Volume 8, No. 2, Art. 17 – Mai 2007

Rezension:

Falk Bretschneider

Franz X. Eder (Hrsg.) (2006). Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 338 Seiten, ISBN 3-531-14872-9, EUR 39,90

Zusammenfassung: Die Diskursanalyse ist heute zu einem weitgehend akzeptierten Analyseinstrumentarium in der Geschichtswissenschaft geworden. Dabei lässt sich nicht übersehen, dass sie weiterhin eine Reihe offener Fragen stellt. Der anzuzeigende Band unternimmt es, auf theoretischer wie auf Anwendungsebene diese Fragen zu problematisieren und Lösungen vorzuschlagen. Besonders hervorhebenswert ist die Tendenz vieler Beiträge, deutlicher als bisher historische Akteure in ihren Beziehungen zum Diskurs in die Analyse einzubeziehen. Dies hilft, die immer noch propagierte vermeintliche Dichotomie zwischen handlungs- und textbasierten Konzepten produktiv aufzulösen und einer Auffassung entgegenzutreten, die Diskurse als entpersonalisierte Strukturen missversteht. Hier und durch den Vorschlag von einigen konkreten methodischen Handlungsanleitungen für die historische Diskursanalyse leistet der Sammelband einen wichtigen Beitrag.

Keywords: Diskursanalyse, Geschichtswissenschaft, Foucault, Theorie, Anwendungen

Inhaltsverzeichnis

1. Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse

2. Theorie

3. Genealogie

4. Anwendungen

5. Quo vadis Diskursgeschichte?

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse

Die deutschsprachige Geschichtswissenschaft hat heute ein Verhältnis zur Diskursanalyse entwickelt, das ohne Zweifel deutlich entspannter ist als noch vor einiger Zeit. Franz EDERs Vorwort zu diesem Sammelband, der aus einem Themenheft der "Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" hervorgegangen ist (EDER 2005), ruft noch einmal die "hysterischen Reaktionen" in Erinnerung, die das Aufkommen diskursanalytischer Ansätze in den 1990er Jahren bei einigen deutschen Historiker/innen hervorgerufen hatte. Von einer solchen emotional überfrachteten Perzeption kann heute keine Rede mehr sein. Vielmehr ist eine "lebendige, die Fragestellungen, Theorien und Methoden befruchtende Debatte" zu konstatieren (S.9). Vielerorts, so lässt sich diesem Befund hinzufügen, ist die Diskussion um den "linguistic turn" sogar bereits wieder einer gewissen Indifferenz gewichen, weil andere Ansätze (als Beispiel seinen nur jene genannt, die ebenfalls das große Wort vom "turn" im Namen führen: "pictural turn", "spatial" turn", "performative turn") die fachinternen Debatten stärker beschäftigen. Unter jüngeren Historiker/innen ist der Gebrauch des Wortes "Diskurs" zu einer Selbstverständlichkeit geworden – womit allerdings, auch darauf weist EDER bereits in seiner Einleitung hin –, auch die Probleme beginnen: Es liegen heute eine Reihe von theoriegeleiteten methodischen Anleitungen (LANDWEHR 2001; SARASIN 2003) und Analysen (MASET 2002) bzw. Sammelbänden vor, die die Anwendung der Diskursanalyse auf konkrete historische Objekte in den Mittelpunkt stellen (MARTSCHUKAT 2002). Obwohl es also an methodischer Reflexion nicht mangelt, erscheint der Verweis auf den Diskurs doch oftmals eher als eine Referenz an den Zeitgeist, denn als überlegte Einführung eines analytisch nützlichen Begriffs. Der Diskursbegriff wird von vielen Historiker/innen nicht nur inflationär, sondern auch unbestimmt gebraucht, womit er als vollgültiges Analyseinstrument wiederum entwertet wird. Zu diesem unbefriedigendem Zustand trägt bei, dass auch die theoretische Literatur keine "einhellige Auffassung" anzubieten hat (S.11). Es fehlt jedoch nicht nur eine konsensfähige Definition des Diskursbegriffs, auch wichtige methodische Fragen zur Diskursanalyse sind nach wie vor weitgehend unbeantwortet. [1]

