Volume 9, No. 1, Art. 1 – Januar 2008

Lebensgeschichtliches Erzählen im Kontext von Beratung und Therapie

Heidrun Schulze

Zusammenfassung: Eine Grundvoraussetzung der hermeneutischen Biografieanalyse ist die Erzeugung lebensgeschichtlicher Erzählungen auf Seiten der InterviewpartnerInnen. Dies gilt auch für die biografieanalytisch orientierte Beratungspraxis. Erzählungen eigenerlebter Erfahrungen geben einerseits den BeraterInnen Auskunft über die biografischen Selbstkonstruktionen und die Prozesse der lebensgeschichtlichen Aufschichtung von Erfahrungen. Neben diesem diagnostischen Gewinn für die BeraterInnen dienen sie aber andererseits auch dem Selbstverstehen für die KlientInnen. Die Autorin arbeitet in einer psychosozialen Beratungsstelle für Studierende. Aufgezeigt werden der Transfer und das Potenzial einer biografisch narrativen Gesprächsführung in einer Institution mit einer spezifischen Problemstellung.

Keywords: biografische narrative Gesprächsführung, Biografieanalyse, Interaktion und Institution, Beratung

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Identitätskonzept versus narrative biografische Arbeit

3. Hermeneutische Haltung und biografisch narrative Gesprächspraxis

4. Fallgeschichten

4.1 Erster Fall: Der Mann, der nicht erzählen konnte

4.2 Frau Gärtner: Die Frau, die süchtig nach einer Fernsehsendung ist

5. Schlussbemerkung

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

In meinem wissenschaftlichen und beruflichen Werdegang spielte die Auseinandersetzung mit dem "Gesellschaftlichen" gegenüber dem "Individuellen" zeitgeistgemäß eine wesentliche Rolle. Beleuchtet wurde dabei die sog. "bürgerliche Psychologie", an der die Individualisierung psychischer Prozesse und die damit einhergehende Enthistorisierung kritisiert wurde. Als ich begann, mich in die Biografieanalyse einzuarbeiten, bedeutete das für mich so etwas wie einen "point of no return". Hier wurden für mich die Konzepte von Individuum und Gesellschaft, aber auch von Biografie und Gesellschaftsgeschichte am systematischsten bearbeitet und integriert. Meine folgenden Ausführungen gehen auf meine beruflichen Erfahrungen in einem eher klassischen Bereich der Psychologie, der Beratung und Therapie an einer universitären Beratungsstelle, zurück. Ziel dieser Beratungsstelle war die Beratung von Studierenden bei den unterschiedlichsten, während des Studiums auftretenden Krisen. Wenn ich heute auf meine frühere berufliche Handlungspraxis und meinen Ausbildungsweg zurückblicke, dann profitierte ich außer von fachspezifischem Grundlagenwissen und supervisorischen Prozessen maßgeblich von den der interpretativen Forschung zugrunde liegenden methodologischen Überlegungen und den daraus entwickelten methodischen Ansätzen sowie deren inhärenter Reflexionshaltung. Zu nennen wären hier beispielsweise das Postulat der offenen Kommunikationshaltung, die Narrationsanalyse, die ethnografische Perspektive, die hermeneutische Grundhaltung, die rekonstruktiven Verfahren, die Mikroanalyse von Sprache und insbesondere die biografisch narrative Gesprächsführung. Da in beiden Kontexten, ob in der Forschung oder in der Praxis von Beratung und Therapie, die Sprache in ihrer subjektiven und intersubjektiven Bedeutungskonstitution im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, stellt die hermeneutische und rekonstruktive Grundhaltung eine nützliche diagnostische Perspektive, aber auch eine reflexive Haltung in der Gestaltung institutionell gerahmter Interaktionen dar. Im Mittelpunkt der Gestaltung steht das Ziel, Prozesse des Selbstverstehens zu initiieren (SCHULZE 2005, 2006a, 2006b). [1]

In diesem Beitrag möchte ich einen Einblick in meine biografieanalytisch orientierte beraterische und therapeutische Praxis an einer universitären Beratungsstelle geben. Dabei geht es mir um die Bedeutung des lebensgeschichtlichen Erzählens vor dem Hintergrund des institutionellen Auftrages der Beratungsstelle. Ich möchte die Frage beantworten, welche Bedeutung hat Erzählen und insbesondere lebensgeschichtliches Erzählen in Bezug auf die spezifische institutionelle Aufgabenstellung der Bearbeitung und Beratung studentischer Problemlagen während der universitären Qualifizierungsphase? Diese Frage möchte ich im Folgenden zum einen vor dem Hintergrund biografietheoretischer Grundannahmen und zum Anderen anhand von Fallbeispielen aus der Praxis beleuchten. Da die Beratung von Studierenden immer auch mit biografischen Entwicklungsprozessen zu tun hat, drängt sich sehr schnell die Diskussion zur Identitätsfrage und der Diagnostik anhand traditioneller Identitätsmodelle auf. Aus diesem Grund wird zunächst das Thema der "Identität" im Folgenden aus biografietheoretischer Sicht diskutiert. [2]

2. Identitätskonzept versus narrative biografische Arbeit

Die Diskussion über Identität hat eine lange Tradition in den unterschiedlichsten Disziplinen. Gleichwohl rückt sie im Zuge der Debatte um Modernisierung und Subjektkonstitution aktuell ins Blickfeld des Interesses. Die Spannung besteht einerseits zwischen den Vorstellungen eines mit sich identischen Individuums, in denen die personale Identität als eine gelungene Synchronisation von individuellen und national-kollektiven Selbstdefinitionen postuliert wird. Die andere Seite trifft sich in der kritischen Übereinstimmung mit ADORNO, dass das "unersättliche Identitätsprinzip" eine Unterdrückungsideologie darstelle (ADORNO 1975, S.146). [3]

