Volume 20, No. 2, Art. 19 – Mai 2019



Rezension:

Nora Küttel

Monika Streule (2018). Ethnografie urbaner Territorien. Metropolitane Urbanisierungsprozesse von Mexiko-Stadt. Raumproduktionen: Theorien und gesellschaftliche Praxis, Band 21; Westfälisches Dampfboot, Münster; 338 Seiten; 978-3-89691-294-7; 35,00 €

Zusammenfassung: Mit ihrem Buch "Ethnografie urbaner Territorien" bietet Monika STREULE eine Forschungsarbeit, die Anstöße für eine transdisziplinäre Stadtforschung gibt und sich komplexen Verhältnissen widmet. Mit einem Set von ethnografischen und kartografischen Methoden analysiert sie Urbanisierungsprozesse der Megametropole Mexiko-Stadt und regt dazu an, Stadtforschung nicht nur reflektiert und kritisch zu denken, sondern auch innovativ vorzugehen. In diesem Essay findet daher insbesondere eine Auseinandersetzung mit ihren methodischen und methodologischen Herangehensweisen statt.

Keywords: Ethnografie; transdisziplinäre Stadtforschung; Mexiko-Stadt; Kartieren; Wahrnehmungsspaziergang; bewegte Interviews

Inhaltsverzeichnis

1. Von der Produktion des Raumes zur Produktion von Urbanisierungsprozessen

2. Experimentelle Techniken empirischer Stadtforschung

2.1 Mobile Ethnografie

2.2 Triangulatives Kartieren

2.3 Periodisierung von Urbanisierungsregimen

3. Urbanisierungsprozesse

4. Fazit

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Von der Produktion des Raumes zur Produktion von Urbanisierungsprozessen

In den vergangenen Jahren setzen sich in der Stadtforschung vermehrt kritische Auseinandersetzungen mit aktuellen, aber auch historischen und zukünftigen Verhältnissen in und von städtischen Räumen durch. Häufig angetrieben durch Henri LEFEBVREs richtungsweisendes Werk "La production de l’espace" (1974) – beziehungsweise vielmehr durch dessen Übersetzung ins Englische im Jahr 1991 – wurden zahlreiche kritische Analysen des urbanen Raumes, seiner Implikationen und Bedingungen, durchgeführt. Zentral ist dabei meist LEFEBVREs Ansatz eines gesellschaftlich produzierten Raumes. Darüber hinaus wurden auch in der deutschsprachigen Stadtforschung immer mehr de- bzw. postkoloniale sowie feministische Ansätze rezipiert. Sie dienen vielen Forschenden auch in ihrer methodischen und methodologischen Arbeit verstärkt als Möglichkeit einer kritischeren und reflektierteren Forschung. Hierbei stehen unter anderem Fragen nach der eigenen Positionalität und der Wissensproduktion häufig im Fokus (KATZ 1994; MICHEL 2009; ROSE 1997; ROY 2014). [1]

Monika STREULEs "Ethnografie urbaner Territorien" knüpft nun an verschiedene Stränge dieser und weiterer Ansätze an und führt sie zusammen, um eine Analyse von aktuellen Urbanisierungsprozessen von Mexiko-Stadt durchzuführen. Hierbei lässt sie sich von der übergeordneten Frage leiten, welche Urbanisierungsprozesse sich im metropolitanen Territorium1) von Mexiko-Stadt – einer Metropolregion "extremer Gegensätze" (STREULE, S.13), in der rund 21 Millionen Menschen leben – identifizieren lassen. Sie widmet sich sowohl den Subjekten, die an der städtischen Raumproduktion beteiligt sind, als auch den Einschreibungen der Urbanisierungsprozesse in das Terrain und deren regionalen und lokalen Effekten, vor allem auch auf das Alltagsleben der Bewohner_innen. Hierfür nutzt STREULE einen enormen Korpus an Material zur Stadtentwicklung – von der aztekischen Hauptstadt bis zur "postapokalyptischen Metropole" (S.173) –, ausgehend von drei sich ergänzenden Methoden der Stadtforschung: mobile Ethnografien (Wahrnehmungsspaziergänge und leitfadengestützte bewegte Interviews), triangulatives Kartieren sowie die Periodisierung von Urbanisierungsregimen2). Und so wird das Buch um eine beiliegende Karte ergänzt, die im Prozess des triangulativen Kartierens entstanden ist. Eingerahmt von der einleitenden Hinführung zum Thema und abschließenden Bemerkungen zum gegenwärtigen Urbanisierungsregime Mexiko-Stadts gliedert sich das Buch in drei Kapitel:

