Konzepte – die sich aus dem (Vor-) Wissen der Forschenden bilden – der (Re-) Konstruktion von Wirklichkeit bzw. der Deutung von Welt verstanden werden sollen. <zurück>

6) Um so den Bewegungsvorgang, der in der lexikalisierten Metapher des "ver-stehens" begründet liegt, umzukehren: Es soll nicht der eigene Standpunkt ("stehen", Relevanzsystem) "ver-lassen" werden, um den Standpunkt des oder der anderen einzunehmen, sondern man soll den anderen Standpunkt auf sich zukommen lassen, wofür man sich öffnen muss. Diese metaphorische Bewegungsumkehr zeigt sich z.B. sehr schön in dem französischen "com-prendre". <zurück>

7) Und was nicht passt, weil wir es nicht wissen, wird – so lehrt uns die Pragmatik des Alltags – einfach passend gemacht (vgl. SOEFFNER 2004). <zurück>

8) Siehe hierzu auch die beiden FQS-Schwerpunktausgaben zu "Subjektivität und Selbstreflexivität im qualitativen Forschungsprozess" (MRUCK, ROTH & BREUER 2002; ROTH, BREUER & MRUCK 2003). <zurück>

9) Unter dem Begriff der "Familienplanung" muss dabei ein weit gefasstes Konzept reproduktiv-biografischer Gestaltungsleistungen verstanden werden: Familienplanung wird nicht im engen Sinn auf Kontrazeption reduziert, sondern zielt außer auf Verhütung auf so unterschiedliche Aspekte wie das Eingehen von Partnerschaft und Entscheidungen für private Lebensformen, den Kinderwunsch, den Umgang mit gewollten und ungewollten Schwangerschaften oder mit ungewollter Kinderlosigkeit. Gemeinsam haben diese Aspekte, dass sie mit der Gestaltung reproduktiver Ereignisse und des eigenen reproduktiven Lebenslaufs zu tun haben. Familienplanung im weiten Sinn wird also verstanden als Summe von Vorstellungen und Praktiken, die zur Realisierung privater Lebensformen im Lebenslauf mit oder ohne Kinder führen (vgl. HELFFERICH 2001; HELFFERICH & KRUSE 2005, 2006; KRUSE 2007). <zurück>

10) Das Transkript ist in Anlehnung an das Basis-Transkriptionssystem GAT erstellt (vgl. DEPPERMANN 2001). <zurück>

11) Die Analyse gestaltet sich nach der integrativen, texthermeneutischen Analysemethode von HELFFERICH und KRUSE und kann an dieser Stelle nicht näher expliziert werden (s. ausführlicher HELFFERICH & KRUSE 2007; KRUSE 2008, S.86ff.; KRUSE in Vorb.). Das Verfahren stellt eine sequenziell-deskriptive Analysemethode dar mit dem sensibilisierenden Fokus auf sprachlich-kommunikativen Phänomenen. Sie baut auf den Implikationen der kognitiven und hermeneutischen Linguistik, der Erzähl- und Sprechakttheorie sowie der Semiotik auf. Ihre Basisannahme ist dabei die, dass alle sprachlichen Selektionen (im semantischen, syntaktischen und pragmatischen Sinne) der Sprecher/innen in der konkreten An- bzw. Verwendung von Sprache – also in kommunikativen Prozessen – nicht zufällig sind: In Anlehnung an die kognitive Linguistik wird davon ausgegangen, dass sprachliche Wahlen bzw. Selektionen nicht willkürlich oder beliebig sind, sondern für symbolische Gestalten stehen, die rekonstruiert werden können. <zurück>

