Volume 20, No. 3, Art. 24 – September 2019



Sprachlich-kulturelle Herausforderungen bei der qualitativen Inhaltsanalyse musikbiografischer Interviews mit chinesischen und schweizerischen Musikstudierenden

Annatina Kull, Suse Petersen & Marc-Antoine Camp

Zusammenfassung: In diesem Erfahrungsbericht werden methodische Herausforderungen beschrieben, die sich in interkulturell vergleichenden Forschungsprojekten im Umgang mit Sprachenvielfalt und kulturspezifischen Konnotationen gestellt haben. Ausgehend von einer inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse mehrsprachig vorliegender Interviewtranskripte wurden Lösungsansätze für die Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von Daten in multilingualen Settings erarbeitet.

Zum einen wird die Zusammenarbeit mit Dolmetscher_innen und Co-Interviewer_innen beschrieben, um Interviews in der jeweiligen Muttersprache der Befragten führen zu können. Zum anderen wird ein mögliches Vorgehen für die Transkription, Übersetzung und Analyse fremdsprachiger Daten aufgezeigt. Eine wichtige Rolle spielt dabei neben der interkulturellen Kompetenz und Kulturkenntnis der Forscher_innen auch deren Austausch mit Expert_innen vor der Datenerhebung und mit Übersetzer_innen während der Datenaufbereitung und -auswertung.

Keywords: kultursensible qualitative Inhaltsanalyse; interkultureller Vergleich; multilinguale Daten; Datenerhebung; Datenaufbereitung; Übersetzung; Dolmetschen; Methodenreflexion

Inhaltsverzeichnis

1. Inhaltlicher Kontext des Forschungsprojekts

2. Methodische Herausforderungen

3. Lösungsansätze

Anmerkungen

Literatur

Zu den Autorinnen und zum Autor

Zitation

 

1. Inhaltlicher Kontext des Forschungsprojekts

Welche familiären und musikalischen Hintergründe besitzen chinesische und schweizerische Musikstudierende? Welche biografischen Ereignisse und Förderstrukturen haben sie zum Musikstudium geführt? Inwiefern unterscheiden sich ihre musikalischen Lebensläufe und Talentkonzepte auf individueller und kultureller Ebene? Diese und weitere Fragen werden in unserem Projekt SwisSino Musical Talent Study untersucht. Die Vorstudie ist bereits abgeschlossen (Laufzeit: 2014-2015), aktuell wird die Hauptstudie durchgeführt (Laufzeit: 2017-2021). Dabei erwies sich die mit dem kulturübergreifenden Projektsetting verbundene Mehrsprachigkeit als Hauptproblematik bei der Erhebung und Auswertung der Daten. [1]

In unserem Beitrag gehen wir zunächst auf die methodischen Herausforderungen ein, die sowohl durch die Unterschiede der Sprachen als auch der kulturellen Hintergründe der chinesischen und schweizerischen Interviewten bedingt sind. Diesbezüglich wird in Abschnitt 2 einerseits die Interviewdurchführung in mehreren Sprachen, andererseits die qualitativ inhaltsanalytische Arbeit mit mehrsprachig vorliegenden Transkripten und deren Übersetzungen thematisiert. Unter Einbezug konkreter Beispiele geben wir in Abschnitt 3 Einblick in unseren Umgang mit diesen Herausforderungen. So erläutern wir u.a. die Wichtigkeit eines stetigen Austausches zwischen Forscher_innen und Expert_innen der chinesischen Sprache und Kultur bei der Erhebung und Auswertung der Daten. Vorausgesetzt wird dabei, dass "Sprache" und "Kultur" theoretisch in ihren Beziehungen verstanden werden. Dabei steht nicht Sprache als konstitutiver Faktor einer hinsichtlich Wissensordnungen, Praktiken und Selbstverständnissen nicht zwingend homogenen Kultur im Vordergrund, sondern die in Sozialisierungsprozessen angeeignete Sprache und ihr Gebrauch als Repräsentation einer Kultur (FEILKE 2016; zum Kulturbegriff RECKWITZ 2001). [2]

