Volume 14, No. 2, Art. 19 – Mai 2013

Ausschluss im (?) Diskurs. Diskursive Exklusion und die neuere soziologische Diskursforschung

Benno Herzog

Zusammenfassung: Der Begriff der sozialen Exklusion ist im letzten Jahrzehnt zu einem Modebegriff in den europäischen Sozialwissenschaften geworden. Allerdings hat der Begriff auch eine Reihe bedeutender Kritiken hervorgerufen, die seine Nutzung problematisch machen.

Ziel dieses Artikels ist es zum einen, mit dem Begriff der diskursiven Exklusion eine Konzeptualisierung von Exklusion zu unterbreiten, welche den theoretischen Anforderungen an einen soziologisch-analytischen Begriff gewachsen ist und zum anderen, methodische Hinweise zur Erforschung von Exklusionsprozessen zu bieten. Ich werde hierzu die drei emergenten Forschungsperspektiven der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus", der Dispositivanalyse, und der wissenssoziologischen Diskursanalyse vorstellen und jeweils danach fragen, welches Analysepotenzial von ihnen ausgeht, um soziale Exklusion soziologisch zu fassen. Dabei wird sich zeigen, dass jede dieser Perspektiven bestimmte Aspekte in den Vordergrund rückt, dabei aber wiederum andere vernachlässigt. Am Ende des Artikels werden Möglichkeiten einer Kombination der Ansätze diskutiert.

Keywords: soziale Exklusion; diskursive Exklusion; Diskursanalyse; Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus"; Dispositivanalyse; wissenssoziologische Diskursanalyse

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Probleme des Exklusionsbegriffes

3. Diskursive Exklusion

4. Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus"

5. Dispositivanalyse

6. Wissenssoziologische Diskursanalyse

7. Ausblick

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Der Begriff der sozialen Exklusion ist im letzten Jahrzehnt zu einem Modebegriff in den europäischen Sozialwissenschaften geworden. Davon zeugen u.a. zahlreiche Veröffentlichungen zu dem Thema (z.B. BUDE & WILLISCH 2008; BYRNE 2002; FARZIN 2008, GIL VILLA 2002). 1995 zählt das Web of Science (ISI Web of Knowledge) in seiner Datenbank zum ersten Mal mehr als zehn Publikationen pro Jahr zu "social exclusion" (elf Artikel), fünf Jahre später hat sich die Anzahl verzehnfacht (108 Artikel im Jahr 2000), und für das Jahr 2008 wurden mehr als zweihundert Texte zu sozialer Exklusion gezählt. [1]

Der offensichtliche "Erfolg" des Begriffes und sein Vorzug gegenüber anderen Konzepten wie z.B. Ausbeutung oder Armut, welche ebenfalls auf soziale Missstände, Ungleichheit oder Ungerechtigkeit hinweisen, hat aus meiner Perspektive hauptsächlich drei Gründe: 1. Der Begriff wird massiv seitens der Sozialpolitik gebraucht, welche in den Ausgeschlossenen oder vom Ausschluss Bedrohten ein neues Objekt der Wohlfahrtspolitiken findet (CASTEL 2008). Damit verbunden ist 2. ein signifikanter Anstieg von (Ressourcen für) Sozialforschung, die sich mit diesem Thema beschäftigt (OPITZ 2008). Schließlich hat der Begriff 3. auch eine theoretische Attraktivität für Sozialwissenschaftler/innen erlangt, da mit ihm ein Konzept gefunden scheint, welches in der Lage ist, die Multidimensionalität von Ungleichheitsprozessen zu beschreiben (LAPARRA & PÉREZ ERANSUS 2008) bei gleichzeitiger analytischer Radikalität und Komplexitätsreduzierung durch die Nutzung der binären Einschluss-/Ausschluss- Semantik (NASSEHI 2008). [2]

Der Gebrauch des Begriffs durch Medien und Sozialpolitiker/innen auf der einen und durch Sozialwissenschaftler/innen auf der anderen Seite führt dabei des öfteren zu einem Verschwimmen des Inhalts (NASSEHI 2008.). Gleichzeitig stößt die scheinbare analytische Radikalität in der Praxis auf eine deutlich komplexere Realität, die mit einem Binärschema nur schwer zu fassen ist. Dies ist auch der Grund, weshalb einige Autor/innen von einer mangelnden analytischen Schärfe des Begriffs sprechen (vgl. u.a. CASTEL 1995; GARCÍA-MARTÍNEZ 2004; OPITZ 2008) und andere Begriffe für besser geeignet halten, um soziale Pathologien zu beschreiben1). In der "Routledge Encyclopedia of Social Theory" heiβt es dann auch folgerichtig: "At present, a theory of 'exclusion' and the development of the concept's potential for social theory and research is very much a work in progress" (STEINERT 2006, S.562). [3]

Ein einfaches Gedankenspiel macht deutlich, dass die Mehrheit der Kollektive, die gemeinhin als Objekte sozialer Exklusion gedacht werden, nicht von der Gesamtheit der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern immer noch mit dieser verbunden, d.h. eingeschlossen sind. Unabhängig davon, ob es sich um Obdachlose, Drogenabhängige oder ilegalisierte Migrant/innen handelt: Die als exkludiert bezeichneten Gruppen und Personen leben zumindest als physische Personen oft mitten in der Gesellschaft. OPITZ (2008) fasst die konzeptuellen Mängel des Exklusionsbegriffes zusammen, indem er aufzeigt, dass diejenigen, welche den Begriff verwenden, in der Regel Schwierigkeiten haben, die folgenden Fragen zu beantworten:

Ziel dieses Artikels ist es einmal, mit dem Begriff der diskursiven Exklusion (vgl. HERZOG 2009, 2011) eine Konzeptualisierung von Exklusion zu unterbreiten, welche den theoretischen Anforderungen an einen soziologisch-analytischen Begriff gewachsen ist und zum anderen, methodische Hinweise zur Erforschung von Exklusionsprozessen zu bieten. Da uns dies in das Feld der Diskursforschung führen wird, soll zudem der Frage nachgegangen werden, welche Ansätze der soziologischen Diskursforschung geeignet sind, Ausschlussprozesse zu analysieren. Ich werde hierzu die drei emergenten Forschungsperspektiven2) der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" (ANGERMÜLLER 2007), der Dispositivanalyse (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2007, 2008) und der wissenssoziologischen Diskursanalyse (KELLER 2005a, 2005b, 2007, 2010) vorstellen und jeweils danach fragen, welches Analysepotenzial von ihnen ausgeht, um soziale Exklusion soziologisch zu fassen. Dabei werden wir sehen, dass sich die Perspektiven deutlich in ihrer Fähigkeit unterscheiden, symbolische und materielle Ordnungen zu analysieren und die Analyse dieser Ordnungen zu verbinden. Deutliche Unterschiede können ebenfalls im methodischen Angebot der Perspektiven ausgemacht werden. Zum Schluss des Artikels soll dann noch einmal auf die Möglichkeit einer Zusammenführung der drei Forschungsangebote eingegangen werden. [5]