Hier möchte der Sammelband mit seinen insgesamt 18 Beiträgen ansetzen. Sein Ziel ist es, sowohl theoretische Grundlagenfragen zu thematisieren und, wenn möglich, zu klären, die Geschichte der Diskursanalyse selbst zu problematisieren und schließlich anhand von konkreten Anwendungsbeispielen die Potenziale des diskursanalytischen Ansatzes einmal mehr auszuloten. [2]

2. Theorie

Im ersten Beitrag des Bandes versucht Peter HASLINGER, die historische Diskursanalyse auf vier Ebenen zu erweitern und schlägt, ausgehend von der kommunikationswissenschaftlichen Propaganda-, Diffusions- und Rezeptionsforschung, vor: eine stärkere Berücksichtigung performativer Aspekte diskursiver Phänomene (etwa den Ersatz von Sprache durch nicht-sprachliche Mittel wie Gewalt, aufgezeigt am Beispiel der Propaganda), eine stärkere Abgrenzung einzelner funktionaler Aspekte diskursiver Prozesse (und damit ein Ersetzen des inflationär gebrauchten Diskursbegriffs durch andere Termini wie "Diskussion", "Debatte" oder "Thema"), eine deutlichere Beachtung der Medialität von Diskursen (eine Einbeziehung etwa von Bildern wie Landkarten oder Karikaturen, aber auch ein stärkeres Berücksichtigen von sozialen Reichweiten einzelner Diskurse in Abhängigkeit von der jeweils untersuchten "Gesellschaft"), schließlich eine stärkere Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit sprachübergreifender Relevanz von Diskursen, die mitunter "verdolmetscht" (S.44) werden müssen, um überhaupt eine gruppenüberschreitende Gültigkeit zu erzielen. Abschließend fasst HASLINGER seine Vorschläge in ein pragmatisches Frageraster zusammen, das als Grundlage für diskursanalytische Forschungsarbeiten dienen kann. [3]

Reiner KELLER plädiert in seinem Beitrag für eine stärker wissenssoziologische Profilierung der Diskursforschung und zeigt auf, welchen Gewinn diese aus einer Berücksichtigung der historisch-genealogischen Dimension von Wissen sowie aus der Analyse seiner Konflikthaftigkeit und Materialität ziehen könnte (S.67). Als Diskurse versteht er deshalb nicht ontologische Objekte, sondern Aussagezusammenhänge, die die an ihrer Produktion, Distribution und Rezeption beteiligten Akteure einschließen. [4]

Donald DAVIDSONs Theorie der "radikalen Interpretation" für die Diskursanalyse fruchtbar zu machen, versucht der Beitrag von Rüdiger GRAF. Auch sein Ziel ist es, den Akteuren in der Diskursgeschichte wieder größere Bedeutung beizumessen (S.80) – sein Ausgangspunkt ist dabei die sprachtheoretische Beobachtung, dass diskursive Praxis eine Dreiecksbeziehung von Sprecher/in, Interpret/in und Wissen über die Welt voraussetzt, sich deshalb also nicht auf autonome und vorgängige Regeln bezieht, sondern von Weltbildern und Lebensformen ausgeht, die weder unveränderlich sind, noch "von heute auf morgen umgestürzt werden können" (S.83). [5]

Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse versuchen Andreas FRINGS und Johannes MARX zu geben. Welche Bedingungen, so ihre Frage, entscheiden darüber, was an einer bestimmten Stelle und zu einer bestimmten Zeit tatsächlich gesagt wird? Zur Beantwortung dieser Frage greifen sie auf die alten Konzepte "Intentionen, Mentalitäten oder Interessen" (S.108) zurück und unterstellen als zentrales Kriterium sprachlichen Handelns "Verstanden-werden-wollen". Sprechen wird für sie zum rationalen Handeln im sozialen Kontext, und was sagbar ist und was nicht wird deshalb an eine soziale Rationalität zurückgebunden. [6]

