Volume 11, No. 3, Art. 24 – September 2010

Spiegelneuronen in der sozialwissenschaftlichen Diskussion

Henning Pätzold

Review Essay:

Nadia Zaboura (2009). Das empathische Gehirn. Spiegelneurone als Grundlage menschlicher Kommunikation. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 150 Seiten, 3-531-16390-6, €24,90

Zusammenfassung: Seit ihrer Entdeckung Mitte der 1990er Jahre sind Spiegelneuronen kontinuierlicher Gegenstand neuro- wie sozialwissenschaftlicher Debatten. Das besondere Interesse von Wissenschaftler/innen außerhalb der biologischen Disziplinen beruht auch darauf, dass Spiegelneuronen nicht nur allgemeine erkenntnistheoretische Bedeutung haben, sondern auch im Zusammenhang mit fundamentalen sozialen Erkenntnis- und Empfindungsformen wie Empathie eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Mit dem Buch von Nadia ZABOURA wird ein jüngerer Beitrag aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive kritisch in Bezug zur gegenwärtigen Diskussion um Spiegelneuronen und die sich aus deren Entdeckung ergebenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Konsequenzen dargestellt. Vor dem Hintergrund philosophischer Zugänge zum Geist-Materie-Dualismus und der Frage nach der Möglichkeit von Intersubjektivität lotet die Autorin aus, welche Bedeutung Spiegelneuronen heute für die Debatte um Empathie und Kommunikation haben. In der Auseinandersetzung mit kommunikationswissenschaftlichen und philosophischen Konzepten wie auch den vorliegenden neurowissenschaftlichen Ergebnissen zu Spiegelneuronen kommt sie zu dem Schluss, dass auch jene keine tragfähige Begründung für einen materiellen Reduktionismus bieten, der Phänomene der Intersubjektivität allein aufgrund beschreibbarer neuronaler Prozesse erklären wollte. Die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Bezugstheorien (von DESCARTES über MEAD bis zu TOMASELLO) ist dabei ebenso anregend, wie sie oft eher kursorisch bleibt. So bietet das Buch vor allem Impulse für eine weitere Auseinandersetzung mit der Thematik und liefert hier "Routenvorschläge", entlang derer man das Thema der Spiegelneuronen und die diesbezügliche Forschung weiter vertiefen kann.

Keywords: Spiegelneuronen; Empathie; Neurowissenschaften; Phänomenologie

Inhaltsverzeichnis

1. Spiegelneuronen als Grundlage menschlicher Interaktion

2. Zum Aufbau und Inhalt des Buches

2.1 Philosophische Sichtweisen auf Intersubjektivität und das Subjekt

2.2 Spiegelneuronen – biologische, evolutionäre und psychologische Perspektiven

2.3 Diskussion, Zusammenfassung und Ausblick

3. Beurteilung und Kritik

3.1 Mensch und Tier

3.2 Reduktionismus

3.3 Fazit

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Spiegelneuronen als Grundlage menschlicher Interaktion

In den 1990er Jahren haben Neurowissenschaftler/innen bei Nervenzellen in motorischen Arealen des Gehirns von Affen eine neue Funktion entdeckt. Diese Zellen, von denen man erwarten würde, bei der Verrichtung motorischer Akte aktiv zu werden, zeigen Aktivität auch dann, wenn der Affe vergleichbare motorische Akte beobachtet. Mehr noch, die Aktivität richtet sich nicht nur danach, dass die Handlung ausgeführt wird, sondern sie scheint auch noch davon abzuhängen, ob diese Ausführung auch sinnvoll ist. So zeigt sich eine Aktivität von Spiegelneuronen, wenn ein Affe beobachtet, wie ein Versuchsleiter eine Nuss ergreift – beobachtet der Affe hingegen die gleiche Bewegung, ohne dass etwas zum Ergreifen da wäre, bleibt auch die Aktivität der Spiegelneuronen aus. Weil die neuronale Spiegelung des Vorgangs offenbar abhängig von einer Erkenntnisleistung ist (ist etwas zum Ergreifen da?), diese aber nicht außerhalb des Spiegelneuronensystems nachgewiesen werden kann, sprechen Neurowissenschaftler/innen von einer "Modalität des Verstehens, die vor jeder begrifflichen oder sprachlichen Vermittlung unsere Erfahrung mit den anderen prägt" (RIZZOLATTI & SINIGAGLIA 2008, S.191f.). [1]