2. Probleme des Exklusionsbegriffes

Die sozialwissenschaftliche Literatur kennt eine Reihe von Kritiken am Exklusionsbegriff. So bemängelt beispielsweise GARCÍA-MARTÍNEZ (2004), der Begriff sei 1. wenig analytisch, da er nicht helfe, die von ihm benannten Probleme näher zu verstehen, 2. zu allgemein, d.h., er beziehe sich auf eine Unmenge unterschiedlicher sozialer Phänomene und er beschreibe 3. soziale Gruppen, die kaum mit einem gemeinsamen Begriff gefasst werden könnten. Zu dieser Liste könnte man mit CASTEL (1995) hinzufügen, dass es sich um eine rein negative Zustandsbeschreibung handelt, die weder den Prozesscharakter der Exklusion deutlich macht noch in der Lage ist, Gegenmaßnahmen zu erarbeiten. CASTEL (2008) kritisiert weiter, der Exklusionsbegriff produziere eine Verschiebung sozialer Probleme vom Zentrum in die Peripherie unserer Gesellschaft, sodass – statt den Kern sozialer Ungerechtigkeiten anzugehen – die Aufmerksamkeit auf die Ausgeschlossenen gerichtet werde. [6]

Die Hauptkritik richtet sich gegen die Nutzung des Begriffes vor allem in der Sozialpolitik, die damit scheinbar empirische Evidenzen des Phänomens präsentiert, ohne ein theoretisch analytisches Konzept zugrunde zu legen. Dabei dürfte gerade die Möglichkeit des undifferenzierten und "quasi-phänomenologischen" (HARK 2005) Gebrauchs des Begriffs ein Grund für seinen Erfolg darstellen. Als Konzept der Sozialpolitik unterliegt der Exklusionsbegriff nicht denselben logischen Einschränkungen, die ein wissenschaftlich-analytischer Gebrauch verlangt, da seine Aufgabe hauptsächlich darin besteht, öffentliche Meinungen, Emotionen und schließlich gesellschaftliche Ressourcen zu mobilisieren. [7]

Für einen sozialwissenschaftlichen Gebrauch allerdings wird ein theoretisch analytisches Konzept benötigt. Die Versuche einer solchen Begriffsbildung setzen bei einer Kommunikationsperspektive an, gehen also von Beginn an über einen rein ökonomischen Armuts- und Exklusionsbegriff hinaus. Dieser Ansatz geht auf die "kommunikative Wende" der Soziologie zurück, welche sich durch so unterschiedliche Theorieströmungen zieht wie die kritische Theorie (HABERMAS 1981), die Systemtheorie (vgl. u.a. LUHMANN 1997) oder den Poststrukturalismus (vgl. u.a. FOUCAULT 1991). Gemeinsam haben all diese Theorien, dass sie in der Kommunikation (wenngleich der Begriff sehr unterschiedlich genutzt wird) eine Grundlage moderner, funktional differenzierter Gesellschaften sehen. [8]

Bei allen Differenzen lässt sich sagen, dass Exklusion eine Möglichkeit darstellt, die Teilnahme von Personen an einem Kommunikationsprozess zu verhindern. Dies bedeutet nicht, dass andere Aspekte wie der politische oder ökonomische Ausschluss im Sinne einer "Überflüssigkeit"3) (BUDE & WILLISCH 2008; HARK 2005) oder fehlende materielle Ressourcen außer Acht gelassen werden. Sowohl politische Macht als auch Geld können als "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" beschrieben werden. Kommunikationsprozesse beziehen sich also nicht nur auf Sprechakte, sondern auf alle Austauschhandlungen, da es sich immer auch um Informationsaustausch handelt. [9]

Ausgeschlossene Personen werden also irrelevant als Subjekte in kommunikativen Handlungen. Das heißt allerdings nicht, dass die Ausgeschlossenen als Objekte irrelevant werden. Oftmals ist sogar genau das Gegenteil der Fall: Durch "Fachleute der Exklusion" wie Soziolog/innen, Politiker/innen oder Expert/innen von Nichtregierungsorganisationen wird öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ausgeschlossenen gelenkt, ohne dass diesen dabei der Status autonomer Subjekte zukommen würde oder sie die Möglichkeit hätten, etwas an der Situation zu ändern (FARZIN 2008). [10]

Mit LUHMANN könnte Exklusion als Zuweisung des Subjekt- oder Objektstatus in Systemen (oder allgemeiner: Kontexten), d.h. als Grenzziehung und als Aufrechterhaltung der bestehenden Grenzen verstanden werden. Da es aber erst einmal nicht um den materiellen Ausschluss, sondern "nur" um den Ausschluss aus dem Subjektstatus geht, können wir hier nicht von einem materiellen oder topografischen Außen sprechen, sondern vielmehr von einer "internen Exterritorialität" (OPITZ) oder, um mit LUHMANN zu sprechen:

"Inklusion bezieht sich auf die Art und Weise, in der Menschen im Kommunikationszusammenhang als relevant erachtet und damit als Personen behandelt werden. Exklusion liegt umgekehrt vor, wenn die Chance zur Kommunikation verweigert, die betreffende Person nicht als mitwirkungsrelevant anerkannt wird" (1995, S.239). [11]

Wir können hiernach also von Exklusion sprechen, wenn die Kommunikationsangebote einer Person missachtet werden, d.h. wenn ein System (oder allgemeiner: Kontext) bestimmten Personen gegenüber indifferent oder ablehnend gegenübersteht, sie nicht als mitwirkungsrelevante Person anerkennt (KRASMANN & OPITZ 2007). Mit dieser kommunikativen Wende des Exklusionsbegriffes wird auch die empirische Sozialforschung auf das Feld der Analyse von Kommunikationsprozessen geführt, wobei, wie dargestellt, Kommunikation mehr meint als den Austausch von Sprechakten. [12]

Diese Überlegungen ermöglichen eine erste Antwort auf die von OPITZ (2008) gestellte Frage: Wer oder was wird ausgeschlossen in Bezug auf wen oder was? Es werden nicht physische Personen ausgeschlossen, sondern "lediglich" deren Möglichkeit, in einem bestimmten Kontext als mitwirkungsrelevant erachtet zu werden. Personen werden somit aus Systemen (oder allgemeiner: Kontexten) ausgeschlossen. Dabei werden Personen oft in einen anderen Kontext innerhalb derselben Gesellschaft "verschoben". Bedenken wir, dass die Systemtheorie Niklas LUHMANNs eine Reihe unterschiedlicher Systeme kennt, so wird klar, dass mit diesem Ansatz die Multiperspektivität, welche eng mit der herausragenden Position des Exklusionsbegriffs verbunden ist, erhalten bleibt. [13]

Der LUHMANN-Schüler Rudolf STICHWEH (2005) fügt diesen Überlegungen noch weitere Aspekte hinzu, indem er einen doppelten Exklusionsbegriff verwendet: Exklusion als Ausschluss aus einzelnen Funktionssystemen und als kumulativer und zusammenhängender Prozess des Ausschlusses aus mehreren solcher Systeme. Exklusion wird dann problematisch, so ließe sich argumentieren, wenn sie gleichzeitig in mehreren wichtigen (Sub-) Systemen stattfindet oder, anders ausgedrückt, wenn eine teilweise Exklusion nicht durch andere Systeminklusionen ausgeglichen werden kann. Diese Perspektive nimmt der binären Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion einen Teil ihrer Radikalität, ermöglicht aber kumulative Exklusion als problematische Exklusion zu analysieren. So ließen sich sowohl der Ausschluss aus verschiedenen Systemen untersuchen als auch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Teilexklusionen, und es kann der Integrationsgrad von Exklusion und Inklusion analysiert werden. LUHMANN spricht beispielsweise von einer "Lockerung der Integration" (1995, S.259) im Inklusionsbereich, also von der Tendenz, dass Inklusion in einem Teilbereich nicht notwendigerweise auch zu Inklusionen in anderen Systemen führt. Exklusion hingegen kann oft als hochgradig integriert dargestellt wird. Wer z.B. keine Aufenthaltserlaubnis hat, darf nicht arbeiten, kann nicht heiraten, wählen etc. Mit anderen Worten: Die Exklusion aus einem Teilsystem führt zu Exklusionen aus andern Teilsystemen. [14]