3. Genealogie

Der zweite Abschnitt des Sammelbandes beschäftigt sich mit der Geschichte der Diskursanalyse selbst. Philipp SARASIN verfolgt zunächst die Genealogie des FOUCAULTschen Ansatzes der Diskursanalyse, eines "einigermaßen rätselhafte[n] Vorgang[s] (S.115). Er geht dabei von Michel FOUCAULTs Buch "Die Geburt der Klinik" (FOUCAULT 1963) aus. Das von diesem hier entwickelte anti-strukturalistische Diskurskonzept analysiert SARASIN als metaphorische Analogie zur anatomischen Medizin des Franzosen Xavier BICHAT, dessen räumlich perspektiviertes Denken FOUCAULT zum Ausgangspunkt seiner Analyse einer modernen Medizin nahm, die durch die klinische Erfahrung geprägt ist. Folgt man SARASIN, dann hat FOUCAULT in seiner Arbeit den Schritt von einer sprachlich fundierten Medizin der Arten zu einer in der Tiefe des Körpers nach Ordnungskriterien suchenden modernen Medizin mit seiner diskursanalytischen Methode selbst methodisch nachvollzogen – wie die Gewebe des Körpers isoliert diese Aussageformationen nach funktionalen Ähnlichkeiten und untersucht ihre Ordnung. Wie bereits in früheren Arbeiten (SARASIN 2002) zeigt SARASIN so erneut virtuos auf, wie stark FOUCAULTs Denken sich mitunter selbst in den Bahnen der von ihm untersuchten Objekte bewegte. [7]

Eine andere Perspektive schlägt dagegen der Beitrag von Sabine MÜLLER vor, der – in einer sehr dichten und mitunter unzugänglichen Sprache gehalten – den Geburtsort der FOUCAULTschen Diskursanalyse nicht im Nachvollzug einer Verräumlichung des Denkens analog zur anatomischen Medizin des 19. Jahrhunderts verortet, sondern in einem "Geist der Latenz". MÜLLER versteht darunter das "Medium einer Dialektik der Transparenz", welche um 1800 bislang gültige binäre Ordnungen von Sicht- und Unsichtbarkeiten ablöste (S.132). Wie SARASIN verteidigt auch MÜLLER die These, FOUCAULTs Denken in seiner Entwicklung aus den von ihm untersuchten Gegenständen heraus zu erklären – für sie ist die Diskursanalyse deshalb eine Methode, die einem latenten Gegenstand (dem Diskurs) ans Tageslicht helfen und damit eine neue Ordnung der Sichtbarkeit herstellen will (S.145). [8]

Arne KLAWITTER untersucht in seinem Aufsatz in einer wissensarchäologischen Perspektive das "Neue" oder epistemisch Andere innerhalb von historischen Wissensformationen (das "Ungedachte bzw. Undenkbare", S.159) als Kernfrage eines diskursanalytischen Ansatzes in der Tradition FOUCAULTs. Die Wissensarchäologie arbeitet gewissermaßen die Punkte heraus, welche innerhalb einer Episteme notwendig Leerstellen blieben, weil sie von dem jeweils als wahr anerkannten Wissen nicht erfasst wurden, so dass sie in einer nachfolgenden Wissensformation als neuartig erscheinen müssen (S.157). Von besonderer Bedeutung wird dies dann, wenn Diskursanalyse als Gegenwartsdiagnose die Untersuchung gegenwärtiger Wissensformationen unternimmt und deshalb die Position eines "Außen" erfordert, um die untersuchten Wissensbestände analytisch zu beschreiben. An FOUCAULTs Aufsatz "Das Denken des Außen" (FOUCAULT 2003) anschließend, weist KLAWITTER der modernen Literatur die Funktion zu, als "Diskurs über den Nicht-Diskurs" einen "Möglichkeitsraum für eine neue Diskursordnung zu eröffnen" (S.169) und damit Aussagen hervorzubringen, die in der gegenwärtigen Episteme noch unmöglich sind. [9]