In der gedanklichen Auseinandersetzung über Identität stellt ERIKSON (1999/1966) in der mehrdimensionalen Betrachtungsweise und der Zusammenführung von individuumsbezogenen und gesellschaftlichen Facetten seines Identitätskonzeptes eine wichtige historische Station dar. ERIKSON unterscheidet bei der Entwicklungsaufgabe der Identitätsbildung, die er insbesondere in der Phase der Adoleszenz sieht, zwischen den Polen der Identität und der Identitätsdiffusion, wobei er in letzterer im Gegensatz zur psychosozialen Gesundheit eine Störung derselben sieht. Mit der Begrifflichkeit des Gelingens und Scheiterns von Identität präsentiert sich dieser Ansatz in einem normativen Charakter, in einem idealtypisch formulierten Modell der bürgerlichen Sozialisation. Mit Blick auf die gesellschaftliche Freisetzung und die zunehmende, weil unausweichliche Notwendigkeit, sich höchst unterschiedlichen Anforderungen in unterschiedlichen Lebensbreichen auszusetzen, wird diese Forderung nach "endgültigen Selbstdefinitionen und irreversiblen Rollen und Festlegungen" (ERIKSON 1999/1966, S.137) als nicht mehr angemessenes Beschreibungs- und Orientierungsmodell kritisiert.1) So wird die zunehmende widerspruchsintegrierende Selbstvergewisserung von Individuen als Antwort darauf verstanden, dass nicht mehr statische Zuordnungen mit entsprechenden Zuschreibungen die Person in einem sozialen Gefüge beschreiben und positionieren. Denn, so die Argumentation, in hoch modernisierten und sich ständig wandelnden Gesellschaften benötigen Personen einen eigenen Integrationsmodus, um sich selbst zu positionieren, sich sinnhaft zu entwerfen und auch um anderen gegenüber erkennbar zu bleiben. Verschiedene Lebensbereiche und -phasen sowie mehr oder weniger tief greifende Kontinuitätsbrüche können nicht mehr mit der Hilfe der zur Verfügung stehenden Erfahrung gesellschaftlich übergreifender Sinnsysteme (wie etwa die Religion, die Familie, die Nation oder Klasse) integriert werden (vgl. BRECKNER 2001, S.120). Die wachsende Wahl- und Entscheidungsfreiheit, auch als "Autonomiezwang" diskutiert, korrespondiert mit erhöhten Begründungszwängen, in denen die Erwartung an die individuelle Gestaltung einen ständigen Rückgriff auf biografische Erfahrung und deren Interpretation und Reinterpretation erfordert. Unter dieser Betrachtung greifen neuere Konzeptualisierungen das Identitätsverständnis von G.H. MEAD (1998/1934) wieder auf, der Identitätsarbeit als einen lebenslangen und nie abschließbaren Prozess versteht. Dieser Prozessgedanke findet sich in den theoretisch begründeten Metaphern der sog. Patchworkidentität (KEUPP 1989) oder einer "balancierenden Identität" (KRAPPMANN 1993/1969) wieder. Wenn in der biografischen Perspektive der Prozess des Gewordenseins zentral ist, so setzt sie dem eher statischen Konzept von Identität den Gedanken eines lebenslangen Konstruktions- und Rekonstruktionsprozess von Identitäten entgegen, in denen die in modernen Gesellschaften bestimmenden Diskontinuitätserfahrungen ständig bearbeitet werden. [4]

Die biografieanalytische Perspektive geht davon aus, dass an der Stelle einfacher und dauerhafter Identitätskonstruktionen eine fortlaufende biografische Arbeit geleistet werden muss, d.h. im Unterschied zum Identitätskonzept ist das Konzept der Biografie ein genuin prozessuales (ROSENTHAL 1999). Biografische Arbeit ist die Präsentation und Begründung des eigenen Lebensverlaufs, sie enthält eine in der Vergangenheit konstituierte und an die Gegenwart gebundene Deutung der BiografInnen, sie ist notwendig und muss zur sinnhaften Zusammenfügung und Interpretation des eigenen Lebens für sich und für andere geleistet werden. Biografische Arbeit meint das Erleben und die Interpretation des gelebten Lebens, sie wird für bewusste oder unbewusste Operationen der Selbstreflexion gebraucht, die besonders während Krisenerfahrungen oder Erfahrungen von Diskontinuität vollzogen werden. Biografische Interpretationen und Sinnsetzungen sind nicht auf einen Beratungs- und Therapiekontext begrenzt, sie finden immer auch in Alltagssituationen statt, wenn wir über Eigen- und Fremderlebtes, über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges kommunizieren. Biografische Arbeit ist u.a. an die Funktion des Erzählens (aber auch an eine leibliche Ausdrucksgestalt) gebunden; mittels des Erzählens werden Erfahrungen ausgetauscht, integriert und begründet. Im Dialog mit anderen findet Selbstvergewisserung statt. FISCHER-ROSENTHAL betrachtet die kontinuierlich ablaufende biografische Strukturierung und biografische Arbeit als einen durch lebensweltliches Sprechen und Interaktion vermittelten Prozess, in einem Flechtwerk von Individuierung und Vergesellschaftung: "Biografical structuring is dialogical and interpretative. The symbolic network of self-orientation is constructed in a lifelong process of communicating and sharing interpretations of what 'really' happened and what to expect" (FISCHER-ROSENTHAL 2000a, S.118). So ist mit dem Begriff "biografische Arbeit" der Prozess sich verändernder Selbstdeutung gemeint. Mit dieser Konzeptualisierung wird der Begriff der "Identität" als etwas Statisches und Normatives durch das Konzept eines Prozesses erfahrungsgebundener Interpretationsvorgänge abgelöst. [5]

In der psychotherapeutischen Beratungsarbeit in einer der Universität angeschlossenen Beratungsstelle bin ich mit einer solchen biografischen Arbeit auf Seiten der KlientInnen ganz besonders konfrontiert, da es sich um lebensgeschichtliche Übergangsphasen handelt: Das Studium ist entwicklungspsychologisch in die lebensgeschichtliche Phase der Spätadoleszenz eingebettet und in dieser Phase eines Übergangs von Kindheit und Jugend zum Erwachsenenalter spielt die Frage "Wer bin ich?" und "Wie unterscheide ich mich von den Anderen?" eine große Rolle in der Auseinandersetzung mit sich selbst und in der Beziehungsgestaltung mit Anderen. In Fremd- und Selbstzuschreibungen herrscht die Vorstellung, es müsse in dieser Phase um die Ausbildung einer "reifen" Identität eines Individuums gehen. Dies führt auch auf der Seite der KlientInnen dazu, dass sie sich defizitär fühlen gegenüber selbst konstruierten wie auch diskursiv vermittelten normativen Identitätsforderungen, der Vorstellung "wie man zu sein hat" angesichts eigener Ambivalenzen und Orientierungsschwierigkeiten (vgl. FISCHER-ROSENTHAL 2002b). Wenden wir aber das prozessuale Konzept der Biografie an, das die notwendige alltäglich ablaufende Selbstvergewisserung durch Erfahrungs-, Lebens- und Weltinterpretation in Rechnung stellt, erzeugt dies eine Ablösung von diagnostischen Störungskriterien als berufliche Handlungsorientierung. Ich möchte dem Konzept eines linearen Reifungsmodells, wie es in der Begrifflichkeit einer gelingenden und nicht gelingenden Identität – in der Sprache ERIKSONs in einer "Identitätsdiffusion" oder in einer "unreifen Identität" – zum Ausdruck kommt und wie es sich als Erklärung für Ursachen von Problemen wiederfindet, die Perspektive der notwendigen biografischen Strukturierung und der biografischen Arbeit entgegensetzen. Entgegen der Statik und Normativität des Identitätskonzeptes wird dabei auf einen fortlaufenden und sich verändernden Prozess hingewiesen, der u.a. durch lebensweltliche biografische Erzählungen praktiziert wird. Unter dieser Betrachtungsweise zielt beraterische und therapeutische Arbeit nicht darauf, eine sog. "reife Identität" zu erzielen, sondern es geht dabei um eine Rekapitulation und Reintegration vergangener Erlebnisse, um eine Einsicht in die Geschichtlichkeit von Problemlagen und in das eigene Gewordensein und darum, zum Verständnis von Gegenwart und zur Antizipation von Zukunft beizutragen. [6]

