Volume 9, No. 1, Art. 48 – Januar 2008

Zur Konstruktion von Wissen im Kontext biografischer Krankheitsdeutungen. Professionelle Interventionen und kollektive therapeutische Prozesse bei psychosomatisch erkrankten Frauen

Kirsten Hohn & Andreas Hanses

Zusammenfassung: Die Konstruktion von Wissen und der Umgang mit unterschiedlichen Wissensformen und -trägerInnen werden am Beispiel von Interviews mit Teilnehmerinnen psychosomatischer Nachsorgegruppen im Frauengesundheitszentrum Bremen analysiert. Grundlegend für die Konstruktion von Wissen durch die Frauen sind zum einen die Interaktionen mit professionellen ExpertInnen und die Auseinandersetzung mit deren medizinischem, therapeutischem und pädagogischem Wissen. Zum anderen entstehen diese Konstruktionen auf dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Erfahrungen und biografischer Konzepte sowie im Zusammenhang mit den interaktiven und kollektiven Erfahrungen im Rahmen der psychosomatischen Nachsorgegruppen. Während gegenüber dem durch ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen vermittelten Wissen eine mehr oder weniger große Distanz bzw. Ablehnung seitens der Frauen besteht, zeichnet sich das u.a. kollektiv erzeugte Erfahrungswissen durch seine biografische Anschlussfähigkeit aus. Bedeutsam sind hier die kollektiven therapeutischen Prozesse und der Austausch und die (Re-) Konstruktion von Erfahrungen v.a. in Bezug auf sexualisierte Gewalt und problematische Beziehungssituationen.

Keywords: ExpertInnenwissen, biografisches Wissen, kollektive Wissenskonstruktion, Erfahrung, Handeln, psychosomatische Rehabilitation, sexualisierte Gewalterfahrungen

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Unterschiedliche Wissensformen im Kontext von psychosomatischer Rehabilitation

2.1 Professionelles ExpertInnenwissen

2.2 Biografisches Wissen

3. Nutzung der unterschiedlichen Wissensformen durch Teilnehmerinnen der Nachsorgegruppen im Frauengesundheitszentrum

Literatur

Zum Autor und zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Die folgenden Überlegungen sind im Kontext der wissenschaftlichen Begleitung eines psychosomatischen Nachsorgeangebotes des Frauengesundheitszentrums Bremen entstanden. Das Frauengesundheitszentrum Bremen hat seit 1999 ein gruppenpsychotherapeutisches Angebot, an dem Frauen teilnehmen, die zuvor mehrere Wochen in einer stationären psychosomatischen Rehabilitation waren. Die Evaluation wurde im dritten Jahr des zunächst als Modellprojekt von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Oldenburg-Bremen finanzierten Angebotes am Institut für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung der Universität Bremen durchgeführt. [1]

Es wurden mit 21 Teilnehmerinnen und ehemaligen Teilnehmerinnen biografisch-narrative Interviews geführt, in denen mit der Eingangsfragestellung jeweils die Lebensphase angesteuert wurde, mit der aus der Sicht der Frauen der Beginn der psychosomatischen Erkrankung verbunden war. Ziel war es festzustellen, inwieweit das Angebot der ambulanten Nachsorge für die Teilnehmerinnen eine Unterstützung bietet, die Erfahrungen und Lernprozesse, die sie in der Klinik gemacht haben, in ihren Alltag zu integrieren, und welche Bedeutung dabei das spezifische Angebot des Frauengesundheitszentrums hat (vgl. HANSES, HOHN & KEIL 2002, S.1). [2]

Im Zuge der Analyse der Interviews wurde deutlich, dass der Umgang mit unterschiedlichen Wissensformen bzw. mit den TrägerInnen und VermittlerInnen von unterschiedlichem Wissen für die interviewten Frauen häufig eine zentrale Bedeutung in der Selbstpositionierung, im Selbstverstehen und für die Lösung zu bewältigender Probleme und Konflikte hatte. Im Folgenden soll den sich daraus ergebenden Fragen nach der Konstruktion von Wissen, dem Zusammenhang zwischen Wissen und Erfahrung und zwischen Wissen und Handeln am Beispiel der individuellen und kollektiven Lernprozesse der Teilnehmerinnen der Nachsorgegruppen nachgegangen werden. [3]

Zunächst einige grundsätzliche Vorüberlegungen zu den Begriffen Erfahrung, Wissen und Handeln und deren Verknüpfungen: Generell gehen wir davon aus, dass Wissen nicht auf objektiven Wahrheiten beruht, sondern immer gesellschaftlich konstruiert wird. Unterteilt man den Begriff des Wissens in die zwei Dimensionen Informationen und Erkenntnisse (vgl. v.a. STEHR 2003, S.42ff.), so wird deutlich, dass beiden ein unterschiedliches Maß an Objektivität, Wahrheit und Authentizität zuerkannt wird. Mit Informationen sind beispielsweise professionell beschriebene Krankheitsverläufe, Diagnosen etc. gemeint, Erkenntnisse schließen die mit einem Krankheitszustand verbundenen subjektiven Erfahrungen, die nicht der Allgemeinheit zugänglich oder vermittelbar sind, mit ein. Informationen haftet der Charakter des Wahrhaftigen, wissenschaftlich Belegten und Objektiven an, während Erkenntnisse, die terminologisch den Prozess des Erkennens und der dahinterstehenden Subjekte und jeweiligen Erkenntnisweisen einbinden, als subjektiver, personen- und kontextbezogener aufgefasst werden. In Bezug auf beide Dimensionen, auf Informationen und Erkenntnisse, wird Wissen diskursiv erzeugt und ist in sozialer, zeitlicher und räumlicher Hinsicht standortgebunden (vgl. auch BERGER & LUCKMANN 1994; KLATETZKI & TACKE 2005; HANSES 2007a). [4]