Dieses prä-reflexive Verstehen ist nicht nur aus neurowissenschaftlicher Sicht eine spektakuläre Entdeckung, sie reizt auch zu vielfältigen Überlegungen in der Philosophie und den Kultur- und Sozialwissenschaften. Dabei geht es einerseits darum, die Erkenntnisse dieses Bereichs der Neurowissenschaften zu nutzen, um bestehende Theorien und Modelle zu differenzieren (oder auch zu begründen), andererseits bieten sie aber auch Ansätze, Theorielücken zu schließen oder bestehende Konzepte grundsätzlich infrage zu stellen. [2]

Besonders anregend ist die Auseinandersetzung mit Spiegelneuronen dabei in Bezug auf grundlegende soziale Phänomene wie Mitgefühl und Verständnis. So beschreibt GALLESE bei Spiegelneuronen einen Mechanismus des "intentional attunement" (2005, S.31), der grundlegend dafür verantwortlich gemacht wird, die Handlungen anderer als Handlungen einer Person wahrzunehmen. RIZZOLATTI und SINIGAGLIA (2008) präsentieren Spiegelneuronen als "biologische Basis des Mitgefühls". Auch ZABOURA, deren Buch hier besprochen wird, folgt dieser Linie zunächst und bezeichnet Spiegelneuronen als "physiologische Essenz der Empathie und Mitmenschlichkeit" (S.14). [3]

Sie leistet einen Beitrag zu dieser Diskussion, indem sie Spiegelneuronen aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive betrachtet. Es geht ihr dabei zunächst darum, "das neuronale Phänomen mit bestehenden philosophischen, sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Theorien zu kontrastieren und neu einzuordnen" (S.15), im weiteren Verlauf aber auch darum, "das Konstrukt des abendländischen Subjekts kritisch zu hinterfragen und den Zusammenhang zwischen Geist, Körper und Intersubjektivität neu zu verorten" (ebd.). [4]

2. Zum Aufbau und Inhalt des Buches

Aus den Gegenständen der einzelnen Kapitel von ZABOURAs Buch ergibt sich implizit eine Gliederung in drei Hauptteile: Nach einer Einleitung folgt ein Teil zu vorwiegend philosophischen Perspektiven auf das Subjekt und auf Intersubjektivität, der gewissermaßen den Diskussionshintergrund für die Auseinandersetzung mit Spiegelneuronen darstellt. Ein zweiter Teil (mit den Kapiteln fünf bis sieben) wendet sich einer naturalistisch orientierten Darstellung der Spiegelneuronen in biologisch-physiologischer, evolutionärer und psychologischer Perspektive zu (ohne jene Fragen, die über eine naturalistische Sichtweise hinausgehen, aus den Augen zu verlieren). Ein dritter Teil mit den Kapiteln acht und neun widmet sich den Erträgen dieser Diskussion, ihrer kritischen Bewertung und sich daraus ergebenden Perspektiven. [5]

2.1 Philosophische Sichtweisen auf Intersubjektivität und das Subjekt

ZABOURA widmet sich, nach einer Einleitung in das Themenfeld, zunächst dem Konzept der Intersubjektivität, das sie vor allem in historisch-philosophischer Sicht entfaltet. Sie verortet die damit verbundenen Fragen beim Leib-Seele-Problem und lässt – auch mit dieser Einordnung – bereits eine argumentative Strategie erkennen, die die Leser/innen über weite Teile des Buches begleiten wird: Ein Gegenstand wird in eine Dualität von Gegensätzen (leiblich-geistig, materialistisch-mentalistisch, subjektiv-objektiv usw.) eingeordnet. Im dritten Kapitel wird eine solche Dualität an der Position DECARTES' auf der einen und LEIBNIZ' auf der anderen Seite skizziert. Es bleibt allerdings bei einer Skizze, die eher Stichworte aus dem Themenfeld referiert und zwischen ziemlich allgemeinen ("Leibniz […] äußerte sich in seinem Schaffen zu einer Vielzahl von Themen", ebd., S.32) Aussagen und längeren, detaillierten Zitaten der (im Falle LEIBNIZ' französischen) Originalquellen nicht immer zu einem konsistenten Niveau findet. [6]