3. Hermeneutische Haltung und biografisch narrative Gesprächspraxis

Die biografisch narrative Gesprächsführung und ihre Umsetzung im Kontext von Beratung und Therapie wird im Folgenden mit den von GADAMER (1990/1960, 1993/1986) dargelegten Grundannahmen der philosophischen Hermeneutik verbunden. Dies stellt allerdings keine neuartige Verbindung zwischen einer Anwendungspraxis und einer erkenntnistheoretischen Haltung dar, vielmehr sollen damit Zusammenhänge und Einflüsse expliziert werden, die die hermeneutische biografieanalytische Perspektive (mit-)begründen. Denn sowohl die gestalttheoretischen Überlegungen von ROSENTHAL (1995) zur Erinnerung und Erzählung als auch die hermeneutischen Grundannahmen GADAMERs zur Bedeutung von Sprache und Dialektik von Frage und Antwort beinhalten ein praktisch umsetzbares Potenzial für professionell gerahmte und initiierte Verstehensprozesse. In der Auseinandersetzung mit GADAMER entfaltet der in einer universitären Beratungsstelle tätige Psychoanalytiker HOLM-HADULLA (1997) eine hermeneutische Psychotherapie, in der er Ansätze für eine "Hermeneutik als Basis therapeutischen Handeln" aus dem Gesamtwerk GADAMERs zieht. Im Rahmen dieser Diskussion werde ich die aus der Biografieanalyse entwickelte biografisch narrative Gesprächsorientierung als eine spezifische Beratungs- und Therapieform im Hinblick auf Prozesse des Selbst- und Fremdverstehens vorstellen.2) [7]

In Anlehnung an GADAMER formuliert HOLM-HADULLA (1997, S.28-49) wichtige Basisorientierungen für die psychotherapeutische Praxis:

Als bedeutsam für die beraterische und therapeutische Praxis stellt HOLM-HADULLA folgende hermeneutische Grundprinzipien heraus: Die Geschichtlichkeit und Erinnerung als wesentlicher Bestandteil des Beratungs- oder Behandlungsgeschehens, die sprachlich repräsentierende Gestaltung, in der die sprachliche Gestaltung von Erfahrungen von grundlegender Bedeutung für den Beratungs-/Behandlungsverlauf ist und das interaktionelle Erleben, da Verstehen im interaktionellen Erleben geschieht. "Wenn einer versteht, was ein anderer sagt, ist da nicht nur ein Gemeintes, sondern ein Geteiltes, ein Gemeinsames" (GADAMER 1993/1986, S.19). [9]

Wie ich oben versucht habe darzustellen, geht es bei GADAMER nicht um die Erfassung eines Aussagegehaltes, sondern für die Hermeneutik wird Sprache im Gespräch vollzogen, es gibt also keine "reinen Aussagesätze". Diese Annahmen haben eine entscheidende Bedeutung, wenn man in der psychotherapeutischen Praxis die Anamneseerhebung beleuchtet, in der es um die vorgebliche Objektivierbarkeit des Lebens geht. Die biografisch narrative Gesprächsführung bietet entsprechend dieser hermeneutischen Grundhaltung eine praktische Umsetzung an, indem sie mit der erklärten offenen Gesprächshaltung einen Raum zur Gestaltentwicklung zu etablieren sucht. Erzählungen werden nicht allein wegen des Informationsgehaltes evoziert, um beispielsweise aus ExpertInnensicht einzelne Lebensereignisse für bedeutsam oder weniger bedeutsam zu bewerten, sondern um gemeinsame Verstehensprozesse zu initiieren. Ein auch von GADAMER postuliertes "Mitgehen" (1990, S.373) in die Erfahrungswelt des Gegenübers anstelle eines Abfragens oder Argumentierens ist eine Grundlage der Gesprächsführung, in der es auch darum geht, sich führen zu lassen. Zu diesem Zweck stellt die biografisch narrative Gesprächsführung ein Repertoire an Fragen zur Verfügung, bei der die Förderung von Erinnerungsprozessen erklärtes Ziel ist. Sie kann als eine spezifische Praxis vor dem Hintergrund einer hermeneutischen Grundhaltung angesehen werden. Mit der narrativen Orientierung, d.h. der narrationsfördernden Gesprächshaltung werden jene hermeneutischen Grundannahmen in eine spezifische Haltung des Fragens und Zuhörens und in eine gesprächsanalytisch reflektierende Haltung in der Begegnung mit den KlientInnen praktisch umgesetzt. In der hermeneutischen und sprachanalytischen Tradition stehend, wird in der Biografieanalyse eine besondere Aufmerksamkeit auf die Erzählungen gelegt, da sie als sprachliche Mittel angesehen werden, die dem subjektiven Erleben am nächsten kommen. Zur Herstellung einer offenen Kommunikationshaltung und um Erzählungen zu evozieren, wurde im Forschungskontext von SCHÜTZE (1977, 1987) das narrative Interview begründet und von ROSENTHAL (1995, 2002) hinsichtlich der Gesprächsführung und der Erinnerungsprozesse weiterentwickelt. Diese Methode der narrationsunterstützenden Gesprächsführung kann m.E. dann, wenn sie nicht als eine rezeptartige Technik eingesetzt, sondern eher als eine Gesprächshaltung verstanden und praktiziert wird, für die hermeneutische und therapeutische Praxis fruchtbar sein. Denn für die hermeneutische Grundhaltung wie auch für die narrative Gesprächshaltung gilt, dass die Bedeutung des Erzählens darin liegt, Nicht-Präsentes zu vergegenwärtigen. Es stellt einen Versuch der Selbstverortung dar und dient damit als Mittel der Handlungsorientierung. Nicht nur dem gezielten Erzählen zur Vermittlung von Information, sondern dem Erzählen "an sich" kommt demnach für die Erfahrung von Welt eine wichtige Bedeutung zu. Die narrative Gesprächshaltung kann den KlientInnen dazu verhelfen, Geschichten zu erzählen, bei denen im Akt des Erzählens bisher nicht Gewusstes oder nicht reflexiv Zugängliches verbalisiert, (selbst-)interpretiert und integriert wird. Es wird davon ausgegangen, dass das einzelne Erlebnis oder auch Phänomene wie etwa eine Selbstaussage immer schon eine Ganzheit von Bedeutung enthält, sie immer in einem spezifischen Zusammenhang stehen und gleichzeitig ihre Bedeutung aber auf ein Ganzes in einer eigenartigen Weise bezogen ist (vgl. GADAMER 1993, S.31). Das Ganze seinerseits kann aber nur verständlich werden, wenn das Einzelne in der Bedeutung untersucht wird. In der Versprachlichung ist ein Verweisungscharakter angelegt, zwischen dem Erzählten und der Gesamtheit des Lebens besteht immer ein Zusammenhang. Dies erzeugt eine spezifische Aufmerksamkeitshaltung und ist für eine therapeutische Begegnung relevant, weil ein einzelnes Ereignis unter Bezugnahme auf die Ganzheit des Lebenszusammenhangs und im Hinblick auf das interaktionelle Geschehen betrachtet werden kann. [10]

