Volume 15, No. 2, Art. 14 – Mai 2014

Tagungsbericht:

Babette Kirchner, Jule-Marie Lorenzen & Christine Striffler

Die Neuentdeckung der Ränder: Theorieinteressierte Exkursionen in Randgebiete des Sozialen. Alice Salomon Hochschule Berlin, 6.-7. März 2014

Zusammenfassung: Auf der diesjährigen Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) wurden mitunter äußerst differente theoretische Konzeptualisierungen und zahlreiche empirische Einblicke in diverse Felder von sogenannten gesellschaftlichen Rändern bzw. von Randgebieten des Sozialen vorgestellt. Eine Herausforderung stellt die Abgrenzung vom Rand zur Mitte dar, die es jeweils – alltagsweltlich wie auch soziologisch – zu konstruieren gilt, und die mitunter derart variabel erscheint, dass "Grenzarbeit" von mehreren Seiten geleistet wird: Die Konstruktion von Rändern ist für eine Gesellschaft wie auch für "kleinere" soziale Gesellungsgebilde notwendig, um sich der eigenen (individuellen) "normalen" Identität vergewissern zu können, oder um sich einer nach innen – mehr oder minder – homogenen "Randerscheinung" zugehörig zu fühlen. Die verschiedenen Beiträge exemplifizieren das, was bereits zu Beginn der Tagung konstatiert wurde: Je nach empirischer wie konzeptioneller Ausrichtung wird Gesellschaft bzw. das Soziale unterschiedlich definiert und damit werden auch die Ränder jeweils different abgesteckt.

Keywords: Wissenssoziologie; Randgebiete; Sozialkonstruktivismus

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitende Rahmung

2. Vorträge des ersten Tages

2.1 Soziologische Betrachtung von Pädophilie

2.2 Übergänge und Vermittlung

2.3 Dynamiken von Rand und Mitte

2.4 Marginalitäten

2.5 Forschungs- und Bioethik

2.6 Wachkoma

2.7 Autismus, Sterben und Tod

2.8 Soziale Ränder aus Sicht der Ungleichheitstheorie

3. Vorträge des zweiten Tages

3.1 Fragile Kooperationen

3.2 Kinder und Tiere

3.3 "Randgänger"

3.4 Sehbeeinträchtigungen und Demenz

3.5 Demenz

3.6 Grenzenlose Lebenswelt

4. Abschließende Zusammenfassung

Literatur

Zu den Autorinnen

Zitation

 

1. Einleitende Rahmung

Die Tagung wurde vom 6.-7. März 2014 von Ronald HITZLER, Hubert KNOBLAUCH und Dariuš ZIFONUN an der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH) ausgerichtet. Zu Beginn der Veranstaltung begrüßte Theda BORDE, die amtierende Rektorin der Alice Salomon Hochschule, die Teilnehmenden. In ihrer kurzen Rede fokussierte sie auf die Parallelen von an der ASH bearbeiteten Themenstellungen zum Anliegen der Tagung, besonders hob sie die sozialen Aspekte von als randständig bezeichneten Menschen hervor. Dazu zählten zu Zeiten Alice SALOMONs insbesondere Frauen, denen mit der Gründung der Hochschule eine weiterführende (Aus-) Bildung ermöglicht werden sollte. Auch gegenwärtig engagieren sich Dozent/innen wie Studierende der ASH für die Integration von immigrierten Menschen insofern, dass einige Seminare – inklusive technischer Ausstattung – in Flüchtlingsunterkünfte verlagert wurden, sodass außerhalb der Seminarzeiten die Flüchtlinge mittels Hochschul-PCs (inklusive Internetanschluss) den Kontakt zu ihren Angehörigen aufrechterhalten können. [1]

Die inhaltliche Eröffnung der Tagung übernahm Dariuš ZIFONUN mit der Feststellung, dass die empirische Wissenssoziologie unter den Schlagwörtern Pluralisierung und Individualisierung ein Bild von Gesellschaft gezeichnet hat, das diese als eine Art "Kuriositätenkabinett" erscheinen lasse und dabei die Frage, was als Gesellschaft gelte, nicht eindeutig beantwortet werden könne. Moderne Gegenwartsgesellschaften verlören ihre Mitte, Grenzen würden verschwimmen und das Fremde erscheine als Teil des Eigenen. Diversität und Differenz seien so in die alltägliche Lebensführung eingeschrieben. [2]

Die Wissenssoziologie habe sich – so ZIFONUN weiter – das methodische Verfahren der "Befremdung der eigenen Kultur" (HIRSCHAUER & AMANN 1997) und den Leitsatz von Robert E. PARK (1939; siehe zu PARKs Lebenswerk auch LINDNER 2006) – "a moral man cannot be a sociologist" – zu eigen gemacht. Gegenstände der Wissenssoziologie seien immer auch Fragen von Moralisierungsformen und -praktiken in und zwischen Milieus, Szenen und Subkulturen, in Organisationen und in Interaktionszusammenhängen. Ausgehend von dem Interesse an Dauerkonflikten und kommunikativen Endlosschleifen in Form von Klassifikationsprozessen sei es das Ziel der Tagung, sich mit gesellschaftlichen Rändern in konzeptioneller und theoretischer Hinsicht zu beschäftigen. Ränder des Sozialen seien hier als Bereiche zu verstehen, in denen das Unhinterfragte fragwürdig geworden sei und das Selbstverständliche nicht mehr gelte. Ränder würden zumeist kommunikativ hergestellt, könnten aber auch durch "zusammenbrechende" Kommunikation entstehen. Gleichzeitig ließen sich Randgebiete als "Kontaktzonen der Vermischung und Übersetzung" (ZIFONUN), aber auch als besonders dynamische Bereiche von Kommunikation konzeptualisieren. [3]

Mit sämtlichen Konzeptionen von Rändern müssten weitere Fragen geklärt werden, etwa: "Grenzen Randgebiete an das Nicht-Soziale oder stehen sie am Übergang zu anderen Formen der Sozialität?" Oder: "Wenn an den Rändern die Gültigkeit gemeinhin zentraler Normen nachlässt, herrschen dann alternative Normen oder Normlosigkeit?" Ein zentrales Anliegen der Tagung sei es daher, so ZIFONUN abschließend, bisherige Ansätze zu resümieren, Forschungsperspektiven zu eröffnen und zu fragen, wie sich eine Wissenssoziologie gesellschaftlicher Ränder in konzeptioneller und theoretischer Hinsicht entwickeln lasse. In pluralen Gesellschaften, in denen sich kaum mehr über gemeinsam geteilte Normen verständigt werden könne, erscheine "Grenzarbeit" umso notwendiger. [4]

