Volume 11, No. 2, Art. 14 – Mai 2010

Rezension:

Sandra Da Rin

Franz Breuer, unter Mitarbeit von Barbara Dieris und Antje Lettau (2009). Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag, 182 Seiten, ISBN 978-3-531-16919-4, EUR 19.90

Zusammenfassung: Das Besondere an Franz BREUERs Lehrbuch, das unter Mitarbeit von Barbara DIERIS und Antje LETTAU entstanden ist, ist weniger die Einführung in die Grounded-Theory-Methodik (GTM), als vielmehr die Einführung in eine reflexive Forschungspraxis. Das bedeutet, die Subjektivität des Forschers, der Forscherin wird als bedeutsame Erkenntnisquelle in den Forschungsprozess miteinbezogen. Drei methodologische Bestandteile charakterisieren nach BREUER eine reflexive GTM und strukturieren auch den Aufbau des Lehrbuches. In meiner Besprechung befasse ich mich mit zweien davon ausführlicher: mit dem ethnografischen Zugang zum Forschungsfeld, insbesondere seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, und mit dem Einbezug der (Selbst-) Reflexivität. Letztere wirft Fragen auf, denen am Schluss der Besprechung nachgegangen wird.

Keywords: Grounded-Theory-Methodik; (Selbst-) Reflexivität; Subjektivität; Lehrbuch

Inhaltsverzeichnis

1. Erste Verortungen

2. Zum Verhältnis von Forschungsmethodik und Menschenbild

2.1 Die nomothetisch-naturwissenschaftliche Orientierung und das Objekt der Forschung

2.2 Die sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung und das Subjekt der Forschung

2.3 Der ethnografische Zugang zum Feld

3. Die Grounded-Theory-Methodik

3.1 Methodische Werkzeuge

3.2 Ein Forschungsstil …?

3.3 Transzendenzen oder wiederum das Verhältnis von Forschungsmethodik und Menschenbild

4. Subjektivität und (Selbst-) Reflexivität

4.1 Subjektivität

4.2 (Selbst-) Reflexivität

4.3 Verfahren der (Selbst-) Reflexion

5. Letzte Betrachtungen

5.1 Ein ethnopsychoanalytisch-soziologischer Exkurs

5.2 Offene Fragen zur (Selbst-) Reflexivität …

5.3 … oder das Verhältnis von Forschungsmethodik, Menschenbild und Gesellschaftsbild

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Erste Verortungen

Um die Gesamtbeurteilung gleich vorweg zu nehmen: Franz BREUERs Lehrbuch, entstanden unter Mitarbeit von Barbara DIERIS und Antje LETTAU, ist eine hervorragende Einführung in die Forschungspraxis einer reflexiven Grounded-Theory-Methodik (GTM). Es bietet einen kurzen, gleichwohl umfassenden und gut lesbaren Überblick über die historischen Entwicklungen, wichtigen Begrifflichkeiten und Kodierungsschritte bzw. -techniken der GTM. Versehen mit vielen Beispielfragen, die während des gesamten Forschungsprozesses an das Datenmaterial und an sich selbst als Forscher/in gestellt werden können bzw. sollten, bietet es konkrete Anknüpfungspunkte für alle, die noch keine oder wenig Erfahrung mit der GTM mitbringen. Auch die beiden Forschungsbeispiele von Barbara DIERIS und Antje LETTAU, die den letzten Teil des Buches bilden, veranschaulichen, wie ein Forschungsprojekt und -prozess aussehen könnte, in dem mit der reflexiven GTM gearbeitet wird. [1]

Ich bin mit großen Erwartungen und Neugierde an die Lektüre des Buches gegangen, insbesondere was die Reflexivität des methodischen Vorgehens betraf, und hatte deshalb auch ein wenig Angst, enttäuscht zu werden. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil regte mich die Lektüre dazu an, über meine eigene reflexive Verortung in einer ethnopsychoanalytischen Theorietradition weiter nachzudenken. [2]

Nun zum Inhalt: In einer Vorbemerkung wird der disziplinäre und wissenschaftstheoretische Entstehungszusammenhang des Buches von BREUER angesprochen:

"Der Autor und die Mitautorinnen stammen aus dem fachlichen Kontext der Psychologie. Die Mainstream-Psychologie ist dabei, in thematischer und methodologischer Hinsicht den Blick für alltagsweltliche Lebenserfahrung sowie den Anschluss an benachbarte Sozialwissenschaften zu verlieren. Ihre Vertreter ziehen es derzeit vor, auf die Karte der Neurowissenschaften zu setzen und dort einem engen nomothetisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnismodell und einem biologistischen Menschenbild nachzustreben. Dem setzen wir hier ein qualitativ-methodisches, sozial- und kulturwissenschaftlich orientiertes Forschungskonzept entgegen, das auch der Person, Sozialität und Subjektivität des/der Forschenden sowie seiner/ihrer lebensweltlichen Konstituiertheit und Erfahrung einen epistemologischen und methodologischen Platz einräumt." (S.9) [3]

Dieses sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Forschungskonzept beinhaltet die drei folgenden methodologischen Bestandteile (vgl. ebd.):

Der Aufbau des Lehrbuches verläuft entlang dieser drei Bestandteile, die in je einem Kapitel ausführlich beschrieben werden. Im letzten Kapitel berichten Antje LETTAU und Barbara DIERIS zur Konkretisierung und Veranschaulichung der vorangegangenen Ausführungen von ihren individuellen Aneignungsgeschichten mit einer reflexiven GTM, vom Suchen und Finden ihrer persönlich geprägten Forschungspraxis. [5]

Die vorliegende Besprechung verläuft ebenfalls entlang dieser drei Bestandteile, wobei ich mich mit dem ersten, dessen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und mit dem letzten genauer befasse. Dabei lasse ich immer wieder auch den Autor BREUER selbst zu Wort kommen. [6]

2. Zum Verhältnis von Forschungsmethodik und Menschenbild

"Ein Forschungsansatz enthält notwendig ein Bild seines Gegenstandes – ein Objektmodell, in unserem Gebiet ein Menschenbild. Das Menschenbild und die Forschungsmethodik stehen in einem engen Zusammenhang. Die Reflexion dieses Verhältnisses erachten wir als bedeutsam." (BREUER, S.11)