Zur Verlebendigung braucht es einen kommunikativen Prozess, der die KlientInnen in Beratung und Therapie dazu anregt, ihre eigene Geschichtlichkeit in einem erzählfördernden Anschauungsraum zu gestalten. Die biografisch narrative Gesprächsführung zielt darauf, eine erinnernde und erzählende Haltung auf Seiten der KlientInnen zu initiieren. In einem Balanceakt von Zurückhaltung und Unterstützung werden die GesprächspartnerInnen darin unterstützt, von einer eher argumentativen und in der Gegenwart verharrenden Zuwendung zur eigenen Lebenserfahrung in eine prozesshafte und erlebensorientierte Erzählhaltung überzugehen. Wichtig ist hierbei allerdings die uneingeschränkten Akzeptanz der Schilderungen des subjektiven Erlebens der Erzählenden und keine Bewertungen und Bagatellisierung spürbar werden zu lassen. Dabei wird die Aufmerksamkeit nicht nur darauf gerichtet, was gesprochen wird, sondern wie gesprochen wird, d.h. in welchen semantischen Textsorten die mündlichen Erzählungen präsentiert werden. Hilfreich ist diese sprachtheoretische Aufmerksamkeit, um die kommunikative, rhetorische und interaktionelle Bedeutung des Erzählten zu erschließen. Wenn diese sprachlichen Muster im Gegensatz zu dem auf Transkriptionen beruhenden Forschungsansatz während des fließenden Sprechens zwar nur (mit-)gehört, aber nicht systematisch analysiert werden können, so sensibilisiert diese Aufmerksamkeit doch die Wahrnehmung dafür, ob jemand die eigenen Erlebnisse narrativ entfaltet, statisch beschreibt oder chronikartig berichtet oder ob eher ein argumentativer Darstellungsstil dominiert. Mit der narrativ orientierten Gesprächshaltung geht es also darum, Erzählungen zu evozieren. Welche Bedeutung haben Erzählungen im Unterschied zu anderen sprachlichen Ausdrucksmitteln? [11]

Die Begründung des narrativen Ansatzes, der Aufmerksamkeitslenkung auf Erzählungen, resultiert daraus, dass wir durch Erzählungen dem Erlebten am nächsten kommen, während andere sprachliche Mittel eher auf die Darstellungsbemühungen in der Gegenwart verweisen. ROSENTHAL (1995) theoretisiert die Funktion der Präsentation in der Gegenwart im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte als eine dialektische Beziehung zwischen Erlebnis, Erinnerung und Erzählung. Gemeint ist damit, dass in der Erzählung nicht das tatsächliche Ereignis rekonstruiert wird, sondern dass innerhalb einer Erzählung bestimmten Erinnerungen Bedeutungen zugeschrieben werden, die sich entsprechend dessen, was sich danach ereignete und wie die Gegenwart gerade ist, verändern. "Erinnern basiert auf einem Vorgang der Reproduktion, bei dem das Vergangene entsprechend der Gegenwart der Erinnerungssituation und der antizipierten Zukunft einer ständigen Modifikation unterliegt" (ROSENTHAL 1995, S.70). Mit der Grundannahme einer Differenz und Interdependenz zwischen erzählter und erlebter Lebensgeschichte kann das in einer bestimmten Situation zur Sprache kommende als ein Ausdruck interpretierten und damit verarbeiteten oder noch zu verarbeitenden Lebens sowie eine Auseinandersetzung mit einer antizipierten Zukunft verstanden werden, dem im Prozess des Erzählens Bedeutung zugeschrieben wird. Erzählprozess und Erinnerungsprozess stehen in einem dialektische Verhältnis zueinander, sie konstituieren sich wechselseitig. (vgl. ROSENTHAL 1995, S.87). Ausgehend von dieser prinzipiellen Differenz zwischen erzählter und erlebter Lebensgeschichte leitet ROSENTHAL die Bedeutung von Erzählungen ab:

"Wenn wir uns nicht damit zufrieden geben wollen, etwas über die von den Erlebnissen und Erinnerungen abgehobenen Alltagstheorien der Gesellschaftsmitglieder zu erfahren – ohne fallspezifische Interpretationsmöglichkeiten …, sondern wenn wir rekonstruieren wollen, was Menschen im Laufe ihres Lebens erlebt haben und wie dieses Erleben ihre heutige biografische Gesamtsicht, d. h. auch ihren heutigen Umgang mit ihrer Vergangenheit und ihre gegenwärtige Handlungsorientierungen konstituiert, müssen wir Erinnerungsprozesse und deren sprachliche Übersetzung in Erzählung hervorrufen. Nur die Erzählung einer Geschichte ermöglicht, neben der Reinszenierung vergangener Situationen im Spiel, die Annäherung an eine ganzheitliche Reproduktion des damaligen Handlungsablaufs oder der damaligen Ereignisgestalt in Kontrastierung mit der heutigen kognitiven, aber auch emotionalen und leiblichen Sicht auf diesen Vorgang." (ROSENTHAL 1995, S.205-206) [12]

Um Erinnerungsprozesse und Erzählungen zu fördern, bedarf es eines offenen (Sprach-) Raums zur Gestaltentwicklung, der durch Orientierung an den Relevanzen der KlientInnen und nicht durch intervenierendes Fragen anhand eigener Relevanzen (z.B. Anamneseleitfaden) entstehen kann. In der narrationsunterstützenden Haltung werden Fragen möglichst so gestellt, dass meinungs- und begründungsstrukturierte Repliken vermieden werden und nicht mit "ja" und "nein" geantwortet werden kann. So liegt beispielsweise ein großer Unterschied zwischen den kleinen und sich scheinbar so ähnlichen Fragen: "wie haben Sie das erlebt?" und "können sie mir von … erzählen?" Im ersten Fall ("wie haben Sie das erlebt?") wird eine Stellungnahme aus der Gegenwart evoziert. Im zweiten Fall soll die Frage ermöglichen, auf ein relevantes Ereignis einzugehen und sich erzählerisch in die Erlebensperspektive "hineinzuerzählen", aber auch sich gegebenenfalls wieder herauszuerzählen. Gefragt wird also nicht "warum haben Sie?" oder "warum ist das so?" und vor allem nicht: "was haben Sie da gefühlt?" Dies nicht, weil die Fragen auf Kognitionen zielen und Gefühle nicht wichtig sind, sondern um die KlientInnen aufzufordern, Geschichten zu erzählen, in denen erst einmal ohne Interpretationen mitgegangen wird, um dann gemeinsam innerhalb des erzählten Prozesses die eingeflochtenen und in der Erzählung aufkommenden Gefühle im damaligen wie auch im gegenwärtigen Erleben auf eine neue Weise zu betrachten.3) In der Interaktion wird versucht, die KlientInnen beim Erzählen von Erlebnissen mehr mit ihren Erinnerungen interagieren zu lassen als mit dem oder der Zuhörenden. Der Interaktionsprozess wird zunehmend durch hypothesengeleitete narrative Nachfragen so gestaltet, dass ein Wechselspiel narrativer Fragen und Antworten entsteht; dies ist aber nicht mit einem Frage- und Antwortschema zu verwechseln. [13]