Das vierte Kapitel setzt die oben angesprochenen Dualitäten mit Blick auf den modernen philosophischen Diskurs fort. Hier sind es die Phänomenologie (namentlich HUSSERL und MERLEAU-PONTY) auf der einen Seite und eine Vielfalt von Strömungen, die vereinfachend unter Naturalismus subsumiert werden, auf der anderen. Das Kapitel liefert einen Einblick in einige Themen neuzeitlicher Philosophie (und Sozialwissenschaft), die für die Diskussion um Spiegelneuronen Anschlussmöglichkeiten bieten, gerät jedoch immer wieder zu einer allzu simplifizierenden Darstellung philosophischer Schlüsselbegriffe (etwa "Intentionalität", ebd., S.39 oder "Epoché", ebd., S.40), ohne dass hierdurch die wünschenswerte Klarheit geschaffen würde. Zwar ist kaum zu erwarten, dass etwa die Feinheiten der Leibphänomenologie MERLEAU-PONTYs auf so knappem Raum entfaltet werden können, in der vorliegenden Form bleibt allerdings das Unbehagen zurück, eher mit Signalwörtern und knappen Theorieausschnitten konfrontiert zu sein. Die wachsende Bedeutung, die der Blick auf den Leib in den Sozialwissenschaften in jüngerer Zeit wieder zu gewinnen scheint (vgl. für die Pädagogik z.B. MEYER-DRAWE 2008; LIEBAU 2008) wird hier wohl zu Recht festgestellt, und sie manifestiert sich ja auch in der bereits angedeuteten philosophisch-erkenntnistheoretischen Interpretation von Phänomenen wie dem der Spiegelneuronen. Sie in phänomenologischer Sicht weiter zu differenzieren erscheint allerdings für die weitere Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema, den Spiegelneuronen, gar nicht erforderlich. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Autorin immer wieder zwischen dem Begriff des Leibes und dem des Körpers wechselt, ohne dass dem ein ersichtliches Prinzip zugrunde läge. [7]

Ähnliches gilt für die "naturalistische" Position, die der phänomenologischen gegenüber gestellt wird. Auch hier wird – ausgehend von DARWINs (1875) Theorie der Abstammung des Menschen – eine Reihe von Theoriebeiträgen zu einer naturalistischen Grundlage von Subjektivität und Intersubjektivität angesprochen, ohne dass der Raum wäre, diesen jeweils gerecht zu werden. Die Darstellung muss notwendigerweise an der Oberfläche verbleiben und es erschiene manches Mal besser, es wäre weniger angesprochen worden. Ein Ertrag dieses Kapitels, der allerdings weniger auf der hier erfolgenden Berücksichtigung naturalistischer Ansätze beruht, als auf der Tatsache, dass in diesem Abschnitt den Beiträgen der Soziologie mehr Raum gewidmet wird, besteht darin, dass die Bedeutung von Imitation für die Entwicklung sozialer Fähigkeiten betont wird. [8]

2.2 Spiegelneuronen – biologische, evolutionäre und psychologische Perspektiven

Das fünfte Kapitel widmet sich den Spiegelneuronen selbst. ZABOURA stellt hier deren physiologische Struktur und neurologische Bedeutung knapp und treffend dar, dabei lässt sie auch die oben genannten Interpretationen nicht außer Acht, die Neurowissenschaftler/innen wie GALLESE selbst diesen jenseits einer materialistisch-biologischen Beschreibung geben. Die Darstellung folgt dabei im Wesentlichen einem Aufsatz, den die Autorin bereits drei Jahre zuvor in einem Sammelband publiziert hat (vgl. ZABOURA, S.57, FN 55). Einige der vorausgehenden Bezüge, z.B. zu MERLEAU-PONTY oder zu MEAD, sind in diesem Kapitel bereits angelegt, sodass es wohl als Keimzelle für das gesamte vorliegende Buch begriffen werden kann. [9]