Im Folgenden betrachte ich vor allem das erste und dritte Kapitel genauer, um STREULEs methodische Herangehensweisen sowie deren Über- und Zusammenführung in die Diskussion von Urbanisierungsprozessen besprechen zu können. [3]

2. Experimentelle Techniken empirischer Stadtforschung

In STREULEs Forschungsarbeit sind die im ersten Kapitel dargelegten methodischen Herangehensweisen nicht nur nötiges Beiwerk, sondern zentraler Teil ihrer gesamten Auseinandersetzung mit Mexiko-Stadts Urbanisierungsprozessen und grundlegend für das Verständnis der beiden weiteren Kapitel. [4]

Für ihren Forschungsprozess hat STREULE drei methodische Verfahren (weiter-) entwickelt, angepasst und miteinander in Verbindung gebracht, "die eine ethnografische Analyse, eine kartografische Synthese und eine historische Betrachtung der sozialen Produktion von Mexiko-Stadt anleiten" (S.24). Datenerhebung und -auswertung sind dabei maßgeblich von der ethnografischen Stadtforschung geprägt, die sich unter anderem durch ihre Reflexivität auszeichne (S.18). [5]

Noch vor der Darstellung der konkreten Methoden werden wichtige Implikationen ihrer Herangehensweisen geklärt: Unter der Überschrift "Epistemische Reflexivität" (S.20) nähert sich STREULE Fragen von Positionalität, Machtverhältnissen und Wissensproduktion. Sie stellt dies vor allem unter kurzer Skizzierung ihrer eigenen akademischen Entwicklung und Verbindung zu Mexiko-Stadt dar und reflektiert anschließend ihre Rolle im Forschungsprozess (S.22):

"Meine durch diese beruflichen Möglichkeiten3) geprägte persönliche Disposition als weiße mitteleuropäische Akademikerin Ende 30 in Mexiko-Stadt ist ambivalent. Durch eine spezifische Position in der mexikanischen Gesellschaft verfüge ich über Zugänge zu sehr unterschiedlichen Lebenswelten dieser Stadt. So kann ich mich beispielsweise als 'Außenseiterin' in sehr diversen Stadtteilen zu Fuß auf der Straße bewegen und mit verschiedensten Menschen ins Gespräch kommen, ohne mich über kulturelle oder geschlechtliche Codes hinwegsetzen zu müssen. [...] Gleichzeitig limitiert dieses 'Anderssein' oder die Position als 'Fremde' die Tiefe der Auseinandersetzung im Forschungsfeld: Interviews mit Stadtbewohner*innen und Expert*innen gehen nicht über einen gewissen Punkt hinaus – ich verstehe nicht alles oder mir wird ein Verstehen schon im Voraus abgesprochen." [6]

Auf diesem Weg wird der eigene Forschungsprozess nicht nur transparenter, auch seine inhärenten und teilweise unvermeidbaren Limitationen werden sichtbar. Spannend wäre für Lesende darüber hinaus, noch mehr darüber zu erfahren, wie sich diese Dispositionen zum Beispiel tatsächlich in bestimmten Situationen im Forschungsprozess geäußert haben und welche Herausforderungen, Konflikte oder Möglichkeiten im Konkreten entstanden sind. Doch auch die korrespondierende Seite, das Aus- und Nachwirken des Forschungsprozesses auf die Forscherin – vielleicht im Sinne der Autoethnografie gedacht – könnte Fragen der Positionalität oder Subjektivität von Wissen nochmals verstärkt betrachten lassen (BUTZ 2010; ELLIS, BOCHNER & ADAMS 2010). [7]