Allerdings scheint diese theoretische Radikalität in der Praxis zu scheitern. Denken wir nur an konkrete Beispiele von Kollektiven, die normalerweise mit dem Exklusionsbegriff beschrieben werden. So stellt sich bei der Migration die Frage, aus welchen Teilsystemen Migrant/innen ausgeschlossen sind. Trotz starker Ungleichheiten im Wirtschaftssystem mit der Leitdifferenz4) zahlen-nicht zahlen, (LUHMANN 1988) sind selbst die ärmsten Migrant/innen nicht ausgeschlossen: Ihnen bleibt ein Minimum an Teilhabe in der (Schatten-) Wirtschaft, weshalb sie immer noch ihren Platz im Wirtschaftssystem haben. Zum gleichen Ergebnis kommen wir, wenn wir das Rechtssystem mit seinen Binärcodes Recht-Unrecht (im juristischen Sinne) nehmen (LUHMANN 1993): Selbst sogenannte illegale Migrant/innen sind als Personen im LUHMANNschen Sinne anerkannt, da sie nicht "vogelfrei", sondern mit einer Reihe von Rechten ausgestattet sind. (Diese Überlegungen sollen selbstverständlich nicht über die enormen Ungleichheiten auch auf diesem Gebiet hinwegtäuschen. Es soll lediglich gezeigt werden, dass ein binärer Exklusionsbegriff auch hier nicht haltbar ist.) Als letztes Beispiel könnten wir noch das politische System heranziehen (Leitdifferenz: Macht-keine Macht, LUHMANN 2000): Obwohl die meisten Migrant/innen weder ein aktives noch ein passives Wahlrecht besitzen, bleibt ihnen ein Minimum an politischem Einfluss über andere Mechanismen der politischen Einflussnahme (z.B. Demonstrationen, Streiks, Lobbyarbeit etc.) (HERZOG, GÓMEZ-MOYA, GÓMEZ-GUARDEÑO, VALDERRAMA-ZURÍAN & ALEIXANDRE-BENAVENT 2009). [15]

Für die Systemtheorie existieren keine qualitativen normativen Unterschiede zwischen verschiedenen Formen des Ausschlusses. Aus der Sicht binärer Codes gibt es nur Ein- oder Ausschluss, entweder-oder. Diese normative Blindheit bleibt auch dann bestehen, wenn wir "Systeme" mit "Kontexten" übersetzen und nun klare Ausschlüsse aus konkreten Kontexten feststellen können. Der systemtheoretische Exklusionsbegriff bietet keine Möglichkeit, die Differenz zwischen dem Ausschluss aus der Käufer/innengruppe von Luxusjachten von dem Ausschluss der ärmsten Bevölkerung aus der Käufer/innengruppe von frischen Lebensmitteln normativ zu fassen. [16]

3. Diskursive Exklusion

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit der Kritik der empirischen Unbrauchbarkeit des Exklusionsbegriffes für die Soziologie umzugehen. Eine Möglichkeit, die von einigen der zitierten Autor/innen favorisiert wird (z.B. CASTEL 1995), besteht darin, den Begriff zu vermeiden. Eine andere Möglichkeit besteht in einer Neufassung und Anpassung des Begriffes. Dieser Weg soll hier beschritten werden. [17]

Der Fehler von OPITZ (2008) bei seiner Suche nach der Antwort auf die Frage, was denn Exklusion sei, könnte darin bestehen, dass er, sobald er von den Bedingungen des Begriffes spricht, das Verb "ausschließen" lediglich binär versteht; wir haben es hier also mit einer petitio principii zu tun, welche ihn zwingt, eine klare Grenze zu suchen, die er schließlich bei LUHMANN findet. Allerdings existieren andere Versuche, Exklusion nicht als binär, sondern vielmehr als graduell zu fassen, z.B. im Sinne von "Verletzbarkeit" (CASTEL 1995). Trotz dieser grundlegenden Kritik am binären Exklusionsbegriff bei LUHMANN lässt sich ein wichtiger Grundgedanke LUHMANNs verwenden: die Idee, dass Exklusion bedeutet, in einem System nicht als Person (d.h. nicht als relevant) anerkannt zu werden. Mit anderen Worten, Exklusion wäre weiterhin die Zuweisung eines bestimmten Subjektstatus, und zwar eines, dem es an Anerkennung mangelt. Allerdings soll diese Nichtanerkennung nun als graduell verstanden werden, da ein binärer Ausschlussbegriff in der Praxis kaum Anwendung finden kann. So wird mit Exklusion nicht nur dasjenige gefasst, was eine klare Grenze vom Einschluss zum Ausschluss überschreitet, sondern all das, was sich graduell vom Zentrum der Relevanz entfernt. Mit dieser Aufhebung von klaren Grenzen entfällt auch die Idee von Systemen. Wir können stattdessen von Kontexten, sozialen Strukturen und von diskursiven Strukturen sprechen. Mit anderen Worten: Ausgeschlossene befinden sich in einer Situation der strukturellen Irrelevanz als Personen, wobei Person sein eben bedeutetet, als mitwirkungsrelevant anerkannt zu werden. Das bedeutet nicht, dass die Ausgeschlossenen als Objekte irrelevant wären. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Sie erscheinen lediglich als nicht relevant für die Konstruktion der eigenen öffentlichen Identität und erscheinen schlicht als Objekte von Identitäts- oder besser: Alteritätskonstruktionen. [18]

Folgen wir der "kommunikativen Wende" bzw. genauer der daran anschließenden Erweiterung im Sinne der "diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit" (KELLER, HIRSELAND, SCHNEIDER & VIEHÖVER 2005) der Sozialwissenschaften, so können wir verstehen, dass diese Position der strukturellen Irrelevanz gesellschaftlich u.a. mittels Diskursen hergestellt wurde und wird, aber nicht auf Diskurse beschränkt bleibt: Die Idee der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit basiert auf Vorschlägen der sozialwissenschaftlichen Diskurstheorie (vgl. u.a. ANGERMÜLLER 2007; BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008; DIAZ-BONE 2005; GUTIÉRREZ-RODRÍGUEZ 2007; HERZOG 2009; KELLER 2005b), die über eine Analyse von Text, Sprache und Sprechakten hinausgeht. Soziologische Diskursanalyse insistiert in besonderem Maße auf der Zentralität von Institutionen, Praktiken, Wissensbeständen etc. für das Verständnis der sozialen Wirklichkeit. Das heißt, dass für die soziologische Analyse das Verhältnis zwischen diskursiven (aber u.a auch nicht-diskursiv vermittelten) und nicht-diskursiven (aber u.a. auch diskursiv vermittelten) Realitäten im Zentrum ihrer Forschungsperspektive steht. Somit kann Diskursanalyse verstanden werden als eben nicht nur die Analyse von Diskursen, sondern auch als Analyse sozialer, extradiskursiver Strukturen, welche die Hervorbringung von Diskursen erst ermöglichen und welche wiederum von Diskursen beeinflusst sind. An anderer Stelle habe ich vorgeschlagen, die so analysierten Exklusionsprozesse, welche sowohl Ausschluss aus Diskursen als auch Ausschluss in und durch Diskurse beinhalten, diskursive Exklusion zu nennen (HERZOG 2009, 2011). Aufgrund der Zentralität der Diskursforschung für die Analyse der Entstehung von Ausschluss als "struktureller Irrelevanz" werde ich mich nun dem Feld der Diskursforschung zuwenden. [19]