2. Vorträge des ersten Tages

2.1 Soziologische Betrachtung von Pädophilie

Im Plenarvortrag setzten sich Daniela KLIMKE, Rüdiger LAUTMANN und Fritz SACK mit Grenzregimen der Sexualität und Pädophilie auseinander, indem sie zunächst eine historische Rekonstruktion der öffentlichen Wahrnehmung der Figur des/der Pädophilen – von einer bemitleidenswerten Existenz über eine in der Öffentlichkeit präsente, unbestimmte Kunstfigur hin zu einer Figur im (Foucaultschen) Sexualitätsdispositiv (FOUCAULT 1977) – vornahmen. Anschließend diskutierten sie, inwiefern auch in Deutschland von einem punitive turn gesprochen werden könne, demzufolge pädophile Delikte diskursiv als individuell-private, kriminelle Handlungen grundsätzlich nicht-therapierbarer Akteur/innen konstruiert würden. Ihr Resümee lautete entsprechend, da die Grenzen der Sexualität politisch bestimmt würden, dass sich eine Soziologie an ebendiesen Rändern vor allem mit den rechtstaatlichen Gesetzgebungen beschäftigen solle. [5]

2.2 Übergänge und Vermittlung

Im ersten Vortrag der Session "Übergänge und Vermittlung" stellte Heinz CORNEL zunächst heraus, dass es in der Kriminologie der Differenzierung zwischen Strafpraxis und Alltagsrückführung der bereits bestraften Täter/innen bedürfe und diskutierte strafrechtliche Kriminalpolitik zwischen programmatischer Punitivität und der Gestaltung von Übergängen aus dem Strafvollzug. Die programmatische und politisch-diskursiv verfolgte Punitivität beinhalte Strafverschärfungen, Reduzierungen des sogenannten offenen Vollzugs sowie grundsätzliche Tendenzen hin zu härteren und längeren Strafen. CORNEL diagnostizierte eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen "straffreudiger Rhetorik" und populistischer Programmatik mit einer Nicht-Umsetzung in der strafjustiziellen Praxis. Für die Alltagspraktiken der Strafjustiz lasse sich allerdings die These der punitiven Wende nicht bestätigen. In seiner Betrachtung von Übergängen aus der Haftentlassung konstatierte CORNEL ein notwendiges "Übergangsmanagement". Dieses sei notwendig, um die Durchführung von "resozialisierenden" Maßnahmen zu organisieren und um die komplexe Aufgabe der Statuspassage von Inhaftierten bis hin zur gesellschaftlich anerkannten (Re-) Integration zu vollziehen und der kriminologisch und sozialpolitisch angestrebten Vermeidung von straftätlichen "Rückfällen" begegnen zu können. [6]

Bernt SCHNETTLER und Bernd REBSTEIN stellten heraus, dass die Frage, ob und inwieweit migrantische Gruppen in Randgebieten zu verorten sind, zum einen empirisch am Einzelfall und zum anderen relational zu Bezugsgruppen gesehen werden müsse. In ihrer Darstellung des "fremdkulturellen Vermittlungsmilieus" bestimmen sie soziale Gesellungsgebilde als teilzeitweltlich und temporär begrenzt und deren Akteur/innen als ethnisch heterogen. Aus der Analyse von durch lateinamerikanische Immigrierte organisierten (Kultur-) Veranstaltungen hierzulande würden sich zwei, im sozialen Zentrum befindliche Typen innerhalb des migrantischen Milieus herauskristallisieren: die Erfahrenen und die Bewegten, die wiederum ein mehr oder weniger homogenes Verständnis der Sinnorientierung über das Milieu aufweisen würden. Aufgrund der Triade aus Unterhalten, Informieren und Überzeugen werde das fremdkulturelle Vermittlungsmilieu zu einem Teil der gesellschaftlichen Mitte. Migrationsforschung könne sich – so das Resümee von SCHNETTLER und REBSTEIN – daher nicht in der Erforschung (und der damit einhergehenden Konstruktion) von Randgebieten erschöpfen. [7]

2.3 Dynamiken von Rand und Mitte

In der Session "Dynamiken von Rand und Mitte" referierte Alexander LEISTNER zur Entwicklung und Stabilisierung der DDR-Friedensbewegung. In ihrer Entstehung seien soziale Bewegungen immer Randbewegungen, die zwar Kritik an den Normen der Gesellschaft übten, aber keine politischen Einflussmöglichkeiten hätten. Die in den Bewegungen sichtbaren Akteur/innen würden von Außenstehenden stigmatisiert und als Sonderlinge betrachtet. So habe in der DDR weniger ein aktiver Oppositionsgedanke als vielmehr die Erfahrung passiver Ohnmacht im Zentrum der subjektiven Erfahrung mit Abgrenzung gestanden. Dabei gehe die Fremdzuschreibung von Randständigkeit nicht mit der jeweiligen Selbstwahrnehmung einher. Vielmehr entstünden soziale Bewegungen mit einem "gebrochenen" Gefühl von Gemeinschaftlichkeit. Im Laufe der frühen Phase der Stabilisierung einer sozialen Bewegung wandle sich die Stigmatisierung zu einem Charisma des Andersseins, was wiederum zur Konstitution der Bewegung beitrage. Etikettierte Randfiguren könnten so zu Schlüsselfiguren sozialer Bewegungen werden. In der Dynamik des "Zeugnis Ablegens" komme es über die Veralltäglichung des Charismas zu bewegungsinternen Überbietungsdynamiken verschiedener Akteur/innen und damit einhergehend zur Stabilisierung der gesamten Bewegung, innerhalb derer wiederum mit Abgrenzungsbestrebungen Bezug zu gemeinsamen Randfiguren und Sonderlingen genommen werde. [8]