Das sechste Kapitel liefert unter dem Titel "Evolutionäre Bedeutsamkeit und Konsequenz der Spiegelneurone" (ebd., S.77) ebenso anregende wie spekulative Interpretationen derselben in Bezug auf die stammesgeschichtliche (Kapitel 6.1) und individuelle (Kapitel 6.2) Entwicklung. Eine zentrale Idee des ersten Teils ist, dass die Fähigkeit zum empathischen Mitempfinden durch das Spiegelneuronensystem bezogen auf eine Spezies evolutive Vorteile zu verschaffen vermag. Hier konvergieren die Ergebnisse der Forschung zu Spiegelneuronen mit auf anderem Wege gewonnenen, aber letztlich ähnlichen Resultaten bei TOMASELLO: "Human's especially powerful skills of social-cultural cognition early in ontogeny thus serve as a kind of 'bootstrap' for the distinctively complex development of human cognition in general. We may call this the cultural intelligence hypothesis" (HERRMANN, CALL, HERNÁNDEZ-LLOREDA, HARE & TOMASELLO 2007, S.1360). Gleichwohl macht ZABOURA in diesem Zusammenhang deutlich, dass das Spiegelneuronensystem kaum als vollständige Erklärung für diese Arten komplexer sozialer Wahrnehmung dienen kann. Ob das, wie angegeben (S.83), häufig behauptet würde, sei zunächst dahingestellt. Sicher ist ihr jedoch zuzustimmen, dass die Spiegelungsprozesse allenfalls eine von möglicherweise vielen Grundlagen für eine solche Wahrnehmung darstellen. [10]

Im zweiten Abschnitt über die individuelle Entwicklung werden Spiegelneuronen allgemein mit dem Vorgang der Imitation in Verbindung gebracht. Das funktioniert als Argument erwartungsgemäß ohne Probleme, bringt aber bezüglich ihrer Bedeutung für die individuelle Entwicklung auch wenig Neues, weil hierzu insbesondere durch die Soziologie und Sozialpsychologie bereits Vieles gesagt worden ist. Die ontogenetische Perspektive wird mit einem neuen Schwerpunkt später noch einmal aufgegriffen (S.97ff.); hier ist der Hinweis auf ontogenetische Fragen vor allem insofern bedeutsam, als wir bisher schlicht wenig über die Entstehung und Entwicklung des Spiegelneuronensystems im individuellen Lebenslauf wissen. [11]

Im siebten Kapitel eröffnet ZABOURA einen weiteren Diskussionsstrang, der erneut aus einer Dichotomie hervorgeht, in diesem Falle der von simulation theory und theory theory innerhalb der Diskussion um eine theory of mind. Analog dem Titel des Kapitels geht es um die Frage, auf welche Weise wir strukturell Zugang zu den inneren Zuständen anderer gewinnen können – ob wir entweder entlang einer "Theorie" des oder der Anderen deren Verhalten verstehen oder ob wir vermittels einer "Simulation" anderer gleichsam deren Situation nachahmen und dann deren innere Zustände in uns selbst abgebildet finden. Die Gegenüberstellung beider Ansätze ist jedoch nicht zwingend erforderlich (vgl. VAN RIEL 2008), und so stellt sich das hier diskutierte Problem möglicherweise als Scheinproblem dar. Bezeichnenderweise schlägt sich das unmittelbar in Formulierungen nieder. So fragt ZABOURA: "Überwinden wir unsere körperlichen Grenzen und stehen wirklich sprichwörtlich 'in den Schuhen des anderen'" (S.98) und lässt damit die Frage offen, wie – in einem im weiteren Sinne erkenntnistheoretischen Zusammenhang – mit der Formulierung "wirklich sprichwörtlich" umzugehen ist. Erst später wird deutlich, dass die Dichotomie der beiden Ansätze nur funktional verstanden wird, indem die Spiegelneuronen der simulation theory zugeordnet werden (ähnlich argumentiert auch GALLESE, 2005, der von embodied simulation spricht). So ist es eine Stärke dieses Abschnittes, die Diskussion um Spiegelneuronen neuerlich in den Kontext der theory of mind zu stellen, gleichwohl fehlt hier die begriffliche und argumentative Präzision, wie auch inhaltliche Ungenauigkeiten auftreten. Man kann zum Beispiel kaum als gesichert erachten, dass Autist/innen "nur über eine sehr begrenzte Zahl von Spiegelneuronen" (ZABOURA, S.110) verfügen. [12]