Sozialforschung steht vor der Aufgabe, Prozesse der Konstruktion gesellschaftlicher Semantiken zu analysieren, welche bestimmte Personen oder Personengruppen abwerten. Diese Konstruktionen benutzen in der Regel "Relevanzmarker", welche die kollektive Abwertung erleichtern. Relevanzmarker sind gesellschaftliche Kategorien wie z.B. Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Berufsgruppe etc. Diskursive Exklusion kann verstanden werden als Klassifikation, Zuschreibung und Abwertung bestimmter Gruppenmerkmale. [20]

Diese Klassifikationen, welche einen sozialen Ort bestimmen, stellen keinen rein verbalen Ausschluss dar ohne Relevanz für materielle Realitäten. Im Gegenteil: Folgen wir der Diskurstheorie, dann haben diese Prozesse des diskursiven Ausschlusses materielle Bedingungen und materielle Folgen für die Betroffenen und für den Rest der Gesellschaft. Die Folgen sind in der Regel deutlich ungleich verteilt. Während die Ausgeschlossenen meist mit Stigmatisierung und schlechten Lebenschancen zu kämpfen haben, können "Exklusionsexpert/innen" (Soziolog/innen, Sozialarbeiter/innen, Sozialpolitiker/innen etc.) gerade durch die Stigmatisierung ihre Arbeit gesellschaftlich rechtfertigen. Bedenken wir nun, dass wir mit einem graduellen Exklusionsbegriff arbeiten, welcher mit sozialer Ungleichheit und mit der Teilhabe an gesellschaftlicher Macht verbunden ist, so können wir – in Anlehnung an die berühmte Definition von Max WEBER (1972 [1921/22]) – weiter definieren: Diskursive Exklusion bedeutet die Chance,5) in einem spezifischen sozialen Kontext als nicht partizipationsrelevant angesehen zu werden. [21]

Gesellschaftliche Exklusion so zu verstehen, hat mehrere Vorteile. Der erste hängt mit der Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten zusammen. Aufgrund der Diversität der konkreten gesellschaftlichen Kontexte kann der weitreichende Charakter des Exklusionsbegriffes erhalten bleiben: Er kann angewendet werden auf Phänomene, die zuerst einmal zu unterschiedlich erscheinen, um mit einem gemeinsamen Konzept gefasst werden zu können. [22]

Der zweite Vorteil besteht in den analytischen Differenzierungsmöglichkeiten: Gerade gegenüber seiner binären Fassung erlaubt der hier vertretene Vorschlag, 1. Prozesse der Exklusion als partiellen Ausschluss aus nur einigen Kontexten zu verstehen und dabei 2. gleichzeitig verschiedene Grade des Ausschlusses zu unterscheiden. Außerdem bietet er 3. die Möglichkeit der Unterscheidung unterschiedlicher Arten der Exklusion wie z.B. materiellen Ausschluss, Ausschluss durch Diskurse oder Ausschluss aus Diskursen. [23]

Drittens ermöglicht das Konzept der diskursiven Exklusion neue Verständnisse über Struktur und Prozess von Ausschluss. Exklusion kann so als interner Prozess innerhalb einer Gesellschaft im Sinne einer Verschiebung und Differenzierung bei der Zuschreibung einer sozialen Position verstanden werden. Gegenüber Konzepten wie Verletzbarkeit, die ihre Aufmerksamkeit auf Individuen oder Kollektive richten, erlaubt der so verstandene Exklusionsbegriff außerdem, ausschließende gesellschaftliche Strukturen und die dazugehörigen Prozesse in den Blick zu nehmen. Damit können die strukturierten und strukturierenden Prozesse der Produktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit durch Diskurse verstanden werden. So erlaubt es der letztlich auf FOUCAULT zurückgehende Diskursbegriff, gesellschaftliche Macht als Struktur zu begreifen, welche z.B. die Verteilung sozialer Relevanzmarker beeinflusst. Diese wiederum dienen, wie erwähnt, zur Identifizierung und Herabstufung ganzer gesellschaftlicher Gruppen. [24]

Als vierter Vorteil wäre zu nennen, dass mit dem so verstandenen Exklusionsbegriff auch dessen normative Kraft erhalten bleibt, d.h. er zielt nicht nur auf eine neutrale, "objektive" Beschreibung des Gegenstandes, sondern auch auf die Fähigkeit zur Parteinahme, welche von Anfang an mit der Idee der Exklusion als untragbarem gesellschaftlichem Zustand verbunden war. Indem die Konsequenzen sowohl der Kategorisierungen als auch der gesellschaftlichen Distribution von Relevanzmarkern und von Einflussmöglichkeit auf deren Verteilung aufzeigt werden, ermöglicht er es, einen normativen Standpunkt zu beziehen. [25]

Der fünfte und letzte hier vorgestellte Vorteil des Konzeptes der diskursiven Exklusion bezieht sich auf die Forschungspraxis und die ihr zu Verfügung stehenden Methoden und Techniken. Mit der Diskursanalyse, und hier beziehe ich mich vor allem auf die soziologischen Varianten, welche in Europa seit der Jahrtausendwende verstärkt entwickelt werden, scheinen vielversprechende und in anderen Bereichen bereits etablierte Forschungsperspektiven zu Verfügung zu stehen, welche sich mit Prozessen der Klassifikation, Zuschreibung und Abwertung befassen. Wie diese verschiedenen Ansätze in der Lage sind, Exklusionsbegriffe untersuchen und verstehen zu können, soll im Folgenden analysiert werden. [26]

4. Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus"

Das methodische Vorgehen der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" von Johannes ANGERMÜLLER (2007) ist in Anlehnung an Äußerungstheorien vor allem aus dem französischen, aber auch aus dem angelsächsischen Raum, entwickelt worden.6) Sie wendet sich gezielt gegen hermeneutische Zugänge wie die den der wissenssoziologischen Diskursanalyse (KELLER 2005b, siehe Abschnitt 6), da für sie Texte grundsätzlich nicht eindeutig auf einen bestimmten oder eindeutigen Sinn hin untersucht werden können, sondern offen für verschiedene Sinnangebote sind. Als konstitutiv offen verlangen Texte danach, sinnhaft gedeutet zu werden. Sinn wird von Lesenden im Dialog mit dem Text hergestellt. Es geht also nicht um einen Kontext übergreifenden sozialen Sinn oder um stabile diskursive Strukturen, sondern um spezifische Extraktionen von Aussagen. Dabei wird von Lesenden die konstante Arbeit verlangt, fehlende oder implizite Informationen selbstständig zu ergänzen, wobei eine bestimmte Lesart zwar nahe gelegt wird, aber nicht festgelegt ist. Diskurse sind demnach auch nicht stabil umgrenzte Einheiten, da es weder eindeutige Deutungen des Textes noch reproduzierbare Interaktionen mit dem Text gibt, die auf ein klar analysierbares Gebilde hinweisen. [27]