Peter ISENBÖCK stellte in seinem Vortrag "Rückzug und radikaler Selbstbezug als soziale Praxis" theoretische und methodologische Überlegungen zum Kloster als Randgebiet des Sozialen an. Klöster würden gemeinhin nicht als Randgebiet konstituiert; für ISENBÖCK stellte sich vielmehr die Frage nach den Grenzen des Sozialen, da das Beten als Kontemplation und das "Gespräch mit Gott" gemeinhin nicht als Kommunikation gesehen werde. Genauso wenig, wie ein psychisches System (LUHMANN exemplarisch: 1984) mit sich selbst kommunizieren könne, könne "im Gespräch mit Gott eine doppelte Kontingenz emergieren, vielmehr sei gerade das Schweigen ein Kommunikationsmedium im Gespräch mit Gott", so ISENBÖCK. Auch WEBER (exemplarisch: 2006 [1920]) zufolge sei das Gebet keine Form sozialen Handelns, da "Gott kein Anderer" sei und "das Du im Ich" hierbei nicht aufgehe. ISENBÖCK verwies in diesem Zusammenhang auf die Ambivalenz des weltflüchtigen Lebens im Kloster und die Paradoxie des mystischen Wissens. Wissen als Gefühlsqualität sei inkommunikabel, habe jedoch propositionalen Gehalt. [9]

Heiko KIRSCHNER zeichnete die Mechanismen der Popularisierung der sogenannten Randsportart "eSport" nach: Zentrales Anliegen sei dabei das unter Medieneinsatz und von Kommentator/innen begleitete publikumsorientierte Herunterbrechen der komplexen Spieler/innenhandlungen, da ansonsten die im raschen Spielverlauf eingesetzten Kompetenzen der Wettkämpfer/innen von unbeteiligten und unerfahrenen Beobachter/innen weder nachvollzogen noch verstanden werden könnten: Das begrenzende Zeigen und medienwirksame Aufbereiten spezifischer Ausschnitte des Spielgeschehens auch unter Nutzung von Livestreamtechnologien seien dabei wichtige Elemente. Gezielter Lichteinsatz wie auch die Schnittfolge und das Zeigen vorproduzierter Einspieler seien speziell darauf ausgerichtet, bei einem großen Publikum Identifizierung mit bzw. Zugehörigkeit zu den eher unnahbar wirkenden Spieler/innen zu evozieren. Durch die Inszenierung von "eSport"-Wettkämpfen als Events, die zunehmende Professionalisierung von Lifestreamtechnologien und die steigenden Zuschauer/innenzahlen erscheine die bei Nicht-Kenner/innen noch immer gültige Bezeichnung als randständig unpassend. [10]

2.4 Marginalitäten

In der Session "Marginalitäten" stellte zunächst Axel PHILIPPS die Frage, wie Betroffene die Peripherisierung als politisch kalkulierte Abkopplung erleben. Dabei hob er hervor, dass mit einer territorialen Marginalisierung keine vollständige Exklusion verbunden sein müsse. Vielmehr sei Marginalität potenzieller Bestandteil der Peripherie, wobei jedoch mit relationalen Beschreibungen die lokal zu verstehende periphere Lage zusätzlich symbolisch verstetigt werden könne. PHILIPPS schlug daher vor, den Prozess der Peripherisierung zu beschreiben, um so eine Loslösung vom Raumbegriff zu erzielen. Peripherie werde vom Zentrum aus betrachtet und als in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Zentrum stehend begriffen. Der Peripherie werde mangelnde Durchsetzungs- und Organisationsfähigkeit zugeschrieben. Potenzielle Konsequenzen der Etikettierung als Peripherie seien eine wachsende Unzufriedenheit über Tendenzen der "Entleerung" von ländlichen Räumen bis hin zu Protesten und Aufruhr als aktiver oder Resignation und Apathie als passiver Reaktion der je in der Peripherie Lebenden. [11]

Anja SCHÜNZEL und Boris TRAUE diskutierten Kollektivierungsformen von Marginalisierten. An den Beispielen der "Fat-Acceptance"- (Übergewichtige) und der "Pro-Ana"- (Magersüchtige) Bewegung, die sich gegen normative Bewertungen ihrer Körper aufgrund gesellschaftlicher Schönheitsideale bzw. sozialer Vorstellungen von Gesundheit wenden, zeigten SCHÜNZEL und TRAUE mittels wissenssoziologischer, visueller Diskursanalyse unterschiedliche Mechanismen des Umgangs mit als ungesund bezeichneten Körpern auf: Während auf der einen Seite Adipositas als Epidemie stigmatisiert werde, gelten die "Pro-Anas" als Bedrohung von noch nicht Hungernden. Zusammenfassend ließen sich themenspezifische Sehgemeinschaften konstatieren, die mittels Rekodierung von Körpern normative Grenzvorstellungen zu verschieben suchen. Werde bei "Fat-Acceptance" ebendies durch diskursive Grenzauflösungen und Veränderungen des Schönheitsideals versucht, so würden sich "Pro-Anas" eher um eine – mehr oder minder – selbstbestimmte Abgrenzung und Zugangsbeschränkung ihrer Gemeinschaft bemühen, innerhalb derer sie soziale Anerkennung zu finden suchten. [12]

Rebekka STRECK stellte mit drei empirischen Fallbeispielen aus der sogenannten "Offenen Drogenarbeit" die Frage, ob das Konstrukt der Randständigkeit eine geeignete Metapher sei, um den illegalisierten Drogenkonsum in den Forschungsblick zu bekommen. Sie zeigte auf, dass es sich bei einer sozial legitimen Aktualisierung der Kategorie "Junkie" um ein diskreditierendes Attribut im Sinne GOFFMANs (2005 [1963]) handele, das in der Interaktion aktualisiert werde. Über Dekategorisierungsbestrebungen würden Sozialarbeiter/innen die Kontrollfähigkeit der Substanzabhängigen Akteur/innen als Form der Körperdisziplinierung zwischen (gesellschaftlichem) Suchtdiskurs und individueller Entscheidungsfähigkeit betonen. Wissen über Drogenkonsum sei, so STRECK, nur zum Teil als randständig zu beschreiben (gehöre also nicht zwingend zu Sonderwissensbeständen). Vielmehr ließen sich im "Jedermannswissen" Mechanismen der doing inequality und der undoing addiction feststellen. [13]

