Volume 16, No. 3, Art. 29 – September 2015



Das dialogische Selbst zwischen simultaner Pluralität und Halt verleihenden Sprachpraktiken

Marie-Cécile Bertau

Review Essay:

Frank-M. Staemmler (2015). Das dialogische Selbst. Postmodernes Menschenbild und psychotherapeutische Praxis. Stuttgart: Schattauer; 440 Seiten, 7 Abb.; geb. € 49,99 (D) / € 51, 40 (A); ISBN (Buch): 978-3-7945-3114-1; ISBN (eBook PDF): 978-3-7945-6931-1

Zusammenfassung: "Das dialogische Selbst" von Frank-M. STAEMMLER ist ein wichtiger Beitrag zu einem dialogischen Menschenbild, das von verschiedenen Seiten als Alternative zur methodologischen Individualismus formuliert wird. Der Zusammenhang zwischen einer dialogischen Theorie des Selbst und konkreten therapeutischen Techniken wird einleuchtend hergestellt; klar wird dabei, dass dialogisches Denken eine Herausforderung an tradierte Denkmuster ist. Es sabotiert die Denkfigur der "abgelösten Vorgängigkeit" (BERTAU 2015) (von "Ich", "Selbst") zugunsten des je tatsächlichen Geschehens. Allerdings können Pluralität und Dynamik, Performativität und Gegenwärtigkeit des Geschehens ihrerseits nicht beliebig sein und bloß emergent, sie erfahren vielmehr eine Struktur, ohne die sie nicht (wieder-) erkennbar wären. Wie das Verhältnis von Geschehen und Struktur zu denken ist, scheint mir eine der Kernfragen des dialogischen Denkens zu sein. Nach einer formalen Betrachtung und inhaltlichen Übersicht des Buchs diskutiere ich diese Frage entlang STAEMMLERs eigenen Ideen über zwei Themen: Pluralität und Sprache. Das Verhältnis von Geschehen und Struktur ist demnach über die sprachliche Form in der Zeit, über die Zeit, zu denken. Angeredetwerden von einem "Du", das immer auch das allgemeine "Man" (oder "Wir") stellvertritt, verleiht dem "Ich" als dialogischem Selbst Stabilität in der Vielfalt. Der Schritt zur Öffnung der Intersubjektivität ins Öffentliche wird damit als notwendiges Moment zur Überwindung des Individualismus angesehen.

Keywords: dialogisches Selbst; sprachliche Tätigkeit; Stimme; Position; "Drittes"; Intersubjektivität; Öffentlichkeit; Gestalttherapie

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung – dialogisches Denken und Formung "im Zwischen"

2. Synopse

2.1 Form und "vokale Strukturierung" des Buchs

2.2 Kapitelübersicht

3. Pluralität

3.1 Problemaufriss: Simultane Pluralität und Kohäsion

3.2 Kontakt – Formen der Berührung

3.3 Komplexität: Vagheit und "Drittes"

4. Sprache

4.1 Sprache in der Logik des Du-Ich

4.2 Sprache als Rede: HUMBOLDTs energeia

4.3 Formungen im Zwischen, sprachliche Gestalten

4.4 Inneres Sprechen – selbstregulatives Sprechen

5. Schluss: das Selbst im Sprechen der Anderen

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung – dialogisches Denken und Formung "im Zwischen"

Frank-M. STAEMMLERs Buch "Das dialogische Selbst" ist die Summe von Erfahrungen theoretischer und praktischer psychologischer Tätigkeit, eben dies macht die Qualität der umfassenden Zusammenschau und die Feinheit des hier entfalteten Denkens aus. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einem dialogischen Menschenbild, das seit einigen Jahren als Alternative zum methodologischen Individualismus formuliert wird (z.B. BERTAU 2011; GERGEN 2009; LINELL 2009; SHOTTER 1993; TAYLOR 1991; WEIGAND 2009)1) – für die Psychologie ist hier insbesondere die "Dialogical Self Theory" (HERMANS & GIESER 2012) zu nennen. In diesen Ansätzen werden häufig philosophische, sprachtheoretische und -psychologische Strömungen des beginnenden 20. Jahrhunderts explizit dialogischer Ausrichtung aufgenommen (BUBER, BACHTIN, VOLOŠINOV), z.T. in Verbindung mit kulturhistorischer und tätigkeitstheoretischer Psychologie derselben Zeit (VYGOTSKIJ, LEONT'EV, LURIA). Auch STAEMMLERs Buch zeigt diese doppelte Affinität, es gewinnt nicht zuletzt daraus seine spezifische Ausprägung. [1]

STAEMMLER setzt sich mit dem dialogischen Menschenbild aus gestalttherapeutischer Sicht auseinander, und dies ist mehr als eine akademische Übung. Denn STAEMMLER ist zu einer Erkenntnis gekommen, die deutlich macht, dass der Gewinn einer weiträumigen Verbindung von Konzepten und Theorien in einer qualitativen Veränderung des Schon-Gewussten liegt. In früheren Arbeiten war der Autor bereits zu dem grundlegenden Standpunkt über die "enge psychische Verflochtenheit zwischen Menschen" gekommen (S.3). Die zentrale Rolle des/der Anderen wird STAEMMLER über die Interiorisierungstheorie VYGOTSKIJs (1992 [1930]) klarer, der/die Andere ist in genetischer (entwicklungsmäßiger) Sicht für Bildung und Dynamik des Selbst zu denken: "Denn genau in diesem Zusammenhang wurde mir klar, auf welche Weise jene gestalttherapeutischen Techniken [...] ihre mich selbst immer wieder verblüffende große Wirksamkeit gewinnen" (STAEMMLER, S.3). Die Gestalt "Selbst" wird genetisch gelesen und pluralisiert, sie hat eine dezidiert über je besondere Andere führende, dynamisch-vielfältige, eine mehrstimmige Qualität. Ihr leiblicher und ihr sprachlicher Ausdruck sind zutiefst alterisiert und damit nicht mehr im Rahmen des Individualismus zu verstehen. Es handelt sich um ein heuristisches Buch, das einen Ideenweg nachzeichnet, sodass die Lesenden den Zusammenhang zwischen einer Theorie des Selbst, die einem bestimmten Menschenbild entspricht, und konkreten therapeutischen Techniken herstellen können. Wegen des Aufeinander-Verweisens von Theorie und Praxis und der Bezogenheit allgemeiner und besonderer Einsichten lohnt die Lektüre nicht nur für (Gestalt-) Therapeut/innen. Die Differenziertheit und Weite des Blicks macht das Buch zu einem wichtigen, zudem deutschsprachigen Beitrag unter den schon vorliegenden psychologischen Arbeiten im dialogischen Paradigma. [2]

Es lässt sich fragen, inwieweit das dialogische Denken gelingt – eine solidarische Frage, denn sie bleibt für jede alternative Formulierung zum Individualismus virulent. Es ist keineswegs leicht, tradierte Denk- und Handlungsmuster in ein dialogisches Denken zu überführen, denn das reifizierte und selbstmächtige Selbst gehört zu selbstverständlich zur tief eingeprägten Grundansicht des westlichen Menschenbildes. Wir tappen immer wieder in die Fallen des "Dings", das vorgängig "ist", des "Ichs", das "sich selbst hat", um nachrangig, dann, zu handeln und zu sprechen, vorher schon gehabte Charakterzüge, Gedanken, Intentionen an den Tag zu legen. Ein solches "ichiges Ich" manifestiert nur "sich". [3]

