Volume 10, No. 2, Art. 24 – Mai 2009

Rezension:

Christopher Bahn

Petra Grell (2006). Forschende Lernwerkstatt. Eine qualitative Untersuchung zu Lernwiderständen in der Weiterbildung. Internationale Hochschulschriften, Band 472. Münster: Waxmann, 276 Seiten, 978-3-8309-1662-8, EUR 29,90

Zusammenfassung: Petra GRELL beschreibt ein gelungenes Beispiel einer partizipativen, problemorientierten qualitativen Sozialforschung, das sich mit dem in der Weiterbildung häufig anzutreffenden Problem von Lernwiderständen bei den Lehrgangsteilnehmenden auseinandersetzt. Um die verschiedenen Facetten und die Motivation hinter diesem Verhalten zu analysieren, greift die Autorin auf verschiedene qualitative Methoden zurück und integriert und reflektiert erfolgreich die Verwendung von bildgestützten Verfahren. Die Arbeit ist daher sowohl vom thematischen Fokus als auch von der methodischen Reflexion und Diskussion her sehr empfehlenswert.

Keywords: Erwachsenenbildung; Weiterbildung; Methodenmix; Teilnehmendenpartizipation

Inhaltsverzeichnis

1. Zielsetzung und Aufgabenstellung der Untersuchung

2. Kurze Inhaltsangabe

3. Methodische Zugangsweise

4. Ergebnisse

5. Fazit

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Zielsetzung und Aufgabenstellung der Untersuchung

Allen Teilnehmenden und Mitarbeitenden in der Weiterbildung ist das von Petra GRELL beschriebene Problem vertraut: das nicht-konstruktive Verhalten einzelner Teilnehmenden in Lernsituationen, das sich auf ganze Gruppen und Lehrgänge negativ auswirken kann. Der Autorin geht es dabei in ihrer Arbeit nicht um Schuldzuweisungen oder individuelle Charakterzuschreibungen, sondern um eine analytische Durchdringung der situativen Rahmenbedingungen und Motivlagen für Lernwiderstände bei einzelnen Teilnehmenden und Klassenverbänden. Daher möchte sich die Autorin in ihrem Forschungsdesign nicht auf die in diesem Untersuchungskontext übliche Befragung der "Untersuchungsobjekte" (S.68) beschränken, sondern durch eine von ihr selbst entwickelte Methodenkombination in Form einer Lernwerkstatt die Interaktion mit und zwischen den untersuchten Teilnehmenden selbst zum Fokus des Untersuchungsprozesses werden lassen. Durch diesen partizipativen Forschungsstil sollen die verschiedenen Facetten des Problems vollständig erfasst und es soll dem forschungsethischen Anspruch nach "Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte[n]" (S.69) Genüge getan werden. [1]

2. Kurze Inhaltsangabe

Petra GRELL beginnt ihre Arbeit mit einer Reflexion der üblichen Praxis in der Erwachsenenweiterbildung, die häufig auch durch passive oder aktive "Lernwiderstände" der Teilnehmenden geprägt sei. Das Konzept des "Lernwiderstandes" wird bei ihr relativ weit gefasst und bezeichnet alle aktiven Handlungen oder Unterlassungen der Teilnehmenden, die dem offiziellen Lehrgangsziel zuwiderlaufen. Als Lernwiderstand kann somit auch eine passive Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme ohne Aufnahme bzw. Verinnerlichung der vermittelten Inhalte bezeichnet werden. Schon in der Einleitung wird daher der pädagogische Hintergrund der Autorin und des Buches deutlich: Erfolgreiche Lernsituationen beruhen letztendlich auf einer Passung zwischen den Kompetenzen und Erwartungen der Teilnehmenden und dem Lehrangebot (Methoden und Inhalte) des spezifischen Weiterbildungsprogramms. Die (häufig gesellschaftlich gesetzten) Ziele und Rahmenbedingungen von Weiterbildung streift die Autorin hingegen nur kurz am Rande und blendet sie im weiteren Verlauf der Arbeit faktisch aus. Dieser Sachverhalt ist per se nicht notwendig negativ zu bewerten und aus einem pädagogischen Erkenntnisinteresse auch nachvollziehbar, belässt damit aber die Zuordnung von "Lernwiderständen" auf der Ebene der Individuen und der Weiterbildungsinstitutionen. [2]