2.3 Diskussion, Zusammenfassung und Ausblick

Mit der Frage nach den inner- und außerbiologischen Ursprüngen von Bedeutung und Sinn befasst sich das achte Kapitel, das gleichzeitig ein erstes Resümee darstellt. ZABOURAs Fazit besteht darin, dass das Spiegelneuronensystem für das un- oder vorbewusste Verstehen von Gefühlen und Absichten verantwortlich sei. Für die Entstehung von Sinn ist damit noch ein weiterer, bewusster Anteil erforderlich. Auch wenn dieses bewusste Verstehen an die Spiegelneuronenprozesse anschließen oder sie sogar zur Voraussetzung haben mag, weise es notwendigerweise über sie hinaus. Diese Argumentation wird vor allem als Gegenposition zu einem materialistischen Reduktionismus vorgetragen, der etwa im Spiegelneuronensystem bereits die gesamte Erklärung für Empathie gefunden zu haben glaubt (vgl. hierzu auch Abschnitt 3.2). [13]

Das abschließende, neunte Kapitel führt die bereits begonnene Zusammenfassung fort. Die Frage nach den Konsequenzen, die die Entdeckung der Spiegelneuronen für die Kommunikationswissenschaften im Besonderen und die Sozialwissenschaften im Allgemeinen hat, beantwortet es angesichts des vorausgehenden Theorieaufwandes eher undramatisch: Das "Somatisieren von Bedeutung [ist] nun kein so schockierend neuer Ansatz" (S.134f.) in den Geistes- und Sozialwissenschaften, und "[s]o lässt sich festhalten, dass Spiegelneurone keine Bedrohung darstellen" (S.135), sondern lediglich ein neurophysiologisches Korrelat zu kommunikationswissenschaftlich bereits weitgehend geklärten Vorgängen. Das Kapitel schließt mit Hinweisen auf weitergehende Diskussionen, die vor dem Hintergrund der Spiegelneuronen neue Impulse und Richtungen bekommen könnten. Ein Beispiel ist die dringende Forderung nach einer interdisziplinären Auseinandersetzung (zu der ZABOURAs Beitrag ebenso zählt wie verschiedene Veröffentlichungen GALLESEs und eine insgesamt wachsende Menge von Literatur zum Thema Spiegelneuronen auch außerhalb der disziplinären Grenzen der Neurowissenschaften). Ein weiteres Beispiel ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Spiegelneuronen und medial vermittelter Erfahrung. Es überrascht kaum, dass das Betrachten von Filmen ähnliche Aktivitäten der Spiegelneuronen induziert wie das Betrachten realer Handlungen. Aber bereits wenn Versuchspersonen Sätze hören, in denen Aktionen beschrieben werden, lassen sich – im Rahmen der beim Menschen möglichen forschungsmethodischen Zugänge – Rückschlüsse auf eine Aktivität des Spiegelneuronensystems finden (vgl. HOLLAND 2009, S.95f.; TETTAMANI et al. 2005); und dennoch bleibt unklar, welche Auswirkungen es hat, wenn etwa "Bewegungsabläufe nicht mehr in realer, sondern nur noch in abgeschwächter, virtueller Version gesehen, nachvollzogen und gelernt werden" (ZABOURA, S.138). [14]

3. Beurteilung und Kritik

In der inhaltlichen Darstellung wurden bereits verschiedene kritische Aspekte angesprochen. Im Folgenden sollen nun, vor einem kurzen Fazit, zwei Punkte zur genaueren Betrachtung herausgegriffen werden. Beide bauen aufeinander auf und markieren aus meiner Sicht Möglichkeiten wie auch Grenzen der Argumentation im Rahmen von ZABOURAs Buch. [15]

3.1 Mensch und Tier

Für ZABOURAs Darstellung spielt die anthropologische Frage nach einem Unterschied zwischen Mensch und Tier eine entscheidende Rolle, die sich im Laufe des Textes immer deutlicher herauskristallisiert. Implizit wird hier die geläufige These vertreten, dass sich der Mensch fundamental vom Tier unterscheide, der Unterschied also von grundsätzlich anderer Qualität sei als der Unterschied zwischen Angehörigen sonstiger verschiedener Spezies. Diese These klingt im Text immer wieder mit, obwohl sie nicht explizit belegt wird. Wenn etwa ROTH mit den Worten zitiert wird, dass es "eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Menschen [ist], sich in die Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlswelt seiner Mitmenschen hineinversetzen zu können" (nach ZABOURA, S.97), dann bedeutet das gerade nicht, dass es sich bereits um einen der "unverwechselbaren, artkonstituierenden Faktoren" (S.97) der Spezies Mensch handelt, weil ROTH nicht behauptet, dass dieses hervorstechende Merkmal nicht auch bei anderen Spezies vorkommen könne. [16]