Ich teile mit BREUER die Ansicht, dass wir uns als Wissenschaftlerin und Wissenschaftler eine ganz spezifische Brille aufsetzen, wenn wir uns mit einem Untersuchungsgegenstand beschäftigen. Diese Brille und die daraus resultierende Wahrnehmung sind geprägt durch epistemologische Grundannahmen, theoretische Modelle, disziplinäre Forschungs-, Denk- und Wahrnehmungstraditionen und entsprechende Methodiken. Oft ist uns nicht bewusst, dass wir eine solch spezifische Brille tragen, weil sie uns im Laufe unserer wissenschaftlichen Sozialisation zu einem selbstverständlichen, unseren Blick schärfenden Arbeitsinstrument geworden ist. Und viele Forschende vergessen, dass mithilfe dieses Instruments nur ganz bestimmte, ausgewählte Aspekte eines Untersuchungsgegenstandes schärfer werden, während andere unscharf bleiben, verzerrt werden oder ganz aus dem forschenden Blick verschwinden. Das führt zu theoretischen Modellen und Verallgemeinerungen über den Forschungsgegenstand, denen eine wissenschaftliche, objektive Wahrheit zugesprochen wird. [7]

Der Prozess der wissenschaftlichen Konstruktion eines Untersuchungsgegenstandes, der mit dem Aufsetzen einer theoretisch-disziplinären Brille vorgenommen wird, bleibt in nomothetisch-naturwissenschaftlich orientierter Forschung allzu häufig ausgeklammert, da er sich mit wissenschaftlich-objektiver Erkenntnis und Wahrheitsfindung nicht vereinbaren lässt, wie BREUER konstatiert. [8]

2.1 Die nomothetisch-naturwissenschaftliche Orientierung und das Objekt der Forschung

Am Beispiel des Behaviorismus, der in der Psychologie und anderen Humanwissenschaften weitverbreitet ist, veranschaulicht BREUER den wissenschaftlichen Konstruktionsprozess des Untersuchungsgegenstandes "menschliches Verhalten", das dort zu einem mechanischen, gesetzmäßig verlaufenden und messbaren Verhalten eines menschlichen Organismus, eines menschlichen Forschungsobjekts wird (S.15):

"Man studiert (im einfachen Fall) manipulierbare Input-Reize ('unabhängige Variablen'), die sich nach irgendeiner Systematik variieren lassen, und misst die Verhaltens-Reaktionen, die auf solche Reize bzw. Reiz-Serien beim Organismus herauskommen ('abhängige Variablen'). Das Ganze geschieht häufig in einem (Labor-) Setting, in dem vermeintlich alle übrigen potentiellen Einfluss-Faktoren ausgeschaltet bzw. kontrolliert werden können. In diesem operativen Rahmen bestätigen und bekräftigen sich die behavioristische, die experimentelle und die nomothetische Denkweise wechselseitig. Der legitimatorische Rückbezug dieser Methodologie auf ihre Bewährung in den Naturwissenschaften rekurriert allerdings auf die Epistemologie der Newtonschen Physik, die seit Einstein und Heisenberg (Stichworte: Relativitätstheorie, Unschärferelation) dortselbst nicht mehr die Grundlage des Wissenschaftsverständnisses darstellt." [9]

Solche wissenschaftlichen Konstruktionen des Untersuchungsgegenstandes und entsprechende theoretische Modellvorstellungen waren und sind in hohem Maß durch technologische Entwicklungen und die Verfügbarkeit technischer Verfahren und Apparaturen geprägt, wie BREUER mit Hinweis auf neurowissenschaftlich-physiologische Modellvorstellungen und Verfahren zur Erklärung menschlichen Handelns aufzeigt. [10]

2.2 Die sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung und das Subjekt der Forschung

Dem in der universitären Mainstream-Psychologie dominanten naturwissenschaftlichen Forschungs- und Erkenntnismodell stellt BREUER ein anderes Modell gegenüber, das er die "sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung" nennt:

"Das Forschungsobjekt heisst terminologisch nicht länger 'Versuchsperson', vielmehr ist nun von 'Untersuchungspartnern' und 'Gesprächspartnern' die Rede. Es unterscheidet sich in seiner anthropologischen Charakteristik – so die grundlegende Annahme hier – nicht prinzipiell vom Forschungssubjekt, dem Forscher bzw. der Forscherin: Auf beiden Seiten handelt es sich um leibhaftige, gefühls- und vernunftbegabte, sozialhistorisch geprägte reflexive Personen-in-ihrer-Lebenswelt – sie sind diesbezüglich strukturgleiche Wesen. Ihre Positionen als 'Objekte' und 'Subjekte' im humanwissenschaftlichen Erkenntnisprozess sind prinzipiell vertauschbar." (S.19) [11]

Menschliches Handeln ist vor diesem Hintergrund weder mechanisch noch gesetzmäßig und vollständig messbar, sondern es geht um das emotionale, unerwartete und zum Teil unverständliche bzw. mehrdeutige (Re-) Agieren menschlicher Subjekte, die in vielfältiger Interaktion mit anderen menschlichen Subjekten stehen, so auch mit der Forscherin, dem Forscher während des Forschungsprozesses, welche ihrerseits ebenso menschlich handeln, sprich emotional, unerwartet und zum Teil unverständlich bzw. mehrdeutig. [12]

Der Forschungsprozess und die Erkenntnisgewinnung erhalten in dieser Orientierung einen interaktiven und von subjektiven Gefühls-, Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern geprägten Charakter. Das heißt, Forscher/innen sind aufgefordert, nicht nur die Äußerungen, Handlungen, Erfahrungen, Wertungen, Vorstellungen usw. derjenigen Person(en), die sie beforschen, in den Erkenntnisprozess einzubeziehen, sondern auch die je eigenen. [13]

Das führt dazu, dass das gesammelte Datenmaterial (Interviews, Gespräche, Bilder, Beobachtungen u.v.a.m.) nicht notwendigerweise nur auf eine einzige Art und Weise verstanden und gedeutet werden kann, nämlich im Sinne einer objektiven Wahrheit, sondern "dass vielmehr unterschiedliche Wahrheiten oder unterschiedliche Versionen von Wahrheit durchaus von Bedeutung und Interesse sein können" (S.22). Unterschiedliche, sich vielleicht auch widersprechende Lesarten des Datenmaterials können für den Erkenntnisprozess produktiv sein und zu einem vertieften und differenzierten Verständnis der Daten führen. [14]