Nach der Einleitung gibt Petra GRELL einen ausführlichen Überblick über den Forschungsstand zu Bedingungen des Lernens bei Erwachsenen aus pädagogischer Sicht. Die Legitimation zu ihrem Forschungsvorhaben bezieht sie aus der bisher ungenügenden wissenschaftlichen Betrachtung der Teilnehmenden in Studien zur Erwachsenenbildung und vor allem in deren Verkürzung auf Studienobjekte, die in ihrer Motivation und Handlungskompetenz weder ausreichend analytisch durchdrungen noch im Rahmen eines partizipativen Forschungsprozesses zu neuen Lösungen für suboptimale Situationen angeregt würden. GRELL bezieht sich hier ausdrücklich auf die Aktionsforschung als handlungsleitendes Paradigma ihrer Untersuchung, ohne sich jedoch ausführlich auf die Diskurse innerhalb dieser Forschungstradition zu beziehen (siehe etwa STRINGER 1996; GREENWOOD & LEVIN 1998). Insgesamt ist jedoch unverkennbar, dass die Autorin mit ihrer Untersuchung sowohl theoretische Erkenntnisse gewinnen als auch die konkrete Lernsituation der untersuchten Teilnehmenden optimieren will. Ihre Arbeit wäre daher sicherlich auch als praktisches Beispiel von Aktionsforschung für die wissenschaftliche Diskussion von Interesse. [3]

Der 1. Hauptteil der Arbeit beschreibt ausführlich die methodischen Vorüberlegungen und die Konzeption der "Forschenden Lernwerkstatt" als übergeordnete Struktur von mehreren qualitativen und quantitativen Erhebungsmethoden (Bildkarten, Gruppendiskussionen, Metaplanphase, symbolisch-bildliche Gestaltung, Fragebögen), die weiter unten ausführlicher dargestellt wird. Besonders hervorzuheben ist hier der Einsatz von nonverbalen Methoden, die in ihren spezifischen Anforderungen in der Auswertung von der Autorin ausführlich kommentiert werden. Schon allein diese Reflexion der Problematik, aber auch der Chancen nonverbaler Methoden im qualitativen Forschungsprozess rechtfertigt eine Lektüre des Buches. [4]

Im 2. Hauptteil des Buches beschäftigt sich GRELL ausführlich mit dem Prozess und den Ergebnissen der Auswertung, die iterativ fortschreitend anhand der einzelnen Erhebungsmethoden geschieht. Die untersuchungsleitenden Fragestellungen werden jeweils vollständig anhand der Ergebnisse der jeweiligen Erhebungsmethoden diskutiert, die dann im weiteren Auswertungsverlauf durch die Ergebnisse der anderen Methoden trianguliert und erweitert zu werden. Die Möglichkeiten und Grenzen der Methoden im konkreten Untersuchungskontext werden dadurch besonders deutlich. Die Synthese im abschließenden Fazit-Kapitel fällt demgegenüber jedoch etwas ab und lässt einige Schwierigkeiten in der Kombination von Untersuchungsergebnissen aus unterschiedlichen methodischen Phasen sichtbar werden, was jedoch der Untersuchung insgesamt keinen Abbruch tut. [5]

3. Methodische Zugangsweise

Die von Petra GRELL entwickelte "Forschende Lernwerkstatt" als Kombination von verschiedenen qualitativen Erhebungsmethoden erinnert in ihrer Konzeption sehr stark an verwandte Konzepte wie zum Beispiel die "Zukunftswerkstätten" (JUNGK & MÜLLERT 1989), ist jedoch vom spezifischen Ablauf und der Auswahl der Einzelmethoden als eigenständig anzusehen (siehe Abb. 1).



