Volume 7, No. 4, Art. 24 – September 2006
Rezension:
Dirk vom Lehn
Jörg Strübing (2005). Pragmatistische Wissenschafts- und Technikforschung. Theorie und Methode. Frankfurt/Main: Campus, 389 Seiten, ISBN 3-593-37707-1, EUR 39,90
Zusammenfassung: Die deutschsprachige Soziologie hat dem Interaktionismus bisher relativ wenig Beachtung geschenkt. Zwar ist der Symbolische Interaktionismus zentraler Bestandteil des Lehrprogramms einer jeden Theorieveranstaltung, doch bleiben theoretische und empirische Entwicklungen des Interaktionismus, die über die Arbeiten von George Herbert MEAD und Herbert BLUMER hinausgehen, häufig unberücksichtigt. Jörg STRÜBINGs Buch rekonstruiert die Entwicklung des Interaktionismus und erläutert seine Bedeutung für die jüngere Wissenschafts- und Technikforschung. Zudem weist er auf die Relevanz von Diskussionen und Debatten in der Wissenschafts- und Technikforschung für die soziologische Theorie hin. Das Buch ist somit nicht nur für diejenigen von Interesse, die im Bereich Wissenschafts- und Technikforschung arbeiten, sondern leistet auch einen Beitrag zur soziologischen Theorieentwicklung. Es wäre zu wünschen, dass es nicht nur Eingang in die Leselisten der Technik- und Wissenschaftssoziologie findet, sondern auch zu einer weiten Verbreitung des pragmatistischen Interaktionismus beiträgt.
Keywords: Interaktionismus, Pragmatismus, Wissenschafts- und Technikforschung, Soziologische Theorie, Anselm Strauss
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das pragmatistisch-interaktionistische Theorieprojekt
3. Chicagoer Soziologie und Symbolischer Interaktionismus
4. Pragmatistisch-interaktionistische Handlungstheorie
5. Pragmatistische Wissenschafts- und Technikforschung
6. Resümee
Der Interaktionismus spielt in der deutschsprachigen Soziologie nur eine untergeordnete Rolle. Zwar finden sich die zentralen Texte des Symbolischen Interaktionismus1) auf der Leseliste einer jeden Theorieveranstaltung, doch werden jüngere theoretische und methodologische Entwicklungen des Interaktionismus weitgehend ignoriert.2) Jörg STRÜBING hat sich mit seinem Buch "Pragmatistische Wissenschafts- und Technikforschung. Theorie und Methode" dieser Vernachlässigung eines wichtigen Bereichs soziologischen Denkens und Forschens angenommen. Anhand neuerer Entwicklungen in der Wissenschafts- und Technikforschung arbeitet er wesentliche Argumente des Interaktionismus heraus und zeigt ihren Beitrag zu Kernfragen der soziologischen Theorie auf. [1]
Jörg STRÜBING ist in der deutschsprachigen Soziologie durch zahlreiche Publikationen in den Bereichen Interaktionismus, Grounded Theory (STRÜBING 2004; siehe dazu z.B. LEGEWIE 2005) und Wissenschafts- und Technikforschung (STRÜBING 1997) bekannt. Im vorliegenden Band zeichnet er die Entwicklung der Konzepte, Theorien und Methoden nach, die in diesen Veröffentlichungen von Bedeutung sind. Die hier vorliegende Rezension stellt in Kürze STRÜBINGs Argumentation dar. Den Kapiteln des Buches folgend zeichnet sie zunächst die Entwicklungsgeschichte des pragmatistisch-interaktionistischen Theorieprojektes nach, wendet sich dann STRAUSS "Theorie des Handelns" zu und erklärt schließlich deren Einfluss auf die jüngere interaktionistische Wissenschafts- und Technikforschung. [2]
2. Das pragmatistisch-interaktionistische Theorieprojekt
Der Interaktionismus zeichnet sich unter anderem durch eine enge Verbindung zwischen Theorie und Methode aus, die in seinen pragmatistischen Wurzeln begründet liegt. STRÜBING arbeitet diese Wurzeln des Interaktionismus im Detail heraus und zeigt ihre Relevanz für die jüngeren Entwicklungen des Interaktionismus auf. Dabei zieht er die philosophischen Texte von William JAMES, Charles Saunders PEIRCE und John DEWEY heran. Diese amerikanischen Pragmatisten stellen universalen Konzepten von Realität und Wahrheit relationale Konzepte gegenüber. Sie argumentieren, dass Wahrheit durch Handeln immer wieder neu realisiert wird (William JAMES). Die Relationalität von Wahrheit erfordert einen Erkenntnisprozess, durch den sich Forschende die Wirklichkeit handelnd erschließen. Was sie finden, hängt dabei von der spezifischen Situation ab, in der die Handlungen vollzogen werden und nicht von Eigenschaften, die der Realität sozusagen innewohnen. Ob etwas also als "wahr" erkannt wird, hängt von den "praktischen Konsequenzen" der Erkenntnis ab (Charles Saunders PEIRCE) (S.39-106). [3]