Narrative Nachfragen versuchen eine thematische und temporale Öffnung von Gesprächsinhalten. ROSENTHAL (vgl. 2002, S.210) unterscheidet sechs narrative Nachfragetypen: a) das Ansteuern einer Lebensphase, b) das Ansteuern einer Erzählung zu einer Argumentation, c) das Ansteuern einer (bereits benannten) Situation, d) das Vorgeben eines zeitlichen Rahmens, e) das Ansteuern von Tradiertem bzw. Fremderlebtem und f) das Ansteuern von Situationen zu Phantasien. [14]

Die von ROSENTHAL entwickelten Fragetypen können in beraterischen und therapeutischen Gesprächssituationen eine hilfreiche Orientierung bieten. Sie stehen aber auch für eine Haltung der intendierten Offenheit, die Erzähltes nicht vorschnell unter Störungskriterien subsumiert. Auf die klinisch-therapeutische Praxis bezogen heißt das, dass ein klinischer Anamneseleitfaden durch eine methodisch offene, gleichzeitig aber narrativ reflexive Explorationshaltung während der Anamneseerhebung ersetzt wird. Biografisches Material wird in der individuellen und interaktionellen Präsentation betrachtet und nicht auf eine Informationsquelle über einen Lebensverlauf reduziert, wie es z.T. bei der anamnestischen Datenerhebung der Fall ist (SCHULZE 2005).

"Das bedeutet nicht nur narratives Fragen und offenes Zuhören, sondern die Einnahme einer anderen Haltung dem Anderen gegenüber. An die Stelle eines für die MitarbeiterInnen 'distanzierenden' und damit 'schützenden' Rahmens durch eine vorstrukturierte Frage-Antwort-Situation tritt eine kommunikative Situation", in der die KlientInnen 'stärker als bislang in den Vordergrund treten'" (HANSES 2002, S.89, siehe auch SICKENDIEK 2007). [15]

In meiner beratenden und therapeutischen Gesprächspraxis haben die hermeneutischen Grundannahmen, ohne die eine biografisch narrative Gesprächsführung mit ihrer erzähltheoretischen Akzentsetzung nicht zu denken und zu praktizieren ist, einen großen Einfluss. Gemeinsam ist beiden die Grundhaltung, dass Erzählen und Erinnern einen eigenen Erfahrungshorizont darstellt und dass Sprache nicht allein als der Informationsvermittlung dienend betrachtet wird. So verhelfen biografische Erzählungen auch nicht in erster Linie dazu, von frühen Kindheitserlebnissen kausale Schlüsse auf die Ursächlichkeit des jetzigen Problems zu ziehen. Die Wirksamkeit biografischen Erzählens liegt vielmehr darin, neue Sinnsetzungen zu erreichen, wie das eigene Leben gesehen und verstanden werden kann, wie das einzelne Erleben in den Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte und in die Gegenwartserfahrung eingebettet ist. [16]

4. Fallgeschichten

Im Folgenden möchte ich einen Einblick in die hermeneutisch und biografieanalytisch orientierte Beratungspraxis geben. Die Auswahl und Akzentsetzung der Fallgeschichten und Begegnungen wurde entsprechend der Bedeutung des lebensgeschichtlichen Erzählens vorgenommen. Bei den folgenden Fall- und Interaktionsgeschichten handelt es sich nicht um abgeschlossene Falldarstellungen, die es nach dem hermeneutischen Grundprinzip auch nicht gibt, da der Interpretationsprozess nie als abgeschlossen angesehen wird, sondern immer eine "Offenheit für neue Erfahrung" besteht. [17]

4.1 Erster Fall: Der Mann, der nicht erzählen konnte

Eingangsszene

Herr Häuser4), ein 26 Jahre junger Mann, im Kunstbereich studierend, wirkt fahl und übernächtigt mit seinen schwarzen Augenrändern. Er tritt in mein Zimmer, setzt sich mir gegenüber und haftet den Blick auf den zwischen uns stehenden Tisch. Mit zusammengepressten Lippen, einem gesenkten Blick, mit dem er vermeidet, dass sich unsere Blicke streifen, beginnt er elaboriert und selbstdiagnostisch, sich selbst leicht ironisierend in "zwei Problembereichen" (diese wie die folgenden gekennzeichneten Aussagen sind zitierte Selbstaussagen Herrn Häusers) zu beschreiben und argumentativ zu begründen. Dabei geht eine ungeheure Anstrengung und Erstarrtheit von ihm aus: [18]

Herr Häuser beginnt damit, er sei "antriebsarm" in Bezug aufs Studium, er bekomme "nichts mehr auf die Reihe" und könne nicht mehr schlafen. Er habe ein Problem mit dem "Kopf" und dem "Bauch". Das Denken im Kopf mache immer alles zunichte. Das komme davon, dass die Gefühle bei ihm Oberhand bekommen hätten, die er, so lange er denken könne, immer unter Kontrolle gehabt habe. Dabei zitiert er ein Schulzeugnis, in dem vermerkt sei, er sei zu lebhaft und zu unkontrolliert. In der Schulzeit und bis heute phantasiere er sich immer als "Held", der durch die Heldentaten den Schutz und die Anerkennung der Außenwelt erhalte. Die Realität sei aber eben ganz anders. Seit sieben Jahren sei er "solo", d.h. ohne Beziehung, denn er habe Schwierigkeiten mit Frauen in Kontakt, ja allein schon ins Gespräch zu kommen. Der Vergangenheit konnte er sich auf die Frage hin: Können Sie sich noch an die Situation erinnern, als über das Zeugnis gesprochen wurde? zuwenden, und ich erhielt eine Argumentation, wie und warum er damals beschlossen habe, sein Lebenskonzept der Selbstkontrolle zu perfektionieren. Er erwähnt, dass er als Jugendlicher und als junger Erwachsener exzessiv "Phantasy-Rollenspiele" gespielt habe. Mit der Frage: Können Sie mir von einem solchen Spiel erzählen, dass für sie exzessiv war? Vielleicht beginnen Sie vor der Situation und wie es danach weiterging? erhalte ich, erzähltheoretisch gesagt, die einzige Geschichte, die vom damaligen Szenario schnell in das vergangene Erleben in der Rolle des Phantasiehelden übergeht. In der Phantasie konnte er das Erdachte erzählen, in seiner sozialen Welt des Alltags ließ er keine Öffnung in Form von Erzählungen zu. Rückblickend kann nicht gesagt werden, dass es mit einer bestimmten Art von Frage oder in einer bestimmten Interaktion zu einem Wendepunkt in der Zeit der Therapie kam. Nach vielen Tiefen und Höhen während des Therapieprozesses, in denen es verstärkt um die Selbstzweifel ging, wie und ob die Gedanken zur Diplomarbeit in die Handlung des Schreibens zu bringen seien, bestand er die Diplomarbeit mit Auszeichnung. [19]