2. Methodische Herausforderungen

Im Rahmen einer Vorstudie (PETERSEN 2018) wurden halbstrukturierte Interviews mit zehn schweizerischen und neun chinesischen Studierenden westlicher klassischer Musik an drei Hochschulen in der Schweiz und in China geführt. Die Interviews in der französischsprachigen Schweiz erfolgten auf Französisch und jene in der deutschsprachigen Schweiz auf Deutsch. In China wurden die Interviews je nach Englischkenntnissen der Interviewten auf Englisch oder mithilfe einer Dolmetscherin auf Chinesisch (Mandarin) geführt. Alle Interviews wurden als Audiodatei aufgenommen und in der jeweiligen Interviewsprache transkribiert, wobei von den mit Dolmetscherin geführten Interviews nur die englischen Übersetzungen der Dolmetscherin verschriftlicht wurden. Die Interviewdaten wurden mittels inhaltlich strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse nach MAYRING (2000, 2015) mit einem deduktiv-induktiv gebildeten Kategoriensystem ausgewertet (Primärverfahren). Die Intercoderreliabilität wurde sichergestellt, indem zwei Forscher_innen mit Deutsch als Erstsprache im Sinne konsensuellen Codierens (HOPF & SCHMIDT 1993) unabhängig voneinander das Interviewmaterial codierten und ihre Ergebnisse bei Differenzen bis zu einer Einigung diskutierten. Die insgesamt 28 Kategorien wurden in fünf Themenbereiche eingeordnet. Das resultierende Material wurde anschließend interkulturell vergleichend analysiert, indem die unterschiedliche Relevanz der Themenbereiche für die chinesischen und schweizerischen Studierenden herausgearbeitet wurde (Sekundärverfahren) (KRUSE, BETHMANN, NIERMANN & SCHMIEDER 2012; STAMANN, JANSSEN & SCHREIER 2016). [3]

Obwohl bei der Auswertung wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den chinesischen und schweizerischen Musikstudierenden festgestellt wurden, erwiesen sich die chinesischen Interviews als bedeutend weniger umfang- und detailreich als die schweizerischen Interviews. Auch wurden fast alle Kategorien in den chinesischen Interviews deutlich seltener zugeordnet. Dies könnte dem Umstand geschuldet sein, dass die chinesischen Interviews in einer Fremdsprache und teilweise mit Dolmetscherin durchgeführt wurden. Zudem wäre es möglich, dass für die chinesischen Interviewten das Interviewsetting mit einer ausländischen Interviewerin anspruchsvoller war; bei den Interviews in der Schweiz teilten die Interviewerin und die Interviewten zumindest einige Aspekte ihrer Sozialisierung. [4]

Die größte Herausforderung der Vorstudie bestand in den unterschiedlichen Sprachen, in denen nicht nur die Interviews geführt wurden, sondern anschließend auch die Transkripte für die strukturierende qualitative Inhaltsanalyse vorlagen. Die zwei Codierer_innen haben mit einem deutschsprachigen Kategoriensystem englische, französische und deutsche Texte codiert. Die Alternative, alle fremdsprachigen Texte ins Deutsche übersetzen zu lassen, war im Rahmen der Vorstudie nicht finanzierbar. [5]

Problematisch am Codieren und Analysieren mehrsprachiger Daten ist, dass mit Sätzen und Wörtern in einer Sprache vielfältige, sich wandelnde kulturspezifische Konzeptionen und Verwendungszusammenhänge verknüpft sind und Übersetzungen daher nicht per se als korrespondierend angenommen werden können (FILEP 2009). Bei der Altersangabe einer Person chinesischer Herkunft beispielsweise gilt unter Umständen die traditionelle ostasiatische Zählung, wonach die pränatale Entwicklung auch als Lebenszeit verstanden wird, ein Kind bei Geburt ein Jahr alt ist und am Chinesischen Neujahr jeweils ein Jahr älter wird. Forscher_innen in einem interkulturellen Projektsetting müssen daher für mögliche Unterschiede zentraler Begriffe sensibel sein. Aber auch mit erhöhtem Bewusstsein für Differenzen besteht die Gefahr, implizite Konzepte durch Übersetzungen und die multilinguale Analyse nicht gänzlich zu erfassen. Dies war vermutlich der Fall in der Vorstudie, deren Analyse sich nicht auf Aussagen in der Muttersprache der Interviewteilnehmenden stützte, sondern auf englischsprachige Übersetzungen der Teilnehmenden selbst oder der Dolmetscherin während des Interviews. [6]