Dialogisches Denken ist eine Herausforderung, weil es die Denkfigur der "abgelösten Vorgängigkeit" zugunsten des je tatsächlichen Geschehens sabotiert, ein "Zwischen" (HETZEL 2004) kommt dann ins Spiel, dann das Ich-Du-Verhältnis, die Leiber der Sprechenden und sich zusammen in einem konkreten Feld Ausdrückenden.2) Die Gefahr, die von diesem Sabotageakt ausgeht, ist der Verlust an Kontrolle, die das "ichige Ich" zu halten vermeinte, und die notwendige Annahme eines passiven Moments. Dies ist aber mehr als der moralisierende Appell, doch nett zueinander zu sein. Anvisiert ist vielmehr eine Artikulation von Verhältnissen psycho-logischer und sozio-logischer Art, die jenseits vorgängig gegebener Herrschaft denkt, ohne aber in eine bloße Emergenz zu münden: Pluralität und Dynamik, Performativität und Gegenwärtigkeit des Geschehens sind ihrerseits nicht beliebig, sie erfahren vielmehr eine Struktur, ohne die sie nicht (wieder-) erkennbar wären. Wie das Verhältnis von Geschehen und Struktur zu denken ist, scheint mir eine der Kernfragen eines Denkens zu sein, das dialogisch vorgeht und damit der Struktur nicht die Bestimmung des Geschehens überlässt (was eben "vorgängig" wäre). Dem Geschehen zwischen mindestens Zweien wird dabei die primordiale Rolle zugewiesen. In diesem Sinn ist STAEMMLERs Buch äußerst anregend. Es ist konsequent dialogisch, und diese Konsequenz leitet sich auch davon ab, dass er von der Gestalt her denkt, von wahrnehmbarer Formung im Zwischen als dem Geschehensraum der interagierenden Personen. Nach einer Synopse des Buchs möchte ich daher als dialogisch-kulturhistorisch ausgerichtete Sprachpsychologin die Kernfrage aus meiner Sicht aufnehmen und über zwei Themen entwickeln: Pluralität und Sprache. [4]

2. Synopse

2.1 Form und "vokale Strukturierung" des Buchs

Das Buch präsentiert sich als ein langer Spaziergang, die Lesenden werden von einem belesenen Menschen geführt, immer fällt ihm noch etwas ein – manche Fußnoten erscheinen überflüssig oder ein bisschen lang; ein Spaziergang, der als eine sanft aufsteigende Spiralbewegung vorzustellen ist. Scheinbare Redundanz entsteht, weil das Denken immer wieder an schon Ähnlichem vorbeizieht, und so entpuppt sich die Redundanz als enge Knüpfung eines dichten Gewebes. Dies wird verstärkt durch die intensive Polyphonie des Textes: Die Verknüpfung verschiedener Stimmen anderer Autor/innen anhand von oft langen Zitaten mit der Stimme von STAEMMLER findet in einem auffälligen Maß statt. Hinzu kommt, dass STAEMMLER sich dafür entschieden hat, alle Zitate zu übersetzen. Mit beiden bewusst gewählten Formen – Polyphonie und einheitliche Sprache – will er die Vielstimmigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens kenntlich machen und unterstreichen, dass er nicht etwas völlig Neues schreibt (S.12), sondern eine Synthese bietet, deren Ziel die Demonstration einer umfassenden Konvergenz hin zum Dialogischen ist. [5]

Die Konvergenz der Einsichten wird über die Vielzahl unterschiedlicher, chorisch vereinter Stimmen vorgeführt. Dies ist interessant und störend zugleich: interessant, weil Autor/innen zusammen auftreten, welche ich auseinanderzuhalten gewohnt bin, etwa FEUERBACH und HABERMAS (S.141), oder MERCER, HEIDEGGER und LINELL (S.108) – dies kann Neues erzeugen; störend, weil einerseits eben keine Originaltöne zu hören sind (wie STAEMMLER meint, S.12), sondern STAEMMLERs Übersetzerstimme, andererseits, weil man sich immer wieder fragt, wo eigentlich seine Stimme geblieben ist. Durch die Zitatfülle (v.a. Kap. 2-4) entstehen dichte Stimmenverkettungen, zwischen welchen der Autor kaum zu Wort kommt (z.B. S.33: GRØN-GUGUTZER-HUSSERL-SARTRE-LEGRAND-MERLEAU-PONTY). Zudem beginnen alle Kapitel und Unterkapitel mit einer Außenstimme, einem vorangestellten Zitat. Dennoch: STAEMMLERs Stimme ist zu hören, und zwar in den Exkursen, die in den Kapiteln 2-6 mindestens einmal vorkommen und (bis auf Kap. 5) alle äußerst kritisch sind, und schließlich ist in Kapitel 7 die Stimme des Therapeuten sehr klar zu vernehmen. [6]

Zur wohl durchdachten Textgestaltung gehören die vielen Vor- und Rückverweise zur Orientierung im Text sowie die jedes Kapitel abschließende Zusammenfassung. Mit diesem didaktischen Gestus und dem eher narrativ gehaltenen Ton setzt sich STAEMMLER ab vom distanzierten wissenschaftlichen Diskurs, es geht ihm gerade um den Zusammenhang zum eigenen Leben als Autor, Therapeut und Theoretiker mit dem damit gegebenen Erfahrungshorizont. Hieraus erwächst seine Darstellung, und daher entsteht eine Nähe zum/zur Lesenden, die das dialogische Moment jeden Verstehens einzulösen sucht: weniger Präsentieren gültiger Ergebnisse als Einladung zum Hineinfinden in eine Gedankenwelt, die sich in Bewegung weiß. [7]

2.2 Kapitelübersicht

Das Buch beginnt mit drei Vorworten des Autors aus einer jeweils anderen Position, hier wird bereits klar, dass das Selbst keine monolithische Einheit ist. Diese Vorworte (Kap. 1) sind nicht Spielerei, jedes von ihnen bringt andere Einblicke in das Herangehen. STAEMMLER schlägt im zweiten Kapitel eine Definition des Selbst vor, die dann (Kap. 3-4) entlang verschiedener Grundthemen kenntnisreich und detailliert entfaltet wird. Konzepte aus der Entwicklungspsychologie kommen hier ebenso zur Sprache wie philosophische, kommunikationstheoretische, sozialkonstruktivistische und kulturhistorische Positionen und Theorien (um einige zu nennen); gemeinsam ist ihnen den Menschen in Bezug auf seine leibliche, emotionale und sprachliche Verbundenheit mit anderen zu denken. [8]

Kapitel 5 führt die Elemente einer dialogischen Selbsttheorie an. Hier ist anzumerken, dass nicht klar wird, warum gerade den gewählten Begriffen der Status von Elementen zukommen soll. Zudem sind einige Elemente deutlich, andere sind es weniger, sie werden eher zu diskursiven Themenkomplexen (nicht zuletzt wegen der zu narrativ gehaltenen Überschriften der Unterkapitel). Herauszulesen sind als Theorieelemente: Dialogizität (mit einer Reflexion des begrifflichen Umfangs des Wortes, die normative von deskriptiven Verwendungen deutlich trennt), Pluralität, Auto- und Heterodialoge mit einer Differenzierung der Kategorien von Adressat/innen und von Anderen, Stimmenvielfalt, Positionen und Positionalität, schließlich "selbstregulatives Sprechen". Mehr Prägnanz wäre hier nützlich gewesen, denn gerade theoretische Elemente sollen als produktive Kernbegriffe funktionieren. [9]