BREUER räumt ein, dass die Vorstellung von und der Umgang mit Wahrheit(en) in den Sozial- und Kulturwissenschaften, die qualitativ arbeiten, sehr unterschiedlich und kontrovers sind, je nach erkenntnistheoretischem Hintergrund, auf den sich die Forschenden beziehen. Daher finde ich die Bezeichnung "sozial- und kulturwissenschaftliche Orientierung", die BREUER für seinen Ansatz einer reflexiven GTM wählt, nicht sehr kennzeichnend, sondern zu allgemein. Vermisst habe ich hier eine kurze Auseinandersetzung mit unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Traditionen, welche die qualitative Sozialforschung beeinflussen, so zum Beispiel mit dem Strukturalismus als prägendem Hintergrund für die objektive Hermeneutik oder mit dem symbolischem Interaktionismus als einem der Hintergründe für die GTM, um nur zwei zu nennen. [15]

2.3 Der ethnografische Zugang zum Feld

Im Folgenden beschreibt BREUER den ethnografischen Zugang zum Untersuchungsfeld, mit dem er eine bestimmte "Erkenntnishaltung" verbindet, die ein "gewisses Maß an 'Entselbstverständlichung', an Verfremdung und Anzweiflung des Gewohnten, der vertrauten Schemata, des üblicherweise als selbstverständlich Erscheinenden" benötige (S.28). BREUER verortet diese Erkenntnishaltung nicht in bestimmten erkenntnistheoretischen Ansätzen, sondern leitet sie her aus der Geschichte der Ethnologie: In der Frühzeit des Faches seien fremde Völker von einem eurozentrischen Standpunkt aus beschrieben und oft als primitiv abgewertet worden. Erst im Laufe der Zeit entwickelten sich eine reflektierte Erkenntnishaltung und eine Forschungspraxis (über die Ethnologie hinaus auch in anderen Sozial- und Kulturwissenschaften), die BREUER als "ethnografischen Zugang" bezeichnet, nämlich

"[e]ine Forschungspraxis, die auf das Kennenlernen- und Verstehen-Wollen eines Untersuchungsfeldes sowie auf ein Ernst- und Wichtignehmen seiner Mitglieder ausgerichtet ist […]. Sie ist von der Idee getragen, dass der Forscher bzw. die Forscherin mit einer offenen, interessierten, rezeptiven und respektvoll-akzeptierenden Haltung nah an den Gegenstand herangeht, einen direkten interaktiven Kontakt mit den Mitgliedern des Forschungsfeldes sowie mit dem fokussierten Problemthema herstellt; unter Umständen wird er/sie über einen gewissen Zeitraum selbst Teil (-nehmer) des Untersuchungsfeldes – indem er/sie sich gewissermaßen auf das Problemthema und dessen Protagonisten als Personen 'einlässt'." (S.23) [16]

Der ethnografische Zugang bezeichnet insbesondere den Feldzugang, die Datensammlung, die Reflexion der Rollen und Beziehungen im Feld sowie des Wandels der Forscher/innenrolle im Laufe des Forschungsaufenthalts. Dazu gehört auch das Postulat einer "reflektierten Offenheit", das sich "auf ein aufmerksames und überlegtes Umgehen mit den eigenen Erkenntnisvoraussetzungen, auf ein achtsames Registrieren ihrer Auswirkungen auf die eigenen Erlebnisse und Anschauungen sowie auf den eigenen 'Reizwert' und dessen Auslösungen im Untersuchungskontakt" bezieht (S.29). Reflektierte Offenheit ist auch bei der Aufarbeitung und Auswertung des Untersuchungsmaterials notwendig. Dies ergibt sich nicht nur, aber auch aus der Forschungslogik der GTM, in der ein ständiger wechselseitiger Austausch zwischen Daten (-erhebung) und Theorie (-entwicklung) stattfindet. [17]

3. Die Grounded-Theory-Methodik

Das gesamte Lehrbuch bietet eine Fülle an interessanten und anregenden Literaturtipps für GTM-Interessierte, doch gerade für GTM-Neulinge, die ihr erstes Forschungsprojekt in Angriff nehmen möchten, zitiert BREUER eine beschränkte Auswahl wichtiger Werke (S.42), was einen sehr hilfreichen und bewältigbaren Einstieg ermöglicht. So nennt er als Primärliteratur insbesondere die Einführung von STRAUSS und CORBIN (1996) sowie STRAUSS (1991). Als Sekundärliteratur in deutscher Sprache empfiehlt er zwei Artikel von MEY und MRUCK (2007, 2009) und verweist natürlich auf sein eigenes, hier besprochenes Lehrbuch. Schließlich erwähnt er noch das 2007 von BRYANT und CHARMAZ herausgegebene Handbuch, das 2010 auch in einer kostengünstigeren Paperback-Fassung erschienen ist und einen umfassenden englischsprachigen Überblick zur GTM bietet. [18]

3.1 Methodische Werkzeuge

Die Beschreibung der methodischen Werkzeuge bildet selbstverständlich einen der Hauptteile des Buches. Diese Ausführungen bieten einen umfassenden, differenzierten, anregenden und gut lesbaren Überblick darüber, welches die wesentlichen Arbeitskonzepte und -techniken sind, wenn man mit der GTM forschen möchte. Ohne diese einzelnen methodischen Werkzeuge hier in der Besprechung des Buches aufzurollen, möchte ich doch einen stichwortartigen Einblick in BREUERs Ausführungen und deren thematische Bandbreite geben. So behandelt er Themen wie:

Die GTM gilt als einer der beliebtesten qualitativen Forschungsansätze, auch wenn die zentralen Arbeitsschritte und -konzepte sehr unterschiedlich gehandhabt und zum Teil nur rudimentär befolgt werden. Die Vorstellungen von Barney GLASER und Anselm STRAUSS, welche die Methodik in den 1960er Jahren begründet haben, sind seit den 1990er Jahren zunehmend auseinandergedriftet, wobei STRAUSS weniger rigide in der Bewertung dessen ist, was nun "richtig" und was "falsch" sein soll (vgl. im Überblick dazu MEY & MRUCK 2007). Auch BREUER vertritt eine flexible Position, verbunden mit einer spezifischen Erweiterung: "Unser Forschungskonzept zeichnet sich durch gewisse Akzentuierungen und Erweiterungen aus, die den selbstbezüglichen Charakter des Erkenntnisprozesses hervorheben […]. Wir benutzen in diesem Zusammenhang den Ausdruck Forschungsstil, um die subjekt- bzw. autorseitig geprägte Arbeitsweise zu betonen" (S.40). [20]

Obwohl mir die Begründung einleuchtet und Anselm STRAUSS selbst von der GTM als einem Stil spricht, kann ich mich nicht richtig anfreunden mit dem Begriff und fühle ihm gegenüber eine gewisse Ambivalenz, der ich im folgenden Abschnitt kurz Platz einräumen möchte. [21]

3.2 Ein Forschungsstil …?

Meine Ambivalenz kommt daher, dass ich Stil mit persönlichem Geschmack verbinde – und persönlichen Geschmack als etwas sozioökonomisch und -kulturell Geprägtes verstehe (vgl. BOURDIEU 1982). So stellt sich dann die Frage, ob die Art und Weise, wie mittels der GTM geforscht wird, von der habituellen Disposition des Forschers bzw. der Forscherin mit beeinflusst ist. Möglicherweise lässt sich die Frage mit "Ja" beantworten, und dann ginge es darum, im Sinne des Postulats einer reflektierten Offenheit (s.o.) die sozioökonomische und -kulturelle Prägung des eigenen Forschungsstils und potenzielle Auswirkungen auf den Forschungsprozess mitzureflektieren. BREUER betont mehrmals, dass u.a. ein Interesse an und eine Sensibilität für Sprache wichtige Eigenschaften für Forscher/innen sind, die mit der GTM arbeiten, beispielsweise in der Einführung zu den beiden "Aneignungsgeschichten" am Schluss des Lehrbuchs (S.143):

"Beide Geschichten machen deutlich, dass es hier um das Suchen und Finden eines persönlich geprägten Forschungsstils geht. Und schließlich: wohl nicht ganz zufällig gehört ein ausgeprägtes Interesse an Sprache/n und Literatur zum Profil beider Junior-Forscherinnen, die hier über ihre Aneignungsgeschichte berichten." [22]

Die Herausbildung eines solch ausgeprägten Interesses sollte in einem sozioökonomischen und -kulturellen Gesellschaftszusammenhang reflektiert und nicht (nur) als persönliche Eigenschaft oder gar Begabung verstanden werden. Meines Erachtens thematisiert Franz BREUER dies zu wenig, denn bei der Lektüre der entsprechenden Stellen begleitete mich eine gewisse Unbehaglichkeit – gerade weil ich wie er denke, dass sprachliche Sensibilität und Kreativität wichtige Bestandteile qualitativer Forschung sind, die eben auch sozial verortet sein können. [23]

BREUER versteht unter dem Begriff "Forschungsstil" eine bestimmte erkenntnispolitische Verortung, wie sie Günter MEY und Katja MRUCK beschreiben (2009, S.150): nämlich Forschungsstil als

"Aufforderung zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit der GTM und ihrer Aneignung – ganz im Sinne ihrer Gründerväter, die sie als eine Strategie des 'freedom of research' und des 'empowerment' verstanden, um Mitforschende zu ermutigen, in die eigene 'scientific intelligence' zu vertrauen und nahe an der psychologischen und sozialen Praxis Theorien zu generieren, die für diese Praxis, für Laien und Wissenschaftler(innen) gleichermaßen, relevant und anschlussfähig sind." [24]

Dieses Verständnis unterscheidet die GTM nach BREUER von anderen hermeneutischen Verfahren. [25]

3.3 Transzendenzen oder wiederum das Verhältnis von Forschungsmethodik und Menschenbild

BREUER vergleicht die GTM mit anderen sozialwissenschaftlichen hermeneutischen Verfahren hinsichtlich ihrer Transzendenz:

"Die Verfahren lassen sich hinsichtlich mehr oder weniger starker Transzendenzen unterscheiden – gemessen an der Frage: Wie weit vom Selbstverständnis der Handelnden in ihrer Lebenswelt entfernt bewegen sich die wissenschaftlichen Interpretationen? In welchem Ausmaß können Untersuchungsobjekte und -subjekte sich über die wissenschaftlichen Deutungen verständigen, sie intersubjektiv teilen – bzw. welcher (Sozialisations-) Aufwand ist erforderlich, um ein gemeinsames Verständnis (unter dem Primat der wissenschaftlichen Sichtweise) zu erreichen?" (BREUER, S.50) [26]

Er ordnet der GTM eine mittlere Position zu im Vergleich mit Verfahren, die entweder manifesten, subjektiven Sinn auf der einen Seite (z.B. Struktur-Lege-Technik) oder latenten, objektiven Sinn auf der anderen Seite (z.B. objektive Hermeneutik) zu rekonstruieren versuchen:

"Die GTM nimmt auf dieser Dimension eine Mittelstellung ein: Einerseits ist der Forscher an subjektiven Konzeptualisierungen der Akteure unter ihren 'natürlich'-lebensweltlichen Umständen interessiert und schätzt deren Begriffsbildungs- und Theoretisierungsleistungen. Andererseits nimmt er auf dieser Grundlage eine Kategorien- und Modellbildung vor, die über die lebensweltlichen Selbst-/Verständnisse, die Denk-, Sortierungs- und Interpretationswelten der Feldmitglieder hinausgeht." (S.51) [27]

Die unterschiedlichen Transzendenzen verweisen wiederum auf unterschiedliche Brillen, die Forschende aufsetzen können, und auf das Verhältnis von Methodik und Menschenbild (siehe oben Abschnitt 2). Auch hier habe ich eine kurze Auseinandersetzung mit unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Positionen vermisst, die hinter den unterschiedlichen Verfahren qualitativ-interpretativer Sozialforschung liegen und die m.E. einen zentralen Einfluss auf die Erkenntnisinteressen der unterschiedlichen Verfahren haben. [28]