2.1 Mobile Ethnografie

Ausgehend von der Annahme, "dass sich Urbanisierungsprozesse mit geeigneten Methoden auf einer Alltagsebene beobachten, beschreiben und analysieren lassen" (STREULE, S.27), setzt STREULE mobile Ethnografie ein, um so an spezifisches räumliches Wissen von Bewohner_innen zu gelangen. Das Mobile äußert sich hier vor allem in Form des Gehens in der Stadt. Raumerfahrung, -begreifen und -analyse werden dadurch zu einer körperlichen und direkten Erfahrung. Begegnungen finden – zumindest im physischen Sinne – auf Augenhöhe statt. STREULE greift methodologisch auf Ausführungen DE CERTEAUs (1988 [1984]) zurück, der in "Kunst des Handelns" die Perspektive des Gehens in der Stadt als Forschungstaktik darstellt und sie dabei einem distanzierten Blick von oben (zum Beispiel über Karten) gegenüberstellt: "It's hard to be down when you're up" (S.92). Hiermit einher geht auch ein spezifisches Begreifen von Raum, "weg von der Stadt als Form, hin zu einem prozesshaften, dynamischen und relationalen Verständnis der gesellschaftlichen Raumproduktion" (STREULE, S.30), womit sich STREULE an LEFEBVREs Konzept des gesellschaftlich produzierten Raumes anlehnt. [8]

Die mobile Ethnografie hat bei STREULE auf zweierlei Art Anwendung gefunden: Recorridos Explorativos (Wahrnehmungsspaziergänge) und Entrevistas en Movimiento (leitfadengestützte bewegte Interviews). Wahrnehmungsspaziergänge, deren maßgeblicher Ursprung in der Psychogeografie der Situationistischen Internationalen4) zu finden ist – dort auch bekannt als dérive (driften, umherschweifen, vgl. DEBORD 2006 [1981], S.40) – dienen in der Regel dazu, sich unvoreingenommenen im Raum treiben zu lassen. STREULE entwickelte diese Methode insofern weiter, als sie gezielt bestimmte Stadtzonen ansteuerte, an deren Urbanisierungsprozesse sie Fragen hatte, und sich dort dann vor Ort ohne vorstrukturierte Route bewegte (insgesamt führte sie während ihrer 28 Monate dauernden Feldforschung 68 dieser Spaziergänge durch). Die während der Spaziergänge festgehaltenen teilnehmenden Beobachtungen – als Gehende wurde sie Teil der alltäglichen Raumproduktion – ergänzen die Materialsammlung. Hinzu kommt, dass die Spaziergänge auch prozesshaft dazu dienten, die dem Buch beiliegende Thesenkarte zu entwickeln (siehe Abschnitt 2.2). [9]

Auf Grundlage der Thesenkarte wählte STREULE neun Urbanisierungsprozesse aus, die sie im späteren Verlauf vertieft betrachtete. Um hier auch die Perspektive der (alltäglichen) Raumproduktion der Stadtbewohner_innen berücksichtigen zu können, wurden 56 bewegte Interviews durchgeführt. Dieses Verfahren, vor allem durch KUSENBACH als go-along bekannter geworden, zeichnet sich vor allem dadurch aus, "that ethnographers are able to observe their informants' spatial practices in situ while accessing their experiences and interpretations at the same time" (2003, S.462). Den bewegten Interviews legte STREULE einen strukturierten Leitfaden zugrunde, die jeweiligen Routen ergaben sich jedoch während der Interviews, spontan oder durch bestimmte raumbezogene Fragen evoziert. Die über ein Schneeballsystem gefundenen Teilnehmer_innen wurden dabei möglichst heterogen bezüglich demografischer Merkmale ausgewählt. Die zentralen Inhalte der leitfadengestützten Interviews beschreibt STREULE wie folgt: "Wir sprachen über Alltagsräume der Person, Geschichten über das Stadtviertel, über ihre Ansichten zu ihrem Wohnort, zu den übrigen Bewohner*innen und Passant*innen, thematisierten aber auch ihre persönliche Selbstverortung in Mexiko-Stadt" (S.41). Festgehalten wurden die Informationen in Beobachtungsprotokollen und Feldnotizen. [10]