Das sechste ist m.E. ein zentrales Kapitel, und zwar gerade im Hinblick auf eine nicht-individualistische psychotherapeutische Praxis. Hier diskutiert STAEMMLER sehr kritisch das Konsistenzprinzip vor dem Hintergrund der durch Dialogisierung und Dynamisierung sichtbar gewordenen Komplexität und möglichen Widersprüchlichkeit des Selbst. Das Konzept von psychischer Gesundheit, das eine möglichst umfassende Konsistenz von Selbst-Positionen als psychisch gesund ansieht, steht damit infrage. Gegen den gesellschaftlich artikulierten Konsistenzdruck setzt sich STAEMMLER für die Förderung einer Toleranz von Inkonsistenz als erstrebenswertem Ziel einer Therapie ein. Damit leitet er über in das 7. Kapitel, die theoretischen Überlegungen kommen hier bei der therapeutischen Praxis an. STAEMMLER zeigt an spezifischen Techniken die dialogische gestalttherapeutische Arbeit mit Klient/innen als Möglichkeit, "das dialogische Format des Selbst ernstzunehmen" (S.359). Es gelingt ihm in überzeugender Weise, den Zusammenhang zwischen Menschenbild, Theorie und Praxis aufzuzeigen. [10]

Das Dialogische zeigt sich dabei in mehrfacher Hinsicht, es artikuliert die Theorie auf der Handlungsebene. Zunächst zeigt sich das Dialogische in einer hohen Sensibilität für die Performance, für die Formen der Äußerungen der Klient/innen: der Prozess ("prozessuale Ebene") steht ganz im Vordergrund, und damit die leibliche, erfahrungsmäßige Dimension des vom Klienten bzw. der Klientin Erlebten, die in der gemeinsamen therapeutischen Gegenwart zur Formung kommt. Dann zeigt es sich in den Techniken selbst, die Dialoge lebendig werden lassen. Dies erfolgt auf der Basis der Idee des im Interiorisierungsprozess verkürzten Sprechens, das sich im aktuellen Dialog mit Anderen wieder entfaltet und so der bewussten Wahrnehmung zugänglich gemacht werden kann (S.233). Die genetische Idee VYGOTSKIJs (1989 [1929]), wonach wir in der semiotischen Vermitteltheit durch andere erst wir selbst werden, kommt hier ganz zum Tragen – eine sprachliche, eine immer ausgeformte, stimmliche Vermitteltheit, wie bei STAEMMLER deutlich wird. Zwei Dialogformen werden mit ihren Varianten dargestellt: Die Selbstgesprächstechnik ist die Inszenierung eines Gesprächs zwischen zwei Selbst-Positionen; die Fantasiegesprächstechnik ist ein Gespräch des Klienten/der Klientin mit einem/einer wichtigen abwesenden Anderen, es kann in monologischer oder dialogischer Form erfolgen, d.h. ohne Antworten der imaginierten Person, oder indem der Klient/die Klientin die räumliche (Sitz-) Position wechselt und aus der imaginierten Position erwidert. Eine besondere Dialogizität entsteht schließlich zwischen STAEMMLER und PERLS, dem Begründer der Gestalttherapie, von dem viele Sitzungen als Transkripte dokumentiert sind. Mit diesen arbeitet STAEMMLER produktiv und z.T. sehr kritisch heraus, wie für ihn eine dialogische Therapie aussieht – und damit: wie das Dialogische des Selbst nicht bloß als theoretisches Konstrukt funktioniert. [11]

3. Pluralität

3.1 Problemaufriss: Simultane Pluralität und Kohäsion

Das Zurückweisen eines einheitlichen und beständigen Selbst, wie es sich im Konzept des dialogischen Selbst artikuliert, ist im westlichen Kulturraum mit historischen Entwicklungen verbunden, die von einer traditionellen über eine moderne zu einer postmodernen Vorstellung des Selbst führen (STAEMMLER, S.176f.). Ist das moderne Selbstkonzept mit der Autonomie des von Anderen abgegrenzten, beständigen Individuums verbunden, so ist das postmoderne Selbst dekonstruiert, pluralistisch, ausgedehnt, kontextualisiert und sozialen Einflüssen ausgesetzt. Es kann sich nicht mehr auf die Gewissheit seiner Beständigkeit verlassen. Stattdessen sieht es sich einer Vielzahl von Optionen gegenüber, mit welchen es leben muss. Die von STAEMMLER angeführten Autoren ROWAN und COOPER sprechen von einem "simultaneous pluralism" (1999, S.5), womit die zeitliche Verdichtung der Optionen deutlich wird. Veränderung und damit entstehende (relativ übersichtliche, weil gesellschaftlich vorgesehene) Vielfalt über die Lebenszeit sind dem modernen Selbst noch vorstellbar, aber die in der Zeit simultan sich auftuende Pluralität setzt ein ganz anderes Potenzial an Optionen frei. Dies ist die eine, die psychologische Seite der postmodernen Konzeption, die sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht die Frage nach dem Umgang mit simultaner Pluralität von Gemeinschaften, Familien oder Personen aufwirft. [12]

Die andere Seite dieser Konzeption ist eine logische: Pluralität kann nicht unbegrenzt angenommen werden, da sonst das betreffende System auseinanderfällt, weil die Kohärenz wegen der zu großen Zahl an Möglichkeiten nicht mehr gegeben ist. Was also leistet die Kohärenz? Was hält das Selbst zusammen? Oder: Wird die Pluralität auf irgendeine Weise beschränkt? Diese Fragen stellen sich gerade dann, wenn die Reifizierung des Selbst zugunsten seiner Dynamisierung und Dialogisierung abgelehnt wird, wenn ein festes Zentrum, etwa ein "Kernselbst", nicht mehr angenommen wird (STAEMMLER, S.18ff., 204). [13]

3.2 Kontakt – Formen der Berührung

STAEMMLER nimmt die Frage nach dem Zusammenhalt des Selbst im 2. Kapitel im Sinne von Kontinuität auf: "Die Vorstellung von einem flexiblen, prozessualen und situationsabhängigen Selbst bedeutet allerdings keineswegs, dass es diskontinuierlich sei" (S.28). Die Kontinuität des Selbst gewährleistet seinen Zusammenhang oder -halt über die Zeit, und Kontinuität ist – wie STAEMMLER mit MEAD (1983) herausarbeitet – mit Veränderung verschränkt. Die Kontinuität führt das Selbst an der Zeit entlang und schafft Momente von Berührungen, von denen stets einige aufrechterhalten werden und in die nächste Situation hinein reichen.  In diesem Sinne unterscheidet STAEMMLER (S.28ff.) fünf Momente: 1. die parallel stattfindenden Kontakte im Erleben des Leibs in einer bestimmten Situation (Atmung + visuelle Wahrnehmung der Situation von Moment zu Moment); 2. die fortdauernde Leiberfahrung (Atembewegung); 3. Musterbildung und damit verbundene Wiederholungen in der Interaktion mit Anderen, die eben die Erfahrung von Kontinuität ermöglichen; 4. Interaktionen mit anderen Menschen (gegenseitige Regulation, Intersubjektivität-Interkorporalität); 5. das Wahrnehmen der überdauernden materiellen Welt. Die Formen der Berührung, welche die Kontinuität ermöglichen, sind (gleichberechtigt) leibliche und soziale (STAEMMLER, S.57f.), sie sind daher konkret oder symbolisch-abgelöst, manchmal beides zugleich (eine sprechende Stimme, die mit einer Berührung des/der Zuhörenden einhergeht). [14]