So wie soziale Interaktionen eine Voraussetzung für die Herstellung von Wissen sind, so verstehen wir Wissen wiederum als Voraussetzung für soziales Handeln und schließen uns insofern Nico STEHR an, der Wissen als Handlungsvermögen bzw. als "Fähigkeit zum sozialen Handeln" (STEHR 2001, S.62) und als "Bedingung für soziales Handeln" (STEHR 2003, S.34) beschreibt. Zwischen Wissen und Handeln besteht in STEHRs Konzeption eine Wechselwirkung: "Wissen kann zu sozialem Handeln führen und ist gleichzeitig Ergebnis von sozialem Handeln" (STEHR 2003, S.34). STEHR, dessen Analysekontext vor allem das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bzw. Wirtschaft ist, konstatiert, dass ein Zuwachs an Wissen die Produktion immer neuer Handlungsmöglichkeiten und -chancen bewirkt (STEHR 2001, S.68) und dass für die "Verbreitung von Wissen ... individuelles beziehungsweise kollektives 'Lernen' vorauszusetzen ist" (STEHR 2001, S.69). [5]

Eine ähnliche Interdependenz wie zwischen Wissen und Handeln besteht im Verhältnis von Wissen und Erfahrung. Im Kontext von Auseinandersetzungen um politische Kollektivierungen und damit verbundenen Ein- und Ausschlüssen hat Joan SCOTT (1992) die These der sozialen Konstruiertheit von Erfahrung aufgestellt und darauf hingewiesen, dass "jede Erfahrung ein Produkt bestimmter Diskurse ist" (SCOTT 2001, S.78). Entscheidend hieran ist die Konsequenz, dass Erfahrung "an Sprache, Denkweisen und Mitteilbarkeit / Mitteilung gebunden" ist (GERHARDT 2001, S.90). Ute GERHARDT hebt daraus treffend den Charakter der Erfahrung als eine "Form der Konstruktion und Aneignung von 'Wirklichkeit', einen stetig fortschreitenden Prozeß der Gestaltung und Deutung dessen, was wir wahrnehmen, fühlen, wissen" hervor. Erfahrung als soziale Konstruktion verstanden bildet eine Basis für die Konstruktion von Wissen, vor allem wenn sie nicht nur mitteilbar ist, sondern auch mitgeteilt wird und insofern zu einem kollektiven Wissensbestand wird. Umgekehrt ist auch ein (kollektives) Wissen eine Basis für die Konstruktion von biografischen Erfahrungen. Bettina DAUSIEN analysiert, inwiefern biographische Konstruktionen und Erzählungen Produkte sozialer Aktivitäten und Interaktionsprozesse sind (DAUSIEN 1996, S.575). Diese hier nur kurz skizzierten Zusammenhänge und Interdependenzen von Wissen, Erfahrung und Handeln werden im Folgenden an der kollektiven Wissensproduktion und dem auch individuell genutzten Wissen im Rahmen des Projektes der psychosomatischen Nachsorge beispielhaft beschrieben (vgl. auch HANSES 2007b). [6]

2. Unterschiedliche Wissensformen im Kontext von psychosomatischer Rehabilitation

Wissen, Erfahrung und die Suche nach (neuen) Handlungsmöglichkeiten bzw. der Rückgriff auf bestehende Handlungsressourcen bestimmen zentrale Auseinandersetzungsprozesse, die die interviewten Frauen thematisieren. Auf der Suche nach Problemlösungen und Handlungsmöglichkeiten setzen sich die interviewten psychosomatisch erkrankten Frauen mit verschiedenen Formen von Wissen und mit dementsprechend unterschiedlichen WissensträgerInnen auseinander. Dieses Wissen wird ihnen in der Chronologie ihrer institutionalisierten Krankheitsgeschichten auf verschiedene Weisen vermittelt. In der Ereignischronologie, die alle Frauen durchlaufen haben, steht zunächst ein hausärztlicher Besuch, bei dem eine Diagnose gestellt und die stationäre Rehabilitation verhandelt und in Folge dessen beantragt wird. Nach einer erfolgreichen Beantragung folgen dann der stationäre Rehabilitationsaufenthalt – je nach Problem- bzw. Krankheitssituation in unterschiedlichen, vom Wohnort fernen Kliniken – und schließlich die Teilnahme an der ambulanten Nachsorgegruppe im Frauengesundheitszentrum. [7]

Die Frauen sind in diesem Prozess mit zweierlei Wissen konfrontiert: einerseits mit professionellem ExpertInnenwissen, das außerhalb ihrer selbst produziert wurde/wird, und andererseits mit biografischem bzw. Erfahrungswissen, an dessen Produktion sie selbst teilhaben. Ersterem ist das v.a. schulmedizinische ÄrztInnenwissen, das ihnen durch HausärztInnen und KlinikärztInnen vermittelt wird, sowie das therapeutisch-pädagogische Wissen von PsychotherapeutInnen zuzurechnen, letzteres konstituiert sich durch die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und biografischen (Selbst-) Reflexionen der Frauen vor allem im sozialen Diskurs der Nachsorgegruppen. [8]

Welche Rolle spielen nun diese unterschiedlichen Wissensformen für die Frauen, wie gestaltet sich der Zugang und der Umgang der Frauen mit dem unterschiedlichen Wissen und welche Auseinandersetzungen mit den jeweiligen WissensträgerInnen finden dabei statt? [9]