2.2 Triangulatives Kartieren

Über das Triangulieren verschiedener Daten und Methoden hat STREULE die dem Buch beiliegende Thesenkarte entwickelt, welche im LEFEBVREschen Sinne als eine Repräsentation des Raumes, nicht als "Illustration der Forschungsergebnisse oder eine bloße Orientierung für die Leserin und den Leser" (STREULE, S.50) gelten solle. Dennoch kann die Karte Lesenden auch dazu dienen kann, da sie, trotz ihrer weiteren Bedeutungen und Abstraktionen, ein Mittel der Lokalisierung bleibt. Um sich den gängigen Kritikpunkten von Karten – unter anderem Machtasymmetrien und Herrschaftsverhältnissen, verbunden mit der Frage, wer Karten für welchen Zweck und für wen produziert (HARLEY 1989, S.13) – zu stellen, betont STREULE die Subjektivität der Karte und legt ihren kartografischen Prozess offen. Jenen beschreibt sie als eine Gruppierung von "zeitspezifischen urbanen Konfigurationen" (S.47), welche von "spezifischen Urbanisierungsprozessen geprägt sind" (a.a.O.). Die Merkmale, die sie hierfür herangezogen hat, reichten von morphologische über funktionale bis hin zur dichten Beschreibung von Alltagserfahrungen nach GEERTZ (2007 [1983]). Über fünf aufeinander aufbauende und korrespondierende Sequenzen wurde die Karte immer wieder überarbeitet, bis schließlich die finale Thesenkarte entstand: "Jede Sequenz beinhaltet Phasen der Exploration, des Samplings, der Datenerhebung, der Datenanalyse und der triangulativen Dateninterpretation durch Kartieren" (STREULE, S.51). Für dieses Vorgehen lehnte STREULE sich an die Grounded-Theory-Methodologie nach GLASER und STRAUSS (1967) sowie das Triangulationsverfahren nach DENZIN (1989) und FLICK (2011) an: "Die Triangulation von Daten und Methoden dient hierbei weniger der Überprüfung empirischer Ergebnisse [...], sondern führt zu systematisch erweiterten Erkenntnismöglichkeiten durch 'geerdete' (grounded) interpretative Verfahren" (STREULE, S.46). So betrachtet ist die Karte nicht (nur) ein Ergebnis oder eine Darstellung von Erkenntnissen, sondern war unterstützend und richtungsweisend im Forschungsprozess. STREULE gibt so wertvolle Ideen und Anregungen, wie Kartografie und Ethnografie zusammengedacht werden können, betont aber auch die Grenzen dieser Technik. So können beispielsweise nicht alle sozialen Phänomene und insbesondere komplexe Prozesse auf einer Karte abgebildet werden. Dass hierin aber auch zusätzliche Potenziale liegen, zeigt das KOLLEKTIV ORANGOTANGO+ in dem 2018 erschienenen Buch "This is not an Atlas", welches Auseinandersetzung und Anregung zu kritischer Kartografie bietet. [11]

2.3 Periodisierung von Urbanisierungsregimen

Bei dem dritten Verfahren, das STREULE anwendete, vereinte sie Raum und Zeit, indem sie Urbanisierungsregime identifizierte. Theoretische Grundlage bot auch hier LEFEBVREs Theorie eines gesellschaftlich produzierten Raumes. Historische Entwicklungen werden dann von STREULE auf ihre der jeweiligen Zeit spezifischen Nutzungen und Erzählungen hin verstanden und entsprechend periodisiert: "Ich ergründe eine Periode eines Urbanisierungsregimes demnach theoriegeleitet mit Fokus auf die Subjekte, die Diskurse und das Materielle" (S.76). Hierfür wendete STREULE eine dreistufige Analyse an, die sie in eine regressiv-progressive, regulationstheoretisch informierte Analyse und eine Analyse der Subjektivierung gliederte, die letztlich dazu dienen sollten, "kontinuierlich präziser werdend auf zeitspezifische Stadtbilder, Vorstellungen von Urbanität, planungstheoretische Leitbilder und Strategien sowie Entscheidungsprozesse, soziopolitische Konflikte und ökonomische Krisen" (S.85) blicken zu können. Diese Periodisierung von gesellschaftlicher Raumproduktion und somit die dominierenden Urbanisierungsprozesse von Mexiko-Stadt führt STREULE im 3. Kapitel "Trayectorias: Periodisierung der sozialen Produktion von Mexiko-Stadt" über 100 Seiten hinweg aus. Hierbei identifiziert sie unterschiedliche Urbanisierungsregime. STREULE liefert in diesem Kapitel nicht nur eine umfassende historische Grundlage für das Verständnis des folgenden Kapitels, welches sich den dominanten Urbanisierungsprozesse von Mexiko-Stadt widmet, sondern schafft es auch, ein ganzheitliches Bild historischer Raumproduktion zu skizzieren. So werden zum Beispiel wesentliche politische Prozesse, Kämpfe und Konflikte nachvollziehbar auf den urbanen Raum bezogen und ihre Implikationen und Auswirkungen herausgestellt. Ebenso werden regionale, nationale und internationale Beziehungen, zum Beispiel zu den USA, in ihrer nötigen Tiefe und Komplexität anschaulich betrachtet. [12]