Mit eingeführten geschichtswissenschaftlichen Begriffen setzt sich Markus OTTO auseinander. Das "Ereignis" beschreibt er – FOUCAULTs Analysen mit denen von Reinhart KOSELLECK und Niklas LUHMANN konfrontierend – in seinem Beitrag nicht mehr als bloßes Element oder Gegenstand von Geschichtswissenschaft, sondern als vom historischen Diskurs (in seiner historischen wie gegenwärtigen Dimension) zum Ereignis gemachte Modalitäten des Sagbaren (S.185), die ihre dauerhafte Identität erst aus einer wiederholten und reaktualisierenden Selbstbeschreibung im Diskurs beziehen. Im Gegensatz zu einer traditionellen Auffassung von historischer Sinnstiftung, die der Geschichtswissenschaft die Aufgabe zuweist, Ereignisse hermeneutisch zu dechiffrieren und sie so in ein Kontinuum der Geschichte einzulagern, verlegt sich eine diskursgeschichtliche Perspektive darauf, Ereignisse als Positivitäten zu begreifen, die im Medium historischer Diskursivität immer wieder neu beschrieben werden und der Geschichte so einen zutiefst kontingenten Sinn verleihen (S.179). Mit einem impliziten Verweis auf das Gouvernementalitätskonzept zeigt OTTO so die performativ generierte "Evenementalität" von Geschichtsschreibung auf und definiert Diskursgeschichte mit einer glücklichen Formulierung als "Wiederbeschreibung performativer Selbstbeschreibungen" (S.176). [10]

4. Anwendungen

Im ersten Beitrag dieses Abschnitts untersucht Claudia BRUNS am Beispiel des Männerbunddiskurses im wilhelminischen Kaiserreich die Rolle von Akteuren innerhalb einer Diskursformation und betont dabei, wie sehr die oft geäußerte Unterstellung, die Diskursanalyse schaffe das handelnde Subjekt ab und damit auch die Akteure in der Geschichte, ins Leere läuft. Vielmehr geht es, so BRUNS in Anschluss an Judith BUTLER, um eine "radikale Historisierung" von Akteurshandeln (S. 189) und darum aufzuzeigen, wie sich Diskurse in individuelle Selbstentwürfe und -praktiken einschreiben und so subjektives Handeln erst ermöglichen (S.202). [11]

Mit dem Überfremdungsdiskurs und der schweizerischen Flüchtlingspolitik setzt sich Patrick KURY auseinander und zeigt auf, dass die Rede von der "Überfremdung" in der Schweiz eine über hundertjährige Geschichte hat. In der Zeit des Nationalsozialismus eigneten sich Beamte der Fremdenpolizei, von KURY als "Schreibtischtäter" apostrophiert (S.217), diesen Diskurs an, der ihnen Handlungsoptionen für ihre abwehrende Haltung gegenüber jeder, auch vorübergehenden, Steigerung der Flüchtlingszahlen bot. Sie schufen sich so nicht nur eine eigene Realität, die für viele namentlich jüdische Flüchtlinge fatale Folgen hatte, sondern verhalfen dem Überfremdungsdiskurs auch zu einer Hegemonie – nicht zuletzt, weil er ihnen eine vermeintliche soziale Wertschätzung verschaffte, die sie bislang entbehren mussten (S.218f.). [12]

Die Digitalisierung der Telekommunikation auf dem Weg von der nationalstaatlichen zur europäischen Regulierung thematisiert Petra SCHAPER-RINKEL. Ihr geht es dabei insbesondere darum aufzuzeigen, wie diskursive Formationen (die unzähligen Verordnungen der Europäischen Kommission) neue Technologien wie neue Marktformen hervorbrachten. Indem sie damit retrospektiv der geläufigen Auffassung widerspricht, die Kommission habe mit ihrer Politik nur eine "quasi natürliche Entwicklung zu mehr Markt" nachvollzogen (S.235), bestätigt SCHAPER-RINKEL, zumindest teilweise, die Kritik der Gegner/innen des (vorerst) gescheiterten europäischen Verfassungsentwurfs, die diesem u.a. genau dies vorwarfen: einer als natürlich und unausweichlich dargestellten Marktlogik zu folgen, die tatsächlich durch die diskursive Praxis in den letzten Jahrzehnten erst hervorgebracht worden war. [13]

Siegfried JÄGER geht in seinem Beitrag den Problemen von Rassismus und Antisemitismus als Effekten aktueller und historischer Diskursverschränkungen nach. Unter dem sprachlich wenig glücklichen Titel "Diskursive Vergegenkunft" untersucht er die aktuelle Weiterwirkung historischer Diskursformationen. Die diskursiven Verschränkungen, die in Deutschland zu Faschismus und Judenmord geführt haben, setzen sich, so JÄGER, in modifizierter Form bis heute fort und stellen, im zunächst harmlos erscheinenden Kleid politischer Diskussionen über die Gründe der Arbeitslosigkeit etwa, ein gefährliches Potenzial dar, indem sie erst die Voraussetzungen für rassistisches, fremdenfeindliches und antisemitisches Gedankengut schaffen. Rassismus und Rechtsextremismus seien "Elemente dieser Gesellschaft und ihrer Geschichte und keine zufälligen Begleiterscheinungen, die auf gleichsam chirurgischem Wege entfernt werden könnten" (S.250). [14]