Wenn der Ansatz von ANGERMÜLLER hier als Beispiel einer soziologischen Diskursanalyse vorgestellt wird, dann deshalb, weil die Einbettung von Text in Kontexte dazu führt, das eben diese als soziale, teilweise auch materielle Realität wieder in die Analyse mit einfließen. Es handelt sich also keineswegs um eine reine Textanalyse. Vielmehr behauptet die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus", dass Texte untrennbar mit Kontexten, in denen sie gelesen werden (sollen), verbunden sind. Kontexte werden dabei nicht im Sinne der Diskurspragmatik als Sprech- und Handlungssituationen analysiert. Vielmehr nimmt die Analyse ihren Ausgangspunkt aus dem Text selbst. Für über den Text hinausgehende Analysen bietet die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" die Möglichkeit, "Äußerungsspuren" auf drei verschiedene Weisen zu analysieren: "durch den Verweis auf den Äußerungskontext (diskursive Deixis), durch die Orchestrierung ihrer Äußerungsquellen (Polyphonie) und durch die Mobilisierung dessen, was davor und an anderer Stelle geäußert wurde (Vorkonstrukt)" (ANGERMÜLLER 2007, S.139). Bei der Analyse von Deiktika werden Verweise untersucht, welche im Text selbst auf die Kontexte des Textes hinweisen. Deiktika beziehen sich z.B. auf die verschiedenen Akteur/innen ("ich", "du" etc.), auf Orte ("hier", "dort" etc.) oder auf Zeiten ("jetzt", "dann" etc.), welche in einem Text aufgerufen und von den Adressat/innen kompetent geordnet werden müssen. Die Analyse von Äußerungsquellen bezieht sich auf die vielen in einem Satz vorhandenen Sprecher/innen. Die Möglichkeit, eine Aussage in mehrere Aussagen zu unterteilen, verweist auf die Vielzahl der in ihr enthaltenen Sprecher/innenpositionen. So sind in dem Satz Ich bin kein Rassist, aber die Zahl der Ausländer ist zu hoch, die Aussagen A1: x ist ein Rassist, A2: x ist kein Rassist, A3: die Zahl der Ausländer ist genau richtig, A4: die Zahl der Ausländer ist zu hoch enthalten und können verschiedenen Sprecher/innen zugeordnet werden (vgl. S.150f.). Vorkonstrukte schließlich holen an anderer Stelle erzeugtes Wissen, das offensichtlich keiner Erklärung bedarf, in den Text hinein. So setzt z.B. die Rede vom Liberalismus das Wissen voraus, dass es Menschen gibt, die sich selbst als "liberal" bezeichnet oder von anderen so bezeichnet werden. [28]

Für die Analyse von Exklusionsprozessen bieten sich hier vielfältige Anknüpfungspunkte. So kann mit der Analyse von Äußerungskontexten aufgezeigt werden, welche Akteur/innen, Orte oder Zeiten eben gerade nicht aufgegriffen werden oder wie der Sprecher/die Sprecherin und andere Akteur/innen (aber auch Orte oder Zeiten) konstruiert werden. Ebenso kann aufgezeigt werden, welche Sprecher/innenpositionen nicht oder in weniger privilegierter Position auftauchen. Und die Analyse von Vorkonstrukten kann auf implizit unterstellte Wissensbestände hinweisen, die gerade durch diese Unterstellung aus dem Gesagten ausgeschlossen werden. Daher erlaubt die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus", Exklusionsprozesse im Diskurs und durch den Diskurs in Diskurs- und Wissensbeständen zu analysieren. [29]

Allerdings trifft sie bei der Analyse von Exklusion auch auf eine Reihe von Schwierigkeiten. So gestaltet sich ein methodisches Vorgehen, welches sich nicht nur durch die Analyse von Gesagtem, sondern auch durch die des nicht Gesagtem, auszeichnet, durchaus schwieriger als ein Vorgehen, das mit Gesagtem operiert. Hier bleibt es der Fantasie und Kreativität der Forschenden überlassen, mögliche, aber nicht getätigte Aussagen (-varianten) zu rekonstruieren. [30]

Ein weiteres Problem besteht in der Zurückweisung eindeutiger Verstehensprozesse und Sinnangebote durch das Aufzeigen von Polyfonie. Dies kann, muss aber nicht die Sicht auf privilegierte, sozial geteilte und weitgehend kontextunabhängige Sinnangebote erschweren. So bietet beispielsweise der Satz Das Boot ist voll in einer Debatte zur Asylgesetzgebung durchaus die theoretische Möglichkeit, ihn als Aufruf für die Beschaffung eines größeren Bootes (=Territoriums) zu verstehen. Diese Lesart ist aber wohl bei Weitem seltener anzutreffen als die dominante Lesart als Aufruf zu einer schärferen Ausländer/innengesetzgebung und zu verstärkten Grenzkontrollen. Da darüber hinaus Diskurse keine relativ stabilen (Analyse-) Einheiten sind, sondern stattdessen einzelne Aussagen(komplexe) analysiert werden, läuft die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" auch Gefahr, einzelne, kaum zusammenhängende Aussagen mit geringer gesellschaftlicher Relevanz zu analysieren. [31]

Die größten Probleme dürften jedoch im Verhältnis von Ausschlussprozessen im Diskurs bzw. durch Diskurse einerseits zu materiellen oder extra-diskursiven Ausschlusspraktiken andererseits liegen. Es ist nicht anzunehmen, dass ANGERMÜLLER einer Abbildtheorie nachhängt, nach der Diskurse schlicht das Abbild der extra-diskursiven Realität sind oder umgekehrt der materielle Ausschluss die direkte Folge des Ausschlusses durch und im Diskurs ist. Kontexte werden zwar bei ihm in Texte hineingeholt, dies geschieht allerdings höchst selektiv und kann daher nicht als Ersatz einer eigenständigen Analyse materieller Kontexte verstanden werden. So ist denn auch in ANGERMÜLLERs eigener Analyse der Konstruktion des französischen Poststrukturalismus ein nicht diskursanalytischer Teil (hier: eine Analyse des intellektuellen Feldes in Frankreich) vorangestellt, welcher die Funktion einer Analyse des Kontextes übernimmt. [32]

Das Ausklammern der Analyse der materiellen Realität aus der eigentlichen Diskursforschung schließt somit auch die materielle Infrastruktur von Diskursen aus der Diskursanalyse aus (welche bei ANGERMÜLLER [2007] durch die Feldanalyse ersetzt wird). Gerade der Ausschluss aus dem materiellen Zugang zu Infrastruktur oder Institutionen entscheidet aber über mögliche kompetente Sprecher/innenpositionen. Um in hegemonialen Diskursen überhaupt gehört zu werden, sind in der Regel erst einmal bestimmte Zutrittsvoraussetzungen zu erfüllen (institutionelle Zugehörigkeiten, Bildung, Kompetenz usw.). Dies gilt auch für alternative Diskurse, z.B. dem einer Gegenöffentlichkeit. Obgleich hier andere Kriterien über den Zugang zu Sprecher/innenpositionen entscheiden, werden nicht alle Sprecher/innen gleichermaßen anerkannt. Damit vernachlässigt ANGERMÜLLER systematisch all jene Formen der Kommunikation, die nicht im hegemonialen (oder im alternativ hegemonialen) öffentlichen Raum anerkannt werden, da sie die Zugangskriterien gar nicht erst erfüllen. Es ist daher wahrscheinlich kein Zufall, dass ANGERMÜLLER und auch andere, die mit der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" arbeiten (z.B. MAESSE 2010), Texte (und Kontexte) hochgradig kompetenter Sprecher/innen analysieren. Der Blick wird durch diese Art der Analyse gerade auf den Erfolg von Sprechakten gerichtet, erfolgloses Sprechen oder gar alternative Formen des Kommunizierens scheinen schwieriger analysierbar. Mit anderen Worten: Exklusionen aus der diskursiven Produktion können mit der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" nicht analysiert werden. [33]