2.1 Professionelles ExpertInnenwissen

Der Beginn der psychosomatischen Krankheitsgeschichten liegt in den Erzählungen der Frauen fast immer in der Feststellung Dritter, dass es so nicht mehr weitergehe. Häufig ist es die Hausärztin oder der Hausarzt, die/der das nach einem meist längeren Behandlungsprozess feststellt. In den interaktiven Situationen zwischen ÄrztIn und Patientin geht es u.a. um den Austausch, um die Vermittlung und den Vorbehalt von Wissen und dabei in der Regel um medizinisches, wissenschaftliches Wissen mit Informationscharakter. Die Erzählungen der interviewten Frauen machen deutlich, dass der vermeintliche Austausch sich strukturell als eindimensional erweist. Das in der Kommunikation zwischen ÄrztIn und Patientin verhandelte Wissen rekurriert auf medizinisches ExpertInnenwissen. Unter Ausschluss des biografischen Erfahrungswissens der Frauen und der Selektion mitgeteilten Wissens wird in dem Setting ärztlicher Interaktionsordnung ein Machtverhältnis etabliert. Auch die potenziell denkbaren Behandlungswege und deren Vermittlung bzw. Verschreibung unterliegen diesem Machtverhältnis. Es sind fast ausnahmslos nicht die Frauen selbst, die auf eine stationäre Rehabilitation drängen, sondern es sind die ÄrztInnen, die diese beantragen und durch ihre Möglichkeit, dies zu unterstützen oder eben auch nicht, eine gate-keeper-Funktion in die stationäre Rehabilitation erfüllen. Und wenn es doch einmal umgekehrt ist – wie bei einer Interviewpartnerin, die unbedingt eine Rehabilitation machen will –, dann sind es wiederum die Ärzte und Ärztinnen, die als Vermittler an dieser Schnittstelle fungieren, indem sie ihr diesen Weg zunächst verweigern und erst nach ihrem unnachgiebigen Fordern ermöglichen, und auf deren Handeln sie letztendlich angewiesen ist. [10]

Der hohen Bedeutung des professionellen medizinischen Wissens steht die in den Erzählungen der Frauen kaum wahrnehmbare Bedeutung des biografischen Wissens im ÄrztIn-Patientin-Gespräch gegenüber. Selbst wenn biografische Aspekte wie z.B. die jeweilige aktuelle familiäre Situation im Gespräch zwischen ÄrztIn und Patientin zum Thema werden, sind es doch die medizinische Diagnose und der medizinische Behandlungsvorschlag, die die Frauen als ausschlaggebend in der Begegnung mit dem Arzt oder der Ärztin beschreiben. Die spezifische Interaktion zwischen ÄrztIn und Patientin kann vor dem Hintergrund spezifischer Rahmungen verstanden werden (vgl. ALHEIT & HANSES 2004; sowie HANSES 2006, 2007b und c). Hierzu zählen die personelle Konstellation und die institutionellen Rahmungen sowie die damit zusammenhängenden jeweiligen Vorstellungen, Annäherungen und Akzeptanzen von professionellem und biografischem Wissen. [11]

Jeweils als Einzelpersonen mit biografischen bzw. körperlichen Erfahrungen stehen die interviewten Frauen dem Arzt/der Ärztin und deren ExpertInnenwissen gegenüber. Mit deren medizinischem Wissen korrespondiert eine – sich an eine traditionelle Arzt-Patientin-Beziehung anlehnende – Erwartungshaltung, nach der MedizinerInnen als ExpertInnen "über Gesundheit und Krankheit ihre fachliche Kompetenz deutlich markieren sollen, dass eine klare Diagnose und ein überzeugender Therapievorschlag erwartet wird, jedenfalls nicht nur eine psychosoziale Beratung" (ALHEIT & HANSES 2004, S.16). Die Reduktion der Interaktion von ÄrztIn und Patientin auf die eindimensionale Vermittlung medizinischen ExpertInnenwissens beruht also u.a. auf der gegenseitigen Erwartungshaltung und dem jeweiligen Rollenverständnis von sich selbst und vom Gegenüber. Dem institutionalisierten Verhältnis des ÄrztIn-PatientIn-Gesprächs sind die Zuweisungsstruktur von Behandlungen und Therapien sowie die Nichtbeachtung biografischer Wissensbestände der Patientin quasi immanent. Im Rahmen dieses institutionalisierten Verhältnisses entwickelt sich keine Struktur der partizipativen Aushandlung zwischen ÄrztIn und Patientin, als deren Ergebnis die Beantragung einer psychosomatischen Rehabilitation als gemeinsames Produkt verstanden werden könnte, und ebenso wenig ein partizipativer Wissensaustausch, in den neben dem ExpertInnenwissen der Ärztin/des Arztes auch das biografische Wissen der Patientin einginge. Die tradierte Erwartungshaltung und das institutionalisierte Verhältnis zwischen ÄrztIn und Patientin begründen eine Struktur nicht der Aushandlung, sondern der Zuweisung einer Behandlung. Doch auch wenn in den ÄrztIn-Patientin-Gesprächen die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und biografischen Konstruktionen der Frauen ausgeblendet werden, können die Frauen die Gespräche mit der Ärztin/dem Arzt für sich nutzen. Gerade die ärztlichen Diagnosen erfüllen eine entscheidende Legitimationsfunktion für die Teilnahme an der Rehabilitation. Dabei geht es den Frauen meist nicht um ein subjektives Verstehen der Diagnosen oder eine Einbindung in das biografische Selbstverstehen, sondern es geht darum, im sozialen Umfeld ein mehrwöchiges Ausbrechen aus dem Alltag rechtfertigen zu können. Die häufig schwierige Selbsterklärung gegenüber dem jeweiligen, v.a. familiären sozialen Umfeld und die Forderung, sich für einige Wochen aus den familiären Verpflichtungen zu lösen (meist geht es dabei um Haushalt und/oder Kinderversorgung), erfahren eine Legitimation durch medizinische Professionelle. [12]

Der Umgang mit medizinischem Fachwissen und mit der Erfahrung, auf den Erhalt bzw. die Vorenthaltung des Fachwissens der ÄrztInnen letztlich wenig Einfluss zu haben, ist bei den einzelnen Frauen unterschiedlich. Bleiben einigen Frauen medizinische Erklärungen vollkommen fremd und haben sie nicht im entferntesten die Idee, sich diese zu eigen zu machen und für sich zu nutzen – z.B. durch die Aufnahme in eigentheoretische Überlegungen oder handlungspraktische Umsetzungen – so nutzen andere Frauen das Wissen, das ihnen angeboten wird, zur Selbsterklärung. Ein Teil der Frauen distanziert sich aber auch explizit von den Wissensangeboten, die ihnen ärztlicherseits gemacht oder aber vorenthalten werden. Die Ablehnung ärztlicher Anordnungen geschieht bei mehreren Frauen durch das Absetzen von Medikamenten, v.a. Psychopharmaka, über deren Nebenwirkungen sie (zumindest nach ihrer Erinnerung) nicht aufgeklärt wurden, die sie aber am eigenen Leib erfahren. Einige Frauen entwickeln Eigentheorien an der Stelle, wo sie eigentlich fachliche Erklärungen von professioneller Seite erwarten, und Handlungsweisen, wo sie Behandlungen oder Handlungsanweisungen erwarten. Eigentheoretisches Denken und Handeln kann hierbei durchaus als Gegenstrategie gegen professionelle Wissensblockaden verstanden werden. [13]