3. Urbanisierungsprozesse

Die Synthese aus den Wahrnehmungsspaziergängen, den leitfadengestützten bewegten Interviews, dem triangulativen Kartieren und der Periodisierung von Urbanisierungsregimen mündet nun im Kern der Arbeit: die Diskussion von neun gegenwärtig dominanten Urbanisierungsprozessen – eben jene Prozesse, die sich auch auf der Thesenkarte wiederfinden lassen. Ergänzend hat STREULE Berichte zu tagesaktuellem Geschehen und wissenschaftliche Literatur herangezogen. Die Prozesse manifestieren sich morphologisch von Prestigeobjekten und Luxusbauten über Nachverdichtungen und seriellen Massenwohnungsbau bis hin zu improvisiertem Selbstbau – und diversen Nuancen dazwischen, die geprägt sind von Aushandlungen, Brüchen und Widersprüchen. Um STREULEs Vorgehen nachvollziehen zu können, wird im Folgenden exemplarisch ein genauerer Blick auf den Urbanisierungsprozess Efecto Santa Fe geworfen. [13]

Der Efecto Santa Fe, der dominierende Prozess im Westen der Stadt, ist maßgeblich geprägt von seiner Wechselwirkung mit anderen Prozessen wie dem Prozess Centralidades Metropolitanas, der sich vor allem durch Zentralität5) auszeichnet. Und so definiert sich der Efecto Santa Fe vor allem über die "Überlagerung verschiedener Interessen diverser Akteur*innen wie privater Investor*innen, transnational agierende Bauunternehmen und sowohl lokaler als auch nationaler Politiker*innen" (STREULE, S.225). Historische Segregationsprozesse, rezente Kommerzialisierungen und Privatisierungen von Boden und anderen Ressourcen formen dieses Gebiet. Beeinflusst durch die Konfiguration Santa Fe (ein urbanes Territorium im erwähnten Prozess Centralidades Metropolitanas) besteht die gebaute Umwelt hier vor allem aus Villen, abgeriegelten Wohnvierteln, Luxuswohnungen und Country Clubs sowie Verbindungsstraßen. Um die wechselseitigen Einflüsse und Überlagerungen der verschiedenen Prozesse hervorzuheben, gibt STREULE an entsprechenden Stellen im Buch Querverbindungen zu anderen Prozessen, sodass direkt dorthin geblättert werden könnte. Sie bietet damit die Möglichkeit, die gängige, lineare Lesart des Buches aufzubrechen und zwischen den Unterkapiteln sowie der Thesenkarte zu springen. [14]

Im Stil einer ethnografischen dichten Beschreibung nimmt STREULE Lesende zunächst mit auf den Weg zu ihrer Interviewpartnerin. Sie beschreibt das Warten auf den Bus, der nicht kommt, den Taxifahrer, der ihr von einer Schießerei in Santa Fe erzählte, bei der es mutmaßlich um Korruption, Geldwäsche und Immobilienprojekte ging; Steilhänge und verschiedenste Siedlungsformen, die passiert werden und die Maut-Autobahn, auf der sie sich bewegte: All dies wird anschaulich dargestellt, kontextualisiert und gedeutet. Am Treffpunkt angekommen, nahm ihre Interviewpartnerin – die kurz charakterisiert wird – sie mit in den Country Club, eine abgeschlossene Wohnsiedlung, in der sie mit ihrer Familie lebt. Während STREULE die Wohnbiografie der Familie und deren gegenwärtiges Leben im Country Club wiedergibt, lässt sie im Buch auch ihre Interviewpartnerin mit längeren Zitaten immer wieder zu Wort kommen und gewährt so einen noch besseren Blick auf Alltagswelt und alltägliche Raumproduktion ihrer Gesprächspartner_innen, wie folgendes Beispiel zeigt (S.232):