Herr Häuser wollte in seinen künstlerischen (und persönlichen) Ambitionen etwas "Besonderes" sein und litt gleichzeitig darunter, nicht wie alle anderen zu sein, bzw. es fehlte ihm das Gefühl dazuzugehören. Aufgrund unserer gemeinsamen Geschichte in der institutionellen Begegnung in der Beratungsstelle wurde er für mich tatsächlich jemand "Besonderes". Was war das Besondere? Herr Häuser war in der gesamten Zeit "resistent" gegenüber meinen narrationsfördernden Fragen. Er schien fast ohne Geschichtlichkeit, er erzählte keine biografischen Erinnerungen über Familie, Lebensgeschichte etc. Auffällig waren seine sprachlich komplizierten Argumentationen, Beschreibungen, Legitimationen, es war ungemein anstrengend, mit ihm in Interaktion zu bleiben. Fragen im Hinblick auf Erleben in der Vergangenheit sowie zur Gegenwart oder zur Familie blockte er ab. Er wirkte wie abgekoppelt vom familien- und lebensgeschichtlichen Hintergrund. Es war schwierig, mit ihm ins Gespräch zu kommen, denn er monologisierte größtenteils. Über sich selbst sprach er in der Art einer Außenperspektive, in der trotz der Ankündigung im Erstgespräch "die Gefühle kommen mir dazwischen" kein emotionales Erleben aufblitzte, d.h. sein Kontrollbedarf war nie aufgehoben oder gelockert. Mit dem Ziel, ihn in seinen bitteren und selbstironischen Argumentationen, Beschreibungen und Vorwürfen nicht alleine zu lassen, blieb ich beharrlich, aber auch spielerisch angesichts der angestrengten Bemühungen, in Kontakt zu kommen, in einem narrativ orientierten Fragestil. Seine elaborierten Argumentationen führten wir in ein Sprachspiel über, in dem ich immer signalisierte, wenn ich glaubte, ihn zu verlieren. Ich dachte, wenn sich etwas in der sprachlichen Gestalt seiner "ich bin"-Semantik ändere, würde es zu einer veränderten Perspektive auf sich selbst kommen. [20]

Abschiedsszene

Zum letzten Gesprächstermin kommt Herr Häuser mit einer auffällig großen roten verschlossenen Kiste unter dem Arm in mein Zimmer. "Heute", sagt er, "möchte ich etwas für mich und für Sie bzw. für Sie und damit auch für mich tun". Er packt ein peppiges Geschirr mit Untertasse, Tasse, Kuchenteller, Kuchengabel, Kaffeelöffel, Zuckerdose, Milchkännchen aus. Dies alles deckt er auf meinen Tisch, auf den er zuvor eine passende Tischdecke gelegt hat. Er hat einen selbstgebackenen Kuchen und Kaffee dabei. Wir trinken Kaffee und: er erzählt. Er erzählt über seine Erfahrungen während der Therapie. Über die einzelnen Sitzungen, wie er sie erlebt hat:

"Sie haben mir nie widersprochen, haben mich gelassen wie ich bin, und waren immer ganz nah bei mir und meinen Themen. Wenn ich in meinen Gedanken verloren ging, haben sie mich gefunden. Jetzt möchte ich mit Ihnen reden und endlich mal bleiben können." [21]

Herr Häuser war am Ende der Behandlung ins Erzählen gekommen. Er verknüpfte seine gestalterische und ästhetische Kompetenz mit einer neu hinzugekommenen: dem Erzählen. Er hatte für sich selbst verstanden, dass Erzählen "an sich" und "über sich" gut ist. Dies führte dazu, dass er Nähe kommunikativ und gestalterisch herstellen konnte. Durch die immer wieder am Erleben orientierten Fragen hatte er fast unbemerkt und nicht kognitiv zu erzählen begonnen und im Erzählen kam er in Kontakt mit sich und trat "hinter den Kulissen von Argumentationen" mit mir in Beziehung. So war das Erzählenkönnen ein Ergebnis der Therapie und nicht ein Mittel zur Diagnostik. [22]

4.2 Frau Gärtner: Die Frau, die süchtig nach einer Fernsehsendung ist

Im Erstgespräch formuliert die 22-jährige Frau Gärtner, sie sei so gut wie arbeitsunfähig an der Universität. Sie könne keine eigenständigen Arbeiten fertigen. Dabei stehe die Diplomarbeit an. Ein Hauptproblem von ihr sei allerdings, dass sie sich in Spannungs- und Konfliktsituationen selbst schlage. Aus der Behandlung möchte ich einen wesentlichen Akzent herausarbeiten: er verweist als Teil des Ganzen auf den Fall, der Komplexität wird er natürlich nicht gerecht. [23]

Frau Gärtner bedrückt während der Therapie, dass sie eine Sucht entwickelt habe, eine ganz bestimmte Sendung sehen zu müssen. Sie komme jeden Tag in einen Kinderkanal. Eine narrativ gestellte Frage hierzu war: Können Sie sich an Filme oder Medien erinnern aus ihrer Kindheit und Jugend und darüber erzählen? Frau Gärtner beschreibt, dass sie sich früher immer in Bücher und Filme hineingesteigert habe. Dies führte zu Leistungsminderung in der Schule, worauf die Eltern damit gedroht hatten, sie vom Gymnasium zu nehmen. Auf die Frage: Können Sie mir eine konkrete Situation aus ihrer Kindheit erzählen, als sie einen Film gesehen, etwas gehört oder gelesen haben?, erinnert sich Frau Gärtner an eines ihrer schönsten Kindheitserlebnisse, als sie als Kind ganz ungestört eine Märchenkassette hörte und dabei spielte, während die Eltern noch schliefen. Das Thema "Bücher" und "Filme-Anschauen" nimmt einen großen Raum in den weiteren Gesprächen ein. Gleichzeitig, so Frau Gärtner, schäme sie sich, darüber ständig reden zu wollen. Mit der Frage: Können Sie mir die letzte Sendung der erwähnten Serie erzählen?, beginnt ein Fluss von Narrationen über die Handlung, die Personen und deren Eigenschaften. Der Akzent liegt dabei auf ihrer dadurch auftretenden Unzufriedenheit mit sich selbst, da sie die in den Personen repräsentierten Eigenschaften für sich selbst wünsche. [24]