Dieses pragmatistische Verständnis von Wahrheit und Realität ist für STRÜBING der Ausgangspunkt seiner Darstellung des pragmatistischen Erkenntnisprozesses. Hier bezieht er sich weitestgehend auf John DEWEYs Konzept der "Inquiry". Inquiry ist ein durch fünf Phasen gegliederter Prozess, der mit einer Situation der Ungewissheit und Unbestimmtheit beginnt (Phase 1). Forschende stellen sich dieser Situation, indem sie diese als problematisch auffassen und bestimmen (Phase 2). Sie entwickeln mögliche Lösungen für dieses Problem (Phase 3) und stellen sie in einen weiteren Zusammenhang von Ereignissen (Phase 4). Diese Lösungen werden Experimenten ausgesetzt, durch die ihre praktische Bewährungskraft untersucht wird (Phase 5). Damit kommt der Prozess der Inquiry zu seinem Abschluss, wenn die praktischen Konsequenzen, die aus der Inquiry resultieren, erkannt sind. Durch diese Erkenntnis wird der "Inquiryzirkel" abgeschlossen, und ein neuer Prozess der Inquiry angestoßen. Der Prozess der Erkenntnis ist also ein nie endender Vorgang, durch den die Wirklichkeit fortlaufend konstituiert wird. Am Ende eines jeden Inquiryzirkels stehen "wohlbegründete Behauptungen" ("warranted assertibility"), die sofort wieder an der praktischen Realität durch den nächsten Inquiryzirkel getestet werden. "Wissen ist also eine Etappe in einem Prozess, der zugleich Endpunkt der einen Untersuchung wie auch Startpunkt einer neuen" Inquiry ist (S.59). An dieser Stelle stellt STRÜBING heraus, dass aus pragmatistischer Perspektive der wissenschaftlichen Erkenntnis der alltäglichen Erkenntnis gegenüber zwar kein besonderer epistemischer Status zukomme, doch werden durch den Prozess der Inquiry weitreichendere und präzisere Erkenntnisse produziert als im Alltag (S.92-101). [4]
Im Anschluss an diese konzeptionelle Darstellung arbeitet STRÜBING heraus, wie diese theoretischen Vorarbeiten der Pragmatisten die Entwicklung des Interaktionismus beeinflusst haben. Mit Bezug auf JAMES, PEIRCE und DEWEY weist STRÜBING darauf hin, dass der Pragmatismus auf die praktischen Konsequenzen des Erkenntnisvorganges abzielt. In diesem Sinne zeigt er, dass die pragmatistischen Konzepte das Verhältnis von Akteur, Denken und Umwelt als ein prozessuales Kontinuum fassen, durch das die Dualismen von Denken und Handeln sowie Subjekt und Realität aufgelöst werden. Forschung wird daher auch nicht als ein Prozess gesehen, der den kognitiven Bezug zur Welt beeinflusst, sondern er wird konsequent in seinen praktischen Folgen für die Forschung konzipiert. Diese pragmatistische Perspektive auf den Forschungsprozess schlägt sich, so STRÜBING, in der parallelen Organisation und Durchführung von Feldarbeit, Datenanalyse und Theoriebildung nieder. Dieser "Forschungsstil" (S.223) ist als Grounded Theory bekannt geworden (S.222-240; siehe GLASER & STRAUSS 1998, Orig. 1967; vgl. STRÜBING 2004). [5]
STRÜBING stellt wichtige philosophische Konzepte vor, die für die Entwicklung der Theorien und Methoden des pragmatistischen Interaktionismus von wesentlicher Bedeutung sind. Dabei hebt er insbesondere die praktische Verbindung zwischen Subjekt und Realität hervor; Objekte und Bedeutungen werden als Produkte menschlichen Handelns und Interagierens gesehen; Theorien, Daten und Methoden sind eng miteinander verwoben und werden durch den Erkenntnisprozess fortlaufend modifiziert und transformiert. Diese erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundsätze sind die Basis für die Entwicklung dessen, was heutzutage häufig als Chicagoer Soziologie und Symbolischer Interaktionismus bezeichnet wird. Diesen soziologischen Traditionen wendet sich STRÜBING im nachfolgenden Kapitel zu. [6]
3. Chicagoer Soziologie und Symbolischer Interaktionismus
STRÜBINGs Einführung in die philosophisch-pragmatistischen Debatten des späten 19. Jahrhunderts dienen dazu, deren Bedeutung für die Entwicklung der Soziologie um die Jahrhundertwende aufzuzeigen. Er bezieht sich hier vor allem auf den Symbolischen Interaktionismus als Sozialtheorie und die Chicagoer Soziologie mit ihrer ethnographischen Stadt-, Sozial- und Arbeitsforschung. [7]