Im 6. Kapitel wird die Frage nach dem Zusammenhalt des simultan pluralen Selbst im Kontext der kritischen Diskussion des Konsistenzprinzips wieder virulent. Gegen die kulturell verordnete Konsistenz, verbunden mit dem Auftrag zur individuellen, transsituativ stabilen Einzigartigkeit (S.242), setzt STAEMMLER dialogische Alternativen: Diese sind offen für Abweichungen und lassen Widersprüche zu bzw. ändern ihre Toleranzschwelle, sodass Unterschiede bestehen bleiben können, sofern sie ein gewisses, persönlich lebbares Maß nicht überschreiten (S.272). STAEMMLER ist sich der Risiken der Pluralisierung, der extremen Dezentriertheit des Selbst bewusst, er verbindet sie mit SENNETTs (1998) Kritik am Idealbild des "flexiblen Menschen" und der herrschenden wirtschaftlichen Ideologie. Worum es STAEMMLER dann geht, ist eine ethische Konsequenz, die nicht die psychologische Frage nach der funktionierenden Organisation des dialogischen Selbst einschließt. Das Risiko ist das der Unverbindlichkeit, dem eine persönliche Verantwortung entgegengehalten wird; damit diese Person verbindliche (verantwortliche) Beziehungen eingehen und gestalten kann, ist daher therapeutisch eine konkrete Balance zwischen Konsistenz und Widerspruchstoleranz zu finden. Letztlich bleibt, den lebenslangen Dialog mit sich selbst und mit anderen als conditio humana anzunehmen (S.272f.). Mit dieser ethischen Position leitet STAEMMLER über zur praktischen Arbeit mit dem dialogischen Selbst. Offen bleibt die Frage nach der Beschränkung des dialogischen Selbst als psychologische Organisationsform. [15]

Gegenüber STAEMMLERs Überlegungen in den Kapiteln 2 und 6 fällt seine Position im Rahmen der sprachlichen Diskussion des Terminus "Selbste" (5. Kap.) auf. Hier spricht er sich deutlich für die fortwährende Neuheit des Selbst aus: "Das Selbst [...] konstituiert sich unter seiner jeweiligen Zeitperspektive von Situation zu Situation, insbesondere in seinen Kontakten mit Anderen, kontinuierlich neu" (S.201), und diese Denkfigur, gegen die Figuren der Beständigkeit (2.2) und der Struktur (1.2) gerichtet, leuchtet immer wieder auf. Mit HERMANS' (2001) Theorie und der Metapher von "Indras Netz"3) und der "tendenziell unendliche[n] Vielfalt von Spiegelungen anderer Selbste" (STAEMMLER, S.182) ist die "Zahl dieser möglichen Selbste [...] prinzipiell unendlich und variiert kontinuierlich" (S.236). Besonders problematisch ist m.E. das "Eldorado unbegrenzter Möglichkeiten", das mit dem Internet gegeben sei, wo Menschen "ihre diversen Selbstaspekte unbegrenzt [...] ausleben können" (S.192, Fußn. 32). So sehr ich STAEMMLER bei seiner feinen Herleitung der Kontinuitätsmomente mit dem absolut richtigen Kernbegriff des Kontakts folge, die dem Selbst eine relative Konstanz verleihen, und ebenso wie ich seiner Diskussion von Konsistenz und Widerspruch zustimme, sowenig kann ich der in Kapitel 5 geradezu gefeierten Vielfalt des Selbst (oder der Selbste) einfach folgen – und zwar aus der eher psycho-logischen Überlegung heraus, dass gerade dialogische Selbste in ihrer dynamischen, heterogenen Vielfalt eine Form von Komplexitätsreduktion benötigen. [16]

3.3 Komplexität: Vagheit und "Drittes"

Die Integration von Vagheit und Widersprüchen ist ein wichtiges Moment für die Komplexitätsreduktion, sie bewahrt das Selbst zugleich vor monologisch-autoritärer Rigidität (z.B. ERTEL 1972) und legt Interpretationen nicht fest, sondern macht sie pragmatisch sensibel: Komplexität ist machbar, eben weil nicht alles schon gesetzt ist. Ein weiteres notwendiges Element besteht in der Bezogenheit auf Andere, und zwar so, dass das Selbst sich auch selbst vermittelt wird, Kraft eines gemeinsamen Elements, eines "Dritten". Das Dritte differenziert Selbst und Andere/r, es markiert eine dritte Position im sozialen Prozess, die durch eine konkrete dritte Person besetzt sein kann (RÖTTGERS 2010). Mit dieser Bezogenheitsqualität geschehen zwei Dinge. Zum einen kann das individualistische Ich erst zu dem/der Anderen hin geöffnet werden. Ein Selbst "ist" ein Selbst, insofern es in der Bezogenheit zu anderen lebt und darin performiert wird/sich performiert. Die Bezogenheit zu anderen ist – auch für STAEMMLER – Grundbedingung für ein Selbst, es bildet sich und "ist" nicht vor der Beziehung, und zwar der immer wieder vollzogenen, ausgeformten Beziehung zu anderen. Insofern ist das Selbst sich selbst vermittelt. Zum anderen ist von einem Dritten als Feld oder Ermöglichungselement auszugehen, das die Selbste einander vermittelt und ihnen aus den "Dyadenverkettungen" (RÖTTGERS 2010) herauszutreten erlaubt, da ja gerade keine autonomen Entitäten angenommen werden, die einander entgegentreten und einen Dialog beginnen (autonomes Ich). [17]

Dieses Dritte oder Feld ist im dialogischen Paradigma immer wieder implizit, häufig gedacht, aber kaum ausformuliert. Es ist anwesend in jedem Rekurs auf Interaktion und insbesondere auf Sprache. Dieses symbolische Mittel, aus dem wir nicht heraustreten können, das uns nicht "zur Hand" ist wie ein Instrument (GADAMER 1986), öffnet nochmals die Selbste: hin zur Öffentlichkeit. Dann erst ist nicht nur der Satz vom Widerspruch suspendiert, womit Widersprüche zugelassen sind (STAEMMLER, S.241), sondern auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten ist aufgehoben, der logisch und sozial Dritte ausschließt (RÖTTGERS 2010). Die menschliche Wirklichkeit als Ganzheit aus dialogischen, einander vermittelten und aufeinander bezogenen Selbsten im öffentlichen Feld ihrer Gesellschaft ist dann wiedergewonnen, und damit die Komplexität möglich und beschränkt durch eben dieses Dritte, das ich als die Sprache ansehe (BERTAU 2015). [18]