Bei aller Kritik bleibt festzuhalten, dass sich durch exaktes Analysieren des symbolischen Materials sehr genau aufzeigen lässt, wie sich Ausschlussprozesse im Text niederschlagen. Ebenso kann die Analyse von Kontexten in Texten einen Zugang zum Ausschluss von spezifischen Kontexten aus Texten eröffnen. Zudem zeigt das Offenlegen von alternativen Sinn- und Verstehensarten Möglichkeiten auf, hegemoniale Lesarten zu durchbrechen und zu überwinden. Zusammen mit einer Analyse extradiskursiver Ausschlussmechanismen ermöglicht die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" daher wichtige neue Einsichten in Exklusionsprozesse. [34]

5. Dispositivanalyse

Anders als bei der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" scheint die Dispositivanalyse (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008) über die Kritik in Bezug auf die Vernachlässigung des Kontextes erhaben, da eine ihrer Grundanalyseeinheiten das "gesellschaftliche Sein" (Praxis, Umgang mit Dingen, soziale Beziehungen, Subjektkonstitution) ist. So definieren BÜHRMANN und SCHNEIDER das Dispositivkonzept als Forschungsperspektive, welche die "Bestimmung des je über Wissen vermittelten Verhältnisses von Diskurs, Macht und gesellschaftlichem Sein" (S.32) in den Blick nimmt. Der Analyse des gesellschaftlichen Seins kommt also zumindest in der Theorie der gleiche Stellenwert zu wie der Analyse von Diskursen. [35]

Gegen zu kurz greifende Auffassungen des Dispositives als "Infrastruktur" des Diskurses oder als "Maßnahmenbündel, Regelwerke, Artefakte, durch die ein Diskurs (re-) produziert wird" (KELLER, 2005b, S.230), muss festgehalten werden, dass im Zentrum des Dispositivkonzeptes von BÜHRMANN und SCHNEIDER ein Verhältnis steht. Es sind also nicht die Elemente, welche zentral für die Analyse sind, sondern "Netze" (FOUCAULT 1978, S.119), Strategien, Ensembles oder "Verknüpfungen" (SEIER, zit. nach BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008, S.54) zwischen diesen Elementen. Dispositivanalyse würde dann also bedeuten, die Zusammenhänge zwischen den Elementen (Praktiken, Institutionen, Gegenständen, Subjekten usw..) zu analysieren. Wenn hier von verschiedenen Elementen gesprochen wird, bedeutet das auch, dass für BÜHRMANN und SCHNEIDER – anders als bei Ansätzen, die keine Unterschiede zwischen diskursiver und nicht-diskursiver Ebene machen (z.B. LACLAU & MOUFFE 1985) – die Differenz zwischen Diskursivem und Nicht- oder Neben-Diskursivem als analytische Differenz zentral bleibt: "Das Dispositivkonzept öffnet nicht-diskursives 'Praxis-Wissen' (im Verhältnis zum diskursiv vermittelten Wissen) sowie Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen dieser Wissensformen und damit einhergehende Prozesse der Subjektivation/Subjektivierung als zwar zusammenhängende, aber eigenständige und eigensinnige Analysegegenstände einer relationalen Macht-Analyse" (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008, S.68). [36]

Methodisch wird eine "re-konstruktive Analytik" (S.83ff.) vorgeschlagen, welche die verschiedenen Elemente in ihrem Zusammenhang analysiert. Nahe gelegt wird eine Analyse des Zusammenhangs von Praktiken, verschiedenen Diskurstypen (z.B. Spezialdiskursen und Alltagsdiskursen), Subjektivierungsformen, symbolischen und materiellen Objektivationen der Wissensordnung sowie Kontextualisierung (z.B. gesellschaftlicher Wandel).7) Dabei schlagen BÜHRMANN und SCHNEIDER die flexible Anwendung und Kombination von Diskursanalyse, nicht standardisierten Beobachtungsverfahren einer "dispositivanalytisch-wissensoziologische[n] Phänomenologie der Dinge" (S.103) und gesellschaftstheoretische Modelle zur Erklärung sozialen Wandels vor, wobei die Dispositivperspektive nie aus dem Blick gerät. [37]

Für die Frage nach der Exklusion scheint dieses Vorgehen zunächst einmal sehr reizvoll, da hier nicht nur verschiedene Techniken der (in der Regel qualitativen) Sozialforschung zur Anwendung kommen, um ihren jeweiligen Einzelgegenstand besser zu beschreiben. Vielmehr wird nach den Verhältnissen der verschiedenen Elemente gefragt und die so gewonnenen Erkenntnisse werden unter einer gemeinsamen Perspektive zusammengeführt: Materielle, praktische und symbolische Exklusionsformen werden von Anfang an zusammenhängend analysiert. [38]

Interessant an dieser Perspektive ist auch, dass sie es ermöglicht, gegensätzliche Tendenzen zu beschreiben und in ihrem Zusammenhang zu erklären. So ist es beispielsweise durchaus vorstellbar, dass rassistische Diskurse nicht mit rassistischen Handlungen verbunden werden, weil sie vielleicht gar nicht die gesellschaftlich vorhandenen Wissensbestände ansprechen oder ihnen die materielle Infrastruktur dazu fehlt, den Worten auch Taten folgen zu lassen. Umgekehrt konnte beispielsweise bereits gezeigt werden, wie Integrationsdiskurse in der Schule der diskursiven Exklusion von Migrant/innen (HERZOG 2009) nur schwer entgegenwirken können, da sie sich auf zwei völlig verschiedenen Wissensebenen situieren (HERNÀNDEZ & HERZOG 2011). [39]

Obwohl die Dispositivanalyse dem expliziten Einnehmen einer normativen Position eher skeptisch gegenübersteht, so ermöglicht sie doch gerade durch die Kenntnis der materiellen Konsequenzen und Zusammenhänge eine informierte Stellungnahme. Um beim Beispiel Rassismus zu bleiben, kann u.a. gezeigt werden, wann eine diskriminierende Äußerung als ohne Konsequenzen toleriert werden kann oder wann und wieso man bestimmte Konsequenzen erwarten muss. In der Praxis kann das bedeuten, dass aufgezeigt werden kann, wie bestimmten ungewünschten Tendenzen entgegenzusteuern wäre. [40]

Ferner können mit dieser Perspektive sowohl Ausschluss als Zustand (z.B. als ausschließende Strukturen oder exkludierende materielle oder symbolische Infrastruktur) verstanden werden als auch der Prozess des Ausschlusses als Perpetuierung dieses Zustandes analysiert werden. Außerdem kann der Wandel zu neuen Ausschlussformen aus alten Strukturen schlüssig, weil zusammenhängend erklärt werden. So kann beispielsweise erklärt werden, wie unter sich wandelnden oder sich verschärfenden ökonomischen Bedingungen neue (alte) Exklusionsformen wieder zurückkommen, wobei sich ihre Erscheinungsform oftmals gewandelt hat, um sich neuen Wissensordnungen anzupassen. Schließlich kann mit dem Blick auf die Subjektivierungen auch gezeigt werden, wie sich Exklusion tief in die Identität der verschiedenen sozialen Akteur/innen einschreibt. [41]