Weitere narrative Nachfragen waren beispielsweise: Können Sie mir die Situation erzählen, in der Sie die Sendung angeschaut haben? Können Sie von der Zeit davor und nach der Sendung erzählen? Hierauf folgt die Erzählung eines Konfliktes mit ihrer Mutter, der nach der Sendung auftrat. Bei dem Konflikt ging es um eine Divergenz zwischen dem eigenen Bedürfnis, den Film anzuschauen, und den Anforderungserfüllungen der Mutter. Frau Gärtner setzte sich durch. Darauf folgte der Impuls, sich selbst zu schlagen, da sie sich schuldig fühlte, sich durchgesetzt und ihr eigenes Bedürfnis erfüllt zu haben. [25]

Frau Gärtner habe ich ausgewählt, weil sie einen wichtigen Akzent meiner therapeutischen Arbeit repräsentiert: Der Akzent liegt auf der lebensgeschichtlichen Bedeutung von Medienrezeption, d. h. darauf, wie ein Film erzählt wird, in welcher Situation Filme bzw. Medien rezipiert werden und lebensgeschichtlich rezipiert wurden (Stichwort: Medienbiografie) und welches Potenzial im Erzählen über Filme (oder allgemein: Medien) für den Prozess des Fremdverstehens, aber vor allen Dingen auch für das Selbstverstehen enthalten ist. Diagnostisch hatte ich die Hypothese, dass für Frau Gärtner Filme so etwas wie Spielen und ein von elterlichen Anforderungen und Ansprüchen entlasteter Spielraum bedeutet hatten und immer noch bedeuten, der durch die Interaktion in der Familie verloren ging. Im Verlauf der Gespräche über die Filmserien, über die Situationen davor, währenddessen und was danach geschah, verlor Frau Gärtner ihre Scham darüber, sich solche Filme ansehen zu müssen. Dies geschah durch Fragen, die an ihr Erleben anknüpften. Die Fragen nach dem eigenen Erleben dieser Filme waren eine therapeutisch wirksame Intervention. So wurde sich Frau Gärtner darüber klar, dass die Eltern das kindliche Spiel immer mit elterlicher Strenge, Verantwortung und Leistung durchsetzt hatten. Filme waren der Raum, den ihr keiner nehmen konnte. "Endlich", so sagte sie, "muss ich mich wegen so etwas nicht mehr schämen." Ihr Erleben, während sie sich die Filme anschaute, und die jeweils eigene Bedeutung der Inhalte konnte sie in ihre Lebensgeschichte und gegenwärtige Lebenssituation integrieren. Sie sah darin zunehmend eine Entsprechung ihrer inneren Verfasstheit: "wie bei mir wird die aufgebaute Spannung zum Ende der Filmserien nicht abgebaut". Die Freiheit bzw. erlebte Unfreiheit des Spiels durch elterliche Konformitätsansprüche führte zu einer Verinnerlichung einer repressiven Autorität, die eine spielerische und kreative, sowie intellektuelle Autonomisierung mit Schuldgefühlen verband. Dies zeigte sich auch im Zutrauen und im Selbstbewusstsein, sich im Rahmen einer Diplomarbeit zu verselbständigen und eine eigene Arbeit mit eigenen Worten zu schreiben. [26]

In beiden Fällen war der Prozess des Erzählens relevant für die Selbstvergewisserung und für die Aneignung, Reflexion und Distanzierung von der eigenen Geschichte. Es zeigte sich, dass die Evozierung von Erzählung bereits eine professionelle Intervention ist und Erzählen "an sich" als Mittel des Selbst- und Fremdverstehens zur Bewältigung einer problematischen Situation beitragen kann. Im Kontext einer Universität, in der es im Zusammenhang mit Studienprozessen auch immer um biografische Bildungsprozesse und damit auch um biografische Wandlungsprozesse geht, kommt den biografischen Erzählungen eine besondere Bedeutung zu, da sie Aneignung von Geschichte, Gegenwart und antizipierter Zukunft leisten und damit neue Bildungsprozesse ermöglichen. [27]

5. Schlussbemerkung

In der Biografieforschung erhalten die Erzählung und das Erzählen als eigenständige Qualitäten eine besondere Aufmerksamkeit. Sie knüpft damit an die alltagsweltliche Kompetenz und menschliche Fähigkeit an, Geschichten zu erzählen, um sich anderen und sich selbst etwas verständlich zu machen. Darin werden eigene Handlungen gedeutet und ausgelegt, um ihnen damit einen eigenen, gegenwärtig bedeutsamen und damit biografisch entstandenen Sinn zu geben. Mit dem "narrative turn" in Psychologie (KEUPP 1997; LUCIUS-HOENE 1998,), in der Psychotherapie (GROSSMANN 2000; SCHULZE 2007a; WHITE & EPSTON 2002) und in der Beratungsmethodik (ENGEL 1997) sowie in der interpretativen psychosozialen Forschung (HANSES 2002) wird das Erzählen der eigenen Geschichte für die (Wieder-) Aneignung von Lebenspraxis und zur Erarbeitung einer reflexiven Subjektposition durch den Einsatz narrationsorientierter Gesprächssettings ins Zentrum professioneller Begegnung und Verständigung gestellt. Mit der Aufforderung zum Erzählen der jeweils eigenen – und nicht durch die Macht der Expertensprache verzerrten bzw. unterdrückten – Geschichte sind diese methodischen Reflexionen und Ansätze eng verbunden mit dem genuinen Empowermentkonzept. Sie kommen der Aufforderung nach, benachteiligten und mariginalisierten Menschen eine Chance zur individuellen und gemeinsamen Artikulation zu verleihen, Artikulationsräume zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Dem Erzählen kommt die Bedeutung eines Sozialität stiftenden Momentes zu. Indem die eigene Erfahrung in eigener Sprache einem oder einer Anderen verständlich gemacht wird, entsteht ein gemeinsamer Verstehenshorizont, der durch Partizipation geprägt und auf reziproke Bezugnahme ausgerichtet ist. Gerade weil sich Erzählungen immer auch in einem Spannungsfeld sozialer, gesellschaftlicher und professioneller Kontrolle realisieren, können Machtasymmetrien und soziale Ungleichheit reflexiv gemacht werden, um zur Widerständigkeit, Überwindung und Autonomisierung anzuregen (HANSES 2007; RAPPAPORT 1995; SCHULZE 2007b). [28]

Auch in der narrativen therapeutischen und beraterischen Praxis geht es darum, die KlientInnen ins Erzählen zu bringen, um einen sprachlichen oder szenischen-interaktionellen (Gestaltungs-)Raum für die Darstellung von Erfahrung und für die Kreation neuer Bedeutungen bzw. neuer Optionen auf der Grundlage gleichberechtigter und partizipativer Verständigung und nicht in Form expertokratischer Deutungen zu eröffnen.