4. Sprache

4.1 Sprache in der Logik des Du-Ich

Sprache wird von STAEMMLER im letzten Teil der dreiteiligen Beantwortung der Frage "Was ist ein Selbst?" behandelt (Kap. 4). Sprache wird zunächst über das einführende Zitat auf zwei Funktionen festlegt: dem Teilen von Information und dem Herstellen und Erhalten sozialer Beziehungen. Damit ist die nicht unproblematische Perspektive eines Individuums nahe gelegt, das auf den Anderen/die Andere zugeht, um mit ihm/ihr Informationen zu teilen und Sozialität zu konstruieren und dazu Sprache als Instrument nutzt. Im Text selbst wird Sprache über den Spracherwerb eingeleitet (mit Bezug auf STERN 1992 [1985]), ergänzt durch prinzipielle philosophische Überlegungen zum besonderen Stellenwert der Sprache für das Menschsein (HEIDEGGER) sowie zur sozialen und gesellschaftlichen Dimension des Sprechens (GADAMER). STAEMMLER warnt dann aber sofort davor, "die vorsprachlichen bzw. nicht-sprachlichen Voraussetzungen der verbalen Kommunikation, die über das ganze Leben hinweg bestehen und ihre wichtige Bedeutung behalten, in den Hintergrund der Aufmerksamkeit zu rücken" (S.108), daher sei "menschliche Sprachkompetenz" nicht ausschließlich linguistisch zu betrachten, und schließlich sei der Dialog "grundlegender als die Sprache" (a.a.O.). Sprache findet sich zugleich hervorgehoben und zurückgedrängt, weil sie das verbergen könnte, worum es dem Autor geht: den Dialog. Es entsteht ein seltsamer Gegensatz zwischen Sprache und Dialog, weil der Dialog als Beziehungsgeschehen grundlegender sein soll als Sprache als inhaltliche Verständigung (qua linguistischer Mittel). [19]

Die Kritik an einem reduktionistischen linguistischen Sprachbegriff ist berechtigt, ihre Konsequenz ist ambivalent: Zum einen wird das Schlüsselwort "Sprachkompetenz" – das ja zunächst die Performanz als ihr nachgeordnetes Moment aufruft – beibehalten, zum anderen wird eine Dichotomie zwischen Sprache und prä-, non- und paraverbalem Geschehen gebildet; ein Geschehen, das quasi-natürlich für die Beziehung sorgt (STAEMMLER, S.108) – damit wird genau der Reduktion das Wort geredet. Nicht der Reduktion zu folgen hieße: die Verkörpertheit von Sprache anzuerkennen, ebenso wie ihre nicht-instrumentelle Qualität, und den Dialog nicht als Gegenstück von Sprache aufzubauen; es hieße Sprache als dialogisches Geschehen ernst zu nehmen und sich ganz und gar von der Dichotomie Kompetenz-Performanz zu verabschieden. Dies ist eine sprachtheoretische Herausforderung, deren Ausgangspunkt die Absage an einen reifizierenden Sprachbegriff bildet – analog zur De-Entifizierung des Selbst. Mit entwicklungspsychologischen und philosophischen Argumenten und Autor/innen vollzieht STAEMMLER dies auch, allerdings lässt er "Sprache" weitgehend in "Gespräch" und "Kommunikation" aufgehen und den Spracherwerb zur dominanten Perspektive auf Sprache werden. Damit entsteht ein Sprachbegriff, der sich ganz um die Beziehungsstiftung dreht und das intersubjektive Geschehen betont. Sprache dient der Nähe, der Zusammengehörigkeit und den gemeinsamen Erfahrungen sowie dazu, Gefühle und Gedanken zu teilen; ein Sprachbegriff, der stark dazu tendiert, Sprache in ein gefühliges Zusammensein zu evakuieren (vgl. insbes. S.110f.). Die gesellschaftliche Ebene wird dann zwar bedacht, allerdings im Sinne einer Du-Anrede, hierin wird Sozialisation gesehen, und dies führt weiter zum Ich, nämlich zur Ausbildung des reflexiven Selbst, dem Sprache "als ein zentrales Instrument der Selbstbeschreibung, [und] auch des Selbstverständnisses sowie seiner eigenen Konstitution" dient (S.113). Auch hier entsteht eine Ambivalenz: Werkzeug ist die Sprache nicht, und dann immer wieder doch (vgl. S.112, Fußn. 30), mit der Folge, dass das Selbst sich des Instruments bedient, um sich zu "machen", zu konstituieren – hier scheint mir das selbstmächtige Ich durchzuschimmern. [20]

Diese intersubjektive, sehr Du-Ich-geprägte Idee von Sprache wird von STAEMMLER durch HUMBOLDTs (1907 [1830-35]) Konzept der Sprache als Weltansicht ergänzt, sodass die Sprachgebundenheit des Selbst deutlich wird: Die zur Verfügung stehenden linguistischen Mittel (etwa Pronomenkategorien) machen es dem Selbst auf bestimmte Weise möglich, zu Anderen und zu sich selbst in einer jeweils spezifischen Art in Beziehung zu treten und diese zu erleben (STAEMMLER, S.113). Die Sprache bleibt der dyadischen Logik eingeschrieben. [21]

4.2 Sprache als Rede: HUMBOLDTs energeia

Einen dialogischen Sprachbegriff streift STAEMMLER in seinen anschließenden Ausführungen zu Verstehen und Bedeutungserzeugung (S.115-121), zunächst wiederum entwicklungslogisch im Sinne geteilter dialogischer Aktivitäten gefasst, dann – weil in der Entwicklung der dialogische Austausch "linguistische Formen an[nimmt]" (S.118) – mit zwei bedeutenden Denkern: VOLOŠINOV und BACHTIN. VOLOŠINOVs zitierte Worte "Die wahre Realität der Sprache als Rede" (1975 [1930], S.157) stehen in der sowjetrussischen Rezeptionslinie der HUMBOLDTschen Sprachphilosophie (BERTAU 2014a), von hier aus konzipiert VOLOŠINOV seinen dialogischen Sprachbegriff. Die Grundidee von Sprache als Rede wird von STAEMMLER allerdings wiederum im Sinne des Sprechens der Ich-Du-Dyade verstanden (S.120f.), wodurch die symbolische und damit öffentliche Qualität von Sprache verloren geht: Diese Qualität löst ja gerade die Dyade aus ihrer Ich-Du-Bezogenheit heraus und erzeugt gesellschaftliche Individuation. Selbste sind daher nicht nur dialogisch (Ich-Du), sie sind es als "gesellschaftlich organisierte Individuen" (VOLOŠINOV 1975 [1930], S.59): dialogische Selbste im Medium der Sprache. [22]

Aus sprachpsychologischer Sicht ist es für ein dialogisches Paradigma notwendig, einen konsequent prozessualen, nicht-reifizierenden Sprachbegriff auszubilden, der dem dialogischen Selbst adäquat ist (BERTAU 2011, 2014b). HUMBOLDTs Sprachphilosophie mit dem Konzept von Sprache als Tätigkeit (energeia) bietet genau diese Möglichkeit, und dies führt – rezeptionslogisch und auch inhaltlich – weiter zur kulturhistorischen Psychologie, auf die sich auch STAEMMLER beruft. HUMBOLDTs Sprachphilosophie und die sowjetrussischen Denker bilden zusammen einen Komplex von Dialogizität (JAKUBINSKIJ, BACHTIN, VOLOŠINOV) und Sozialität (VYGOTSKIJ, LEONT'EV, LURIA), der mit dem grundlegend genetischen Denken von Sprache und Selbst, das sich in beiden Facetten des Komplexes findet, für das dialogische Paradigma außerordentlich ertragreich ist. HUMBOLDTs energeia [sprachliche Tätigkeit] (1907 [1830-35]) wird zum formativen Mittel und Medium, Kraft dessen sich Individuen als diese dialogischen Selbste konstituieren können, und zwar immer wieder: In jedem Akt des Sprechens-Zuhörens findet Sozialisation-Individuation statt. [23]