3. Lösungsansätze

Um diesen sprachlichen und sprachassoziierten Schwierigkeiten zu begegnen, werden im nun laufenden Hauptprojekt SwisSino Musical Talent Study zentrale Begriffe des Forschungsprojekts hinsichtlich ihrer Bedeutungsgehalte und Übersetzungsmöglichkeiten ausführlich erörtert. Innerhalb des Projektteams tauschen sich die schweizerischen Forscher_innen und die chinesische, in der Schweiz wohnhafte Forscherin regelmäßig aus. Zudem wurde ein Workshop an einer Musikuniversität in China mit Professor_innen und Student_innen sowie ein zweitägiges Arbeitstreffen in der Schweiz mit einem Sinologen, zwei auf China spezialisierten Ethnomusikologen, einem chinesischen Musikprofessor und einer schweizerischen Musikprofessorin durchgeführt. Die Diskussionen wurden detailliert dokumentiert, danach für die einzelnen Begriffe Erläuterungen und Übersetzungsvorschläge formuliert. Neben diesem Austausch halfen die Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse aus der Vorstudie und die Durchführung von Testinterviews dabei, den Interviewleitfaden der Vorstudie für die Hauptstudie besser auf die Gegebenheiten beider Kulturen auszurichten: Beispielsweise wurden Fragen bezüglich der schulischen und musikalischen Ausbildung den chinesischen Bildungsstrukturen angepasst, Fragen über die Beziehung zu den Großeltern ergänzt, da viele Kinder in China während den ersten Lebensjahren bei ihren Großeltern aufwachsen, und die Fragen zu Geschwistern expliziert, da in China die umgangssprachlich verwendeten Kurzformen für "Schwestern" und "Cousinen" beziehungsweise "Brüder" und "Cousins" gleich sind. Mit den Erweiterungen des Interviewleitfadens um kulturspezifische Themen wurde dieser allerdings so umfangreich, dass einzelne Themen in ihrer Gewichtung zurückgenommen werden mussten. Dazu wurde die ergänzte Version des Interviewleitfadens auf die interkulturelle Vergleichbarkeit der Themen geprüft und dadurch eine Fokussierung und Kürzung erreicht. [7]

Der Umgang mit mehrsprachigen Daten und die Frage, wie unterschiedliche kulturelle Kontexte bei der qualitativen Inhaltsanalyse berücksichtigt werden können, wurden auch im Rahmen der Tagung "Qualitative Inhaltsanalyse – and beyond?"1) erörtert. Dabei wurde vorgeschlagen, in kulturübergreifenden und multilingualen Forschungsprojekten das Datenmaterial vor der Kategorienbildung zu übersetzen, für die Erstellung von Kategoriensystemen mit Erstsprachler_innen zusammenzuarbeiten, und den Einfluss interkultureller Bezugsrahmen auf die Kategorienentwicklung zu reflektieren (JANSSEN, STAMANN, KRUG & NEGELE 2017). In der hier dargelegten Hauptstudie wurde, wie oben beschrieben, Rat von Personen eingeholt, die in den projektrelevanten Kulturen und fachlichen Gemeinschaften sozialisiert worden sind, und viel Zeit in die Übersetzung des Leitfadens und dessen Adaption an die Gegebenheiten in China investiert. Davon profitierte auch der Entwurf des Kategoriensystems, da dieses u.a. auf dem Interviewleitfaden basiert. [8]