Gunnar MIKOSCH untersucht Juden als Thema von frühen mittelhochdeutschen Predigten im 12. und 13. Jahrhundert. Er verfolgt dabei den Transformationsprozess, den das Sprechen über Juden auf dem Weg von der klerikalen lateinischen Hochkultur zur volkssprachlichen Alltagsrede durchmachte und zeigt auf, dass die "Juden" der Predigten letztlich "nichts als Diskurse" (S.268) waren – Effekte einer von jeder sozialen Alltagserfahrung (etwa aus der ökonomischen Sphäre) abgelösten Redeweise, die sich nicht direkt gegen die Juden richtete, aber eine mentale Disposition zur Judenfeindschaft generierte, die soziales Handeln bis hin zum Pogrom vorbereitete. [15]

Mit dem Zusammenhang zwischen Religion und narrativer Identität setzt sich in ihrem Beitrag Dorothea NOLDE auseinander. Ihr Text fällt etwas aus dem Rahmen, steht er doch einer "reinen" diskursanalytischen Perspektive am wenigsten nah. Am Beispiel deutscher und französischer Reiseberichte der Frühen Neuzeit zeigt sie, wie sich Reisende "in einem überaus facettenreichen Repertoire religiöser Narrative" (S.285) verorteten, mit denen sie vor, während und nach ihrer Reise in Berührung kamen. Dabei positionierten sich die Reisenden nicht in einer Dichotomie von Eigenem und Fremden, sondern in einem multipolaren Beziehungssystem. Die Narrative waren ihnen nicht nur die Voraussetzung für die dynamische Ausbildung einer eigenen Identität, sondern sie wurden von ihnen durch die eigenen Reiseerzählungen auch selbst um eine Komplexität angereichert, die kulturelle und religiöse Grenzen nicht als statisch und fest gefügt erscheinen lässt, sondern als Ergebnis von Verschiebungen und Aushandlungsprozessen. NOLDEs Analyse zeigt so binnendiskursive Strukturen (Narrative) auf, die zwar nicht die Grenzen des jeweils Sagbaren verließen, dennoch aber Wissensformationen nicht als statische, sondern als dynamische Diskurse über Wirklichkeit erscheinen lassen. [16]

Bewerbungen um das Missionarsamt im 19. Jahrhundert stehen im Mittelpunkt des Beitrages von Sonia ABUN-NASR, die die ihnen beigefügten Lebensläufe zum Ausgangspunkt einer diskursanalytischen Untersuchung von Authentizität und Wahrheit innerhalb einer "pietistischen Diskursgesellschaft" (S.292) nimmt. Innerhalb des Diskurses vorgegebene Erzählstrukturen und konkrete Lebensgestaltung lassen sich dabei nicht voneinander trennen – das Leben der Bewerber/innen war von einer Orientierung an christlichen Idealbiographien geprägt und eröffnete deshalb nur Handlungsoptionen, die – positiv wie negativ – die Gültigkeit des pietistischen Diskurses zwangsläufig immer wieder bestätigten (S.301). [17]