Andere Formen der Blockade ärztlichen Wissens finden sich bei einer Interviewpartnerin, die in einer jahrelangen Krankheitsgeschichte die Interaktion mit Ärzten und das von ihnen vermittelte Wissen als dogmatisch, vorschreibend und falsch erlebt – falsch in dem Sinne, dass es sich nicht mit ihren Körpererfahrungen deckt. Als Strategie dagegen kann ihr Berufswechsel und eine Umschulung zu einem medizinischen Beruf verstanden werden, mit der sie sich selbst zu einer medizinischen Fachfrau macht. Dem immer wieder an sie herangetragenen schulmedizinischen Wissen entzieht sie sich in einem langen Prozess schließlich durch die Zuwendung zu alternativmedizinischen Heilverfahren und durch die Aufnahme der dahinter steckenden Theorien in eigentheoretische Deutungsmuster. [14]

Neben dem medizinischen Wissen der ÄrztInnen sind die Frauen im Prozess der psychosomatischen Rehabilitation mit dem Wissen von PsychotherapeutInnen konfrontiert – zumindest in den einzel- und gruppentherapeutischen Angeboten in der Klinik und später im Frauengesundheitszentrum, teilweise zudem in begleitenden ambulanten Psychotherapien. Sowohl ÄrztInnen als auch PsychotherapeutInnen sind für die Frauen professionelle InteraktionspartnerInnen, die bestimmte Funktionen und Rollen in den jeweiligen Rehabilitationsprozessen erfüllen. Aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen – der professionsspezifischen Sicht- und Handlungsweisen sowie der jeweils institutionalisierten Praxis – differieren die Bedeutungen beider Professionellengruppen in den jeweiligen Rehabilitationsprozessen jedoch erheblich. Die Konfrontation mit dem Wissen der PsychotherapeutInnen verläuft für die Frauen weniger direkt als die Auseinandersetzung mit dem medizinischen Fachwissen. Aus Sicht der PsychotherapeutInnen geht es nicht vorrangig darum, therapeutisches Wissen in Form von Informationen weiterzugeben, sondern darum, dieses Wissen als Grundlage psychotherapeutischen Arbeitens zu nutzen. Wissen kann also im Rahmen des psychotherapeutischen Arbeitens als Handlungsvermögen für die PsychotherapeutInnen verstanden werden. Erkenntnisprozesse, die sich in den therapeutischen Prozessen für die Klientinnen ergeben, bedeuten in der Folge auch die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten für sie. Die Beschreibung von Wissen als Handlungsvermögen beinhaltet auch, dass das Wissen tatsächlich nicht unbedingt explizit weitergegeben bzw. genutzt werden muss. Im Verhältnis von psychotherapeutischen WissensträgerInnen zu den psychosomatisch erkrankten Frauen gestaltet sich die Verteilung von Wissen ähnlich wie zwischen ÄrztInnen und PatientInnen. Auch hier besteht ein Machtverhältnis, in dem es von den PsychotherapeutInnen abhängt, inwieweit sie ihre Klientinnen an ihrem Wissen teilhaben lassen – sei es als Vermittlung von Informationen oder aber als therapeutisch oder pädagogisch begründete Unterstützungen in jeweiligen biografischen Erkenntnisprozessen. [15]

Doch anders als im Kontakt mit den ÄrztInnen gewinnen die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und biografischen Konstruktionen im Gespräch mit den PsychotherapeutInnen an Bedeutung und werden zur Bedingung professionellen Handelns. Einerseits zeigt sich ein ähnliches Befremden der Frauen gegenüber psychotherapeutischen Informationen wie gegenüber dem von den ÄrztInnen vermittelten Wissen, andererseits zielt das psychotherapeutische Arbeiten viel mehr auf eine biografische Ebene, als dies in den ÄrztIn-Patientin-Gesprächen geschieht. Biografische Auseinandersetzungen werden hier stärker eingefordert, Deutungsmuster auf einer biografischen Ebene angeboten. Die Begegnungen mit PsychotherapeutInnen, die z.T. im Kontext des Klinikaufenthaltes, vor allem aber im Gespräch mit der Nachsorgegruppe im Frauengesundheitszentrum erzählt werden, ereignen sich für die Frauen fast ausschließlich vor dem strukturellen Hintergrund einer Gruppensituation. Zwar findet sich diese innerhalb eines professionellen Angebots, das institutionell (durch die Vermittlung der LVA bzw. der Klinik) eingeleitet wurde, doch unterliegt sie anderen Bedingungen. Nicht nur die nichtmedizinischen Professionellen und der nichtmedizinische Ort, sondern vor allem die Gruppe und deren Organisationsstruktur schaffen Bedingungen, die die eindimensionale Vermittlung des ExpertInnenwissens in Frage stellen. Das professionelle – hier therapeutisch-pädagogische – Wissen wird in der Gruppe erprobt und reflektiert und z.T. darüber hinausgehend in den Alltag integriert. Viel mehr als im ÄrztIn-Patientin-Gespräch werden hier die Frauen selbst – im Kollektiv der Gruppe – zu Akteurinnen dieses Wissens. Die Gruppenpsychotherapeutinnen treten dabei in den Hintergrund, wenn sie statt der Rolle der informationsvermittelnden Expertinnen die Rolle von Moderatorinnen von Gruppenprozessen einnehmen und Erkenntnis- und Deutungsprozesse anleiten und geschehen lassen. [16]