Dieser enormen Breite und Flexibilität der Dispositivanalyse steht gerade für Forschungsanfänger/innen allerdings auch ihre weitgehende Unbestimmtheit gegenüber. Wenn alles irgendwie wichtig ist und zusammenhängt, dann kann diese Perspektive die Aufgabe der Komplexitätsreduzierung schon für die Forschenden kaum noch leisten. Jede Beschränkung der Forschenden aus praktischen Gründen (in der Regel aus Mangel an den Ressourcen Zeit und Geld) und jede Priorität nur eines der Elemente vor einem anderen kommt so einer unzulässigen "Amputierung" der Perspektive gleich. Obwohl die Dispositivanalyse bei BÜHRMANN und SCHNEIDER nicht nur als "Perspektive", d.h. als erkenntnistheoretische und begrifflich-theoretische Grundlage, sondern ausdrücklich auch als Forschungsstil, also als "Gesamtheit der mit diesem Analysekonzept verbundenen [...] methodologischen Vorgaben" (2008, S.15) gefasst wird, fehlen genaue methodische Hinweise, die gerade für Forschungsanfänger/innen wichtig sind. [42]

6. Wissenssoziologische Diskursanalyse

Die wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) von Reiner KELLER (2005b, siehe für einen kurzen einführenden Artikel auch KELLER 2007) stellt den Versuch der Zusammenführung einer von BERGER und LUCKMANN geprägten Wissenssoziologie mit der Diskursperspektive FOUCAULTs dar. Dabei kann die WDA auch darauf aufbauen, dass schon FOUCAULT in seinen Arbeiten den Kategorien "Wissen" und "Wahrheit" einen zentralen Stellenwert einräumte (z.B. FOUCAULT 1983, 1991). Wissen und Wahrheit sind bei FOUCAULT diskursive Konstruktionen, d.h., sie werden durch diskursive Praxis gebildet, so wie auch umgekehrt diskursive Praxis aus vorhandenem Wissen und vorhandenen Wahrheitsvorstellungen schöpft. Diese diskursiven Konstruktionen Wissen und Wahrheit besitzen wiederum machtvolle Effekte für die materielle und für die symbolische Praxis. Anders als bei der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" wird der praktischen, materiellen Machtanalyse ein hoher Stellenwert eingeräumt. Im Gegensatz zur Dispositivanalyse steht die Analyse von Diskursen aber eindeutig im Zentrum der WDA und nicht als gleichbedeutende Partnerin neben anderen Zugängen. [43]

"Die Diskursanalyse interessiert sich für die Formationsmechanismen von Diskursen, die Beziehungen zwischen Diskursen und Praktiken sowie die strategisch-taktische Diskurs-Performanz sozialer Akteure" (KELLER 2005b, S.182). KELLER geht davon aus, dass soziale Kollektive Kommunikationsgemeinschaften sind, "die ihre symbolischen Ordnungen in Zeichensystemen typisieren und objektivieren. [...] [S]ie erzeugen ein gemeinsames Diskursuniversum" (S.196). Dieses Universum hält einen kollektiv geteilten Wissensvorrat bereit, der "gespeichert und in Sozialisationsprozessen subjektiv angeeignet" (a.a.O.) wird und der unser Wahrnehmen, Deuten und Handeln beeinflusst. Das Wissen kann schließlich von Sozialforscher/innen hermeneutisch rekonstruiert werden. [44]

Zur Analyse von Materialitäten schlägt KELLER die Analyse von Praktiken vor, die er wiederum unterteilt in diskursive Praktiken der Diskursreproduktion (z.B. eine Vorlesung halten), nicht-diskursive Praktiken der Diskursreproduktion (z.B. sich Bekreuzigen im Gottesdienst)8), diskursgenerierte Modellpraktiken (z.B. Müll trennen als Modellpraxis des Mülldiskurses) oder diskursexterne Praktiken (z.B. Kochen als dem Mülldiskurs externe Praxis). Dabei können Praktiken, die dem einen Diskurs extern sind, durchaus zentral für einen anderen sein. Zudem können diesen Praktiken Akteur/innen und einem institutionellen Rahmen zugeordnet und sowohl Akteur/innen als auch institutioneller Rahmen in die Analyse mit einbezogen werden. [45]

Die symbolische Ordnung der Wissensbestände soll mithilfe von Deutungsmusteranalysen, Klassifikationen, der Analyse der Phänomenstruktur oder von narrativen Strukturen ergründet werden. KELLER (2007) beschreibt sehr genau das konkrete Vorgehen bei dieser Art der Analyse, angefangen von Formen des Samplings über die konkrete Arbeit am Text mit Codes, Memos und Kommentaren bis hin zur Zusammenführung der Feinanalysen mithilfe der "interpretativen Analytik". Damit werden Forschenden, die sich für Exklusionsprozesse interessieren, eine Reihe nützlicher Werkzeuge an die Hand gegeben, um symbolische Ordnungen beschreiben und analysieren zu können. An konkreten Text-Korpora ansetzend kann so kollektiv geteiltes Wissen z.B. über exkludierte Gruppen beschrieben und es kann aufgezeigt werden, in welcher Hinsicht und in welchen spezifischen sozialen Kontexten das Wissen über diese Gruppen von anderem Wissen abweicht. [46]

So wurde beispielsweise analysiert, wie in Spanien Rauschtrinken, verbunden mit leichtem Vandalismus, sehr unterschiedlich wahrgenommen wurde, je nachdem, ob die betreffenden Akteur/innen der Gruppe der lateinamerikanischen Migrant/innen oder der einheimischen Jugendlichen zugerechnet wurden (HERZOG, GÓMEZ-GUARDEÑO, AGULLÓ-CALATAYUD, ALEIXANDRE-BENAVENT & VALDERRAMA-ZURÍAN 2009). Dabei verband sich die Information über das Verhalten entweder mit dem "Wissen" um die Konfliktivität und "Täterrolle" von Migrant/innen und führte so zu einer Verstärkung und Bestätigung dieses Wissens, oder die Wahrnehmung des devianten Verhaltens wurde in das "Wissen" um die Hilflosigkeit "unserer Jugend" eingeordnet und die Verantwortung für die Taten in einer Gesellschaft gesehen, die es versäumt, alternative Freizeitbeschäftigungen bereitzustellen. [47]

Schwieriger gestaltet sich die Analyse des Zusammenhangs von Wissen und Praxis: Zwar wurden im oben genannten Beispiel Aussagen über mit dem Verhalten der anderen verbundene Praktiken gemacht (bei Migrant/innen wurde das Einschreiten der Polizei gefordert, bei einheimischen Jugendlichen die Bereitstellung von Sportmöglichkeiten). Allerdings ist es sehr schwierig,das direkte Verhalten zu beobachten und es darüber hinaus noch in direkter Beziehung zu den Diskursen zu bringen. Da von einem Macht-Wissen-Komplex ausgegangen wird, der sowohl Diskurse als auch diskursiv vermittelte Praktiken umfasst, die im Sinne einer Hermeneutik verstehend gedeutet werden sollen, fällt es schwer, Tendenzen des Auseinanderdriftens von Diskurs und Praktiken zu beschreiben. Überhaupt ist der Zusammenhang der Analyse von materieller und symbolischer Ordnung bei der WDA alles andere als klar. Der Detailreichtum der Darstellung von Werkzeugen zur Analyse symbolischer Ordnungen beeindruckt zwar, das genaue methodische Vorgehen zur Analyse materieller Realitäten sowie des Zusammenhangs zwischen materieller und symbolischer Ordnung bleibt aber unklar. So bietet beispielsweise der Gesundheitsdiskurs bestimmte Modellpraktiken an (Diät machen, Sport treiben, ökologische Produkte konsumieren), die tatsächliche Praxis hängt allerdings wahrscheinlich von einer Vielzahl anderer Faktoren ab und kann nicht kausal auf das Wissen um oder den Diskurs über Gesundheit zurückgeführt werden. [48]