Der Symbolische Interaktionismus geht auf die Untersuchungen George Herbert MEADs zurück. Einführungen in die Soziologie konzentrieren sich zumeist auf sein Buch "Geist, Identität und Gesellschaft" (MEAD 2005, Orig. 1934) und vernachlässigen seine Beiträge zur soziologischen Theorie, die in posthum veröffentlichten Vorlesungen veröffentlicht wurden (MEAD 1987a, 1987b; STRAUSS 1969). STRÜBINGs Darstellung von MEADs Sozialtheorie hebt die Bedeutung des Aufsatzes "Die objektive Realität der Perspektiven" hervor (MEAD 1969). Hierin stellt MEAD dar, wie unterschiedliche Akteure "zu praktisch (!) identischen Bedeutungszuschreibungen" (S.113; Hervorhebung von STRÜBING) kommen, "die diese Bedeutungen jeweils in spezifischen und voneinander mehr oder weniger getrennten Problemlösungsprozessen entwickeln" (S.113). MEAD argumentiert, dass Akteure zwar mit einer Mehrzahl von Perspektiven an Ereignisse und Objekte herantreten, durch leibliche Handlungen und Kommunikation jedoch in der Lage sind, in der jeweiligen Situation intersubjektiv geteilte Perspektiven herzustellen. Dadurch können "Diskursgemeinschaften" ("universes of discourse") entstehen, die sozusagen "die gleiche Sprache sprechen" (S.119). In ihnen bestätigen die Akteure durch ihre Handlungen fortlaufend die Organisation von Perspektiven, so dass bestimmte Objekte und deren Bedeutungen als stabil angenommen werden (S.124). [8]
MEADs Sozialtheorie wurde bekanntlich von Herbert BLUMER (1969) weiterentwickelt und gelangte als "Symbolischer Interaktionismus" in den soziologischen Diskurs. STRÜBING entwickelt eine detaillierte Kritik des BLUMERschen Interaktionismus. Er nimmt insbesondere dessen mentalistische Konzeption von "Perspektive" und "Kommunikation" ins Visier, die die Bedeutung körperlichen und physischen Handelns ignoriert. Und er weist darauf hin, dass BLUMERs Symbolischer Interaktionismus in wesentlichen Punkten weiterentwickelt wurde, was in der deutschsprachigen Soziologie weitgehend unberücksichtigt geblieben ist (S.166). [9]
Von großer Bedeutung für die Weiterentwicklungen des Interaktionismus ist das Konzept der "Situation". Interaktionisten beziehen sich hierzu häufig auf William I. THOMAS' bekannten Text zur "Definition der Situation" (THOMAS 1967). Darin stellt er heraus, dass Akteure Situationen nicht individuell für sich definieren, sondern dass sie Situationen vorfinden, die sozialgebunden und in Kulturen und Diskurs- und Praxisgemeinschaften gerahmt und partiell standardisiert sind (S.127). STRÜBING weist darauf hin, dass die Interaktionsforschung den Begriff der Situation häufig auf face-to-face Interaktion beschränkt. Diese Einschränkung sei für die Wissenschafts- und Technikforschung jedoch unbrauchbar, wenn sie in der Lage sein will, die Möglichkeit heterogener, verteilter Kooperation zu verstehen (S.131), die für die Entwicklung der modernen Wissenschaft und Technik von immenser Bedeutung ist. [10]
Während der Interaktionismus viele seiner theoretischen Konzepte den Untersuchungen MEADs, BLUMERs und HUGHES' verdankt, geht sein methodologisches Programm insbesondere auf die Tradition der Feldforschung zurück, die mit der Chicagoer Soziologie und neben anderen mit den Untersuchungen Robert E. PARKs und Everett C. HUGHES' in Verbindung steht. STRÜBING fokussiert auf den Beitrag, den HUGHES' Institutionenanalyse (HUGHES 1984) für die Entwicklung des Interaktionismus leistet. Er stellt dar, wie HUGHES sein zunächst funktionalistisch anmutendes Konzept von Institutionen zu einem dynamischen Prozessmodell umarbeitet. HUGHES' Interesse gilt – wie STRÜBING aufzeigt – nicht Organisationen und Institutionen als Entitäten, sondern der Prozessualität der Aktivitäten, den "going concerns", die vollzogen werden, um unterschiedliche Handlungsziele innerhalb von Institutionen miteinander abzustimmen. "Institutionen werden durch die Aktivitäten von Menschen erhalten und verändert, indem bestimmte Binnen- und Umweltbeziehungen hergestellt, modifiziert oder auch abgebrochen werden (S.139). Um diese Prozesse zu verstehen, sind keine Theorien und Modelle vonnöten, sondern Feldforschung, die die Prozessualität und Dynamik des Organisierens offen legt. [11]
Die Chicagoer Soziologie und der Symbolische Interaktionismus sind, so STRÜBING, die Vorläufer des von ihm als "pragmatistisch-interaktionistische Handlungstheorie" bezeichneten Ansatzes. Die Feldforschung von Everett HUGHES und dessen dynamische und prozessuale Perspektive auf Institutionen sowie George Herbert MEADs konzeptionelle Arbeiten zur Möglichkeit von sozialer Interaktion und Konstitution von Objekten und William THOMAS' Konzept der sozialgebundenen, kulturell gerahmten "Definition der Situation" sind die wesentlichen Ausgangspunkte für neuere Entwicklungen des Interaktionismus. [12]
4. Pragmatistisch-interaktionistische Handlungstheorie