Mehrere Forschungsaufenthalte in China boten den Forscher_innen Einsichten in die dortigen kulturellen Gegebenheiten. Die Projektmitarbeiterin, die die Interviews führte, konnte sich zusätzlich mit einigen Musikstudent_innen in einem informellen Rahmen austauschen. Die Interviewerin ist Musikerin und Musikpädagogin, besitzt also denselben fachlichen Hintergrund wie die Interviewten und ist in etwa gleich alt wie diese. Diese Konstellation erwies sich als vorteilhaft, da die Interviewerin einerseits als Fachkollegin gegenüber ihren Gesprächspartner_innen Nähe schaffen, andererseits als außenstehende Forscherin einen distanzierten Außenblick wahren konnte. Wie Merkmale, die mit den Interviewten geteilt werden, den Zugang zum Forschungsfeld beeinflussen können, beschreibt beispielsweise LEUNG (2015) anhand von Co-Ethnizität und Genderaspekten in einem qualitativen Forschungsprojekt mit chinesischen Migrant_innen in Deutschland. [9]

Um den Hürden, die durch unterschiedliche Sprachen, Sozialisierungen und kulturelle Erfahrungshintergründe der Forscher_innen und Interviewten bestehen zu begegnen, wurden für die Interviews eine Dolmetscherin und zwei Übersetzende eingebunden, die mit beiden untersuchten Kulturen vertraut sind (ENZENHOFER & RESCH 2011). Sie übernehmen eine wichtige Rolle als Vermittler_innen, indem sie die Forscher_innen dabei unterstützen, kulturspezifische Konnotationen von Begriffen und kulturelle Kontexte von Schilderungen der Interviewten zu erfassen (HENNINK 2008). In der Erhebungsphase der Hauptstudie wurden alle Interviews in der jeweiligen Muttersprache der Interviewten geführt, demnach auf Schweizerdeutsch, Französisch und Chinesisch. Für die Interviews in China wurde die Dolmetscherin intensiv auf die Interviews vorbereitet, sodass sie als Co-Interviewerin eingesetzt werden konnte. Damit fanden sich auch die chinesischen Student_innen in einem vertrauten Setting wieder und konnten ohne Sprachbarrieren ausführlich erzählen, wodurch – im Gegensatz zur Vorstudie – in den Interviews mit chinesischen und schweizerischen Studierenden ein ähnlicher Detaillierungsgrad erreicht wurde. [10]

Um trotz des Dolmetschens den Erzählfluss zu gewährleisten, übersetzte die Co-Interviewerin längere Gesprächspassagen zusammenfassend und orientierte sich dabei an ihren Notizen. Die Audioaufnahmen der Interviews wurden vollständig in Chinesisch transkribiert und anschließend von einem in China wohnhaften deutschen Muttersprachler auf Deutsch übersetzt, sodass die Ausführungen der Interviewten in extenso ausgewertet werden können. Auch die in der Schweiz auf Französisch geführten Interviews wurden von einer Muttersprachlerin ins Deutsche übersetzt, und die schweizerdeutschen Interviews ins Standarddeutsche übertragen. Somit liegen nun alle Texte für die Durchführung der qualitativen Inhaltsanalyse in der gleichen Sprache vor (Abbildung 1), was u.a. angesichts des deutschsprachigen Kategoriensystems (inklusive Ankerbeispielen und Codierregeln) für einen eingehenden Vergleich der Interviews von Vorteil ist (BAUMGARTNER 2012).



Abbildung 1: sprachbezogener Prozess der Erhebung, Aufbereitung und Analyse der Daten [11]

Die Transkripte in der Ausgangssprache stehen in einer Tabellenspalte den deutschen Übersetzungen gegenüber, sodass während des Codierens und Analysierens jederzeit auf die Originalaussagen zurückgegriffen werden kann, was teilweise auch für die Präsentation der Daten in Publikationen empfohlen wird, sodass für Sprecher_innen der Ausgangssprache die Originaltexte zugänglich sind (GONZÁLEZ Y GONZÁLEZ & LINCOLN 2006). Der Übersetzer der chinesischen Transkripte gab zudem bei nicht eindeutigen Begrifflichkeiten Alternativübersetzungen oder kulturspezifische Erläuterungen in eckigen Klammern an und ergänzte bei Schlüsselbegriffen wie beispielsweise "Talent" den von den Sprecher_innen verwendeten Terminus in phonetischer Umschrift, was an folgenden zwei Ausschnitten (Tabelle 1) aus den Transkripten exemplarisch veranschaulicht wird:

Chinesisches Transkript

Deutsche Übersetzung

Interviewpartner: 我身边的有不少天才,然后那些天才,你会觉得你可能努力一辈子都不会有那样的高度。所以我觉得后天努力是很重要的,但是如果音乐,每个人的天赋的确有差异

Interviewpartner: In meinem Umfeld gibt es nicht wenige Genies [tiancai], und diese Genies [tiancai] – da glaubst du, du kannst dein Leben lang fleißig sein, und doch kommst du nie an deren Niveau heran. Deshalb denke ich, dass angeeigneter [houtian] Fleiß sehr wichtig ist, aber wenn es um Musik geht, ist das Talent [tianfu] jedes Menschen tatsächlich ungleich.

Interviewpartner: 我只能说如果具备这项天赋的人,他这项东西是与生俱来的,他可以不用通过很繁琐的努力。

Interviewpartner: Ich kann nur sagen: Falls es jemanden gibt, der dieses Talent [tianfu] hat, jemanden, bei dem diese Sache angeboren [shengju] ist, dann braucht derjenige nicht besonders fleißig zu sein.

Tabelle 1: Beispiele der Transkriptionen und Übersetzungen der chinesischen Interviews [12]

Alle in die Transkription und Übersetzung involvierten Personen sind mit der Thematik des Forschungsprojekts und den übergeordneten Forschungsfragen vertraut. Die Interviewerin, die die Texte selbst codiert, kann sich nach der ersten Sichtung der Daten bei Bedarf mit den Übersetzenden, der Dolmetscherin und den Transkribierenden austauschen und die zu codierenden Texte gegebenenfalls mit klärenden Kommentaren versehen. Dies ist angelehnt an eine weite Kontextanalyse (MAYRING 2015; SCHREIER 2014). Durch diese Zusammenarbeit tragen die mit der chinesischen Kultur vertrauten Mitarbeiter_innen erheblich zu einer kultursensiblen qualitativen Inhaltsanalyse und zur Wissensgenerierung bei (HENNINK 2008; SHIMPUKU & NORR 2012). Ebenso ist der Einfluss der Übersetzerin der französischen Transkripte nicht zu unterschätzen, da auch sie bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Übersetzungs- und Bedeutungsmöglichkeiten von Begriffen und Aussagen bereits eine erste Interpretation der Daten vornimmt (HENNINK 2008; TEMPLE 2002; TEMPLE & KOTERBA 2009). Dies ist in ähnlicher Weise der Fall bei der Transkription der schweizerdeutschen Interviews in Standarddeutsch. Selbst wenn Forscher_innen die Muttersprache mit den Interviewten teilen, kann ihre Interpretations- und Analysearbeit mit einem Übersetzungsvorgang verglichen werden (TEMPLE, EDWARDS & ALEXANDER 2006). [13]

Die mit der Einbindung der Dolmetscherin und den Übersetzer_innen gegenüber der Vorstudie maßgeblich verbesserte Datenbasis ermöglicht differenzierte Auswertungen mit der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse und anschließende Vergleiche der chinesischen und schweizerischen Interviews. Das Kategoriensystem der Vorstudie wird dabei einerseits deduktiv und andererseits induktiv, aufgrund erster Durchgänge der Transkripte, um weitere Kategorien ergänzt, sowie der Detaillierungsgrad von Unterkategorien erhöht. Die deduktive Erweiterung des Kategoriensystems basiert auf Literaturrecherchen, dem umfangreicheren Interviewleitfaden und den Dokumentationen des weiter oben beschriebenen Workshops in China sowie des Treffens mit Expert_innen. Wie die Ergebnisse dieser Austauschtreffen und der Testinterviews sowohl in den Interviewleitfaden als folglich auch in das Kategoriensystem einfließen, wird anhand des folgenden Beispiels illustriert: [14]