Abb. 1: Phasen der "Forschenden Lernwerkstatt" (S.81) [6]

Im Unterschied zu partizipativen Verfahren in Mediations- oder Bürgerbeteiligungsprozessen steht für GRELL in der "Forschenden Lernwerkstatt" nicht die Erarbeitung eines konkreten, problembezogen umsetzbaren Ergebnisses im Vordergrund, sondern die Erhebung von Artefakten für die anschließende Analysephase im Untersuchungsprozess. Dennoch sollten auch die Teilnehmenden aufgrund einer interaktiven Reflexion ihrer Lernumgebung und Motivation von der Untersuchungssituation profitieren. Von anderen gruppenbezogenen Erhebungen wie Gruppendiskussionen hebt sich die "Forschende Lernwerkstatt" durch die explizite Zielsetzung einer Verminderung des rollenbasierten Statusunterschiedes zwischen Untersuchten und Forschenden ab. Während die Autorin einer Leugnung von Interessensunterschieden nicht das Wort redet, so hat sie doch große Erwartungen an partizipative Forschungsprozesse: "Partizipation ermöglichen heißt also auch, bestehende Hierarchien und Hierarchievorstellungen in der Forschungssituation bewusst und gezielt aufzulösen" (S.74). Zwei Einwände sind hier anzubringen: Wie auch GRELL an mehreren Stellen vermerkt, sind die Rollen- und Interessenunterschiede zwischen Teilnehmenden und Forschenden nicht zu negieren, sondern im Forschungsprozess aufzudecken. Durch die Explikation von unterschiedlichen Interessen, Wissensbeständen und Status werden Hierarchien nicht nivelliert, sondern höchstens offengelegt. Diese Offenlegung mag sehr dazu beitragen, für die Teilnehmenden eine angenehme und offene Untersuchungssituation zu schaffen und damit auch den Forschungsprozess zu fördern, bewirkt letztendlich doch keine Statusannäherung zwischen den verschiedenen Akteuren im Forschungsprozess. Falls dieses Ziel überhaupt methodisch zu erreichen und wünschenswert wäre, dann kann das nur bei selbstinitiierten Projekten aus und in einer Gruppe von statusgleichen Personen geschehen. [7]

Einige Beispiele dafür finde ich in der Forschungstradition der "Oral History" (RITCHIE 2003; THOMSPON 1978), an der ich auch meinen zweiten Einwand formulieren möchte. Trotz der zu begrüßenden Fokussierung auf "Nicht-Wissenschaftler" als Erhebungs- und Auswertungspersonen hat sich bei der "Geschichtsschreibung von unten" gezeigt, dass zumindest in einigen Phasen des Forschungsprozesses die Mitarbeit von ausgebildeten WissenschaftlerInnen oder wenigstens wissenschaftlich geschulten ProjektmitarbeiterInnen notwendig ist. Eine Hierarchie im Sinne unterschiedlicher Ausgangslagen bei inhaltlichem und methodischem Vorwissen wird daher, abgesehen von wenigen Ausnahmen, dem Forschungsprozess förderlich sein. [8]

Trotz dieser kleineren Einwände gegen eine vielleicht etwas zu euphemistisch postulierte Partizipationsrhetorik ist anzuerkennen, dass der Autorin insgesamt mit ihrer methodischen Herangehensweise ein großer Verdienst in der Analyse von Weiterbildungs- und allgemein gruppenbezogenen Interaktionsprozessen zukommt. Vor allem auch in der Integration und Auswertung von bildhaften Artefakten, die ansonsten vorwiegend in den Kulturwissenschaften und in problembezogenen Interventionsprozessen betrachtet werden, hat sie zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs und der Ausdifferenziertheit qualitativer Sozialforschung erheblich beigetragen. [9]