Die Geschichte der Anthropologie ist bekanntermaßen reich an Beschreibungen "artkonstituierender" Merkmale, die – soweit sie einem naturwissenschaftlichen Forschungsparadigma grundsätzlich zugänglich sind – mit einiger Verzögerung auch beim Tier gefunden wurden (man denke beispielsweise an die berühmten Untersuchungen KÖHLERs zur Sprachfähigkeit bei Schimpansen). Freilich ist damit nicht gesagt, dass die jeweils in Frage stehenden Fähigkeiten und Merkmale bei Tier und Mensch in gleicher Weise ausgebildet seien, aber die Suche nach menschenspezifischen Alleinstellungsmerkmalen oberhalb der Gattungsebene war bisher im Bereich der Naturwissenschaften nicht sehr erfolgreich (aussichtsreicher erscheinen hier insgesamt die Ergebnisse verschiedener Richtungen der philosophischen Anthropologie). So gibt es auch zur Fähigkeit sozialer Wahrnehmung vergleichende Befunde von Mensch und Schimpanse (HERRMANN et al. 2007, S.1362f.), die zwar darauf hinweisen, dass Menschen hier überlegen sind, dass sie aber eben nicht exklusiv über diese Fähigkeiten verfügen. Der Versuch, nun gerade in diesem Sachbereich über die Neurowissenschaften die vorliegenden philosophischen Argumente materialistisch zu untermauern, führt (auch bei ZABOURA) zu einem systematischen Problem: Die differenzierten Befunde zu Spiegelneuronen werden vor allem im Tierversuch gewonnen, weil forschungsethische Gesichtspunkte vergleichbare Versuche am Menschen verbieten. Entsprechend sind Aussagen über die Funktionsweise von Spiegelneuronen beim Menschen in der Regel von geringerer Genauigkeit, sei es, weil sie per Analogieschluss gewonnen werden, sei es, weil ungenauere Untersuchungsverfahren angewandt werden (etwa bildgebende Verfahren der neuronalen Aktivität in einem Bereich des Gehirns beim Menschen gegenüber der direkten Ableitung der Aktivität einzelner Nervenzellen beim Tier). Umgekehrt erlauben hermeneutische Forschungszugänge dem Menschen prinzipiell genaueren Aufschluss über menschliche Qualitäten als über Eigenschaften des Tieres, zumindest wenn man sich der Vorstellung anschließt, dass der Mensch durch gemeinsam geteilte Sprache und strukturelle Ähnlichkeit seinesgleichen besser zu verstehen in der Lage ist als andere Spezies. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Spiegelneuronen als "biologische Basis des Mitgefühls" (RIZZOLATTI & SINIGAGLIA 2008) beim Tier als am besten nachgewiesenen Mechanismus zu über-, beim Menschen zu unterschätzen. Gerade weil diese Diskrepanz forschungslogisch angelegt ist, kann sie nicht als Ausgangspunkt für Folgerungen zum Mensch-Tier-Vergleich dienen. [17]

3.2 Reduktionismus

Die Kritik zur Unterscheidung zwischen Mensch und Tier führt weiter zu einem grundlegenderen Dualismus, der – stellvertretend für andere Differenzierungen – mit dem traditionellen Begriff des Geist-Materie-Dualismus bezeichnet werden soll. Inhaltlich geht es um die Frage, inwieweit menschliches Handeln (nun unabhängig von dem Vergleich zum Tier) auf materielle Strukturen und mit ihnen verbundene Prozesse reduziert werden kann. ZABOURA lehnt einen solchen Reduktionismus in einer beinahe programmatischen Formulierung entschieden ab:

"Wir möchten uns jedoch klar und ausdrücklich von der neuro-atomistischen Bewegung distanzieren, die das Intersubjektivitätsproblem durch gänzliche Negierung eines bewussten, intendiert handelnden Subjekts und zugunsten gewisser neuronaler Abläufe in bestimmten Cortexarealen lösen möchte. Auch wenn dieser Ansatz hohe Popularität genießt und inzwischen im öffentlichen Diskurs verankert ist, stimmen wir nicht mit der Meinung überein, dass der Mensch und seine Willens- und Handlungsfreiheit eine vom Gehirn geschaffene Illusion sei" (S.55). [18]

Auch wenn ich dieser Position ZABOURAs grundsätzlich nicht widerspreche, bleibt dreierlei fraglich. Erstens: Welcher öffentliche Diskurs ist hier gemeint? Ein materialistischer Reduktionismus wird, wie ZABOURA ja in den ersten Kapiteln noch einmal entfaltet, seit jeher diskutiert und er findet auch immer eine Öffentlichkeit; gleichwohl spricht wenig dafür, dass diese Position als Grundüberzeugung jenseits methodischer Entscheidungen in der akademischen Fachwelt, an die das Buch sich richtet, eine beherrschende Stellung gewonnen hat. Sollte es jedoch so sein, stellt sich zweitens die Frage, ob die Entdeckung der Spiegelneuronen hierbei eine besondere Rolle spielt. Tatsächlich bedeuten sie ja – neurowissenschaftlich – zunächst nicht mehr, als das bestimmte Erkenntnisleistungen mit anderen neuronalen Aktivitäten korrelieren als ursprünglich angenommen. Drittens geht die Frage nach der Freiheit als einer "vom Gehirn geschaffenen Illusion" über die Bedeutung der Spiegelneuronen hinaus. Nähme man – nur um des Gedankenexperiments willen – an, Spiegelneuronen leisteten eine basale Form des Verstehens, die für weiter gehende Erkenntnisleistungen genutzt würde, so spräche das weder für noch gegen die Vorstellung eines freien Willens. Diese in einer Auseinandersetzung zwischen philosophischen und neurowissenschaftlichen Zugängen zu diskutieren, würde anhand anderer neurowissenschaftlicher Befunde fruchtbarer, etwa in Bezug auf die Experimente LIBETs, die bei ROTH (2001, S.437f.) eine Interpretation in Richtung einer Relativierung freien Willens erfahren, welche ihrerseits von MEYER-DRAWE (2008, S.127ff.) relativiert wird. Es spricht viel dafür, dass ein Ausweg aus dieser Frage nur in der Entwicklung (und letztlich auch Anerkennung) neuer Forschungsmethoden zu finden ist, ein Beispiel stellt hier die kognitive Phänomenologie (ROTH 2004) dar. [19]

3.3 Fazit

ZABOURA beteiligt sich mit ihrem Beitrag an einer ebenso aktuellen wie komplexen Debatte. Schon der Anschluss an die aktuellen Entwicklungen der medizinisch-neurologischen Forschung zu Spiegelneuronen stellt dabei für Sozialwissenschaftler/innen eine Herausforderung dar. Es ist positiv hervorzuheben, dass die Autorin an dieser Stelle vorliegende Befunde mit angemessener Zurückhaltung interpretiert und neurowissenschaftliche Perspektiven denen aus anderen Disziplinen gegenüberstellt. Wohltuend ist, dass sie (im Gegensatz zu manch anderer Darstellung vergleichbarer Themen) auf den "Sprachzauber der Neurowissenschaften" (MEYER-DRAWE 2008, S.75) verzichtet und tatsächlich versucht, den Beitrag der Neurowissenschaften mit anspruchsvollen geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorien zu vermitteln. Dabei entstehen interessante Anregungen, etwa die, die bei HUSSERL angelegten Vorstellungen von Simulation (vgl. ZABOURA, S.42ff.) mit jenen in Beziehung zu setzen, die sich in GALLESEs "embodied simulation" (2005) ausdrücken. Oft kommen diese Bezüge allerdings sehr kurz und verdienten eine sorgfältigere Prüfung – nicht zuletzt, weil im Text Begriffe häufig nicht mit der notwendigen Präzision verwendet werden. Hervorzuheben ist wiederum, dass der Text sehr flüssig geschrieben ist. ZABOURA versteht es, ihr Anliegen gut lesbar zu formulieren. Sie trägt damit dazu bei, dass das Thema Spiegelneuronen eine Aufmerksamkeit erfährt, die ihm zusteht, und sie bewahrt es gleichzeitig davor, zu einem Gegenstand unreflektierten Staunens abzugleiten. Im Rahmen einer fundierten sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Spiegelneuronen kann das Buch vor allem jenen, die parallel auch andere Texte lesen und mit den bei ZABOURA angesprochenen Quellen vertraut sind, interessante Anregungen bieten, wenngleich es in der eigenen Darstellung diesbezüglich viele Fragen offen lässt. [20]