STRÜBINGs Argument für die Bedeutung des neueren Interaktionismus für die Wissenschafts- und Technikforschung liegt in den theoretischen, methodologischen und empirischen Beiträgen von Anselm STRAUSS begründet. Dieser amerikanische Soziologe und Sozialpsychologe hat auf Basis von empirischen Untersuchungen eine interaktionistische Handlungstheorie entwickelt, die an den Symbolischen Interaktionismus und den Feldforschungsansatz der Chicagoer Soziologie anschließt. STRAUSS fokussiert auf den dynamischen und prozessualen Charakter von sozialer Interaktion und Organisation. Seine Untersuchungen sind weitestgehend der Medizin- und Professions-Soziologie zuzuordnen. Er formuliert sie zunächst als Kritik zu in den 1950er und 1960er Jahren dominierenden funktionalistischen Ansätzen von PARSONS und anderen, bevor er eine eigenständige interaktionistische Handlungstheorie entwickelt. [13]
STRÜBING sieht die Relevanz von STRAUSS' empirischen und theoretischen Untersuchungen für die Wissenschafts- und Technikforschung darin, dass STRAUSS seine empirischen Untersuchungen in den technisierten Räumen von Krankenhäusern unternimmt und seine "Theorie sozialer Welten" darauf abgestellt ist, die Möglichkeit von heterogener Kooperation zu erklären. STRÜBING erläutert die theoretischen Ausgangspunkte der Theorie sozialer Welten und führt dann, leider viel zu kompakt und teilweise unklar, die wesentlichen Konzepte der STRAUSSschen Handlungstheorie ein. [14]
Die "Theorie sozialer Welten" schließt an MEADs Konzept der Diskursuniversen und SHIBUTANIs Konzept sozialer Welten an (SHIBUTANI 1955). Soziale Welten sind, so STRAUSS, nicht etwa homogene soziale Einheiten mit geteilten Zielen und Aufgaben, sondern werden durch Aushandlungsprozesse ("negotiations") fortlaufend hervorgebracht, reproduziert und modifiziert. Sie sind ein "kulturelles Areal" ("cultural area"), in dem sich die Akteure wechselseitig durch ihre Handlungen und Aktivitäten aufeinander beziehen (S.179). Sie sind also nicht etwa nur durch bestimmte Formen der Kommunikation und des symbolischen Austausches charakterisiert, sondern auch durch eine Verpflichtung ("commitment") auf bestimmte praktische Aktivitäten, wie die Ausführung und Koordination körperlicher und verbaler Handlungen sowie die Verwendung von gemeinsamen Techniken und Ressourcen. [15]
Unterschiedliche soziale Welten sind durch Handlungs- und Interaktionsprozesse miteinander verbunden. In so genannten "Arenen" definieren und bearbeiten die Angehörigen unterschiedlicher sozialer Welten Probleme. Hier formen sie Koalitionen, verhandeln, wie die Probleme angegangen werden und stimmen divergierende Perspektiven miteinander ab. Die soziale Ordnung, die im Sinne der STRAUSSschen Handlungstheorie entsteht, ist eine ausgehandelte Ordnung ("negotiated order") (S.192). Die Aushandlungsprozesse finden in einem vorhandenen strukturellen Rahmen statt, dessen kontextuelle Bedingungen und Regeln die Teilnehmenden als Ressourcen für ihre Handlungen verwenden. [16]
Die Handlungen, durch die die Teilnehmenden Organisationen entstehen lassen, erhalten und modifizieren, werden von STRAUSS als "Arbeit" bezeichnet. Mit "Arbeit" meint STRAUSS "die tätige Ausgestaltung von Handlungsräumen, Handlungszeiten: Lebenszeiten" (SOEFFNER 1991, S.12, zit. nach STRÜBING, S.205). In Organisationen arbeiten Akteure nicht allein, sondern sie koordinieren ihre Handlungen miteinander, so dass ein "Arbeitsbogen" ("arc of work") entsteht, der zur Vollendung eines Projektes führt (S.201). Die Koordination von Arbeit in einem Organisationsprozess verlangt von den Akteuren die Ausführung von Handlungen, die das Verhältnis zwischen verschiedenen Aufgaben und Tätigkeiten herstellen. Diese "Gliederung und Strukturierung von Zusammenhängen im Arbeitsprozess" bezeichnet STRAUSS als "articulation work". Durch diese articulation work machen Akteure also den Beitrag sichtbar, den ihre Arbeit zum größeren Arbeitszusammenhang leistet, so dass divergierende Perspektiven und Problemansichten miteinander abgestimmt werden können und die Kooperation zwischen Angehörigen verschiedener Berufsgruppen und Disziplinen möglich wird. Die Diversifizität der Perspektiven der Angehörigen unterschiedlicher Professionen und Disziplinen, die an Arbeitsvorgängen beteiligt sind, wird durch das Konzept der "Arbeitslinien" beschrieben. Die Akteure gehen ihrer Arbeit nach, und erst durch interaktive Koordinationsleistungen, wie articulation work, wird Kooperation möglich, so dass ein Arbeitsbogen sichtbar wird (S.211-217). Arbeit wird nicht nur von Akteuren vollzogen, sondern auch durch äußere Einflüsse mitbestimmt. STRÜBING weist hier auf STRAUSS' Krankenhausuntersuchungen hin, in denen gezeigt wird, wie Patientinnen und Patienten den Verlauf des Sterbens als von äußeren Einflüssen fremdbestimmt erleben. Mit dem Konzept der "Verlaufskurve" ("trajectory") fügt STRAUSS seiner Theorie also eine Perspektive hinzu, die es ihm erlaubt zu beschreiben, wie strukturelle Aspekte von Situationen das Handeln beeinflussen. Die Konzepte des Arbeitsbogens, der Arbeitslinie und der Verlaufskurve sind für die interaktionistische Handlungstheorie von zentraler Bedeutung. Obwohl STRÜBING ihrer Erklärung einige Abschnitte widmet, bleiben diese Konzepte aufgrund der dichten Darstellung teilweise undurchsichtig und ihr Nutzen für die Analyse bleibt unklar. [17]