In der Darstellung der Entwicklungsgeschichte der GTM beschreibt BREUER die Kontroverse zwischen GLASER und STRAUSS und verortet diese in deren unterschiedlichen (erkenntnis-) theoretischen Sozialisationshintergründen:

"Strauss entstammt dem Kontext der sogenannten Chicago School der (Mikro-) Soziologie und Sozialpsychologie […] sowie der Tradition des Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus (Herbert Blumer, George Herbert Mead u.a.). Es handelt sich – grob charakterisiert – dabei um eine handlungstheoretische Vorstellung basierend auf dem Grundgedanken, dass die Bedeutung von Objekten, Situationen und Beziehungen in symbolisch vermittelten Prozessen der Interaktion hervorgebracht wird. Glaser hingegen kommt aus der sogenannten Columbia School (Paul F. Lazarsfeld, Robert K. Merton u.a.), in der eine positivistische und vorwiegend quantitativ ausgerichtete Methodik vertreten wurde […]. Diese Differenz wurde in der gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsarbeit in den 1960er und 1970er Jahren produktiv überbrückt, scheint aber […] die (rationale) Grundlage eines in den 1990er Jahren aufbrechenden Konflikts zwischen den beiden GTM-Vätern über die 'wahre Lehre' zu sein." (S.113) [29]

Sehr beachtenswert finde ich den Gedanken, die Differenz (erkenntnis-) theoretischer Hintergründe als rationale Grundlage von methodologischen Auseinandersetzungen zu verstehen. Das bedeutet, dass es z.B. auch noch eine emotionale Grundlage solcher Auseinandersetzungen gibt, diese jedoch durch eine (erkenntnis-) theoretische Verortung rationalisiert werden kann. Methodologische Kämpfe sind oft oder vielleicht immer auch Kämpfe um Machtansprüche in der Scientific Community, es geht um "Profilierungsansprüche", Traditionserhalt, Deutungsmächtigkeit, Grabenkämpfe usw., wie BREUER schön beschreibt (vgl. S.113f.). [30]

Sich dessen bewusst zu sein und vor diesem Hintergrund immer wieder auch die eigene methodologische Position zu reflektieren, gehört meines Erachtens mit zu einer reflexiven Forschungspraxis. So könnten sich Forschende beispielsweise folgende Fragen stellen: Warum beziehe ich welche methodologische Position? Warum "streite" ich mit Vertreter/innen anderer Positionen, worum geht es mir dabei? Mit wem setze ich mich auseinander, mit wem nicht? Warum? Was habe ich persönlich, wissenschaftlich, ressourcenmässig zu verlieren, zu gewinnen? [31]

4. Subjektivität und (Selbst-) Reflexivität

4.1 Subjektivität

Wie oben unter Abschnitt 2.2 beschrieben, vertritt BREUER eine wissenschaftliche Position, die Forschende als Teil des Erkenntnisprozesses versteht, als erkennende Subjekte, von deren Subjektivität der Erkenntnisprozess abhängig ist. Dies steht im Gegensatz zum Ideal wissenschaftlicher Objektivität, in dem Erkenntnis ganz unabhängig von der forschenden Person quasi gefunden wird. Eine solche Vorstellung von Objektivität ist für BREUER "eine unrealistische Fiktion, die zu zweifelhaften Vorstellungen über wissenschaftliche Epistemologie führt" (S.120). [32]

Statt die Subjektivität der forschenden Person als "Fehlerquelle" und "Störung" bei der wissenschaftlichen Arbeit zu betrachten, wird sie von BREUER "hinsichtlich ihrer positiven Erkenntnismöglichkeiten in den Blick genommen: Welche Art von Information kann auf diese Weise gewonnen, hervorgebracht werden?" (S.127). [33]

4.2 (Selbst-) Reflexivität

Der Ethnologe und Psychoanalytiker Georges DEVEREUX, auf den sich BREUER bezieht (vgl. S.127f.), hat sich in seinem Buch "Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften" (DEVEREUX 1984) eindrücklich und wegweisend mit den positiven Erkenntnismöglichkeiten der Subjektivität auseinandergesetzt. DEVEREUX wendet die psychoanalytische Erkenntnispraxis, die den in der therapeutischen Beziehung ausgelösten Gefühlen und Phantasien eine zentrale Bedeutung zuspricht, auf die wissenschaftliche Tätigkeit an. Er betont insbesondere die Analyse der Gegenübertragung, also die Reaktionen des Forschers/der Forscherin dem Untersuchungsfeld und seinen Akteur/innen gegenüber. Welche Gedanken, Gefühle, Phantasien, Handlungsimpulse usw. werden in der forschenden Person durch das Feld und seine Mitglieder ausgelöst? Diese Gegenübertragungs-Analyse sagt zum einen etwas über die Person der Forschenden und deren Verhältnis zum Feld, zu seinen Mitgliedern, zum Untersuchungsthema usw. aus. Zum andern verweist sie auf Charakteristika des Feldes selbst, seine Akteur/innen, die auf die Forschenden in bestimmter Art und Weise reagieren. [34]

Eine solche Herangehensweise erfordert die Bereitschaft, sich sehr intensiv mit sich selbst und anderen auseinanderzusetzen, sich auf Angst und Verunsicherung, aber auch auf positive Gefühle wie Faszination und Freude einzulassen und diese zu reflektieren.

"Man bewegt sich dabei auf einem Gelände, das von der konventionellen sozialwissenschaftlichen Methodenlehre programmatisch gemieden wird. Häufig wird hier von einem Abgleiten in die psychotherapeutische Selbsterfahrung, Selbstbespiegelung und Nabelschau gewarnt, und der Nutzen für die wissenschaftliche Erkenntnisbildung wird in Zweifel gezogen oder in Abrede gestellt." (BREUER, S.119) [35]

Im Gegensatz zur Psychoanalyse gebe es in den Sozial- und Kulturwissenschaften noch keine lange Tradition mit ausgefeilten Arbeitstechniken zur (Selbst-) Reflexivität als Mittel der Erkenntnisgewinnung. Mit seinem Lehrbuch möchte BREUER Verfahren und Praktiken für die sozialwissenschaftliche Forschung vorstellen, die sich nach seinen bisherigen Erfahrungen gut bewährt haben, um Studierenden den Einstieg in einen (selbst-) reflexiven Forschungsstil zu ermöglichen. [36]