Mit einem kommunikativen Paradox – der Verschränkung von Furcht und Furchtlosigkeit in frühneuzeitlichen Selbstbeschreibungen – setzt sich Andreas BÄHR auseinander. Im frühneuzeitlichen Wissen war die Annahme weit verbreitet, dass die Furcht das Befürchtete anzieht, weil es Strafe sei für die mit mangelndem Gottvertrauen gleichgesetzte Furcht (S.305). Diese Auffassung war nur eines von zahlreichen theologischen Paradoxa der Frühmoderne, die BÄHR nicht als mentale, sondern als semantische Gegensätze vorstellt und deshalb diskursanalytisch erschließt. Dabei geht es ihm auch um die – interessante – Herleitung eines methodischen Instrumentariums, das dem Sprachgebrauch nicht eine anthropologisch konstante Gefühlssubstanz hinter dem Wort unterstellt. Eine " 'historisch-kulturelle' Semantik" (S.317), wie sie BÄHR vorschlägt, versucht vielmehr, die Idee einer Diskontinuität von Geschichte ernst zu nehmen und zu vermeiden, Objekte der Vergangenheit mit "dem Paradigma moderner Subjektivität und Individualität" zu untersuchen. Ihm geht es deshalb nicht darum, den diachronen Bedeutungswandel des "Wortes Furcht" in der Geschichte zu untersuchen, sondern den synchronen Problem- und Wissenskontext, der sich um das Wort zu einer gegebenen Zeit gruppierte (a.a.O.). [18]

Begriffs- und Kulturtransfer zur Zeit der Französischen Revolution untersucht Susanne LACHENICHT am Beispiel zweier von "deutschen Jakobinern" (S.323) in Frankreich herausgegeben Journalen. Auch sie entfernt sich von einem im eigentlichen Sinne diskursanalytischen Zugriff und arbeitet mit quantitativ-linguistischen Methoden. Diese stehen jedoch, so LACHENICHT, in der Tradition der französischen sprachwissenschaftlichen analyse du discours, an die wiederum auch FOUCAULT mit seinem Diskurskonzept angeschlossen hat. Dabei verfolgt sie die Vermittlung revolutionärer Begriffe und revolutionärer Kultur von Frankreich nach Deutschland und gekennzeichnet diese Vermittlung als einen Transfer, der nicht nur auf eine Veränderung des Vokabulars, sondern auch auf eine neue Semantik alter Begriffe hinauslief. Diese willentliche Neuprägung von Begriffen im öffentlichen deutschen Sprachgebrauch, aber auch der unbewusste Begriffstransfer, den sie an den Beispielen "Freiheit", "Gleichheit", "Brüderlichkeit", "Nation", "Volk", "Religion" (und ihr verbundenen Begriffen wie "Priester" oder "Fanatiker") aufzeigt, lief ihr zufolge auf eine Durchdringung der deutschen Alltagssprache mit politisierten Begriffen hinaus und wurde damit zur Voraussetzung für einen national aufgeladenen Diskurs, der sich im 19. Jahrhundert (auf S.335 steht wohl fälschlicherweise "18. Jahrhundert") gegen eben jenes Land wenden sollte, dessen revolutionärem Denken und Sprechen er ursprünglich entstammte. LACHENICHTs Beitrag präsentiert so implizit Ergebnisse, die an neuere Ansätze einer "histoire croisée" denken lassen und einer interkulturellen Diskursanalyse den Weg weisen. [19]

5. Quo vadis Diskursgeschichte?

Insgesamt betrachtet, stellt der vorliegende Sammelband eine reiche Palette an Arbeiten vor, die in vielerlei Hinsicht zu methodischen Fragen der Diskursanalyse Stellung beziehen und Lösungen vorschlagen. Besonders hervorzuheben ist sicherlich die insbesondere in den theoretischen Beiträgen angemahnte, in einigen Anwendungen aber bereits auch schon eingelöste stärkere Berücksichtigung der Akteursebene. Hier werden in der Tat bislang ungenügend ausgeschöpfte Potentiale aufgezeigt, die Mut machen. Mitunter führt dies zu faszinierenden Einsichten, die weit über das gängige Verständnis von Diskursanalyse hinausreichen und diese als anschlussfähig an zahlreiche andere geschichtswissenschaftliche Herangehensweisen zeigen (beispielsweise an den immer stärker Gewicht erringenden Performanz-Ansatz). Zu begrüßen ist diese Annäherung vor allem, weil sie die immer noch propagierte vermeintliche Dichotomie zwischen handlungs- und textbasierten Konzepten produktiv auflöst. Zu hoffen ist, dass es eine Auffassung, die Diskurse als entpersonalisierte Strukturen missversteht, in Zukunft schwerer haben sollte, Anhänger/innen zu finden. Der Sammelband leistet hierzu einen wichtigen Beitrag. Auch die in zahlreichen Aufsätzen aufgezeigten methodischen Erweiterungen der Diskursanalyse sind außerordentlich anregend und können zur Lektüre empfohlen werden. Dort, wo sie zusätzlich mit konkreten forschungspragmatischen Handlungsanleitungen verbunden sind, können sie unmittelbar zukünftige Arbeiten befruchten. [20]