"Wenn man zum Beispiel Sushi bestellt, dürfen die Kuriere den Haupteingang benutzen. Alle anderen Angestellten müssen durch den Lieferanteneingang. Da werden alle, die aus der Anlage rausfahren, kontrolliert: Kofferraum öffnen und Personenkontrolle. So wird überprüft, ob da nicht jemand im Kofferraum entführt wird. Wenn man einer Angestellten etwas mitgibt oder schenkt, eine Bratpfanne oder so etwas, muss man das immer schriftlich bestätigen. Die Leute, die in Bosque Real wohnen, haben den armen Leuten gegenüber ein schlechtes Gewissen. Die wiederum sind wütend angesichts des großen Wohlstands und wollen sich einen Teil davon nehmen. Das umschreibt in etwa die Beziehung zwischen den Habenden und den Nichthabenden. Die Grundlage dieser Beziehung ist ein immenses gegenseitiges Misstrauen (… Interview 23/11/2013)." [15]

Ergänzend nutzt STREULE zum Beispiel Werbeprospekte sowie wissenschaftliche Literatur, um den Urbanisierungsprozess charakterisieren und analysieren zu können. Eigene Beobachtungen ergänzen die Ausführungen um einen fast unmittelbaren Blick auf die Umgebung:

"Von hier oben überblicke ich auch das Gelände des Country Clubs. Außer auf einigen Baustellen, wo auch heute, am Sonntag, gearbeitet wird, und dem grünen Golfplatz, ist nichts los. Im Wohnzimmer steht eine eineinhalb Meter große Marienstatue mit einem Rosenkranz und gefalteten Händen und Blumenstrauß davor. Auf der Kommode liegt eine alte aufgeschlagene Bibel, daneben die Fotos der zwei Töchter des Hauses" (S.235). [16]

An jenen Stellen im Buch, an denen die eigenen Beobachtungen jedoch nicht so ausgeführt werden, wäre neben der Thesenkarte weiteres visuelles Material wünschenswert – zum Beispiel auch, um die Routen der Recorridos Explorativos und Entrevistas en Movimiento nachvollziehen zu können. [17]

Das Buch schließt mit einem knappen Blick auf fünf Tendenzen des aktuellen Urbanisierungsregimes, die in den behandelten Prozessen bereits unterschiedlich stark angedeutet wurden und für zukünftige Forschungen Anknüpfungspunkte bieten könnten. STREULE fasst hierunter erstens Ausnahmezustände und Bürger_innenbeteiligung, bei denen zwischen häufigen sozialen Protesten und der darauf autoritär reagierenden Regierung die Machtverhältnisse Mexiko-Stadts immer wieder neu ausgehandelt werden. Die zweite Tendenz beschreibt sie als eine Eventisierung der Stadtpolitik, die sich in Mexiko-Stadt, wie in vielen anderen Städten weltweit, durch Großveranstaltungen und Imagebildung niederschlage. Zwei weitere Tendenzen, die marktförmige Urbanisierung sowie die Privatisierung und Militarisierung des öffentlichen Raumes, schließen nahezu nahtlos hieran an, denn auch mit ihnen wird das neoliberale Konzept der Kommodifizierung von Stadt(raum) verfolgt. Mit der fünften Tendenz, die STREULE mit "Selbstverwaltung und Ermächtigungsstrategien" betitelt, hält sie fest, dass Prozesse wie Selbstverwaltung und der eigenmächtige Selbstbau in einigen Gebieten Mexiko-Stadts nach wie vor Bestand haben. Die fünf Prozesse verdeutlichen also abschließend nochmals, "dass die Gesellschaft im spezifischen geografischen und zeitlichen Kontext das aktuelle Urbanisierungsregime hervorbringt, es installiert und es auch wieder verwerfen kann" (S.303). Dieser Verweis auf raumzeitliche gesellschaftliche Urbanisierungsprozesse ist einer der zentralsten Punkte, den STREULE im Laufe ihres Buches immer wieder hervorhebt und ausführt. [18]

4. Fazit

STREULE gibt mit ihrem Buch Einblick in eine beachtenswerte Forschungsarbeit, in der auf verschiedene Weisen Anstöße für die (transdisziplinäre) Stadtforschung gegeben werden. So zeigt sie Möglichkeiten auf, wie sich komplexen Megaagglomerationen in der Stadtforschung tiefgründig gewidmet werden kann, vereint hierfür ein Set an vorwiegend ethnografischen Methoden – die "Werkzeugkiste" (S.211) –, die sie für ihre Forschung angepasst weiterentwickelt. Dabei geht sie reflektiert und kritisch vor und stellt sich Fragen von Positionalität und Wissensproduktion. Die Forschungsarbeit ist stark geprägt von einem steten Pendeln und Aushandeln von Theorie und Empirie. Hierzu zählt auch, dass Begrifflichkeiten neu/anders besetzt werden, wie zum Beispiel das ethnografische Feld6), die Probe7) oder das Territorium. An einigen wenigen Stellen führt dies allerdings auch zu sprachlichen Verkomplizierungen und Redundanzen. [19]