Die "Forschende Lernwerkstatt" kann daher abschließend aus folgenden Gründen als gelungene methodische Herangehensweise an eine komplexe Fragestellung angesehen werden:

4. Ergebnisse

Der Autorin gebührt, auch aufgrund des innovativen methodischen Vorgehens, ein großer Verdienst in der typisierenden Darstellung von Verhaltensstrategien bei Lernwiderständen, die nicht ausschließlich auf Charaktereigenschaften von Teilnehmenden zurückgeführt werden, sondern situationsbezogen bei unterschiedlichen (bzw. allen) Personen hervortreten können. Solche Variablen wie Alter und Bildungsgrad der Teilnehmenden werden zwar zur Erklärung bestimmter Formen von Lernwiderständen herangezogen, letztendlich bestimmt jedoch die (Nicht-) Passung von Lerninhalten, Lernsituation und Charaktereigenschaften der Teilnehmenden das Auftreten von (bestimmten Typen von) Lernwiderständen (siehe Abb. 2).

Strategien bei Lernwiderständen

Zorniges Verweigern

Lautes Experimentieren

Nischenaktives Situationsbewältigen

Verdecktes Aktivsein

Unsicheres Signalisieren, Support zu benötigen

Sicheres Signalisieren, Support zu benötigen

Effektives Karriereverwirklichen

Abb. 2: Strategien bei Lernwiderständen (S.247) [11]

Diese Erkenntnisse lassen sich auch aus der Analyse mehrerer Einzelstudien gewinnen, gewinnen aber durch die gute Strukturierung und die empirisch und methodisch abgestützten Ergebnisse der Arbeit erheblich an Klarheit. Aufgrund der plakativen Bezeichnung der verschiedenen Strategien bei Lernwiderständen sind die Zusammenhänge zwischen personen- und situationsbezogenen Faktoren anschaulich dargestellt und damit auch für den praxisnahen Diskurs verwendbar. [12]

5. Fazit

Die Arbeit ist methodisch sehr innovativ und damit für qualitativ orientierte Sozialforschende anregend zu lesen. Für Mitarbeitende in der Weiter-, aber auch in der Ausbildung ist das Buch aufgrund der empirischen Ergebnisse und der verallgemeinerungsfähigen Schlussfolgerungen als Pflichtlektüre anzusehen. [13]

Literatur

Greenwood, Davydd & Levin, Morten (1998). Introduction to action research: Social research for social change. Thousand Oaks: Sage.

Jungk, Robert & Müllert, Norbert R. (1989). Zukunftswerkstätten. Mit der Phantasie gegen Routine und Resignation. München: Heyne.

Stringer, Ernest T. (1996). Action research: A handbook for practitioners. Thousand Oaks: Sage.

Ritchie, Donald A. (2003). Doing oral history. A practical guide. New York: Oxford University Press.

Thompson, Paul (1978). The voice of the past. Oral history. Oxford: Oxford University Press.

Zum Autor

Christopher BAHN ist zurzeit als Programme Manager bei CUREM (Center for Urban & Real Estate Management) beschäftigt und betreut in dieser Funktion den Weiterbildungsstudiengang zum "Master of Advanced Studies in Real Estate" der Universität Zürich. Zuvor war er sechs Jahre beim Wissenschaftszentrum Berlin in der Abteilung "Internationalisierung und Organisation" beschäftigt und hat sich dort im Rahmen seiner stadtsoziologischen Dissertation mit dem Einzelhandel in der Stadt im europäischen Vergleich beschäftigt.

Kontakt:

Dr. Christopher Bahn

Programme Manager
Center for Urban & Real Estate Management (CUREM)
Schanzeneggstrasse 1
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Tel.: 0041-44-2089998
Fax: 0041-44-2089990

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URL: http://www.curem.ch

Zitation

Bahn, Christopher (2009). Review: Petra Grell (2006). Forschende Lernwerkstatt. Eine qualitative Untersuchung zu Lernwiderständen in der Weiterbildung [13 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(2), Art. 24, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0902242.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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