4.3 Verfahren der (Selbst-) Reflexion

Die folgenden Verfahren werden als zentrale Arbeitstechniken beschrieben (vgl. BREUER, S.128ff.):

Die Ausführungen zu den einzelnen Arbeitstechniken beinhalten viele Fragen, die BREUER zufolge an die eigene Person und das Material gestellt werden können, und die ein differenziertes Bild davon geben, auf welche vielfältigen Aspekte und Dimensionen sich die (Selbst-) Reflexivität richten kann:

"In jedem Projekt, das unter einem solchen Forschungsstil angepackt wird, sind die Verhältnisse anders und laufen die Dinge unterschiedlich. Jede Forscherin ist auf ihre Weise involviert und schlägt ihren eigenen Weg ein. Das schafft Probleme, Ungewissheiten und Risiken, macht die entsprechende Forschungsarbeit aber auch kurzweilig, interessant und zu einem persönlich bereichernden Erlebnis und Abenteuer." (S.139) [38]

5. Letzte Betrachtungen

Den Abschluss des Lehrbuches bilden zwei "Aneignungsbeispiele" von Forschungsarbeiten, in denen mit einer reflexiven GTM gearbeitet wurde: Antje LETTAU berichtet von ihren Erfahrungen im Rahmen ihrer Diplomarbeit, in der sie die biografische und soziale Einbettung intensiver Meditationspraxis untersuchte. Barbara DIERIS rekonstruiert ihre Lerngeschichte während ihrer Diplomarbeit und ihrer Dissertation zum Thema "Altwerden in Familien". Die Autorinnen beschreiben nicht nur persönliche Aspekte, sondern auch Erfahrungen mit institutionellen Rahmenbedingungen. Es ist interessant, die beiden Aneignungsgeschichten als konkrete Veranschaulichung der vorangegangenen Ausführungen zu lesen. [39]

Aufgrund meiner eigenen Verortung in einer reflexiven ethnopsychoanalytischen und an BOURDIEU orientierten Erkenntnistheorie tauchten an der einen oder anderen Stelle Fragen auf, ob nicht auch anders oder "tiefer" gedeutet werden könnte: sehr wahrscheinlich ja, was aber den Interpretationen von LETTAU und DIERIS keinen Abbruch tut – denn es wäre noch eine weitere Perspektive auf den Gegenstand, die diskutiert werden könnte. Zudem nehmen die Autorinnen nicht für sich in Anspruch, eine tiefenhermeneutische Erkenntnisposition zu vertreten. [40]

5.1 Ein ethnopsychoanalytisch-soziologischer Exkurs

Dennoch möchte ich an einem Beispiel kurz zeigen, wie meine ethnopsychoanalytisch-soziologisch inspirierten Fragen aussahen: Antje LETTAU beschreibt, wie unterschiedlich es ihr in verschiedenen Meditationskontexten ergangen ist. Zu Beginn ihrer Untersuchung hatte sie sich für eine Zen-Meditationsgruppe entschieden und spricht in diesem Zusammenhang von einer "altehrwürdigen japanischen Tradition" (S.149). Als Vergleichsmöglichkeit wählte sie später noch "ein Kursangebot zur Yoga-Meditation" (S.152). Sie beschreibt ihre unterschiedlichen "Lebensläufe" als Forscherin in diesen beiden Gruppen:

"Ich konnte mich an die strenge Disziplin der Zen-Praxis und die Kommunikationsarmut während der Meditationstreffen nur schwer gewöhnen. Demgegenüber fühlte ich mich in der Yoga-Gruppe sozial bald sehr zu Hause und gab dort nach und nach meine Forscheridentität auf. Ich machte gewissermaßen den 'Going native'-Schritt – was mir im Zen-Kontext nie gelang." (LETTAU, S.152) [41]

Sie erklärt diesen grundlegenden Unterschied mit einer "persönlichen Passung": ihre eigenen persönlichen "Motivlagen und Lebensthemen" hätten besser zur sozialen Organisation und Meditationspraxis der Yoga-Gruppe als zu jener der Zen-Gruppe gepasst (S.153 und S.157). [42]

Warum jedoch genau die persönlichen Motivlagen und Lebensthemen besser zum einen Untersuchungskontext als zum andern passten, wird in der Beschreibung nicht wirklich klar. So begann ich mir folgende Fragen zu stellen: Von welchem nicht nur persönlichen und lebensgeschichtlichen, sondern auch gesellschaftlichen, sprich soziokulturellen und -ökonomischen Ort aus forschte die Autorin? Wie lassen sich Zen-Meditation und Yoga-Meditation gesellschaftlich und sozialhistorisch verorten? Welche gesellschaftlichen Gruppen üben und übten die jeweilige Meditationspraxis aus? Welches soziale und somit auch emotionale Verhältnis ergibt sich dadurch zwischen der Forscherin und dem jeweiligen Untersuchungskontext? Pierre BOURDIEU (1989, S.397) spricht hier von einem "unterbewussten und vorreflexiven" Verhältnis von Habitus und Feld. Kann es sein, dass die Forscherin negative Gefühle gegenüber der Zen-Gruppe wie Ärger, Verunsicherung, Ausgeschlossenbleiben abwehrte und in einer rationalen Forschungshaltung dieser Gruppe gegenüber sublimierte, während sie ihre positiven Gefühle gegenüber der Yoga-Gruppe – vielleicht als Ausgleich – ausleben konnte? Antje LETTAU schreibt, dass sie zur Zen-Gruppe "keinen 'gefühlten' Zugang" fand (S.157), während sie in der Yoga-Gruppe aus ihrer Forscherinnenrolle heraustrat und ein Prozess "des identifikatorischen Heimisch-Werdens" begann (S.158). Vielleicht fand auch eine tendenzielle Aufspaltung positiver und negativer Gefühle auf die beiden Gruppen statt, um unbewussten Gefühlskonflikten aus dem Weg gehen zu können? [43]

Antworten auf diese Fragen kann ich natürlich keine geben, diese ließen sich nur in Diskussion mit der Forscherin und Autorin erarbeiten. [44]