Anders als von den Gesprächen mit den ÄrztInnen, erzählen die meisten Frauen von positiven, unterstützenden Erfahrungen mit bzw. durch die PsychotherapeutInnen und beschreiben einen Zugewinn an Biografizität im Kontext der psychotherapeutischen Situationen. Mit Biografizität ist dabei die Fähigkeit gemeint, biografische Reflexionen in Bewältigungs- und Handlungsstrategien umzusetzen (vgl. ALHEIT 1995, S.300). Erklärungen, Gespräche und gruppendynamische Übungen können mehrere Frauen dazu nutzen, die eigene aktuelle und lebensgeschichtlich begründete Situation zu verstehen, zu deuten und mit den daraus folgenden Erkenntnissen ihre Handlungsressourcen zu erweitern. Beispielsweise werden Erlebnisse mit der Methode des Psychodramas mehrfach als wesentliche Erfahrungen in der Nachsorgegruppe beschrieben. Das Beherrschen von autogenem Training und anderen Entspannungsmethoden wird häufig als in der Klinik und in der Nachsorgegruppe vermittelter Lernerfolg beschrieben, auf den die Frauen später in ihrem Alltag immer wieder zurückgreifen können. Auch der von PsychotherapeutInnen vermittelte Tipp, lieber einen Spaziergang zu machen als ein Antidepressivum zu nehmen, wird bei einigen Interviewpartnerinnen zur im Alltag umgesetzten Handlungspraxis. [17]

Den PsychotherapeutInnen in der Klinik sowie vor allem in der Nachsorgegruppe wird insgesamt wesentlich mehr Offenheit entgegengebracht als den ÄrztInnen. Das von ihnen Vermittelte – die Erklärungen über psychosoziale Zusammenhänge ebenso wie Erfahrungen mit gruppenpsychotherapeutischen Prozessen und Übungen (z.B. Psychodramasituationen) und therapeutische Übungen zum Mitnehmen (Yoga, Autogenes Training etc.) – kann eher biografisiert, d.h. mit dem eigenen Leben in Zusammenhang gebracht werden. Dass die Psychotherapeutin "die richtigen Fragen gestellt hat" oder die Zusammenhänge so erklärt hat, dass sie verstanden wurden, wird von mehreren Interviewpartnerinnen so und ähnlich beschrieben. Dennoch bleibt auch in diesem Verhältnis und dieser Form von Wissensvermittlung häufig eine Fremdheit gegenüber dem psychotherapeutischen Wissen bestehen. Viele Erklärungen, Ansätze und Fragestellungen werden als befremdend geschildert und der Zusammenhang zur eigenen Lebenssituation wird oft nicht hergestellt. [18]

2.2 Biografisches Wissen

Das biografische Wissen der Frauen – ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen und biografischen Deutungen – erfüllt andere Funktionen im Rehabilitationsprozess als das professionelle Wissen von ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen. Im Kontrast zu jenem schaffen der Einbezug und eine hohe Relevanzsetzung des biografischen Wissens die Möglichkeit der Partizipation und Mitbestimmung des Rehabilitationsprozesses. Folgt man den Selbstpräsentationen der interviewten Frauen, so wird das biografische Wissen vor allem in der Phase der Umsetzung rehabilitativer Lernprozesse – d.h. in der Nachsorgegruppe – bedeutsam. Das biografische Wissen gewinnt umso mehr an Bedeutung, wie der Einfluss professionellen ExpertInnenwissens und die Institutionalisierung der rehabilitativen Lernprozesse schwinden und kollektive Gesprächsformen die Eindimensionalität des Verhältnisses von Professionellen zur Patientin ablösen. [19]

Als weiteres Kriterium für die Einbeziehung biografischen Wissens in den rehabilitativen Prozess kann das jeweilige Setting einer Gruppe verstanden werden. So zeigen sich z.B. bedeutsame Unterschiede zwischen den therapeutischen Gruppen im Rahmen der psychosomatischen Klinik und des Frauengesundheitszentrums. In den Erzählungen der Frauen wird deutlich, dass die Gruppen in diesen beiden rehabilitativen Situationen sehr unterschiedlich konzipiert und strukturiert waren. Unterlagen die psychotherapeutischen und sonstigen sozialen Bezugsgruppen in der Klinik einer starken (meist wöchentlichen) Fluktuation, erfuhren die Frauen die jeweiligen Nachsorgegruppen in der personellen Zusammensetzung als Konstanz. Das heißt, was die Frauen von sich erzählten, blieb neun Wochen lang in einem festen Kreis von Frauen. Die Frauen konnten jeweils davon ausgehen, dass das, was und wovon sie erzählten, allen Anwesenden so weit bekannt war, wie sie bereits darüber gesprochen hatten, und sie konnten zudem davon ausgehen, dass diejenigen, denen sie von sich erzählten, in der nächsten Woche auch wieder anwesend sein würden. Ein zweites Strukturelement der ambulanten Nachsorgegruppe ist, dass die Gruppen im Frauengesundheitszentrum Frauengruppen sind, was vor allem bei der Thematisierung sexualisierter Gewalterfahrungen und problematischer Beziehungssituationen eine herausragende Bedeutung hatte (s.u.). Ein dritter entscheidender Unterschied zwischen den Gruppenkonstellationen in der Klinik und im Frauengesundheitszentrum besteht darin, dass letzteres kein medizinisch-institutioneller Ort ist und dort keine Auseinandersetzungen mit medizinischen Professionellen stattfinden können bzw. müssen. Das mitgeteilte und geteilte Wissen, das sich auf individuelle Erfahrungen beruft und gerade durch die praktizierte Teilbarkeit in gewisser Weise kollektive Erfahrungen konstruiert, erfährt im Kontext der Erzählungen der Frauen eine andere Bedeutung als das in medizinisch-institutionellen und in therapeutischen Begegnungen vermittelte oder eingesetzte ExpertInnenwissen. [20]