2.5 Forschungs- und Bioethik

In der Session "Forschungs- und Bioethik" führte Paul EISEWICHT aufbauend auf Forschungserfahrungen zunächst weiterführende theoretische Überlegungen zu unterschiedlichen Strategien von Feldakteur/innen im Umgang mit der soziologischen Beforschung der "eigenen" kleinen sozialen Lebenswelt aus. Forschende würden als Gesandte der gesellschaftlichen Mitte in ein Feld "eindringen", das aufgrund des als gesellschaftlich illegal angesehenen Konsumhandelns eher in der Randständigkeit zu verorten sei. Dies bringe insofern die Gefahr mit sich, dass Forschungsinteressen nicht zwingend mit dem Schutz des Feldes einhergehen müssten. Mit Blick auf ethnografische Forschung betonte EISEWICHT weiter die unvermeidbaren Konsequenzen des existenziellen Engagements im und für das Feld bzw. für Feldakteur/innen. Forschende müssten daher zwischen eigenem wissenschaftlichen Nutzen und potenziellem Schaden beim Publizieren von sensiblen Felddaten abwägen. So müssten im Laufe der Forschung eng geknüpfte Beziehungen irgendwann wieder gelockert bzw. abgebrochen werden, was manche Feldprotagonist/innen mit einem Betrug oder Verrat gleichsetzen würden. Ebenso wenig könne eine vollständige Anonymisierung garantiert werden. Mögliches verantwortungsvolles Forschungshandeln könnten das Verschweigen von potenziell "heiklen" Daten oder die grundsätzliche Offenlegung sämtlicher Informationen gegenüber der scientific community sein, aber auch die Aufklärung der Beforschten über Vorgänge im Feld mit der Intention, deren Situation (vermeintlich) zu verbessern. [14]

Ausgehend von einer der Grundfragen der Tierethik zu artgerechter Haltung konstatierte Franz M. WUKETITS gleich zu Beginn seines philosophisch ausgerichteten Vortrags, dass Menschen nicht mehr artgerecht leben würden, da sie sich selbst – entgegen ihrer Natur – domestiziert hätten: Da Menschen "typische Kleingruppenwesen" seien, sinke bei steigender Gruppengröße die soziale Interaktion und damit auch die vormals übliche primäre soziale Kontrolle im kommunikativen Austausch erheblich. Für gegenwärtige Gesellschaften diagnostizierte WUKETITS eine öffentliche Überregulierung, die bis in private Bereiche hineinreiche; dies stelle insofern eine Kommunikationsverarmung dar, da an die Stelle individueller Verhandlungen überindividuelle Regelungen sowie eine zunehmende Überwachung aufgrund des anthropologischen Bedürfnisses nach Gesundheit und Sicherheit treten würden. Normierung ziehe damit auch Marginalisierung nach sich, da immer mehr Randerscheinungen, die eben nicht kongruent mit den gesetzten Normen seien, konstruiert würden. [15]

2.6 Wachkoma

Die Session "Wachkoma" startete mit einem Doppelvortrag von Annette GREWE und Ronald HITZLER. GREWE gab in einem historischen Abriss von der erstmaligen Visualisierung von Gehirnaktivitäten bis zu gegenwärtigen bildgebenden Verfahren einen Überblick über die Technologien und die jeweilige Aussagekraft der Bilder. Grenzen bestünden zum einen in einer potenziellen statistischen Repräsentativität und zum anderen in mangelnden Informationen über die Aufnahmesituation: Eine Beurteilung des Krankheitszustandes von Wachkomapatient/innen und eine Diagnose des Verlaufs seien kaum verlässlich zu treffen, da die produzierten Bilder allein keine Rückschlüsse auf das Bewusstsein des/der jeweils Untersuchten zuließen. Zudem könnten Bilder mit Hinblick auf das allgemeine gesellschaftliche Vertrauen in die (Natur-) Wissenschaften auch Eindrücke in direktem Kontakt mit Patient/innen bzw. Angehörigen irritieren und mithin manipulieren. [16]

HITZLER betonte, dass "sensible Kliniker/innen" bereits seit einiger Zeit konstatieren, dass Menschen im sogenannten Wachkoma irgendetwas von den sie umgebenden Menschen und Vorgängen "mitbekämen" und dies Konsequenzen im Umgang mit Ersteren nach sich zöge bzw. ziehen müsse. Auch in soziologischen Forschungen werde das "Bewusstsein" von Menschen im Wachkoma thematisiert. Dennoch sei das Grundproblem bislang nicht gelöst: Bewusstsein könne aufgrund von Kommunikation attestiert werden, was jedoch Menschen im Wachkoma nicht könnten. HITZLER stellte heuristische Idealtypen zur Deutung von Befindlichkeiten von Patient/innen im Wachkoma vor. Einhergehend mit dem körperlichen Verfall sei ebenso das soziale Sterben als Teil des Prozesses der schweren Erkrankung und damit die Position am "Rande zum Tod" im doppelten Sinne zu verstehen (siehe dazu in FQS auch den Beitrag von HITZLER 2012). [17]

Jessica PAHL referierte anschließend über communication breakdown und stellte fest, dass Fremdheit aufgrund von krankheitsbedingter "Nicht-Kommunikativität" – in ihrem Beitrag von Wachkomapatient/innen – konstruiert werde. Ein sozial-moralisches Dilemma ergebe sich insofern, dass Handlungen auf Deutungen basieren und Menschen mitunter versuchen würden, Letztere mit alternativen Kommunikationsmöglichkeiten zu stützen. Die Ungewissheit, ob das Gegenüber ein "sozial relevanter Anderer" sei, erzeuge Zweifel am Gegenüber und in sich selbst. PAHL ging auf die unterschiedlichen Deutungen des Bewusstseins im Symptomkomplex ein und verwies auf die hybriden Deutungscluster, welche den Untersuchungs-"Gegenstand" bestmöglich plausibilisierten. Letztendlich stehe das soziale Umfeld eines/einer Schädel-Hirnverletzten unter permanentem Deutungsdruck. [18]

2.7 Autismus, Sterben und Tod

In der Session "Autismus, Sterben und Tod" stellte Richard BETTMANN – nach einer Klärung der vorhandenen medizinischen Diagnostik, die Frage "Where is George?" und stützte seinen Vortrag "Zur kommunikativen Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit im Umgang mit Autisten" auf persönliche Erfahrungen. Trotz bereits seit mehreren Jahrzehnten bestehenden Diskursen zu frühkindlichem Autismus und dem Asperger-Syndrom seien nicht nur die Ursachen der jeweils komplexen Symptomatik weitgehend unklar, sondern es würden auch Handlungsempfehlungen für die unmittelbare Kommunikation in alltagsweltlichen Situationen fehlen. Insbesondere Letzteres sei gesellschaftlich insofern brisant, da durch die Diagnose an den Rand der Gesellschaft Verwiesene im Zuge gegenwärtiger Schulkonzepte zur sogenannten "Inklusion" in die Mitte "geholt" werden sollen. Wie die kommunikative Integration in den schulischen wie auch den weiteren "normalen" Alltag funktionieren solle, bleibe ungewiss. [19]