"Veränderungs- und Innovationspotential für ein neues Beratungsmodell findet sich auch in der Kritik an den Mikro-Prozessen der Beratung. So wurden im Rahmen 'postmoderner' Therapie und Beratung (…) narratonsorientierte Modelle aus einer Nichtwissens-Perspektive (…) vorgeschlagen. Nichtwissen bedeutet hier keinesfalls, Berater wie Beraterin sollten nicht über Wissen verfügen. Sie sollten vielmehr mit ihrem Wissen so umgehen, dass sie den Klienten Raum zur Entwicklung ihrer Geschichte oder Narration lassen. Beratung wird dann zu einem gemeinsamen oder 'kollaborativen' Dialog, der Fortschritte und Rückschritte akzeptiert, ein Prozess gemeinsamen Gebens und Nehmens, eben ein Gespräch miteinander." (ENGEL 2003, S.7) [29]

In der Beratungspraxis ist zu Beginn jeder Beratung die Situation erst einmal durch den institutionellen Auftrag und die sich darauf beziehenden Erwartungen aufseiten der KlientInnen eingeschränkt.5) Lebensgeschichtliches Erzählen öffnet in einer institutionell fokussierten Problemorientierung – wie hier im Falle einer universitären Beratungsstelle – einen Raum gemeinsamen Suchens, Erlebens und Verstehens. Die Potenz der biografisch narrativen Gesprächsführung liegt dabei im intendierten Prozess des Selbstverstehens der KlientInnen. Hierfür reicht es nicht aus, die oben gezeigte Fragetechnik rezeptartig und technisch anzuwenden und abzuarbeiten. Entsprechend der zugrunde liegenden hermeneutischen und narrationsorientierten Haltung entsteht eine Perspektive, die die Geschichtlichkeit der Person und des artikulierten Problems in das Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Sie macht aber auch gleichzeitig sensibel für die gerade stattfindende Geschichte der zwischenmenschlichen Begegnung, den Prozess der Interaktion, in dem das Erzählen ja erst stattfindet. Beides wird als biografische Arbeit, als Mittel von Handlungsorientierung und Selbstvergewisserung, als gemeinsamer Sprachspielraum verstanden. [30]

Dabei bleibt zu beachten, dass es in der Beratungs- und Therapiepraxis immer wieder zwischen der heilenden Wirkung von Erzählungen und der Vermeidung von zusätzlichen Instabilisierungen abzuwägen gilt, wenn KlientInnen zur Verbalisierung heikler Themen bzw. Lebensphasen aufgefordert werden. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft zu jedem Zeitpunkt im Leben über die eigene Lebensgeschichte verfügt, die sich gestalthaft darbietet und sprachlich präsentierbar ist. Dies hat biografisch nachvollziehbare Gründe, und auch das Nicht-erzählen-Können wird als Resultat einer biografischen Erfahrung verstanden und kann als individuelle biografische Funktion sowie gesellschaftlicher und familialer Tabu- und Schweigegebote interpretiert werden (vgl. LOCH 2007; SCHULZE 2006b, 2007a). [31]

Es scheint selbstverständlich, dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass immer erst eine Entscheidung getroffen werden muss, ob im vorliegenden Fall ein Unterstützen von Erinnerungsprozessen oder Ressourcen aus der gegenwärtigen Lebenspraxis thematisch akzentuiert werden soll. Zur Ausbalancierung eines angemessenen Vorgehens bedarf es einer fundierten fachlichen Ausbildung und Erfahrung. [32]

Danksagung

Ich danke meinen KollegInnen an meiner "ehemaligen" Beratungsstelle und Frau Dr. MASSING als Supervisorin für die konstruktiv und kontrovers geführte Diskussion über die Vergleichbarkeiten und Differenzen zwischen der biografieanalytisch und der psychoanalytisch orientierten Praxis von Beratung und Therapie. Herrn Prof. Dr. FLICKINGER von der Universität Kassel gilt mein Dank für einen anregenden und ermutigenden Dialog zum Verstehen der Hermeneutik GADAMERs und zur Integration in den Beratungs- und Therapiekontext.

Anmerkungen

1) Zur kritischen Diskussion des Identitätskonzeptes bei ERIKSON siehe KEUPP (1989) und KRAUS (2000). <zurück>

2) Zum biografisch narrativen Interview siehe SCHÜTZE (1983, 1987), zur biografisch narrativen Gesprächsführung siehe ROSENTHAL (1995, 2002a) und zum Transfer für die Beratungspraxis siehe LOCH und SCHULZE (2002) sowie zur Biografischen Diagnostik HANSES (2000). <zurück>

3) Dieser Hinweis erzeugte in vielen Diskussionen Widersprüche und Verwunderung. In diesem Artikel kann nicht noch näher darauf eingegangen werden. Siehe hierzu LOCH und SCHULZE (2002), ROSENTHAL (1995, 2002). <zurück>

4) Die Namen in den folgenden Falldarstellungen wurden maskiert, weitere Angaben so verändert, dass die Besonderheiten der Fälle noch erhalten bleiben, aber keine Rückschlüsse mehr auf die Person gezogen werden können. <zurück>

5) Als Interaktionsprodukt entstünde so eine interdependente Problemfokussierung. GILDEMEISTER (1989, S.417) hierzu: "Die Institutionen produzieren aus ihrem Alltag heraus sowohl die spezifische Problemsituation als auch die entsprechenden Definitionen. Der Zirkel entsteht dergestalt, dass durch den Alltag in der Institution Möglichkeiten der Äußerung von Problemen vorgegeben sind und diese so entstehenden Äußerungstypen wiederum die Annahme über die Struktur (und 'Natur') des Problems bestätigen." <zurück>

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Zur Autorin

Heidrun SCHULZE: Professorin an der Fachhochschule Wiesbaden im Bereich Methoden in der Sozialen Arbeit, Einzelfallhilfe und Gemeinwesenarbeit, Forschungsmethoden in der Sozialen Arbeit..

Arbeitsschwerpunkte:, Interpretative Sozialforschung, Biografieforschung, Rekonstruktive Sozialarbeitsforschung, Migration und Krankheit, Resilienz, narrativ reflexive Beratung und Therapie

Kontakt:

Prof. Dr. Heidrun Schulze

Fachhochschule Wiesbaden
Fachbereich Sozialwesen
Kurt-Schumacher Ring 18
D-65195 Wiesbaden

Tel.: 0611 9495311

E-Mail: schulze@sozialwesen.fh-wiesbaden.de

Zitation

Schulze, Heidrun (2008). Lebensgeschichtliches Erzählen im Kontext von Beratung und Therapie [32 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 1, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs080117.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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