Die spezifische Bedeutung des biografischen Wissens und der kollektiven Konstruktion von Erfahrungen wird in den Erzählungen der Frauen v.a. bei der Thematisierung sexualisierter Gewalterfahrungen und problematischer familiärer und Beziehungssituationen deutlich. Vor allem erstere wird im Folgenden beispielhaft dargestellt. Die von den Frauen erlebten sexualisierten Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend sind ein Thema, das in mehreren der Nachsorgegruppen im Frauengesundheitszentrum eine zentrale Rolle einnimmt. Die Art und Intensität der Thematisierung dieser Erfahrungen sind bei den Frauen individuell sehr unterschiedlich. Deutlich wird in ihren Erzählungen aber die Bedeutung, die dem psychotherapeutischen Gruppenkontext in der Thematisierung und in der Entwicklung damit zusammenhängender neuer Verarbeitungsformen und Handlungsweisen zukommt. Die individuellen Unterschiede und kollektiven Bedeutsamkeiten lassen sich am Beispiel einer Gruppe nachzeichnen, aus der mit fünf von acht Teilnehmerinnen ein Interview geführt wurde. Eine der Teilnehmerinnen – sie sei hier Frau Over genannt – eröffnet ihre biografische Erzählung wie folgt:

"Ja, also wichtig war eigentlich schon so meine Kindheit, ne. Die hat mich eigentlich so geprägt, weil ich und meine Schwester sind von meinem Vater missbraucht worden und das über Jahre." [21]

Mit dem Verweis auf diese traumatische, lebensbegleitende Erfahrung benennt die Interviewpartnerin das zentrale Thema sowohl ihrer biografischen Erzählung als auch ihres rehabilitativen Prozesses, insbesondere in Bezug auf die Nachsorge. Bereits im Vorgespräch mit einer der zwei Gruppentherapeutinnen stellt sie fest, dass sie nur dann teilnehmen will, wenn sie ihre Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs dort thematisieren kann und wenn auch andere Frauen mit ähnlichen Erfahrungen teilnehmen. Das gemeinsame Darüber-Reden und die Erwartung, ernst genommen zu werden, nennt sie als Motiv hierfür. Sie selbst ist es dann, die nach einigen Wochen ihre Erfahrungen in der Gruppe thematisiert. Erst jetzt wird es auch anderen Frauen in der Gruppe möglich, ihre traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen zu erzählen. Den Beginn dieses Prozesses beschreibt Frau Over folgendermaßen:

"Und dann haben die anderen alle zugegeben. Die haben das erste Mal dadrüber geredet, ne. Das war – in dem Moment war das so ein Gruppenhalt, ne – in dem Moment war's wirklich so, dass wir uns auch gegenseitig gestützt haben, ne." [22]

Die erhoffte Unterstützung in und durch die Gruppe erfährt Frau Over tatsächlich und deutet dies als Folge ihrer eigenen Thematisierung, die sie als Impuls für das Reden anderer Gruppenteilnehmerinnen erlebt. [23]

Eine andere Teilnehmerin derselben Gruppe erlebt die Möglichkeit der Thematisierung eigener sexualisierter Gewalterfahrungen in der von Frau Over beschriebenen Situation wie folgt:

"Das äh – das erste Mal, muss ich sagen, als die Erste davon anfing zu erzählen, da kam halt, da hatte ich auch geweint, also so ein Angstgefühl gekam, aber auch Erleichterung, weil dann konnte ich auch sagen, dass mir das auch passiert ist". [24]

Neben der psychischen Belastung durch die Thematisierung und das Zulassen der eigenen Erinnerung beschreibt diese Interviewpartnerin vor allem Erleichterung und überhaupt die subjektiv erlebte Möglichkeit, über ihre Erfahrung des sexuellen Missbrauchs sprechen zu können. Das In-Sprache-Bringen traumatischer Erfahrungen durch eine andere Gruppenteilnehmerin wird für sie zur Bedingung und Voraussetzung des eigenen In-Sprache-Bringens. [25]

Eine dritte Teilnehmerin der Gruppe beschreibt die gleiche Situation:

"Eine fing davon an und sprach das nur ganz leicht an und dann hatte ich dann angefangen zu erzählen und plötzlich waren von sieben oder acht Frauen, fünf Frauen, äh, äh, mehr oder weniger, äh, belästigt worden und, und misshandelt worden. Oder misshandelt nich, äh, missbraucht, nech". [26]

Die von dieser Interviewpartnerin weder in ihrer Kindheit noch in ihrem heutigen sozialen Umfeld oder in der stationären Rehabilitation thematisierbare Erfahrung des sexuellen Missbrauchs wird für sie erzählbar als Teil einer quasi kollektiven Erfahrung, kollektiv in dem Sinne, dass die Versprachlichung der individuellen und durch soziale Tabus individualisierten Erfahrungen in der Erfahrung des kollektiven Erzählens möglich wird und einen jedenfalls teilweise gemeinsamen Erfahrungskontext schafft. [27]

Auch eine vierte Teilnehmerin jener Gruppe profitiert von dem Reden über Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs. Ihr selbst ist zwar klar, dass sie ihre eigenen Erfahrungen nicht in der Gruppensituation thematisieren kann bzw. will, doch beschreibt sie die Gespräche in der Gruppe und das Aussprechen der Erfahrungen, der psychosozialen Folgen und der Bewältigungsstrategien für sich als hilfreich. Als Ort für die Thematisierung ihrer eigenen Missbrauchserfahrungen wählt sie das Einzelgespräch mit einer der beiden psychotherapeutischen Begleiterinnen der Gruppe. [28]