Werner SCHNEIDER und Stephanie STADELBACHER thematisierten das Sterben als Verrandständigung des Sozialen, indem sie am Beispiel der ambulanten Hospiz- und Palliativarbeit – mit wissenssoziologischem Fokus – betrachteten, wie sich der Prozess des Sterbens vollzieht. Durch die leibhafte Verlagerung in eine entsprechende Einrichtung würden bald Sterbende auch symbolisch aus anderen sozialen Gruppen unwiederbringlich, für die Weiterlebenden mithin still ausgegliedert. Gegenwärtige Überlegungen zum "guten Sterben" ließen sich im jeweiligen häuslichen Umfeld begleiteten Prozess als Zentrierung des Todes (nicht in der Gesellschaft, sondern) im jeweiligen privaten Umfeld und als "letztes Lebensprojekt" des Sterbenden interpretieren. [20]

Mit der Randständigkeitskonstruktion, in die Eltern mit dem Tod ihrer ungeborenen Kinder geraten, beschäftigte sich Julia BÖCKER. Bei Todesfällen gelten gesetzlich bestimmte Bestattungsregeln, welche die Grenze von Leben und Tod entscheidend definieren. Für den Tod ungeborener Kinder fehle eine solch klare Rechtsgrundlage, weswegen damit auch die gesellschaftlich anerkannte Sozialität infrage gestellt sei. Durch einen sehr unterschiedlichen Umgang mit der fehlenden Rechtsgrundlage entstünden bei dem Wunsch, das eigene, bereits vor der Geburt gestorbene Kind dennoch bestatten zu dürfen, unterschiedliche Trauerkulturen. BÖCKER stellte erste Vorerhebungen ihres Dissertationsvorhabens vor, in dem sie Trauerforen als soziale Orte untersucht, in denen Grenzen des Sozialen und deren Variabilität neu ausgehandelt werden. [21]

2.8 Soziale Ränder aus Sicht der Ungleichheitstheorie

Im abschließenden Abendvortrag stellte Nicole BURZAN die wissenschaftliche Konstruktion sozialer Randgebiete aus Sicht der Ungleichheitstheorie vor. Aus der Makroperspektive würden hier komplexe Lebenschancen und -bedingungen auf vereinfachende Modelle heruntergebrochen: Mittels grafischer Darstellungen verschiedener Schichtungsmodelle (wie z.B. der "Bolte-Zwiebel", dem Dahrendorfschen "Hausmodell" oder mehrdimensionaler Modelle) werde soziale Ungleichheit visualisiert. Dabei seien eher vertikale – weniger horizontale – Dimensionierungen ausschlaggebend für die Definition von Grenzen sowie für die forscher/innenseitige Diagnose von potenziellen Lebenschancen: So hätten Menschen, die in unteren Bereichen der grafischen Modelle verortet werden könnten, tendenziell weniger Lebenschancen als diejenigen in oberen Bereichen der Darstellungen. Die Größe der jeweils modellhaft dargestellten sozialen Felder (wie z.B. die der Zielgruppentypologie in den "SINUS-Milieus") sei hingegen für die Konstruktion von Randständigen als irrelevant einzuschätzen. BURZAN ergänzte ihren umfassenden Überblick über den Umgang mit visuell aufbereiteten Ergebnissen der Ungleichheitsforschung durch exemplarische Verweise auf graduell angelegte Modelle, in denen eine Abstufung vom Zentrum zur Peripherie vorgenommen werde. [22]

3. Vorträge des zweiten Tages

3.1 Fragile Kooperationen

Den zweiten Tag eröffneten Hans-Georg SOEFFNER und Ronald KURT mit ihren theoriebasierten und empirisch gestützten Überlegungen, wie soziale Kooperation funktioniert. In einem konzeptionellen Dreischritt von Ko-Existenz über Ko-Orientierung hin zu Ko-Operation lasse sich gesteigerte soziale Interaktion analytisch fassen: Personen könnten gleichzeitig anwesend sein, allerdings nicht miteinander interagieren (Ko-Existenz), sich an Anderen orientieren, aber nicht gemeinsam handeln (Ko-Orientierung) oder beispielsweise gemeinsam arbeiten bzw. sich im Handeln – mitunter spielerisch – aneinander ausrichten (Ko-Operation). Vor diesem Hintergrund könne einerseits in jeder Gesellschaft – insbesondere in einer pluralistischen – eine Person symbolisch an den sozialen Rand gerückt werden. Bereits SIMMEL (exemplarisch: 2008 [1873]) wie auch WEBER (1976 [1922]) hätten betont, dass der größte Rand einer Gesellschaft das Individuum sei, da dieses nicht vollständig sozial sei. Jedes Individuum könne "exkommuniziert" werden oder sich selbst "exkommunizieren", also sich aus sozialen Interaktionen herausnehmen. Andererseits würden Menschen ebendiese randständigen "Monster" benötigen, um sich der eigenen Position in der sozialen Mitte (im Sinne einer Dichotomisierung zwischen normal vs. unnormal) vergewissern zu können. [23]

3.2 Kinder und Tiere

In der Session "Kinder und Tiere" diskutierten Florian MUHLE und Tilmann SUTTER die Grenzen der Adressabilität. Mit einer kommunikativen Bestimmung des Sozialen verstehen sie eine vollzogene kommunikative Adressierung von Personen als Inklusion. Personen würden hierbei nicht als "ganze Menschen", sondern als Kommunikationsadressat/innen konzipiert. Inklusion werde damit nicht als Teil eines binären Begriffspaares (Inklusion vs. Exklusion), sondern als nach Inklusionsmodi und Inklusionsintensitäten differenzierbares, multipel divergentes Phänomen verstanden. Anhand zweier empirischer Beispiele (der triadischen Kommunikationssituation zwischen zwei Erwachsenen und einem Kind sowie einer virtuellen Kommunikationssequenz in "Second Life", einer Online-Fantasiewelt mit über 35 Millionen Nutzer/innen) legten sie dar, dass soziale Adressen nicht direkt auf die Eigenschaften der Adressierten zurückgeführt werden könnten, sondern eine genaue Analyse von Adressabilität und Personenstatus vonnöten sei. Eine ergebnisoffene Untersuchung von Kommunikation könne zur Verortung als sozial randständig mit graduell abgestuften Inklusionsbereichen führen. [24]