4.3 Formungen im Zwischen, sprachliche Gestalten

In einem dialogischen und anti-essentialistischen Paradigma existieren die Positionen des dialogischen Selbst letztlich sprachlich. Die Idee der Form (Formung) ist daher hervorzuheben, die Arbeit der Sprache im Denken (HUMBOLDT 1907 [1830-35]): Die formative Wirkung der Sprache darf nicht übersehen werden. Dies ist nicht nur theoretisch bedeutsam, insofern eine dialogisch-dyadische Artikulation der Postmoderne im Hinblick auf das Denken des Dritten entwickelt werden muss, um tatsächlich aus dem Individualismus herauszufinden (z.B. BEDORF, FISCHER & LINDEMANN 2010). Wichtig ist die Idee der sprachlichen Formung m.E. besonders für die praktische dialogische Arbeit mit Menschen (Therapeut/innen, Erzieher/innen, Lehrer/innen u.a.). Mit einem klar ausgebildeten dialogischen Sprachbegriff zu handeln bewahrt davor, immer wieder in die Reifizierungsfalle zu geraten, und etwas festzumachen, was ein dialogischer Aushandlungsprozess in einem öffentlich machenden Feld ist. Es bedeutet, sensibel dafür zu werden, wie Sprache "im Zwischen" funktioniert, und die Aufmerksamkeit dabei eben nicht nur auf das non- und paraverbale Geschehen zu richten, sondern auf das Ganze der sich ausbildenden sprachlichen Tätigkeit: welche Art Rhythmik und Intensität welcher Worte und welcher Stimmen aus welchen Positionen wahrzunehmen sind. [24]

Genau dafür scheint mir die Gestalttherapie besonders gut vorbereitet, in den dialogischen Techniken (STAEMMLER, Kap. 7) geht es schon darum: Einen Namen für eine Position zu finden (S.301, 360) ist dann gerade keine Etikettierung von schon Bestehendem, sondern eine momentane Ausformung, Kristallisation (eine sprachliche Gestalt), die einer Abbreviatur für einen bestimmten Sinnkomplex gleichkommt. Ebenso ist die dialogische Ausformung in der Arbeit der sprechenden Stimme als höchst sprachliches, sinnlich-symbolisches Moment nachzuvollziehen, dies ist sowohl in PERLS' (1974 [1969], 1980) als auch in STAEMMLERs Beispielen eindrucksvoll zu sehen. Eine Stimme wird dem Klienten/der Klientin von dem Therapeuten/der Therapeutin gegeben, indem eine bestimmte Äußerung in Tonfall, Adressierung und Wortwahl modelliert wird, und mit dieser Formung können die Klient/innen in ihrer stimmlichen Übernahme zu handeln versuchen (S.322). PERLS gibt immer wieder Äußerungsanfänge vor, die eine Art Sprungbrett für die Klient/innen bilden, welche diese Anfänge wiederholen und selbst fortfahren (siehe STAEMMLER, S.323f., 327), die inszenierte Rede mit ihrer stimmlichen Komplexität (VOLOŠINOV 1975 [1930]) ist also ein eminenter Teil dieser dialogischen Techniken, die sich als höchst sensible sprachliche, das heißt symbolische Prozesse erweisen (vgl. auch BERTAU 2013). [25]

Schließlich stellt STAEMMLER eine Technik vor, welche die Bewegung von Stimmen und Positionen nach "innen" (Interiorisierung) umkehrt, um eine neue Stimme und Position zu entwickeln (S.355ff.): In diesem Fall kommt es damit zu einer Exteriorisierung, einem Nach-außen-Bringen von Stimmen und Positionen. Zunächst leitet der nonverbale, leiblich-prosodische Ausdruck eines/einer imaginierten Anderen ("Tonfall der Stimme"), dann dessen/deren sprechende Stimme die Entwicklung der neuen Selbst-Position. Hier scheint mir eine Art Komplexitätsreduktion im Sinne einer Regression stattzufinden: Ohne Worte zu verstehen, versteht das Selbst die Zugewandtheit eines/einer Anderen, diese ontogenetisch frühe Form leitet die psychologische Arbeit. Dennoch ist auch die am Anfang des Lebens gehörte Stimme individuell und öffentlich, affektiv und symbolsprachlich.4) Das weiß STAEMMLER, er nennt auch etliche der dazugehörigen Forschungen. Ich führe diese Aspekte an, weil ich auf die Ganzheit der Erfahrung und Performierung der sprachlichen Tätigkeit bestehen möchte. [26]

Mit einem dialogischen Sprachbegriff, der anti-essentialistisch und darum verkörpert ist, der aus dem Zusammenspiel von Symbolen und sinnlicher Erfahrung lebt, macht es daher gerade keinen Sinn, das Paraverbale und Nonverbale von der Sprache zu trennen und letztlich eine alte Trennlinie zwischen Inhalt und Form, Geist und Körper zu wiederholen.5) [27]

4.4 Inneres Sprechen – selbstregulatives Sprechen

Im von der HUMBOLDTschen Sprachphilosophie (1907 [1830-35], 1994b) abgeleiteten konzeptionelle Rahmen der sprachlichen Tätigkeit ist das innere Sprechen eine der Erscheinungs- bzw. Vollzugsweisen sprachlicher Tätigkeit, entstanden aus der gemeinsamen sprachlichen Tätigkeit über Interiorisierung (BERTAU 2008, 2011; VYGOTSKIJ 1992 [1930]).6) STAEMMLER nimmt in einem ausgezeichneten Exkurs (S.96-101) kritisch Stellung zur kulturell tief verwurzelten substanzialisierenden Dichotomie von Außen und Innen, die "das Subjektive bzw. das Psychische [...] nach innen, wie in eine Art Behälter, verlegt" (S.99). Was "innen" lokalisiert wird, ist jedoch für eine dialogische Psychologie "im Zwischen" der relationalen Räume zu finden, Psychisches wird dann nicht von sozialen, ökologischen und kulturellen Faktoren getrennt (S.100). Mit MERLEAU-PONTY (1966 [1945]), GERGEN (2011) und SHOTTER (1997) verschiebt STAEMMLER die Denkfigur "Innen-Außen" auf das "Zwischen", d.h. auf das Feld, das zwischen den Interaktant/innen durch ihre Tätigkeit entsteht. Um dennoch die "Selbstanwendung" des Sprechens zu kennzeichnen, führt er den Terminus des "selbstregulativen Sprechens" ein (S.226). Aus therapeutischer Perspektive mag es nahe liegen, die Funktion der Selbstregulation terminologisch (und dann konzeptionell) hervorzuheben, u.U. könnte dies aber verengend wirken, etwa in einem kulturell-normativen Sinne. Da heraus kommt allerdings kein Terminus, daher ist mein eigener Vorschlag komplementär zu STAEMMLERs zu verstehen – analog zur heuristischen Nutzung verschiedener Metaphern, die jeweils etwas zeigen und für anderes blind machen. Aus der genetischen Logik folgt für mich die grundsätzliche Unterscheidung zwischen "mit aktuellen Anderen" vs. "ohne aktuelle Andere" daher zwischen "sozialsprachlicher" und "individualsprachlicher" Tätigkeit. In welcher wahrnehmbaren Äußerungsform die jeweilige Vollzugsweise der sprachlichen Tätigkeit erscheint (laut, geflüstert, unhörbar, geschrieben als kurze Notiz) ist dann unerheblich, das innere Sprechen muss also gerade nicht "innen" sein, um als individualsprachlich zu gelten, sondern ohne konkret anwesende Andere, und diese (mit verschiedenen Zielen) in unterschiedlicher Weise präsent machen (BERTAU 2011). "Exteriorisierung" ist dann eine Bewegung ins Sozialsprachliche hinein, ein Klarwerden des Eigenen im an die Anderen gerichteten sprachlichen Vollzug (vgl. HUMBOLDT 1994a [1827]). [28]