5.2 Offene Fragen zur (Selbst-) Reflexivität …

Nachdem ich die beiden Aneignungsgeschichten und somit das Lehrbuch zu Ende gelesen hatte, blieb eine gewisse Nachdenklichkeit in Bezug auf das Thema (Selbst-) Reflexivität zurück. Was lässt sich mit welcher Art von selbstreflexiver Praxis erkennen? Eröffnet eine (ethno-) psychoanalytische bzw. tiefenhermeneutische Zugangsweise eine größere Bandbreite an Erkenntnismöglichkeiten, oder führt sie einfach zu anderen, psychoanalytisch geprägten Erkenntnissen? Wie weit kann eine reflexive GTM unbewusste Gefühle und Aspekte von gesellschaftlicher Unbewusstheit (vgl. ERDHEIM 1982) erschließen, ist das überhaupt das Ziel einer reflexiven GTM? [45]

Wie unter Abschnitt 3.3 beschrieben, verortet BREUER die GTM in einer Mittelposition zwischen Ansätzen, die subjektive, manifeste Theorien von Personen rekonstruieren möchten und Ansätzen, die den objektiven, latenten Sinn herauszuarbeiten versuchen.

"Deutungsverfahren auf psychoanalytischem Theoriehintergrund […] sind ein Beispiel für die dezidierte Entkoppelung wissenschaftlicher Interpretation vom Selbstverständnis der Akteure aus dem alltagsweltlichen Kontext. Auf der Basis einer spezifischen Sozialisations-/Theorie wird eine Unterscheidung von latenter/unbewusster und manifester/bewusster Sinnebene getroffen. Der Wissenschaftler nimmt für sich das 'Prä' des tiefgründigeren Verstehens in Anspruch. Im Extremfall sind Selbst- und Fremddeutung nicht konsensfähig. Der Psychoanalytiker kann sich zu seinen Gunsten auf den aus der Theorie begründbaren Standpunkt der 'Widerständigkeit' und 'Abwehr' des Analysanden gegenüber seiner Deutung berufen." (BREUER, S.50) [46]

Auf der einen Seite muss ich BREUER Recht geben mit seiner Charakterisierung psychoanalytischer Theorieansätze, die der Vorstellung der Gegenstandsbegründetheit und Transparenz im Sinne der GTM höchst selten gerecht werden. Auf der anderen Seite sind Konzepte wie Widerständigkeit und Abwehr, die Unterscheidung bewusster und unbewusster Sinnebenen in der psychoanalytischen (therapeutischen und Forschungs-) Praxis im Grunde jedoch auch nicht viel mehr als sensibilisierende Konzepte und damit Teil einer theoretischen Sensibilität (vgl. BREUER, S.58ff.). In welchem Kontext, warum und wozu Widerständigkeit und Abwehr auftauchen, wo konkret die Unterscheidung und Wechselwirkung zwischen bewussten, vorbewussten und unbewussten Sinnebenen verläuft, welcher subjektive Sinn damit jeweils verbunden wird, muss erst erarbeitet werden. So können möglicherweise auch inkonsistente, widersprüchliche Aussagen und Deutungen verstanden werden. [47]

Hinsichtlich der Gegenstandsbegründetheit und Transparenz grenzt BREUER die GTM von psychoanalytischen Deutungsverfahren zwar ab, hinsichtlich der (Selbst-) Reflexivität orientiert er sich jedoch an ihnen, wie seine Bezugnahmen auf die Ethnopsychoanalytiker/innen Georges DEVEREUX, Maya NADIG und Mario ERDHEIM zeigen (vgl. BREUER, S.123ff.). Im Kapitel zu den Verfahren und Praktiken der (Selbst-) Reflexion meint er zudem, dass "gewissermaßen ein Äquivalent zur Lehranalyse des Psychoanalytikers gefragt" sei (S.128). BREUERs Konzeption von (Selbst-) Reflexivität lehnt sich stark an eine psychoanalytische Konzeption an, wie seine Ausführungen und Beispielfragen deutlich machen. Als Einführung in eine (selbst-) reflexive Forschungspraxis überzeugt mich BREUERs Konzeption sehr. Doch wenn er von einem Äquivalent zur Lehranalyse spricht, stellt sich für mich die Frage, ab wann eine vertiefte Auseinandersetzung mit subjektiv und institutionell unbewussten Sinnebenen – wie es die Ethnopsychoanalytiker/innen praktizieren – sinnvoll und notwendig ist, um "die interaktive Charakteristik der Forschungssituation als potentiell ergiebiges Erkenntnisfenster zu nutzen" (BREUER, S.140) und den "Einblick in die Möglichkeiten, Grenzen und Beschränktheiten eigener Sehweisen und Erkenntnis" zu befördern (vgl. S.169). [48]

Aufgrund meiner eigenen ethnopsychoanalytischen Verortung und der damit verbundenen Brille, an die ich mich gewöhnt habe, würde ich sagen, dass eine vertiefte, tiefenhermeneutische Auseinandersetzung mit unbewussten Sinnebenen dann angebracht ist, wenn Forschende auch Widersprüchliches, Konflikthaftes, Irrationales, Bedrohliches, Verführerisches u.Ä., das im Datenmaterial aufscheint und Reaktionen auslöst, verstehen und in die Interpretation integrieren wollen. Tiefenhermeneutische und ethnopsychoanalytische Ansätze bieten hierzu elaborierte Techniken und Verfahren. [49]

5.3 … oder das Verhältnis von Forschungsmethodik, Menschenbild und Gesellschaftsbild

In das Verhältnis von Menschenbild und Methodik, das BREUER als grundlegend hervorhebt, muss m.E. das Gesellschaftsbild einbezogen werden, unter der Annahme, "daß jeder Mensch vom Beginn seines Lebens an ein soziales Wesen ist und daß er in seiner seelischen Struktur und in seinem Verhalten von der Sozietät, der Klasse oder der Gruppe, der er angehört, geformt worden ist" (PARIN 1983, S.195). Das je individuelle Gesellschaftsbild beeinflusst auch das je individuelle Menschenbild – so ergibt sich ein Dreiecksverhältnis von Forschungsmethodik, Menschenbild und Gesellschaftsbild. Versteht man z.B. Gesellschaft als horizontalen Funktionszusammenhang, in dem verschiedene Systeme (Institutionen, Rollen) je spezifische, sich gegenseitig ergänzende Funktionen erfüllen oder als vertikalen Herrschaftszusammenhang, in dem verschiedene soziale Gruppierungen und Individuen um Machtpositionen und die Durchsetzung ihrer Interessen kämpfen? [50]