(Kritische) Stadtforscher_innen, die interessiert an methodischen Fragen sind und innovative und/oder transdisziplinäre Ansätze zur Erforschung von urbanen Räumen suchen und ausprobieren wollen, ist dieses Buch zu empfehlen. Insbesondere aufgrund des transdisziplinären Ansatzes, der sich vor allem durch Theorie und Methodik zieht, können zum Beispiel Geograf_innen und Stadtsoziolog_innen, aber auch Historiker_innen und Ethnolog_innen mit einem Interesse an urbanen Raumproduktionen hier Anknüpfungspunkte finden. Das Buch samt seiner umfassenden deutsch-, englisch- und spanischsprachigen Bibliografie bietet außerdem jenen, die Einblick in Mexiko-Stadts Urbanisierungsregime und -prozesse erhalten möchten, ein tiefgehendes Verständnis. [20]

Anmerkungen

1) STREULE (S.12) versteht Territorium im Sinne LEFEBVREs als ein relationales Raumkonzept: "Ich begreife Territorium nicht als etwas Gegebenes, sondern als ein gesellschaftliches Produkt und definiere ausgehend von diesem Verständnis die metropolitanen Territorien von Mexiko-Stadt als Teil des Untersuchungsfeldes. Somit ist die metropolitane Region nicht gegebener Maßstab oder Ausgangspunkt, sondern Gegenstand der Analyse." <zurück>

2) Unter dem Begriff "Urbanisierungsregime" versteht STREULE "entscheidende Phasen der Raumproduktion, in welchen die Gesellschaft ein neues und anderes Territorium hervorbringt" (S.26). <zurück>

3) Hierunter fasst STREULE unter anderem ihr Studium an der Universität Zürich und der ETH Zürich, zwei jeweils einjährige Gastaufenthalte in Mexiko-Stadt während des Studiums sowie die Mitarbeit an einem internationalen Forschungsprojekt zu Fragen von Urbanisierung (S.22). <zurück>

4) Die Situationistische Internationale war eine 1957 durch Künstler_innen und Intellektuelle gegründete Bewegung: "In 1957 a few European avant-garde groups came together to form the Situationist International. Over the next decade the SI developed an increasingly incisive and coherent critique of modern society and of its bureaucratic pseudo-opposition, and its new methods of agitation were influential in leading up to the May 1968 revolt in France" (KNABB 2006 [1981], S.ix). <zurück>

5) Zentralität ist hier nur teilweise geografisch zu verstehen. Vielmehr fasst STREULE hierunter zusätzlich symbolische, soziale, politische sowie logistische und ökonomische Bedeutung (S.191). <zurück>

6) "Das ethnografische Feld definiere ich folglich als theoretisch und empirisch begründeten, sozial produzierten Raum, in welchem ich aktuelle Urbanisierungsprozesse untersuchen kann" (STREULE, S.32). <zurück>

7) "Um diese unkonventionelle Auslegung des Feldbegriffs zu verdeutlichen, nenne ich die Untersuchungseinheiten Proben – diesen Begriff assoziiere ich mit einer Gewebeprobe des 'tissue urban' (Lefebvre 2014 [1970])" (a.a.O.). <zurück>

Literatur

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Zur Autorin

Nora KÜTTEL ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Universität Münster. Ihre Forschungsinteressen liegen unter anderem in der Stadtentwicklung von unten und der ethnografischen Stadtforschung. Sie promoviert zu den Wechselwirkungen von Künstler_innen und urbanem Raum in Detroit, USA.

Kontakt:

Nora Küttel

Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Geographie
Heisenbergstraße 2, 48149 Münster

Tel.: +49 (0)251-83 30 078

E-Mail: kuettel@uni-muenster.de
URL: https://www.uni-muenster.de/Geographie/mitarbeiter/kuettel.shtml

Zitation

Küttel, Nora (2019). Rezension: Monika Streule (2018). Ethnografie urbaner Territorien. Metropolitane Urbanisierungsprozesse von Mexiko-Stadt [20 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(2), Art. 19, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-20.1.3266.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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