Auf unterschiedliche Weise beschreiben alle vier Frauen die Unterstützung, die sie individuell durch das Reden über die jeweiligen Erfahrungen sexuellen Missbrauchs erfahren. Die Gruppe wird zum Ort, an dem diese Erfahrungen mitteilbar und teilbar sind und an dem für einige Frauen überhaupt erst ein Zugang zu ihren traumatischen Erfahrungen möglich wird. Für die einen wird sie zum Ort des Redens, für eine andere zum Ort, an dem die Entscheidung, darüber zu reden, getroffen wird. Als Solidaritätskontext wird die Gruppe zur Quelle individueller Selbstverstehensprozesse und kollektiver Erfahrens- und Wissensaneignungen. Das Wissen, dass die eigene Erfahrung, die häufig jahrelang mit einem gesellschaftlichen Redetabu belegt und somit sozial isoliert war, in Wirklichkeit mit anderen Frauen teilbar ist, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, ist für einige Frauen eine Voraussetzung dafür, neue Umgangs- und Verarbeitungsstrategien zu finden und gemeinsam zu entwickeln. Im Kontext nicht nur dieser Gruppe des Nachsorgeangebots im Frauengesundheitszentrum werden neue Diskurse entwickelt, mithilfe derer die Frauen Muster der Deautonomisierung und Entfremdung teilweise auflösen können. [29]

Neben den sexualisierten Gewalterfahrungen und den damit verbundenen psychosozialen Problemlagen sind es vor allem problematische Beziehungen zu jeweiligen Lebenspartnern und die Gebundenheit in familiäre tradierte Geschlechterrollen, deren Thematisierung in den frauenspezifischen Nachsorgegruppen des Frauengesundheitszentrums von den Frauen als sehr bedeutsam beschrieben wird. Auch hier formulieren mehrere Frauen ihr Erstaunen darüber, dass andere Frauen ähnliche Erfahrungen wie sie selbst gemacht haben. Ihre oft jahrelange eigene Wahrnehmung, z.B. mit ihrer fehlenden Durchsetzungsfähigkeit gegenüber ihrem Lebenspartner allein zu sein, bricht sich im Austausch mit anderen Frauen, sodass mehrere Interviewpartnerinnen so und ähnlich feststellen: "und da hab ich gemerkt, dass es anderen auch so geht". Auch in Bezug auf die familiäre Gebundenheit und damit zusammenhängende schwierige soziale Problemlagen wird der Solidaritätskontext der Frauengruppe zu einem Ort, an dem neue Diskurse, kollektives Wissen und Handlungsstrategien entwickelt werden, die die Frauen in ihren jeweiligen Lebensalltagen individuell unterschiedlich umsetzen. [30]

3. Nutzung der unterschiedlichen Wissensformen durch Teilnehmerinnen der Nachsorgegruppen im Frauengesundheitszentrum

Wie eingangs bereits erwähnt, ist der Zugriff der einzelnen Frauen auf die verschiedenen Formen und Präsentationen von Wissen unterschiedlich und abhängig von den jeweiligen biografischen Konzepten und lebensgeschichtlichen und aktuellen lebensweltlichen Erfahrungen. Im Anschluss an einen strukturellen zusammenfassenden Vergleich der unterschiedlichen Wissensformen werden die unterschiedlichen Nutzungsformen und Konstruktionsweisen von Wissen noch einmal zusammengefasst. [31]

In den beschriebenen rehabilitativen Prozessen waren die Frauen einerseits mit professionellem ExpertInnenwissen konfrontiert, andererseits konnten sie vor allem in den Nachsorgegruppen auf ihr biografisches Wissen zurückgreifen. Der eindimensionalen Vermittlungsstruktur und dem institutionalisierten Verhältnis in der Begegnung mit Professionellen (ÄrztInnen/PsychotherapeutInnen) steht der kollektive Austausch in der Gruppensituation gegenüber. Zeigt sich im Gespräch zwischen ÄrztIn und Patientin ein impliziter Ausschluss von Biografie, so ist die Einforderung von Biografie gerade Bedingung der pädagogisch-therapeutischen Arbeit der PsychotherapeutInnen. Doch erst der kollektive Austausch in der Nachsorgegruppe bietet den strukturellen Rahmen für die Herausarbeitung kollektiver und individueller biografischer Wissensbestände. Der Vermittlung von Informationen (Diagnosen, Behandlungszuweisungen u.a.) in den ÄrztIn-Patientin-Gesprächen stehen die Vermittlung von Deutungsmöglichkeiten und die Ermöglichung von (kollektiven) Erkenntnisprozessen durch die Psychotherapeutinnen in der Funktion von Moderatorinnen der Gruppenprozesse in den Nachsorgegruppen gegenüber. Durch die Beschränkung auf die Moderatorinnenrolle gelingt es den Gruppenteilnehmerinnen, selbst zu den Akteurinnen der biografischen und kollektiven Wissensproduktion zu werden. [32]

Die Umgangsweisen der interviewten Frauen mit dem ärztlich-schulmedizinischen Wissen liegen zwischen Befremden/Unverständnis und offensiver Abgrenzung von diesem Wissen und den dazugehörigen Wissensträgern. Stehen die Frauen, deren Selbstpräsentationen vor allem auf lebensgeschichtliche und akute problematische soziale Situationen verweisen, dem medizinischen Fachwissen eher distanziert, verständnislos oder befremdet gegenüber – das Wissen ist für sie v.a. insofern relevant, als dass sie auf ärztliches Verhalten reagieren müssen – so stehen andererseits Frauen mit chronischen Erkrankungen und mehr oder weniger langwährenden Auseinandersetzungen mit medizinischen Professionellen und Institutionen diesem Wissen eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Entwicklung eigentheoretischer Erklärungen für körperliche Symptome und als selbstbestimmt erfahrener Behandlungsweisen ist für diese Frauen bedeutsam. [33]