Neben diesen theoretischen Konzepten haben STRAUSS und Kollegen auch wesentliche methodologische Beiträge zur Weiterentwicklung des Interaktionismus geleistet. Wie wir auch von vorhergegangenen Veröffentlichungen von STRÜBING (2004) wissen, handelt es sich dabei insbesondere um die Entwicklung der so genannten Grounded Theory. Im vorliegenden Buch fasst STRÜBING die wesentlichen Aspekte der Grounded Theory zusammen, wie sie in den 1960er Jahren von GLASER und STRAUSS als ein "Forschungsstil" entwickelt wurde, "der aus einem Set interpretations- und adaptionsbedürftiger Regeln für die Erzeugung sozialwissenschaftlicher Theorien aus der systematischen Analyse empirischer Daten heraus besteht" (S.223). Bei diesen "Regeln" handelt es sich um etablierte Forschungspraktiken, die aus der Forschung selbst hervorgehen. Anders als konventionelle (quantitative) Forschung folgt dieser Ansatz nicht einem vorab definierten Plan und festgelegten Regeln für die Anwendung einer Methode; beispielsweise werden hier Datenerhebung, -analyse und Theoriebildung nicht sequentiell nacheinander durchgeführt, sondern parallel, so dass sie einander permanent beeinflussen können. Die Bildung von Theorien ist also nicht das Ziel und der Endpunkt des Erkenntnisprozesses; vielmehr werden Theorien als Provisorien im Prozess der Erkenntnis angesehen, die der Ausgangspunkt für weitere Forschungsprozesse sind. Theorien bleiben immer in enger Verbindung zu den Daten und beschreiben plausible Beziehungen zwischen Konzepten und Konzeptgruppen, die aus den Daten hervorgegangen sind (S.231). Durch die ausführliche Darstellung der Grounded Theory zeigt STRÜBING, wie interaktionistische Forschung die Verbindung zwischen Theorie und Methode praktisch vollzieht. Die Erläuterungen zur Grounded Theory, denen STRÜBING sehr viel Platz in seinem Buch einräumt, komplementieren somit die Ausführungen zu den theoretischen Konzepten des Interaktionismus. [18]
STRÜBING argumentiert für die Stärke der Verbindung von Theorie und Methode gegenüber dem nomologisch-deduktiven Forschungsprogramm. Er stellt fest, "dass der neuere Interaktionismus seine Qualität gerade aus der Verbindung von Theorie und Methode bezieht, also daraus, dass Handlungstheorie und empirische Methodik die gemeinsame konsequente Umsetzung einer stimmigen, an der Praxis der 'modernen' Welt entwickelten und erprobten Philosophie bilden" (S.222). In seiner Darstellung der pragmatistisch-interaktionistischen Handlungstheorie, wie sie STRAUSS entwickelt hat, weist STRÜBING auf die Konzepte und "Heuristiken" hin, die er im nachfolgenden Kapitel in Bezug auf die Wissenschafts- und Technikforschung behandelt. [19]
Es scheint mir, als habe STRÜBING in diesem Kapitel seines Buches der Grounded Theory auf Kosten der theoretischen Konzepte zu viel Gewicht beigemessen. Dies führt in der Darstellung zu einer allzu kompakten und teilweise undurchsichtigen Darstellung der Verlaufskonzepte (Arbeitsbogen, Arbeitslinie und trajectory). Ein wenig mehr Ausführlichkeit und Klarheit bei der Erläuterung der Verlaufskonzepte hätte diesem Kapitel gut getan – zudem liegt ja schon ein Buch von STRÜBING (2004) zur Grounded Theory vor. [20]
5. Pragmatistische Wissenschafts- und Technikforschung
Im Anschluss an die detaillierten Ausführungen der vorangegangenen Kapitel seines Buches zeigt STRÜBING die Relevanz von Pragmatismus und interaktionistischer Handlungstheorie für die interaktionistische Wissenschafts- und Technikforschung. Dabei bezieht er sich wiederholt auf die wichtigen Untersuchungen von STRAUSS und Kollegen. STRÜBING arbeitet die Grundannahmen der interaktionistischen Wissenschafts- und Technikforschung heraus und stellt dar, welchen besonderen Beitrag der interaktionistische Ansatz zur Wissenschafts- und Technikforschung leistet. [21]