Bei der Auswertung der Testinterviews zeigte sich, dass die Entscheidung für das Musikstudium bei chinesischen und schweizerischen Interviewten unterschiedlich begründet wurde. Der Austausch mit Expert_innen ermöglichte die Einordnung dieser Resultate beispielsweise in den Kontext der kindlichen Pietät2) oder der besonderen Regelungen bezüglich des Musikstudiums innerhalb des kompetitiven Selektionsverfahrens für den tertiären Bildungsbereich in China. Um diesen Umstand näher zu untersuchen, wurden entsprechende Fragen und Unterfragen im Interviewleitfaden ergänzt:

In das Kategoriensystem wurde die Oberkategorie "Motivation / Gründe für das Musikstudium" mit folgenden Unterkategorien integriert:

Ohne die Klärung kulturspezifischer Kontexte und deren Berücksichtigung im Interviewleitfaden und im Entwurf des Kategoriensystems wären einige inhaltliche Aspekte nicht in allen Interviews zur Sprache gekommen oder hätten während des Codierens Fragen aufgeworfen. Letzterem hätte durch eine weite Kontextanalyse fraglicher Textstellen (MAYRING 2015; SCHREIER 2014) erst im Verlauf des Codierens oder im Anschluss daran begegnet werden können. Kontextinformationen zu konkreten Begriffen oder Passagen könnten auch während des Forschungsprozesses mittels Fachliteratur, Einzel- und Gruppeninterviews mit Expert_innen und weiterer Forschungsaufenthalte gewonnen werden. Schließlich ließe sich für eine differenzierte Auswertung eine mit dem kulturellen Kontext eng vertraute Person als Zweitcodierer_in einbinden. [17]

Zudem können sich Konzepte nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Ländern und Kulturen unterscheiden, was sich beispielsweise in der mehrsprachigen Schweiz zeigt. Eine stetige Selbstreflexion der Forscher_innen über mögliche die Wahrnehmung und Interpretation verzerrende Einflüsse der eigenen Biografie und Herkunftskultur ist deshalb notwendig (ANEAS & SANDÍN 2009) – insbesondere bei "weichen" Konzepten wie Talent. Konkret könnte dies bedeuten, folgende von BREUER, MUCKEL und DIERIS (2018) in "Reflexive Grounded Theory" vorgeschlagene Aspekte bei der Planung eines Vorhabens und während des Forschungsprozesses zu berücksichtigen und zu reflektieren:

Im Umgang mit diesen Aspekten sind an den jeweiligen involvierten Kulturen und Personen orientierte, individuelle Vorgehensweisen erforderlich. Exemplarisch wird aufgezeigt, inwiefern auch ein qualitativ inhaltsanalytischer und interkulturell vergleichender Ansatz von anderen Verfahren wie der Grounded-Theory-Methodologie (BREUER et al. 2018) profitieren kann. So ist in einem interkulturellen und multilingualen Setting der Einbezug von unterschiedlichen Perspektiven und Kontextwissen – im Sinne einer weiten Kontextanalyse (MAYRING 2015; SCHREIER 2014) – sowohl für die Erhebung im Rahmen von halbstrukturierten Leitfadeninterviews als auch für die qualitativ inhaltsanalytische Arbeit unabdingbar, weil ergänzende Informationen die Interpretation erleichtern und ansonsten Inhalte missverstanden werden können. Die Qualität einer qualitativ inhaltsanalytischen Studie profitiert auch von der Reflexion der Forscher_innen über praktische und emotionale Berührungspunkte mit dem Feld, indem bei Auswertung und Interpretation implizite Wissens- und Einstellungsstrukturen bewusstgemacht und durch eigene kulturelle und biografische Prägungen bedingte Fehldeutungen möglichst vermieden werden. [19]