Diese kurze Betrachtung deutet an, dass auch das innere, selbstregulative Sprechen in unterschiedlichen Entfaltungsgraden auftritt und nicht notwendigerweise – wie VYGOTSKIJ (2002 [1934]) annahm – stets auf das Allernotwendigste verkürzt ist (LARRAIN & HAYE 2012). Dass eben diese komplexe, geradezu fließende Dynamik von Entfaltung-Verkürzung die fruchtbare Basis der dialogischen therapeutischen Techniken bildet, sieht STAEMMLER (S.232f.). Expliziter als STAEMMLER möchte ich dafür plädieren, die graduelle Qualität des inneren Sprechens differenziert zu denken und damit klar feststellen, dass Verkürzung und Entfaltung ebenfalls nicht mit "innen-außen" gleichzusetzen sind. [29]

Aus seiner differenzierten, genetisch geleiteten Betrachtung des Sprechens mit Anderen in unterschiedlichen Formen kann STAEMMLER dann fruchtbare Unterscheidungen treffen, die (ebenfalls) mit der Idee der An- und Abwesenheit des/der Anderen arbeiten. Er unterscheidet zwischen Kategorien von Adressat/innen und von Anderen, woraus die Formen "realer Heterodialog" (Selbst zu realen Anderen), "fiktiver Heterodialog" (Selbst an abwesende Anderen, real oder imaginär), und "Autodialog" (Selbst zu einer anderen Seite des Selbst) entstehen (S.185, 191f.). Den Stimmen kommt in dieser Konzeption eine zentrale Rolle zu, und es ist zu begrüßen, dass STAEMMLER den Begriff der Stimme zusammen mit dem der Position denkt, zugleich die beiden Phänomene unterscheidet und damit ihre Verbindung klar konzipiert – eine Ausnahme in der dialogischen Psychologie. [30]

5. Schluss: das Selbst im Sprechen der Anderen

"Das dialogische Selbst" ist als inspirierende und reiche Lektüre zu empfehlen, es ist ein weiterer Beitrag für die mühsame Verschiebung unserer cartesianischen Koordinaten hin zu einer wirklich modernen Konzeption des Menschen als relationalem Wesen. Die Genauigkeit, mit welcher STAEMMLER vorgeht, entfaltet ein differenziertes Spektrum, das von theoretischen Überlegungen psychologischer, sprachlicher und philosophischer Art zu einer Demonstration dialogischer Techniken in der Therapie führt. Sprache erweist sich m.E. als zentrales Motiv innerhalb dieses gelungenen Bogens, denn ein nicht-reifiziertes Selbst ist an Prozess und Praxis gebunden, es lebt im Angesprochenwerden und Erwidern, in der Sprache der Anderen, ihrem Sprechen, Zuhören, (Miss-) Verstehen, ihren Stimmen und Positionierungen, die als spezifische Formungen erfahren werden. Daher ist das Moment der Form stark zu machen, und zwar nicht in Opposition zu Inhalt, um nicht der Trennlinie zwischen Körper und Geist zu folgen: Auch Sprache ist ganz, sie bleibt eine dynamische Ganzheit von Sinnlich-Symbolischem von unaufhebbarer Adressierungsqualität, selbst in ihren abstraktesten, komplex ausgearbeiteten Formen. [31]

Die Sprache der Anderen ist aber mehr als das Sprechen eines Du, es ist das Sprechen als ein Wir, von dem allgemeinen Man der Gemeinschaft aus.7) Der Mensch ist als ein relationales immer schon ein öffentliches Wesen, und zwar qua Sprache als symbolischer Vermittlerin und als Medium der Selbste und ihrer Relationalität. Das Selbst kann sich nicht aus sich selbst heraus bilden und selbst halten im Sinne von aufrechterhalten, es kann auch nicht von seinem Du gehalten werden: Beide – Selbst und Du – benötigen ein sie bindendes, organisierendes, einschränkend-ermöglichendes Feld (oder Medium), das ihnen überhaupt den Raum des Du-Ich eröffnet und sie darin einander und sich selbst hält (erhält). Diesen Schritt in das Dritte nicht zu vollziehen hieße, von einem autonomen Ich nur zu einem autonomen dialogischen Selbst zu gehen, das sich mit einem anderen autonomen Selbst ("Du") verbindet. Den Individualismus aufzugeben, setzt das Ernstnehmen "des Zwischen" im Sinne eines von den Individuen verschiedenen, anders gearteten Feldes voraus. Dieses Feld hält und trägt die Personen, indem es zugleich von ihnen in der Ausführung ihrer dialogischen Tätigkeit gebildet wird8) – es gibt also keine Vorgängigkeit, aber auch keine selbstmächtigen "Iche". [32]

Zu diesem Schritt ist m.E. Sprache als Tätigkeit (HUMBOLDTs energeia) notwendig, denn Sprache ereignet sich in Formungen, die Jetzt-Hier-Ich-Du einmalig sind und die zugleich in einem dialogischen Verhältnis zu den früheren Ich-Du-Praktiken stehen und zu den Praktiken der Gemeinschaft (dem Man), der Ich-Du angehören. Genau deshalb sind die sprachlichen Formungen transsituativ gültig und bedeutungstragend. Aber zugleich müssen sie in der Jetzt-Hier-Ich-Du-Situation tatsächlich performiert werden, um zu existieren und zu gelten. Sie sind einmalig und ein Aufrufen des Bekannten, dessen, was wir schon so gesagt-gehört haben, diesmal anders, und doch zu einem gewissen Maße gleich. Was wir wie sagen-hören bekommt seine Gültigkeit im Feld der Sprache, es ist "so richtig", weil es zu diesem, öffentlichen, Feld gehört. Das bezeugen wir einander, und zugleich bezeugen wir damit, dass die jeweilige Selbst-Performierung gilt, weil sie verstehbar ist: sie ist eine öffentliche Formung. Daher ist "Identität" immer die Mitgliedschaft zu einer Gemeinschaft, nie etwas Eigenes, privat Gehabtes. [33]

Pluralität und Dynamik, Performativität und Gegenwärtigkeit des psychologischen Geschehens sind wegen der Formungen in sprachlicher Tätigkeit nicht beliebig und unbegrenzt, vielmehr stets feldlich situiert und von daher "gehalten", beschränkt. M.E. ist das Verhältnis von Geschehen und Struktur insbesondere über die sprachliche Form in der Zeit und über die Zeit zu denken (mit dem hier angesetzten Sprachbegriff, vgl. BERTAU 2014c). Die performierten, sinnlich-symbolischen Formungen, die im Ereignis des Sprechens von den Beteiligten erfahren werden (nur da, nur dialogisch), gehören zur Ordnung des Kontakts und entsprechen insofern den von STAEMMLER angeführten Formen der leiblich-sozialen Berührung (vgl. Abschnitt 3.2). Mittels dieser Formungen von einem Du angeredet zu werden, das immer auch ein Man stellvertritt, verleiht dem Ich als dialogischem Selbst immer wieder Stabilität in der Vielfalt. STAEMMLERs genaue Dialoganalysen und die von ihm eingesetzten dialogischen Techniken zeigen für mich eben das. [34]