Literatur

Darwin, Charles (1875): Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Stuttgart: E. Schweizerbart, http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/darwin/werke05/darwin_werke_5.pdf [Zugriff: 13.7.2010].

Gallese, Vittorio (2005). Embodied simulation: From neurons to phenomenal experience. Phenomenology and the Cognitive Science, 4, 23-48.

Herrmann, Esther; Call, Josep; Hernández-Lloreda, María Victoria; Hare, Brian & Tomasello, Michael (2007). Humans have evolved specialized skills of social cognition: The cultural intelligence hypothesis. Science, 317(7), 1360-1366, http://email.eva.mpg.de/~tomas/pdf/Herrmann_Science_2007.pdf [Zugriff: 21.6.2010].

Holland, Norman N. (2009). Literature and the brain. Gainsville, FL: PsyArt Foundation.

Liebau, Eckart (2008). Leibliches Lernen. In Michael Göhlich, Christoph Wulf & Jürgen Zirfas (Hrsg.), Pädagogische Theorien des Lernens (S.102-112). Weinheim: Beltz.

Meyer-Drawe, Käthe (2008). Diskurse des Lernens. München: Fink.

Rizzolatti, Giacomo & Sinigaglia, Corrado (2008). Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Roth, Gerhard (2001). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Roth, Wolff-Michael (2004). Cognitive phenomenology: Marriage of phenomenology and cognitive science. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(3), Art. 12, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0403129 [Zugriff: 17.8.2010].

Tettamani, Marco; Buccino, Giovanni; Saccuman, Maria Cristina; Gallese, Vittorio; Danna, Massimo; Scifo, Paola; Fazio, Ferrucio; Rizzolatti, Giacomo; Cappa, Stefano & Perani, Daiela (2005). Listening to action-related sentences activates fronto-parietal motor circuits. Journal of Cognitive Neuroscience, 17(2), 273-281.

van Riel, Raphael (2008). Theorie-Theorie, Simulationstheorie und der Ansatz der direkten Wahrnehmung – übertriebener Kognitivismus einerseits, naiver Naturalismus andererseits, http://www.dgphil2008.de/fileadmin/download/Sektionsbeitraege/15_vanRiel.pdf [21.6.2010].

Zum Autor

Henning PÄTZOLD ist Professor für Pädagogik und Dozent an der Freien Hochschule Mannheim, außerdem Senior Researcher des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE). Seine Forschungsinteressen umfassen pädagogische Theorien des Lernens, pädagogische Verantwortung und europäische Erwachsenenbildung. Jüngere Veröffentlichungen sind u.a. "Strukturelle Kopplung, Konstruktivismus und Spiegelneuronen" (Pädagogische Rundschau 4/2010, S. 405-418), "Verantwortungsdidaktik" (Baltmannsweiler: SchneiderVerlag Hohengehren 2008), Learning in the world – towards a culturally aware concept of learning. European Conference on Educational Research (ECER), http://www.eera-ecer.eu/fileadmin/user_upload/Publication_FULL_TEXTS/ECER2008_244_Pätzold.pdf.

Kontakt:

Prof. Dr. Henning Pätzold

Freie Hochschule Mannheim
Zielstraße 28
D-68169 Mannheim

Tel.: 0621/30948-13
Fax: 0621/30948-50

E-Mail: henning.paetzold@freie-hochschule-mannheim.de
URL: http://www.freie-hochschule-mannheim.de/

Zitation

Pätzold, Henning (2010). Spiegelneuronen in der sozialwissenschaftlichen Diskussion. Review Essay: Nadia Zaboura (2009). Das empathische Gehirn. Spiegelneurone als Grundlage menschlicher Kommunikation [20 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 11(2), Art. 24, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1003245.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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