Ausgehend von unseren bisherigen Projektarbeiten empfehlen wir die Einbindung von mit den projektrelevanten Kulturen vertrauten Personen für die Durchführung multilingualer Forschungsprojekte und spezifisch für die qualitative Inhaltsanalyse. Diese Zusammenarbeit mit Expert_innen bei der Entwicklung der Erhebungsinstrumente und des Kategoriensystems, aber auch im Verlauf des Codierens (beispielsweise während einer ersten Erschließung des ggf. übersetzten Materials durch die Diskussion von Deutungsmöglichkeiten), könnte als kultursensible "Variation" (STAMANN et al. 2016, §10) im Verbund qualitativ inhaltsanalytischer Verfahren gesehen werden. [20]

Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung und der Förderung eines länder- und kulturübergreifenden Austauschs ist eine Zunahme mehrsprachiger Forschungsprojekte zu erwarten, die u.a. mit den diskutierten Herausforderungen konfrontiert sein werden. Mit der beschriebenen Vorgehensweise wollen wir dazu anregen, Ansätze für die Forschungsarbeit in interkulturellen Settings, insbesondere für die qualitativ inhaltsanalytische Auswertung multilingual erhobener Interviewdaten, zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen. [21]

Anmerkungen

1) Die Tagung fand am 5. Oktober 2016 an der Pädagogischen Hochschule Weingarten statt. Hauptgegenstand der Tagung war die Frage nach Grenzen und Entwicklungspotenzialen der qualitativen Inhaltsanalyse (JANSSEN et al. 2017). <zurück>

2) Die kindliche Pietät im Sinne einer Loyalität und Achtung den Eltern und Älteren bzw. ihren Wünschen gegenüber ist eine der wichtigsten, konfuzianisch geprägten Tugenden, die das Verhältnis zwischen den Generationen in China prägen (CHAN 2007). <zurück>

Literatur

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Zu den Autorinnen und zum Autor

Annatina KULL ist Klarinettistin und schloss die Studiengänge "Master of Arts in Music" sowie "Master of Arts in Musikpädagogik" mit Auszeichnung ab. Anschließend absolvierte sie ein Certificate of Advanced Studies Musikforschung an der Hochschule Luzern – Musik. Neben ihrer Anstellung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Competence Center Forschung Musikpädagogik an der Hochschule Luzern – Musik unterrichtet Annatina KULL an der Regionalen Musikschule Wolhusen und ist freischaffende Klarinettistin.

Kontakt:

Annatina Kull

Competence Center Forschung Musikpädagogik
Hochschule Luzern – Musik
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Suse PETERSEN studierte an der Universität Freiburg (CH) Pädagogik, Pädagogische Psychologie und Religionswissenschaft und promovierte nach einem Forschungsaufenthalt an der Universität Glasgow (UK) im Bereich der Einstellungsforschung und Tierethik. Sie war als Sozialpädagogin, Gymnasiallehrperson und in der Forschungsförderung tätig. Seit 2013 ist sie Senior Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Competence Center Forschung Musikpädagogik und Dozentin für Pädagogische Psychologie an der Hochschule Luzern – Musik.

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Dr. Suse Petersen

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Marc-Antoine CAMP promovierte an der Universität Zürich nach einem Studium in Historischer Musikwissenschaft, Musikethnologie und Ethnologie. Weitere Studien absolvierte er in Brasilien (Universidade Federal de Minas Gerais, Universidade de São Paulo). Er war Assistent am Musikethnologischen Archiv der Universität Zürich. Seine Publikationen befassen sich mit musikpädagogischen Fragen und der Vermittlung des immateriellen Kulturerbes. Er ist Leiter des Competence Center Forschung Musikpädagogik an der Hochschule Luzern – Musik.

Kontakt:

Prof. Dr. Marc-Antoine Camp

Competence Center Forschung Musikpädagogik
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Zitation

Kull, Annatina; Petersen, Suse & Camp, Marc-Antoine (2019). Sprachlich-kulturelle Herausforderungen bei der qualitativen Inhaltsanalyse musikbiografischer Interviews mit chinesischen und schweizerischen Musikstudierenden [21 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(3), Art. 24, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-20.3.3373.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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