12) Die Begriffe "zentrale Motive" und "Thematisierungsregeln" bilden in der integrativen, texthermeneutischen Analysemethode nach HELFFERICH und KRUSE zentrale Konzepte zur Verdichtung und Darstellung der Analyseergebnisse: Als zentrales Motiv wird dabei ein konsistentes Bündel verschiedener sprachlicher Wahlen bzw. Selektionen verstanden, die sich durchgängig im gesamten Interview zeigen. Dabei darf unter dem Begriff "Motiv" nicht ausschließlich "Motiv" im psychologischen Sinne als Handlungsmotiv und "Um zu"-Vorstellung verstanden werden. Unter "Motiv" werden vielmehr wiederholt auftauchende sprachliche Bilder oder Argumentationsstrukturen, Figuren, Modelle, thematische Äußerungen und Positionierungen etc. gefasst, die im Zusammenhang von subjektiven Deutungen und Repräsentationen der befragten Person stehen. Dies entspricht eher der Verwendung des Begriffs "Motiv" im semantischen oder fotografischen Sinne als Bildmotiv bzw. im gestalttheoretischen Sinne als symbolische Figur. Als zentrale Motive sollen somit sprachlich-kommunikative Bündel aufeinander verweisender und in der Erzählung bzw. im Interview wiederkehrender, besonderer sprachlicher Wahlen bzw. Selektionen bezeichnet werden, die das Interview von anderen Interviews bzw. Fallstrukturen unterscheiden oder gerade auch als analog ausweisen. Als Thematisierungsregel soll erstens verstanden werden, "Was" die befragte Person wie ausführlich thematisiert und was im Sinne von Thematisierungsgrenzen die Erzählperson nicht versprachlicht. Zweitens bezieht sich der Begriff der Thematisierungsregel darauf, "wie" die befragte Person das thematisiert, was sie versprachlicht. Hierbei wird, wie oben bereits skizziert, davon ausgegangen, dass die Erzählperson ganz unterschiedliche, performatorische Möglichkeiten hat, ihre konkreten sprachlichen Selektionen zu gestalten, und dass jene Selektionen nicht willkürlich und zufällig sind, sondern bestimmten, meistens vorbewussten Regeln und Relevanzsetzungen folgen, die rekonstruiert werden können. <zurück>

13) Das "Schlüsselprinzip" von HOFFMANN-RIEM (1980) bedeutet, dass in den Datenerhebungsprozessen der qualitativen Sozial- bzw. Interviewforschung jenes Kommunikationsmuster angewendet werden muss, das für die Untersuchungspersonen aus deren Alltagsbezügen vertraut ist. Nur so wird ein Zugang zu deren Relevanzkonzepten ermöglicht, nur mit diesem "Schlüssel" kann eine Öffnung erreicht werden. <zurück>

14) Leider sind die konversationsanalytisch sicherlich sehr aufschlussreichen Gesprächspassagen dieser Sequenz nicht aufgenommen worden. <zurück>

15) Z.B. über die offene Aufrechterhaltungsfrage bzw. Anschlussfrage "Erzählen Sie doch noch ein wenig über Ihr erstes Treffen ...". <zurück>

16) Und falls sich dies nicht so gestaltet, sie "passive Leistungsempfänger" der Handlungen anderer oder gar höherer Instanzen sind, die als Vermittlungsagenten auftreten. <zurück>

17) Was hier nicht als eine negative Bewertung verstanden werden darf: Denn hätte sie sich nicht so verhalten, hätte ich dieses Phänomen der gegenseitigen Konzept-Abarbeitung so auch nicht herausarbeiten können! <zurück>

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Zum Autor

Dr. Jan KRUSE ist wissenschaftlicher Angestellter und Dozent am Institut für Soziologie an der Universität Freiburg, Projektmitarbeiter, Lehrbeauftragter, selbstständiger Trainer und Forschungsconsultant für qualitative Interviewforschung, Vorstandsmitglied des Forschungsinstituts IQS Freiburg, e.V. (Institut für Qualitative Sozialforschung) und Leiter von KoQui (Kompetenzzentrum Qualitative Interviewforschung am Institut für Qualitative Sozialforschung, Freiburg, e.V.)

Kontakt:

Dr. Jan Kruse

Institut für Soziologie
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Rempartstr.15
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Tel.: +49-(0)761-203-3492
Fax: +49-(0)761-203-3493

E-Mail: jan.kruse@soziologie.uni-freiburg.de

Zitation

Kruse, Jan (2009). Qualitative Sozialforschung – interkulturell gelesen: Die Reflexion der Selbstauslegung im Akt des Fremdverstehens [30 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(1), Art.16, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0901162.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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