Problematischer erscheint dagegen, dass der hohe theoretische Anspruch, den das "diskursanalytische Forschungsprogramm" (S.13) weiter aufstellt, immer wieder in eine Sprache mündet, die es mitunter auch instruierten Leser/innen nur mit Mühe möglich macht, der Argumentation zu folgen. Wenn Gérard NOIRIEL schon 1994 die Forderung aufstellte, FOUCAULT in die Sprache der Historiker/innen zu übersetzen (NOIRIEL 1994, zit. nach dem Beitrag von KLAWITTER, S.151), dann muss man reichliche zehn Jahre später konstatieren, dass dies immer noch nicht gelungen ist – jedenfalls nicht mit diesem Sammelband. Auch wenn es grob unfair wäre, allen Autor/innen vorzuwerfen, einem "philosophischen" Stil, verschwurbelten Satzkonstruktionen, dem inflationären Einsatz von Substantivierungen oder dem Drang zum Neologismus zu frönen, so sind Tendenzen in diese Richtung doch in vielen Beiträgen nicht zu verkennen. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern auch der Rezeption des ihnen zugrunde liegenden Anliegens, vor allem aber dem Dialog mit anderen Strömungen der aktuellen Geschichtswissenschaft, kaum förderlich. Ein solcher Dialog, der wiederum in vielen Beiträgen bereits angelegt ist, wäre jedoch dringend wünschenswert. Dies auch, weil die Arbeiten anderer Theoretiker (z.B. des von mehreren Autor/innen zitierten Pierre BOURDIEU) nicht nur die Diskursanalysen FOUCAULTscher Tradition ergänzen, sondern auch in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft derzeit intensiv rezipiert werden. Auch die immer noch sehr starke theoretische Orientierung am französischen (oder besser: amerikanischen?) "Guru" der Diskursanalyse, die auch in diesem Sammelband unverkennbar ist, ließe sich so perspektivisch auflösen. Eine verständliche Sprache und Argumentationsführung erleichterte schließlich auch den Kontakt mit Historiker/innen, die sich in ihren Arbeiten auf FOUCAULTsche Texte beziehen (zu nennen wären etwa Kriminalitäts-, Armuts- oder Sozialstaatsforscher/innen), dabei jedoch weder reine Diskursgeschichte betreiben, noch eine ausgeprägte Lust verspüren, den Höhenkamm des "Diskurs-Diskurses" zu erklimmen. [21]

Literatur

Eder, Franz X. (Hrsg.) (2005). Das Gerede vom Diskurs – Diskursanalyse und Geschichte. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 16(4). (Themenheft)

Foucault, Michel (1963). Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical. Paris: P.U.F.

Foucault, Michel (2003). Das Denken des Außen. In Michel Foucault, Schriften zur Literatur (hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, S.208-233). Frankfurt/M. Suhrkamp,.

Landwehr, Achim (2001). Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen: edition diskord.

Martschukat, Jürgen (Hrsg.) (2002). Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt/M.: Campus.

Maset, Michael (2002). Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Frankfurt/M.: Campus.

Noiriel, Gérard (1994). Foucault and history. The lessons of a disillusion. Journal of Modern History, 66, 547-568.

Sarasin, Philipp (2002). Foucault, Burckhardt, Nietzsche – und die Hygieniker. In Jürgen Martschukat (Hrsg.), Geschichte schreiben mit Foucault (S.195-218). Frankfurt/M.: Campus.

Sarasin, Philipp (2003). Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Zum Autor

Falk BRETSCHNEIDER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre de recherches interdisciplinaires sur l’Allemagne (UMR 8131, CNRS/EHESS) Paris. Forschungsschwerpunkt: Sozialgeschichte des Freiheitsentzuges vom 18. bis 20. Jahrhundert.

Kontakt:

Dr. Falk Bretschneider

CRIA
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Zitation

Bretschneider, Falk (2007). Rezension zu: Franz X. Eder (Hrsg.) (2006). Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen [21 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), Art. 17, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702179.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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