Überlegungen zu räumlicher und sozialer Nähe bzw. Ferne am Beispiel der Tiere stellte Dennis KIRSCHSIEPER an und fragte, wie in modernen Gesellschaften dichotome und verschiedenartige Mensch-Tier-Verhältnisse gefasst werden können. Er plädierte für eine differenztheoretische Perspektive, die es ermögliche, die Unterscheidung von Heimtier vs. Nutztier zu überwinden, um multiple Mensch-Tier-Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Zentral sei dann die Frage, in welchen gesellschaftlichen Bereichen Tieren Kommunikationsfähigkeit im Sinne einer doppelten Kontingenz zugeschrieben werde. KIRSCHSIEPER sprach sich für eine kulturhistorische Perspektive auf die Domestikationsgeschichte aus, um die Integration und die Funktion von gleichen Tieren in verschiedenen gesellschaftlichen (Funktions-) Bereichen zu untersuchen. [25]

3.3 "Randgänger"

Die Session "Randgänger" eröffnete Reiner KELLER mit einem Plädoyer für die Ausweitung der Soziologie der Randgebiete über kategoriale und organisationale Ränder hinweg zu einem Verständnis von fluiden Randgebieten. Dazu sei weniger eine Theorie der Ränder als vielmehr eine Analytik der Randgebiete notwendig, die kausaler Demultiplikation, empirischer Forschung und theoretischer Konzepte bedürfe, um über den Einzelfall hinausgehen zu können. Eine diskursanalytische Betrachtung mit Konzepten wie FOUCAULTs Heterotopien (2006 [1967]) und daran anschließend LINKs Protonormalismus und flexiblem Normalismus (2013) ermögliche eine Untersuchung von Randzonen innerhalb der Gesellschaft. Während aus einer Perspektive der Protonormalität klare, abgegrenzte Bereiche mit eindeutigen Zugehörigkeiten an der Peripherie fokussiert werden könnten, führe die analytische Perspektive der flexiblen Normalität zu selbst produzierten Orten, die möglicherweise in der gesellschaftlichen Mitte lägen. Anhand des empirischen Falls des sogenannten Rotlichtmilieus rekonstruierte KELLER die Figuren des Guten, Bösen und Hässlichen in Verschränkung von Protonormalismus und flexiblem Normalismus. Heterotopien hingegen seien als gesellschaftliche Archipele zu verstehen, die aber nicht als empirisch vorfindbare Orte, sondern als Ergebnis von Diskursen, Dispositionen und Praktiken entstünden. [26]

Thomas KRON legte in seinem Vortrag zunächst Charakteristika eines modernen Manichäismus dar. Während Licht und Finsternis in einer frühen Epoche klar voneinander getrennt worden seien, komme es in der Gegenwart zu einer beständigen Vermischung. Eine treffende Gegenwartsdiagnose sei die der "perfekten Ambivalenzvernichtung". In Ausführungen zu den Figuren des "Zombies, Cyborgs, Terroristen und Amokläufers" legte KRON dar, dass sich bei steigender gesellschaftlicher Komplexität eine Zunahme von Hybriden beobachten lasse, mit denen das gesellschaftliche Abgrenzungskonzept des Manichäismus zunehmend unter Druck gerate, also Randkonstruktionen stetig verschwimmen würden. [27]

Für die Analyse von Rändern und Randfiguren und sich daraus ergebenden methodologischen wie auch theoretischen Herausforderungen schlug Nico LÜDTKE die Konzeption einer historischen Wissensordnung vor, die zwei wesentliche Kriterien erfülle: Einerseits solle mit der Offenhaltung von Sozialität auf anthropologisch fundierte Konzepte menschlicher Personalität verzichtet werden, und andererseits könne eine soziologische Konzeptualisierung der symbolischen Erzeugung und Reproduktion sozialer Ordnung ohne bereits zuvor feststehende Konzepte auskommen. LÜDTKE führte auf Basis von PLESSNERs Mitwelt (1965) sowie BERGER und LUCKMANNs gesellschaftlicher Konstruktion der Wirklichkeit (2012 [1966]) seinen Ansatz der historischen Wissensordnungen aus: Aufbauend auf seinen historischen Analysen politischer Legitimierung der spanischen Eroberung Amerikas schlug er die Verwendung der Begriffe Wissensordnung, Wissenspraktiken und Wissenspraxen vor. Unter Wissenspraxen könnten zeitlich-dynamische Prozesse erfasst und damit auch die Abkehr von strukturalistischen Konzeptionen vollzogen werden. Mit dem Konzept der historischen Wissensordnung ließen sich essenzialistische Begriffsbildungen und ontologisierende Beschreibungen vermeiden. [28]

3.4 Sehbeeinträchtigungen und Demenz

In der Session "Sehbeeinträchtigungen und Demenz" stellten Carsten BENDER und Marion SCHNURNBERGER Zwischenergebnisse ihrer "wahrnehmungssensiblen lebensweltlichen Ethnografie" vor. Randständigkeit definierten sie ausgehend von der Physiologie des Sehens exemplarisch mit den Krankheitsbildern der altersbedingten Makuladegeneration und des Glaukoms. Die Dichotomisierung von Sehen und Nicht-Sehen müsse in der jeweils individuell höchst unterschiedlichen Auffassung von Wahrnehmungsqualität und Gesichtsfeld verstanden werden. Aufbauend auf Forschungsergebnissen von HONER (2011) bedeute schlecht oder gar nicht sehen zu können für einen Menschen, der sich an diese Situation noch nicht gewöhnt habe, räumliche, zeitliche wie eben auch soziale Orientierungsprobleme zu haben. Mit ihrer Ausgangsannahme, dass ein enger Zusammenhang zwischen Bewegung, Wahrnehmung und Handlung bestehe, wollen BENDER und SCHNURNBERGER die soziale Situation und die Wahrnehmung von Menschen mit Sehverlust im Alter in das Zentrum des soziologischen Verstehens rücken. [29]

Christine KELLER stellte ihre Überlegungen zur Interaktion und Kommunikation am Rande des Sozialen vor, indem sie die Verortung von Rand und Mitte problematisierte: Ihre Frage lautete, ob ein demenziell erkrankter Mensch am Rand, hingegen ein hellwacher, erwachsener, normaler Mensch (im Schützschen Sinne, siehe SCHÜTZ & LUCKMANN 2003 [1975], S.29) in der Mitte zu verorten sei. Mittels "integrativer Validation" (IVA), einem populären sogenannten Kommunikationskonzept, soll der Umgang mit Menschen mit Demenz zumindest hinlänglich erleichtert werden. Kommunikation werde hierbei weniger als eine dichotome, exkludierende Kategorie (Kommunikation versus Nicht-Kommunikation) verstanden als vielmehr als ein Kontinuum, innerhalb dessen – wie auch immer – ein Zugang zur Lebenswelt der Patient/innen gefunden werden solle. Auf der Rekonstruktion dieses nicht wissenschaftlich fundierten Konzepts, welches vielfach in der Pflegepraxis eingesetzt wird, liegt KELLERs Forschungsfokus. [30]