Die Auseinandersetzung mit PsychotherapeutInnen und deren Wissen wird von den Frauen als weniger konflikthaft beschrieben. Das Machtverhältnis und das Distanzierungsbedürfnis werden weniger massiv erlebt, die Barrieren zur Aufnahme bestimmter Erkenntnisse in Prozesse des Selbstverstehens und der Umsetzung in veränderte Handlungsformen liegt näher. Auch hier besteht ein Zusammenhang zu den jeweiligen biografischen Konzepten und lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Ist für einige Frauen die Selbsterklärung für ihren Gesundungsprozess fundamental – dies gilt vor allem für die Frauen mit langjährigen traumatischen Erfahrungen und mit chronischen Krankheiten – so geht es anderen Frauen, die akut problematische soziale Lebenssituationen beschreiben, eher um die Aufnahme bestimmter handlungsorientierter therapeutischer Tipps für die Alltagsbewältigung und -gestaltung. [34]

Anders als das professionelle Wissen, an dessen Produktion und Auswahl die Frauen nicht beteiligt sind, konstituiert sich das biografische Wissen durch individuelle Erfahrungen und biografische Reflexionen und wird als kollektiver Wissensbestand im Gruppenprozess (re-) konstruiert. Merkmale dieses (Re-) Konstruktionsprozesses sind die Versprachlichung vor allem traumatischer Erfahrungen, der Austausch über alltägliche schwierige soziale Problemlagen und die gemeinsame Entwicklung von Handlungs- und Bewältigungsstrategien. Die Bedeutung der Sprache als ein kollektives Instrument des Denkens und Erinnerns, die Maurice HALBWACHS hervorgehoben hat, wird in den Erzählungen der Frauen in Bezug auf den kollektiven Kontext der Frauennachsorgegruppe immer wieder deutlich (HALBWACHS 1985, S.107ff.; vgl. auch BERGER & LUCKMANN 1994, S.72ff.). HALBWACHS beschreibt die Verschränkung der individuellen Erinnerungen und Erfahrungen mit der kollektiven Versprachlichung und Hervorholung von Erinnerungen: "Man kann ebensogut sagen, daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen" (HALBWACHS 1985, S.23). Deutlich sollte geworden sein, dass die Rede von der kollektiven Konstruktion von Erfahrungen natürlich nicht die subjektiv erfahrene Wirklichkeit – z. B. einer traumatischen sexualisierten Gewalterfahrung – infrage stellt. Hingegen bietet der kollektive Rahmen einer psychosomatischen Nachsorgegruppe mögliche Bedingungen, Erfahrungen zu einer Sprache gewordenen Wirklichkeit werden zu lassen und insofern zu konstruieren. Dass die Wirklichkeitskonstruktionen, die auf sexualisierten Gewalterfahrungen beruhen, sehr unterschiedlich sein können, belegt Waltraud ERNST in einer kritischen Auseinandersetzung mit sieben verschiedenen wissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen des Vater-Tochter-Inzests (ERNST 1999, S.220ff.). Die von ERNST gezeigte Interdependenz von wissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen und sozialhistorischen Veränderungen verdeutlicht auch, warum kollektive Wirklichkeitskonstruktionen als Folge des frauenbezogenen Austauschs über sexualisierte Gewalterfahrungen nur in der spezifischen gesellschaftlichen Situation stattfinden können (vgl. ERNST 1999, S.225f.). [35]

Im Gegensatz zum medizinischen und therapeutischen Wissen, mit dem die interviewten Frauen konfrontiert waren, ist das kollektiv erzeugte Erfahrungswissen für sie biografisch anschlussfähig. Sie beschreiben es nicht als von außen vorgegeben, sondern sind selbst als KonstrukteurInnen an der Gestaltung dieses Wissens beteiligt. In diesem Prozess bringen sie in unterschiedlicher Intensität und Form ihre subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen ein und integrieren danach entwickelte neue Diskurse bzw. Gegendiskurse und Handlungs- und Bewältigungsstrategien in ihren Alltag. Diese sind als Folge der Auseinandersetzung mit eigenen, aber auch mit fremden Erfahrungen als neue oder neu angeeignete Wissensbestände zu verstehen, die im Sinne STEHRs ein erweitertes Handlungsvermögen verursachen. Das heißt, dass das sich auf Erfahrungen gründende Wissen eine Voraussetzung für die Aneignung neuer Handlungsoptionen ist. Die Interdependenz von Erfahrung, Wissen und Handeln wird somit durch die kollektiven Prozesse im Kontext der psychosomatischen Nachsorgegruppen im Frauengesundheitszentrum deutlich. [36]

Literatur

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Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (1994). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.

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Halbwachs, Maurice (1985, zuerst 1925). Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Hanses, Andreas (2007c). Macht, Profession und Diagnose in der Sozialen Arbeit – Zur Notwendigkeit einer Epistemologie unterdrückter Wissensarten. In Ingrid Miethe, Wolfram Fischer, Cornelia Giebeler, Martina Goblirsch & Gerhard Riemann (Hrsg.), Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung (S.49-60). Opladen: Verlag Barbara Budrich.

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Stehr, Nico (2001). Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Zum Autor und zur Autorin

Kirsten HOHN, Diplom-Soziologin, 2001-2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Evaluation eines psychosomatischen Nachsorgeangebotes im Frauengesundheitszentrum Bremen, durchgeführt am Institut für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung an der Universität Bremen; seit 2002 Mitarbeiterin bei der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung in Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftliche Begleitung von Projekten und Programmen der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung, insbesondere im Übergang von der Schule in den Beruf.

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Kirsten Hohn

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Andreas HANSES, Dr. phil. habil., Professor für Sozialpädagogik mit den Schwerpunkten Prävention und Gesundheitsförderung im Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften an der TU Dresden. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Biographieforschung, Soziale Arbeit und Gesundheit, Gesundheitswissenschaften, Professionalisierung in der Sozialen Arbeit.

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Prof. Dr. Andreas Hanses

TU Dresden
Fakultät Erziehungswissenschaften
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D-01062 Dresden

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E-Mail: Andreas.Hanses@tu-dresden.de

Zitation

Hohn, Kirsten & Hanses, Andreas (2008). Zur Konstruktion von Wissen im Kontext biografischer Krankheitsdeutungen. Professionelle Interventionen und kollektive therapeutische Prozesse bei psychosomatisch erkrankten Frauen [36 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 48, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801480.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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