STRÜBING sieht die interaktionistische Wissenschafts- und Technikforschung durch vier Grundannahmen charakterisiert: (1) Wissenschaftliche Fakten, Befunde und Theorien sind grundsätzlich sozial konstruiert; dies gilt für die Sozial- und Geisteswissenschaften genauso wie für die Natur- und Technikwissenschaften. (2) Wissen ist keine kognitive Eigenschaft von Individuen, sondern steht immer in einer praktischen Beziehung zu Handlungen und Interaktionen. Für die Interaktionisten ist Wissen nur in seinen praktischen Konsequenzen relevant. (3) Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik wird durch Arbeit betrieben, Arbeit an der physischen Welt und in Interaktion mit anderen Akteuren. Und (4) Wissenschaft unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie dem Alltag, der Kunst usw. [22]
Als zentral für die Perspektive des pragmatistischen Interaktionismus ist hier noch einmal festzuhalten, dass sie Wissenschafts- und Technikentwicklung als Produkte auffasst, die durch kommunikative und körperliche Arbeit in sozialer Interaktion hervorgebracht werden, wodurch Organisationen entstehen, erhalten und modifiziert werden. In diesem letzten Kapitel seines Buches stellt STRÜBING dar, wodurch sich die interaktionistische Wissenschafts- und Technikforschung auszeichnet. Dabei zeigt er insbesondere auf, wie dieser Ansatz der Wissenschafts- und Technikforschung die Frage der Möglichkeit heterogener Kooperation angeht: Wie ist es möglich, dass Akteure, die aus unterschiedlichen fachlichen, sozialen, kulturellen und teilweise sogar historischen Kontexten kommen, bei der Lösung wissenschaftlicher und technischer Probleme erfolgreich zusammenarbeiten? [23]
STRÜBING stellt fest, dass Wissenschafts- und Technikentwicklung heutzutage durch Heterogenität und Kooperation zwischen Institutionen mit unterschiedlichen Problemansichten charakterisiert ist. Er argumentiert, dass sich der interaktionistische Ansatz besonders gut dazu eignet, ein Verständnis von Wissenschafts- und Technikentwicklung zu gewinnen. Dieser Ansatz biete theoretische und methodologische Konzepte an, die sich besonders gut dazu eigneten, die Bedingungen der Möglichkeit von Kooperation bei heterogen, divergierenden Perspektiven zu rekonstruieren. Wie können Institutionen miteinander zusammenarbeiten, um zu einer gemeinsamen Problemlösung zu kommen? Während viele andere theoretische Konzepte davon ausgehen, dass der Kooperation ein Konsens vorangehen muss, erlaubt der Interaktionismus eine andere Sichtweise. Hierauf hatte STRÜBING schon bei seiner Analyse von MEADs Artikel zur "Objektiven Wirklichkeit der Perspektiven" sowie der Konzepte der "Diskursuniversen" (MEAD 2005, Orig. 1934) und der "Sozialen Welten" (SHIBUTANI 1955) hingewiesen. [24]
STRÜBING zeigt, wie eine Weiterentwicklung der Theorie sozialer Welten und des Arenenkonzeptes helfen kann, zu interessanten Antworten auf diese Frage zu kommen. Dabei stellt er zunächst Susan Leigh STARs Konzept der "Grenzobjekte" ("boundary objects") und Joan FUJIMURAs Konzept der "standardized packages" vor (S.255-270). Beides sind Konzepte, die dazu dienen, die Kooperation zwischen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Welten zu ermöglichen, ohne auf einen Konsens angewiesen zu sein. "Grenzobjekte sind (z.B. technische) Gegenstände, aber auch Ideen, Pläne, Konzepte, die innerhalb einer Arena und damit für die darin vertretenen Repräsentanten verschiedener sozialer Welten von zentraler Bedeutung (d.h. Handlungsrelevanz) sind" (S.258). Sie ermöglichen die Vermittlung zwischen verschiedenen sozialen Welten (S.259). Objekte werden jedoch nicht geschaffen, um als Grenzobjekt zu fungieren, sondern sie werden erst in den Interaktionsprozessen zu Grenzobjekten, wenn die unterschiedlichen Akteure sie als solche behandeln (S.262). FUJIMURAs "standardized packages" ist ein Konzept, das ähnlich wie das der Grenzobjekte, die Kooperation zwischen Akteuren ermöglichen soll. Anders als STAR konzentriert sich FUJIMURA jedoch auf die Organisation von Arbeit, durch die unterschiedliche Akteure ihre individuellen Arbeitsverläufe miteinander abstimmen können (S.269). STRÜBING sieht den Nutzen dieser beiden interaktionistischen Konzepte darin, dass sie als vorläufige Theorien und Heuristiken helfen zu erklären, wie Kooperation zwischen Angehörigen unter-schiedlicher sozialer Welten möglich ist. Sie zeigen, wie Arbeit an und mit Objekten notwendig ist, um unterschiedliche Perspektiven in Einklang zu bringen. [25]