3.5 Demenz

In einer weiteren Session zu "Demenz" hat Sven ZIEGLER – auch im Namen der auf der Tagung anwesenden Thomas BEER und Helma M. BLESES – unter dem Titel "Menschen mit Demenz und robotische Assistenzsysteme – zwei 'Akteure' am Rande des Sozialen?" Überlegungen aus der Pflegewissenschaft am Rande der Wissenssoziologie vorgetragen. Demenz als pathologische Krankheit könne gleichzeitig als ge- und beschützter marginalisierter Raum verstanden werden. Sie sei "Schotter im Getriebe der Gesellschaft", so ZIEGLER, da die Kommunikation hier zum Teil anders als gewohnt ablaufe. Dargestellt wurde ein Aspekt eines von Pflegewissenschaftler/innen in Kooperation mit Ingenieurwissenschaftler/innen initiierten Projekts. Der Fokus liegt auf der potenziellen Evozierung von Emotionen von Menschen mit Demenz durch "robotische Assistenzsysteme" und damit der Zuschreibung einer sozialen Situation zwischen "robotisch" betreuten Menschen und "robotischem Assistenzsystem". [31]

Sabine NOVER stellte – auch stellvertretend für die nicht anwesende Birgit PANKE-KOCHINKE – Zwischenergebnisse ihrer Diskursanalyse zu Alzheimer-Demenz, ihrer Beobachtungen des Alltags und ihrer Interviews mit Angehörigen von Menschen mit Frontotemporaler Demenz vor. Die für die Forschung aufgestellte Frage nach der "Innen- und Außensicht" (im Sinne von Selbst- und Fremdwahrnehmung) werde hierbei durch sozial gesetzte Normen wie auch durch die gesellschaftlich objektivierte Vernunft geleitet. Dementsprechend würden vor allem soziale Erwartungen, Irritationen (in) der Öffentlichkeit und verschiedenartiger Umgang mit sozialem Druck der Angehörigen wie auch der Erkrankten erforscht. [32]

Anja KAUPPERT plädierte für eine heuristische Konzeptualisierung sozialer Ränder mittels systemtheoretischer Phänomenologie am Beispiel von weit fortgeschrittener Demenz. Ihre Ausgangsüberlegung lautete dabei, dass das Soziale nicht auf ein – bei Demenz weitgehend ungesichert vorhandenes – Bewusstsein zurückgeführt werden könne, sondern der soziale Prozess phänomenologisch fokussiert werden müsse: In "Leibsystemen" würden Menschen Sympathien wie auch Antipathien erspüren, Leiber würden sich verknüpfen, Emotionen und (An-) Spannung würden übertragen. Insbesondere die pflegerisch positiv gewertete Reaktion von Menschen mit Demenz auf anwesende Kinder lasse Rückschlüsse auf die bedeutungsvolle(re) Leibebene und die bedeutungsärmere sprachliche Interaktion zu. [33]

3.6 Grenzenlose Lebenswelt

Im abschließenden Plenarvortrag "Die Grenzlosigkeit der kommunikativen Lebenswelt" betonte Hubert KNOBLAUCH, dass das Wort Rand eine räumliche Metaphorik bereits enthalte und dementsprechend der Begriff der Grenze nicht zwingend notwendig sei. Unter Bezug auf klassische Analysen der Grenzen des Sozialen setzte KNOBLAUCH an der Vorstellung des modernen Nationalstaates an, ging aber darüber hinaus: In Zentrum-Peripherie-Modellen seien Rand und Grenze nicht nur Metaphern, sondern auch Modelle: Tote, Irre, Straftäter/innen o.Ä. würden nicht "lediglich" an den Rand gedrängt, sondern abgegrenzt. Grenzen des Sozialen seien demnach mit Macht durchgesetzt. Grenzen seien dort, wo das Leben beginne oder aufhöre, und dennoch nicht zwingend an biologische Prozesse gekoppelt. Lebenswelt lasse sich – mit SCHÜTZ und LUCKMANN (2003 [1975]) gesprochen – demnach als die Welt fassen, in der Menschen sinnhaft mit anderen leben. Grenzen seien in diesem Modell nicht enthalten. Grenzen würden stattdessen kommunikativ, z.B. mit der Kategorisierung des Sozialen, gezogen. [34]

4. Abschließende Zusammenfassung

Zusammenfassend lassen sich die Vorträge der Tagung differenzieren entlang der jeweiligen Betrachtung der sozialen Konstruktion von Randständigkeit, der Erforschung von gesellschaftlich als Ränder bezeichneten Phänomenen (die z.B. wiederum ein eigenes Zentrum haben) wie auch in der gesellschaftlichen Funktion der Ränder (z.B. zur Konstruktion des Zentrums). Randgebiete werden demnach sowohl sozial als auch in der soziologischen Analyse nicht ausgeschlossen, sondern sind stets konstitutiver Teil der Gesellschaft. Kritische Anmerkungen bis hin zu Plädoyers für eine Perspektive, bei der politisch konstruierte Ränder – alltagsweltlich distanziert und systematisch reflektiert – in die soziologische Betrachtung übernommen werden, wurden formuliert: So ist eine allgemeine Heuristik, wie Ränder (ausgehend von "Normalität" bis hin zum "Anormalen") im Feld bzw. in der Gesellschaft definiert werden, denkbar (so der Tenor zahlreicher Vortragender). [35]

Insgesamt wurde auf der Tagung eine große thematische Spannbreite dargelegt: Neben konzeptionellen Vorträgen zur Frage der theoretischen Rahmung von Randgebieten und dem jeweiligen analytischen Beitrag (etwa aus strukturfunktionalistischer, sozialkonstruktivistischer oder systemtheoretischer, aber auch aus philosophischer oder praxisorientierter Perspektive) waren es auch die Fragen nach den Grenzen des Sozialen, die in einer Vielzahl von Beiträgen zentral gesetzt wurden: beispielsweise zu den Grenzen des Lebens wie auch zur Abgrenzung von (Weiter-) Lebenden besonders in Auseinandersetzung mit schweren Erkrankungen, altersbedingtem körperlichem Verfall und dem Tod. Theoretische wie auch empirische Reflexionen wurden vielfach an der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit unternommen und damit Randgebiete auch wissenschaftlich konstruiert, so z.B. mit Fokus auf potenzielle Kommunikation mit Autist/innen, Dementen oder Menschen im sogenannten Wachkoma. Ebenso wurde berücksichtigt, welche Handlungs- oder Deutungsprobleme entstehen (können), wenn ungeborenen Kindern bezüglich staatlich festgelegter Bestattungsgesetze die soziale Zugehörigkeit zu ihren Eltern abgesprochen wird, wenn Menschen mit nicht regenerativen Sehbeeinträchtigungen sich auch sozial neu "zurecht finden" bzw. vielmehr "zurecht suchen" müssen oder wenn Tieren verschiedene soziale Funktionen (entweder als Nutztier z.B. als menschliche Nahrung oder als "treuer Begleiter" des Menschen) zugeschrieben werden. [36]