Durch die zentrale Bedeutung von Wissen ist die WDA sehr gut geeignet, um das Selbstverständnis von (exkludierten oder exkludierenden) Subjekten als Wissen über sich und andere zu beschreiben. Auch kann exkludierendes Wissen dabei als Zustand und als Prozess gedeutet werden. Als Zustand wäre Wissen eine Struktur, welche Praxis strukturiert. Diese Struktur wäre ihrerseits wiederum das (vorläufige) Ergebnis bestimmter (Diskurs generierender) Praktiken. Dabei geht der Prozesscharakter von Wissen nicht verloren, da es sich sowohl bei der Diskursgenerierung als auch bei den materiellen Ordnungen stets um teilweise offene Sinnangebote handelt, welche von den Akteur/innen unterschiedlich verstanden und gedeutet werden. [49]

7. Ausblick

Mithilfe der Diskursforschung kann der Exklusionsbegriff sowohl theoretisch stringent begründet als auch empirisch bearbeitet werden. Diskursive Exklusion meint die diskursiv konstruierte Möglichkeit, in einem spezifischen sozialen Kontext als nicht partizipationsrelevant anerkannt zu werden. Die Analyse von soziologisch relevanten Exklusionsprozessen bedeutet dabei auch immer, die Analyse von Kontexten oder materieller, nicht-diskursiver Realität als Voraussetzung und Ergebnis von Diskursen mit einzubeziehen. [50]

Die in diesem Artikel vorgestellten Perspektiven der Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" (ANGERMÜLLER 2007), der Dispositivanalyse (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008) und der wissenssoziologischen Diskursanalyse (KELLER 2005b) eignen sich in unterschiedlichem Maβe, neue Erkenntnisse über Exklusion als Zustand und Prozess zutage zu fördern. Während die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" und die WDA sehr genaue Hinweise zur Analyse von symbolischen (Exklusions-) Ordnungen geben, lässt sich mit der Dispositivanalyse am breitesten und kohärentesten nicht-diskursive Realität mit der Analyse von Diskursen verbinden. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass die Verbindung von textbasierter Analyse und Untersuchungen zur materiellen Realität umso schwerer fällt, je konkreter das methodische Angebot präsentiert wird. Diese Verbindung von Textanalyse und Analyse materieller Realitäten scheint par excellence in der Dispositivanalyse gelöst. Hier wird dieser Gewinn allerdings am stärksten mit einem Verlust an methodisch klaren Werkzeugen bezahlt. Das kann gerade für Forschungsanfänger/innen zu viel Verwirrung führen. [51]

Auf der anderen Seite sollte bedacht werden, dass Diskursforschung in der Praxis immer eine Anpassung von Werkzeugen und Vorschlägen zur Vorgehensweise verlangt. Sozialforschung muss also in jedem Fall die hier vorgestellten Methodologisierungsangebote dem jeweiligen Forschungsfeld bzw. der je interessierenden Fragestellung anpassen. Die hier diskutierten Fragen können dabei helfen, den eigenen gewählten Ansatz zu begründen und die damit verbundenen Vor- und Nachteile abzuschätzen. [52]

Interessant scheint auch die Möglichkeit, die hier vorgestellten Ansätze miteinander zu verbinden. BÜHRMANN und SCHNEIDER sprechen ihrerseits von der Möglichkeit, Diskursanalysen mit ihrem Ansatz zu verbinden. Schwieriger scheint eine Kombination der Vorschläge von ANGERMÜLLER und KELLER, gehen sie doch von unterschiedlichen diskurstheoretischen Grundannahmen aus. Dennoch könnte die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" um eine wissenssoziologische Perspektive erweitert oder es könnten die Vorschläge zur Methodisierung von ANGERMÜLLER für die Analyse von symbolischen Ordnungen sogar in die WDA integriert werden. Die stärkere Berücksichtigung der "Polyfonie" des Materials würde möglicherweise überraschende und offenere Resultate der WDA zutage fördern. Umgekehrt könnte eine Integration der WDA in die Diskursanalyse "nach dem Strukturalismus" helfen, diese zum einen besser zu "schließen", d.h. gesellschaftlich klar bevorzugte Interpretationen herauszuarbeiten. Zum anderen könnten so Kontexte nicht nur durch Texte oder durch eine vorangehende (Feld-) Analyse untersucht werden, sondern als koordinierte Analyse von symbolischen und materiellen Ordnungen. [53]

Es bleibt abzuwarten, wie sich die vielfältigen Möglichkeiten, die sich in den letzten Jahren abgezeichnet haben, um Exklusionsprozesse zu analysieren, in Zukunft weiter entwickeln werden. Der vorliegende Artikel hofft, einen kleinen Beitrag hierzu leisten zu können. [54]

Anmerkungen

1) So spricht sich beispielsweise CASTEL (1995) gegen die Nutzung des Exklusionsbegriffes und für die Verwendung des Konzeptes der Verletzbarkeit aus. <zurück>

2) Die Diskussion, ob es sich um Forschungsperspektiven, -stile, -ansätze, -felder oder dergleichen handelt, soll an dieser Stelle nicht geführt, die Diskrepanz abernicht verschwiegen werden. <zurück>

3) Der Begriff der "Überflüssigen" bezieht sich bei BUDE und WILLISCH (2008) auf diejenigen, die nicht einmal mehr ökonomisch ausgebeutet werden (S.30) bzw. auf diejenigen, die keine politischen Fürsprecher/innen haben: "Sie sind nicht bloβ Verlierer im Spiel, sondern überflüssig fürs Spiel" (S.25). <zurück>

4) Leitdifferenzen werden bei LUHMANN jene Kriterien der Unterscheidungen genannt, welche die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung eines Systems steuern. <zurück>

5) Wenn Exklusion hier als Chance aufgefasst wird, so weist dies (wie in WEBERs berühmter Definition der Macht) darauf hin, dass Ressourcenkonstellationen benötigt werden, um Exklusion effektiv werden zu lassen. <zurück>

6) Um genau zu sein, positioniert sie sich "zwischen strukturalen, logisch-semantischen und radikalpragmatischen Äußerungstheorien" (ANGERMÜLLER, 2007, S.139). <zurück>

7) Zur Erläuterung und Verwendung der Konzepte "Praxis", "Subjektivierung", "Objektivation" und "sozialer Wandel" siehe BÜHRMANN und SCHNEIDER (2008, S.69-107). <zurück>

8) Wie man an dem Beispiel erkennen kann, versteht KELLER unter "nicht-diskursiv" offenbar "nicht sprachlich vermittelt". Dennoch könnte auch das sich Bekreuzigen für KELLER Teil einer Diskursanalyse sein. <zurück>

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Zum Autor

Dr. Benno HERZOG ist Dozent für soziologische Theorie und Methoden der qualitativen Sozialforschung an der Universität Valencia (Spanien) und Direktor des Bereichs Sozialforschung der UISYS (Unidad de Información e Investigación Social y Sanitaria). Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Migration & Rassismus, Diskursanalyse & Diskurstheorie und kritische Theorie & Theorien der Anerkennung.

Kontakt:

Benno Herzog

Universitat de València
Facultad de Ciencias Sociales
Departamento de Sociología y Antropología Social
Despacho 4D11
Av. Tarongers, 4b
46021 Valencia, Spanien

Tel.: (0034) 961 62 59 30

E-Mail: benno.herzog@uv.es
URL: http://www.uv.es/herben/

Zitation

Herzog, Benno (2013). Ausschluss im (?) Diskurs. Diskursive Exklusion und die neuere soziologische Diskursforschung [54 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 14(2), Art. 19,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1302199.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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