Es stellt sich jedoch die Frage, wie Objekte und Handlungen zu ihrer Bedeutung in Interaktions- und Kooperationszusammenhängen kommen. STRÜBING weist in diesem Zusammenhang auf jüngere interaktionistische Untersuchungen hin, die auf das Verhältnis von Objekt und Repräsentation abzielen. Diese Untersuchungen stellen dar, wie Objekte in Interaktionen zu Bedeutungen kommen, d.h. wie ihnen Bedeutungen zugeschrieben werden. Durch diese Zuschreibungen werden Objekte zu Repräsentationen von Bedeutungen, die Objekten nicht innewohnen, sondern erst durch Arbeitsprozesse geschaffen werden. Um also zu einer Repräsentation zu werden, müssen Objekte in Interaktionen als solche behandelt werden; d.h. beispielsweise, dass ein Objekt zu einer Landkarte wird, wenn sie in Interaktion als eine solche behandelt wird (S.286). Aus dieser Perspektive resultiert eine Spannung zwischen der "Dynamik der Prozesse und der anscheinenden Statik und Stabilität der Repräsentationen" (S.282), die interaktionistische Untersuchungen erforschen, indem sie unter anderem dabei die Mikropolitik der Interaktionsprozesse, durch die Objekte in einer bestimmten Art und Weise konstituiert werden, herausarbeiten (S.283-286). Diese analytische Perspektive auf Arbeitsprozesse wird in der interaktionistischen Wissenschafts- und Technikforschung als "re-representation path" (Susan Leigh STAR) bezeichnet. Sie unterscheidet sich insofern von anderen analytischen Perspektiven, dass sie die hinter den Bedeutungen verborgenen Arbeitsprozesse, durch die Bedeutungen in Objekte "eingeschrieben" werden, sichtbar macht.3) STRAUSS und STAR (1999) haben diese "unsichtbare Arbeit" ("invisible work") zum Thema einer gemeinsamen Veröffentlichung gemacht, die einerseits auf die politische Dimension derartiger Bedeutungseinschreibungen hinweist und andererseits aufzeigt, inwiefern das Sichtbarmachen unsichtbarer Arbeitsprozesse für die Entwicklung und Gestaltung von neuen Technologien für kooperative Arbeitszusammenhänge bedeutsam ist (S.286-291). [26]
STRÜBING spricht an verschiedenen Stellen seines Buches an, dass Arbeitsprozesse in einer vernetzten Umwelt stattfinden, wobei er wiederum an HUGHES' ökologisches Konzept anknüpft. Dies gilt natürlich auch für die Arbeit an Objekten und Repräsentationen. Daran schließen Debatten über das Verhältnis zwischen Handlung und Struktur an; inwieweit beeinflusst oder gar bestimmt die Struktur der Umwelt, wie Handlungs- und Interaktionsprozesse ablaufen. Wie STRÜBING in Bezug auf STRAUSS' Handlungstheorie gezeigt hat, geht der Interaktionismus nicht von einer Trennung von Handlung und Struktur aus, sondern davon, dass Akteure einerseits auf die Widerständigkeit der Struktur der Umwelt treffen und andererseits diese Struktur durch ihre Handlungen und Interaktionen hervorbringen, erhalten und modifizieren. Um die Bedeutung dieser Perspektive auf eine grundsätzliche soziologische Fragestellung näher zu beleuchten, bezieht sich STRÜBING auf jüngere Veröffentlichungen von STAR und Kollegen, die aufzeigen, wie aus der Zusammenführung verschiedener Praxiswelten eine "Infrastruktur" erzeugt wird (z.B. STAR & RUHLEDER 1996). STRÜBING führt exemplarisch Personal Computer an, die nicht allein stehende Systeme sind, sondern in ein Netzwerk von anderen Computern und Arbeitspraktiken eingebunden sind; oder Fernseher, die in zunehmendem Maße mit anderen Geräten, wie Videorekordern, Telefonleitungen usw. verbunden und in eine ganze Reihe von Aktivitäten eingebettet werden. [27]
Die theoretischen und methodologischen Beiträge des Interaktionismus finden in der deutschsprachigen Soziologie relativ wenig Beachtung. Jörg STRÜBINGs Buch stellt einen wichtigen Beitrag dar, um die Bedeutung dieses in der angelsächsischen Soziologie viel einflussreicheren Ansatzes zu heben. Er stellt im Detail die Ursprünge und Entwicklungslinien des Interaktionismus dar und erläutert die wesentlichen Konzepte der pragmatistischen Philosophie, insofern sie für seine nachfolgenden Ausführungen von Bedeutung sind. Daraus entwickelt er seine Darstellung des Symbolischen Interaktionismus und der pragmatistisch-interaktionistischen Handlungstheorie. Anschließend wendet er sich der pragmatistischen Wissenschafts- und Technikforschung zu. [28]
Wie der pragmatistische Interaktionismus, so spielen auch die Wissenschafts- und Technikforschung in der Soziologie nur eine untergeordnete Rolle. Dies ist nicht nur verwunderlich, da Wissenschaft und Technik in anderen gesellschaftlichen Diskursen eine besondere, oft entwicklungsdeterminierende Bedeutung zugemessen wird, sondern auch, wie STRÜBING überzeugend darlegt, da die Wissenschafts- und Technikforschung neuartige Zugänge zu grundsätzlichen soziologischen Fragestellungen bietet. Anhand der pragmatistischen Wissenschafts- und Technikforschung zeigt STRÜBING auf, welchen Beitrag diese Bindestrich-Soziologie zur Weiterentwicklung soziologischer Theorie und Methoden leisten kann. Dabei arbeitet er konsequent die Möglichkeiten der interaktionistischen Konzepte heraus und erläutert die Verbindungen zwischen Daten, Methoden und Theoriebildung, die sich im Konzept der Grounded Theory wiederfinden. [29]