Unabhängig von der Spezifizität verschiedener Felder ergeben sich weitere Fragen, die hier lediglich exemplarisch aufgeführt werden und die je empirisch und/oder theoretisch zu klären sind: Ist soziale Randständigkeit immer an eine Minderheit gebunden und könnte sich – durch eine steigende Zahl an Teilnehmer/innen – die vermeintliche Minderheit vom Rand zur Mitte entwickeln? Weitergedacht: Wird dann der Betrachter/die Betrachterin aus der (ursprünglichen) Mitte wiederum randständig? Lässt sich Randständigkeit für sämtliche sozialen Phänomene – schlicht in Abhängigkeit von der jeweils eingenommenen (alltagsweltlichen oder wissenschaftlichen) Perspektive – konstatieren? [37]

Die Vielzahl und Diversität der vorgetragenen Themen lassen auf einen Forschungsbedarf schließen, der sich auch damit begründen lässt, dass Menschen in pluralistischen Gesellschaften zum einen kaum mehr auf gemeinsam geteilten Normen oder Handlungs- und Deutungsmustern aufbauen können und zum anderen zunehmend mit der symbolischen "Verteidigung" ihrer je sozial gezogenen Grenzen beschäftigt sind. Die Mechanismen und Bedeutungszuschreibungen ebendieser Konstruktionen sozialer Randgebiete stellen ein spannendes und – mitunter – auch ein spannungsgeladenes Unterfangen dar, mit dem sich die oben erwähnten Vortragenden befasst haben. [38]

Literatur

Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (2012 [1966]). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (24. Aufl.). Frankfurt/M.: Fischer.

Foucault, Michel (1977). Sexualität und Macht. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Foucault, Michel (2006 [1967]). Von anderen Räumen. In Jörg Dünne & Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (S. 317-329). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Goffman, Erving (2005 [1963]). Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hirschauer, Stefan & Amann, Klaus (Hrsg.) (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hitzler, Ronald (2012). Die rituelle Konstruktion der Person. Aspekte des Erlebens eines Menschen im sogenannten Wachkoma. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(3), Art. 12, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1203126 [Zugriff: 20.05.2014].

Honer, Anne (2011). Kleine Leiblichkeiten. Erkundungen in Lebenswelten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Lindner, Rolf (2006). Robert E. Park. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie 1. Von Auguste Comte bis Alfred Schütz (5. überarb. und akt. Aufl., S.215-231). München: Beck.

Link, Jürgen (2013). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Luhmann, Niklas (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Park, Robert Ezra (Hrsg.) (1939). An outline of the principles of sociology. New York: Barnes & Noble.

Plessner, Helmuth (1965). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (2. erw. Aufl.). Berlin: de Gruyter.

Schütz, Alfred & Luckmann, Thomas (2003 [1975]). Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UVK.

Simmel, Georg (2008 [1873]). Individualismus der modernen Zeit – und andere soziologische Abhandlungen (ausgewählt und mit einem Nachwort von O. Rammstedt). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Weber, Max (1976 [1922]). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie (hrsg. von J. Winckelmann, 5. Aufl.). Tübingen: Mohr.

Weber, Max (2006 [1920]). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (hrsg. von D. Kaesler, 2. durchges. Aufl.). München: Beck.

Zu den Autorinnen

Babette KIRCHNER, geb. 1983, M.A. (Tourismusmanagement, Vertiefung Freizeitsoziologie), B.A. (Tourismusmanagement), seit 2010 am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie. Forschungsschwerpunkte: hermeneutische Wissenssoziologie, posttraditionale Vergemeinschaftungen, Eventforschung, lebensweltanalytische Ethnografie im Sportklettern und Bouldern mit besonderem Fokus auf verhandelte Geschlechtermuster.

Kontakt:

Babette Kirchner

Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie
Technische Universität Dortmund
D-44221 Dortmund

Tel.: +49 (0)231-755-6271
Fax: +49 (0)231-755 2817

E-Mail: babette.kirchner@fk12.tu-dortmund.de
URL: http://www.hitzler-soziologie.de

 

Jule-Marie LORENZEN, geb. 1981, Dipl. Soz. tech., TU Berlin, seit 2012 Promotionsstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Wissens- und Bildungssoziologie, Grenzen- und Übergangsforschung, Praxis- und Kapitaltheorie BOURDIEUs, Methoden der empirischen Sozialforschung, besonders hermeneutisch-rekonstruktive Verfahren. Laufende Promotion zu Mentoring als Form des Übergangsmanagements am Übergang Schule-Ausbildung/Studium.

Kontakt:

Jule-Marie Lorenzen

Technische Universität Berlin
Fakultät VI: Planen Bauen Umwelt
Institut für Soziologie
Fraunhoferstraße 33-36
Sekretariatszeichen FH 9-1
10587 Berlin

E-Mail: lorenzen@campus.tu-berlin.de
URL: http://www.tu-berlin.de/?id=130006

 

Christine STRIFFLER, geb. 1986, M.A. (Alternde Gesellschaften), B.Sc. (Oecotrophologie), seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie. Forschungsschwerpunkte: hermeneutische Wissenssoziologie, Lebensweltanalyse von Menschen mit Demenz, Konsummilieus älterer Menschen.

Kontakt:

Christine Striffler

Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie
Technische Universität Dortmund
D-44221 Dortmund

Tel.: +49 (0)231-755-2178
Fax: +49 (0)231-755 2817

E-Mail: christine.striffler@tu-dortmund.de
URL: http://www.hitzler-soziologie.de

Zitation

Kirchner, Babette; Lorenzen, Jule-Marie & Striffler, Christine (2014). Tagungsbericht: Die Neuentdeckung der Ränder: Theorieinteressierte Exkursionen in Randgebiete des Sozialen [38 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 15(2), Art. 14,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1402148.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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