Werden Wissenschaft und Forschung als Teile der Gesellschaft betrachtet, stellt sich zudem die Frage, welche Funktionen und Aufgaben sie haben, welche Interessen sie vertreten. Warum und wozu betreiben wir Wissenschaft? Diese Fragen zielen auf die (Selbst-) Reflexion von Entstehungs- und Verwertungszusammenhängen wissenschaftlicher (Forschungs-) Praxis, die wiederum vom Menschen- und Gesellschaftsbild mit beeinflusst wird. Oder anders formuliert: "Es ist […] weder wissenschaftlich gleich gültig noch gesellschaftlich gleichgültig, welche Forschungsfrage gestellt und in welcher Perspektive verfolgt wird" (MARKARD 2007, S.9). [51]

In seiner Vorbemerkung zum Lehrbuch schreibt BREUER:

"Die vorgestellte Methodik eignet sich speziell für sozialwissenschaftliche Untersuchungsanliegen, die in ihrer Bedeutung für Forscherinnen und Forscher über die schlichte Absolvierung formaler Qualifikations-Abschlüsse hinaus gehen, bei denen sie ein gewisses Maß an identifikatorischem 'Herzblut' mitbringen, die auch Züge 'persönlicher Projekte' besitzen." (S.10) [52]

Dies ist in Zeiten von ECTS-Punktesammeln1) ein wohltuender und auch subversiver Anspruch, der mit einer gegen die herrschende (akademische) Zeitnorm gerichteten Forschungshaltung verbunden ist, wie in einer Mail von Franz BREUER am 12. August 2009 an die Mailingliste Qualitative Sozialforschung deutlich wird:

"Qualitative Sozialforschung hat (auch) etwas mit 'Verlangsamung' zu tun – man führt sich gewisse soziale Prozesse (Interaktionen, Gespräche) gewissermaßen in Zeit-Lupe zu Gemüte, das führt zu veränderten/neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten etc. Insofern ist sie vermutlich nichts für 'ganz Eilige'. Wenn man/frau 'keine Zeit' hat, sollte man sich schwer überlegen, ob man/frau so arbeiten möchte/sollte."2) [53]

Das mag in Anbetracht verschulter und gestraffter Studiengänge, expliziter und impliziter Altersnormen in wissenschaftlichen Laufbahnen sowie knapper ökonomischer und zeitlicher Ressourcen für (sozialwissenschaftliche) Forschungsprojekte etwas abgehoben daher kommen, doch ich denke, Franz BREUER ist sich dieser Bedingungen durchaus bewusst und erlaubt sich mit seiner Haltung eine gewisse "Entselbstverständlichung" (BREUER, S.28) dieser Bedingungen – bei einem reflexiven GTMler mit Herzblut eigentlich selbstverständlich. [54]

Anmerkungen

1) Im Zuge der Bologna-Hochschulreform wurde das "European Credit Transfer System" (ECTS) europaweit eingeführt, in dessen Rahmen Studienleistungen in Form von Leistungspunkten (sog. credit points) "gemessen" und erbracht werden. <zurück>

2) Siehe https://lists.fu-berlin.de/pipermail/qsf_l/2009-August/msg00062.html. <zurück>

Literatur

Bourdieu, Pierre (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (1989). Antworten auf einige Einwände. In Klaus Eder (Hrsg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Theoretische und empirische Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie (S.395-410). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bryant, Antony & Charmaz, Kathy (Hrsg.) (2007). The Sage handbook of grounded theory. London: Sage.

Devereux, Georges (1984). Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. [Orig. 1967: From anxiety to method in the behavioral sciences. Paris: Editions Mouton & Co. und Ecole Pratique des Hautes Ecoles]

Erdheim, Mario (1982). Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Markard, Morus (2007). Macht Erfahrung klug? Subjektwissenschaftliche Überlegungen zum Verhältnis von subjektiver Erfahrung und wissenschaftlicher Verallgemeinerung. Journal für Psychologie, 15(3), Artikel 4, http://www.journal-fuer-psychologie.de/jfp-3-2007-4.html [Zugriff: 26.01.2010].

Mey, Günter & Mruck, Katja (2007). Grounded Theory Methodologie – Bemerkungen zu einem prominenten Forschungsstil. In Günter Mey & Katja Mruck (Hrsg.), Grounded Theory Reader. Historical Social Research – Historische Sozialforschung, Supplement/Beiheft 19 (S.11-39). Köln: Zentrum für Historische Sozialforschung.

Mey, Günter & Mruck, Katja (2009). Methodologie und Methodik der Grounded Theory. In Wilhelm Kempf & Markus Kiefer (Hrsg.), Forschungsmethoden der Psychologie. Zwischen naturwissenschaftlichem Experiment und sozialwissenschaftlicher Hermeneutik, Band 3: Natur und Kultur (S.100-152). Berlin: verlag irena regener.

Parin, Paul (1983). Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien. Frankfurt/M.: Syndikat.

Strauss, Anselm L. (1991). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. München: Fink. [Orig. 1987: Qualitative analysis for social scientists. Cambridge: University Press]

Strauss, Anselm & Corbin, Juliet (1996). Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz, PsychologieVerlagsUnion. [Orig. 1990: Basics of qualitative research: Grounded theory procedures and techniques. Newbury Park: Sage]

Zur Autorin

Sandra DA RIN studierte Soziologie, Pädagogik und Politische Philosophie. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungssoziologie, soziale Ungleichheiten, Methoden und Methodologien interpretativer Sozialforschung, (Ethno-) Psychoanalyse. In FQS findet sich eine von ihr gemeinsam mit Leyla CIRAGAN verfasste Rezension zu "Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft" (herausgegeben von Elfriede LÖCHEL und Insa HÄRTEL 2006, siehe http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs080341).

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Sandra Da Rin

Würzwies 6
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E-Mail: sdarin@bluewin.ch

Zitation

Da Rin, Sandra (2010). Rezension: Franz Breuer, unter Mitarbeit von Barbara Dieris und Antje Lettau (2009). Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis [54 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 11(2), Art. 14, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1002140.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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