Es wäre lohnenswert, die Fähigkeit zu sehr flexibler und unbegrenzter Ad-hoc-Formung von Positionen (STAEMMLER, S.300) mit langanhaltenden Positionierungen vermutlich kleinerer Anzahl, weil häufig mit einer übersichtlichen Anzahl Anderer praktiziert, zusammenzudenken9). Die "haltende dialogische Praxis" lässt Flexibilität, Erfindungsreichtum, Ad-hoc-Formungen und ihr Verschwinden gleichermaßen zu. Hierin liegt wohl eine der Besonderheiten des Selbst. Den Fall des "Eldorado" der Internet-Positionierungen würde ich von hier aus diskutieren, mit der Idee von Vielfalt und unbegrenzter Kopierbarkeit als unendliches, sich niemals erschöpfendes System von Echo und Narziss – sich selbst wiederholende und spiegelnde "Iche" ohne Du. [35]

Anmerkungen

1) Vgl. auch die FQS-Debatte zum sozialen Konstruktionismus. <zurück>

2) Die Denkfigur der abgelösten Vorgängigkeit ist immer dann realisiert, wenn ein Geschehen durch eine dieses Geschehen zeitlich vorangehende Struktur bestimmt wird. Zugleich mit der zeitlichen Vorrangstellung ist eine logische und qualitative gegeben: Das Vorangehende ist für das Geschehen notwendig und ihm überlegen, es beherrscht und kontrolliert es daher. Ein klassisches Beispiel ist das der Kompetenz (Sprachwissen), die der Performanz (tatsächliches Sprechen) vorangeht und sie bestimmt. Das Vorgängige ist vom Geschehen abgelöst, weil es gerade nicht in der Wirklichkeit des Geschehens selbst existiert. Siehe ausführlicher BERTAU (2015). <zurück>

3) Diese Metapher stammt aus der hinduistisch-buddhistischen Tradition. Indras Netz besteht aus einem endlosen Netz von Fäden im ganzen Universum, die durch Zeit und Raum laufen. Jeder Kreuzungspunkt der Fäden stellt ein Individuum dar, verbildlicht als Kristallperle, in der sich jeweils das Licht des "absoluten Seins" spiegelt. Damit spiegelt jede Perle nicht nur dieses absolute Sein wider, sondern auch alle Spiegelungen dieser Spiegelung (STAEMMLER, S.182). <zurück>

4) Dies ist so, weil Neugeborene aufgrund der Hörerfahrung im Mutterleib die Stimme der Mutter und ihre Sprache mit den sprachspezifischen prosodischen Rhythmen und Konturen erkennen und bevorzugen, vgl. zuerst DeCASPER und FIFER (1980). <zurück>

5) Vgl. insbesondere den "konzeptuell verbalen" vs. den "implizit-non-verbalen-analogen Funktionsmodus" (STAEMMLER, S.282) nach GRAWE (1998), siehe für eine ähnliche Dichotomisierung STAEMMLER (S.281, 302, 108). <zurück>

6) Es ist schade, dass STAEMMLER sich mit VYGOTSKIJ (1972 [1934]) auf eine Übersetzung von "Denken und Sprechen" bezieht (z.B. S.228f.), die nicht mehr dem Stand des Wissens entspricht. Diese ist gegenüber der neuen Übersetzung (VYGOTSKIJ 2002 [1934]) zum einen gerade in Bezug auf den Terminus "inneres Sprechen" problematisch, der systematisch mit "innere Sprache" übersetzt wurde. Die Prozessualität und Pragmatik des Sprechens gerät damit aus dem Blickfeld. Zum anderen ist diese erste deutschsprachige Übersetzung sehr unvollständig, ganze Passagen, kurze Einschübe, Metaphern fehlen, weil sie als redundant oder stilistisch unschön angesehen wurden. STAEMMLER lehnt zwar "innere Sprache" als Terminus ohnehin ab, dennoch sollte die alte Übersetzung nicht weiter kolportiert werden – insbesondere von Denker/innen, die VYGOTSKIJ fruchtbar weiterführen. <zurück>

7) "Man" wird als Begriff insbesondere von HEIDEGGER (2015 [1927]) verwendet, allerdings in einer abwertenden Bedeutung, der ich nicht folge. <zurück>

8) Dies ist meine Abwandlung von PLESSNERs Konzeption der "Mitwelt", zu der ich Sprache strukturanalog sehe (BERTAU 2014d): "Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird" (PLESSNER 1982, S.14). <zurück>

9) Das Konzept der kognitiven Ad-hoc-Kategorien nach BARSALOU (1983) könnte genutzt werden, um diese Unterscheidung zwischen langanhaltenden (wiederholte Praxis mit einer bestimmten Anzahl Anderer) und Ad-hoc-Positionierungen (situations- und bedürfnisorientiert) zu modellieren. Für BARSALOU ist eine Ad-hoc-Kategorie "a novel category constructed spontaneously to achieve a goal relevant in the current situation [...] These categories [...] typically have not been entertained previously. [...] They help to achieve a relevant goal by organizing the current situation in a way that suggests effective goal pursuit" (2010, S.86). LAKOFF betont das Nicht-Konventionelle und Nicht-Fixierte dieser Kategorienart und gibt folgende Beispiele: "things to take form one's home during a fire, what to get for a birthday present, what to do for entertainment on a weekend" (1987, S.45). Für den vorliegenden Kontext sind die angesprochenen Prozesse als dialogische Aushandlungsprozesse anzusehen: die Partner/innen (z.B. Klient/in-Therapeut/in) organisieren ihre Situation zusammen, füreinander, für ihr Verstehen, für ihre Praxis – sie bilden eine Ad-hoc-Positionierung (mit der sie weiter handeln können oder auch nicht). Diese Organisation nimmt sprachliche Formungen an: Etwa in einem bestimmten Namen für eine Positionierung (vgl. STAEMMLER, S.301), in einer besonderen Anredeform, und diese sprachlichen Formungen finden in bestimmten sprachlichen Genres und Register statt, mit welchen eine ihnen abgestimmte semantische Welt einhergeht. <zurück>

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Zur Autorin

Marie-Cécile BERTAU ist Psycholinguistin, ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der theoretischen Grundlegung einer kulturhistorischen Psycholinguistik mit einem dialogischen Sprachbegriff. Ausarbeitung insbesondere folgender Konzepte: sprachliche Tätigkeit mit ihren Formen und Performationen (Phänomenalität der Sprache); Stimme als psycho-physisches Phänomen; das Selbst als dialogisch und sprachlich performiert, insbesondere mit Blick auf Entwicklungsprozesse wie Spracherwerb und Schriftspracherwerb. Untersuchung von Struktur und Funktion dialogischer Formen im inneren Sprechen für psychologische Prozesse wie die Bildung des Selbst, des Bewusstseins, für Prozesse des Denkens, insbesondere des Problemlösens; Geschichte und Praxis der Alphabetschrift und das damit verbundene Denken von Sprache; Praxis und Reflexion der Sprache in der sophistischen und rhetorischen Tradition.

Kontakt:

PD Dr. Marie-Cécile Bertau

Ludwig-Maximilians Universität München
Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung
Schellingstr. 3, 80799 München

Tel.: +49 (0)89-2180-2759
Fax: +49 (0)89-2180-5790

E-Mail: bertau@lmu.de
URL: http://www.phonetik.uni-muenchen.de/personen/mitarbeiter/bertau_mariececile/

Zitation

Bertau, Marie-Cécile (2015). Review Essay: Das dialogische Selbst zwischen simultaner Pluralität und Halt verleihenden Sprachpraktiken [35 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 16(3), Art. 29,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1503298.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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