Wenn man Kritik an STRÜBINGs Arbeit üben möchte, dann müsste diese wohl darauf zielen, dass er den Leistungen und der Reichweite der interaktionistischen Forschung zu unkritisch gegenüber steht. Dies wird insbesondere in den Abschnitten deutlich, in denen er auf die Verwandtschaft des Interaktionismus mit Aktivitätstheorie und Ethnomethodologie hinweist. Hier übersieht er insbesondere, wie sich die unterschiedliche Konzeption von Situation und Situiertheit dieser Ansätze auf die Analyse von Interaktionszusammenhängen auswirkt. Interaktionismus und Aktivitätstheorie gehen davon aus, dass Handlungen in gegebenen Situationen stattfinden und dort ihre Bedeutung erlangen. Die Ethnomethodologie stellt dagegen die "Indexikalität" (GARFINKEL 1967) von Situationen heraus; sie argumentiert, dass der Kontext von Handlungen durch Handlungen fortlaufend erneuert und verändert wird. Die Bedeutung von Handlungen ist aus dieser Perspektive nicht an einen gegebenen Kontext gebunden, sondern wird durch die Handlungen selbst und ihre soziale Organisation hervorgebracht. Am Beispiel von Landkarten (S.286) zeigt STRÜBING, wie aus der Perspektive des Interaktionismus Objekte erst in Interaktion durch die praktische, körperliche "Arbeit" der Teilnehmenden als Landkarten konstituiert werden. Während es die interaktionistische Forschung bei diesem Befund belässt, fokussieren ethnomethodologische Untersuchungen auf die soziale Organisation der verbalen, körperlichen und taktilen Handlungen, durch die in einem konkreten Moment ein Objekt als Landkarte behandelt wird. Die ethnomethodologische Analyse ist detaillierter und arbeitet die Einzigartigkeit von Handlungen heraus, durch die ein Objekt in einer bestimmten Art und Weise in einem bestimmten Moment interaktiv konstituiert wird (z.B. BERGMANN 2005; EBERLE 1997; GOODWIN 2000; HEATH & LUFF 2000; HINDMARSH & HEATH 2000). Dieses konkrete Objekt der Interaktion rutscht der interaktionistischen Forschung aufgrund ihrer theoretischen und methodologischen Ausrichtung sowie ihrer Konzeption von Situation als relativ stabile Gegebenheit praktisch durch die Finger. Hier bieten, wie ich meine, ethnomethodologische Untersuchungen eine tiefere Einsicht. STRÜBING weiß sehr wohl um diese ethnomethodologische Forschung und nennt beispielsweise Lucy SUCHMANs (1987) herausragende Arbeit "Plans and Situated Action" (1987) (S.333). Er subsumiert sie jedoch unglücklicherweise unter die Aktivitätstheorie, ohne die gravierenden Unterschiede zwischen pragmatistischem Interaktionismus, Aktivitätstheorie und Ethnomethodologie anzusprechen. Dies sei hier aber nur am Rande vermerkt, da eine weitergehende Kritik in dieser Richtung an STRÜBINGs Buch, das den pragmatistischen Interaktionismus und seine Bedeutung für die Wissenschafts- und Technikforschung darstellen will, vorbeiginge. [30]
Das Buch ist für all diejenigen von Interesse, die im Bereich Wissenschafts- und Technikforschung und soziologische Theorieentwicklung arbeiten. Es wäre zu wünschen, dass es Eingang in die Leselisten der Technik- und Wissenschaftssoziologie wie auch der Soziologischen Theorie findet und so zu einer weiten Verbreitung des pragmatistischen Interaktionismus beiträgt. [31]
1) Hier sind vor allem MEAD (2005) und BLUMER (1969) zu nennen. <zurück>
2) Als herausragende Beiträge zur Entwicklung des Pragmatismus und seiner Bedeutung für die soziale Theorie sind hier für die deutschsprachige Soziologie natürlich Hans JOAS Publikationen zu nennen (z.B. JOAS 1985, 1992a, 1992b). <zurück>
3) STRÜBING führt hier LATOURs Konzept der "immutable mobiles" an. <zurück>
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Dirk VOM LEHN (PhD.) ist Research Fellow in "Work, Interaction and Technology", einem Forschungsteam im Department of Management am King's College London. Forschungsschwerpunkte: Soziale Interaktion und Technologie, Besucher- / Rezeptionsforschung und Ausstellungsdesign, Ethnomethodologie, Video-basierte Ethnografie.
Kontakt:
Dr. Dirk vom Lehn
Work, Interaction & Technology Research Group
Department of Management
King's College London
Franklin-Wilkins Building
150 Stamford Street
London SE1 9NH, UK
Tel.: +44 (0)207 8484314
Fax: +44 (0)207 8484479
E-Mail: Dirk.vom_lehn@kcl.ac.uk
URL: http://www.kcl.ac.uk/schools/sspp/mgmt/research/areas/work/index.html
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