Volume 21, No. 1, Art. 18 – Januar 2020

Idealtypische subjektive Theorien – eine theoretisch fundierte Konkretisierung der Kombination von zusammenfassender qualitativer Inhaltsanalyse und empirisch begründeter Typenbildung

Sabine Lang & Corinne Ruesch Schweizer

Zusammenfassung: In diesem Beitrag stellen wir einen konzeptionellen Vorschlag für ein methodisches Verfahren zur qualitativ-theoriegenerierenden Herausarbeitung idealtypischer subjektiver Theorien vor. Vor dem Hintergrund von Annahmen zu subjektiven Theorien zeigen wir auf, dass sich die Qualität dieses Erkenntnisziels durch eine Methodenkombination von zusammenfassender qualitativer Inhaltsanalyse und empirisch begründeter Typenbildung angemessen erfassen lässt und welche Funktion den einzelnen Verfahrensschritten dabei zukommt. Mit dieser theoretisch begründeten Konkretisierung, was kategorisiert und typisiert wird, reagieren wir zum einen auf ein methodisches Desiderat und regen zum anderen an, die qualitative Inhaltsanalyse hinsichtlich des vorhandenen Potenzials – wie der abduktiven Kategorienbildung – sowie mit Blick auf eine theoretische Fundierung anhand der epistemischen Qualität des Ergebnisses weiterzuentwickeln.

Keywords: subjektive Theorien; Methodenkombination; zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse; empirisch begründete Typenbildung; Theoriegenerierung; induktives und abduktives Schließen; epistemische Qualität

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Fundierung und Konsequenzen für das methodische Vorgehen

2.1 Subjektive Theorien als theoretische Fundierung

2.2 Konsequenzen für die Auswahl der Methode

2.3 Konsequenzen für die Funktion der methodischen Verfahren

3. Konkretisierung der methodischen Verfahren

3.1 Konkretisierung der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse

3.2 Konkretisierung der empirisch begründeten Typenbildung

4. Anregungen zur Weiterentwicklung der qualitativen Inhaltsanalyse

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zu den Autorinnen

Zitation

 

1. Einleitung

Mit diesem Beitrag unterbreiten wir einen konzeptionellen Vorschlag für ein methodisches Verfahren für Forschungsfragen, die darauf gerichtet sind, Wissen über idealtypische subjektive Welt- und Selbstsichten zu generieren1). Gleichzeitig tragen wir mit diesem Vorschlag zur Diskussion über die theoretische Fundierung der qualitativen Inhaltsanalyse als auch der empirisch begründeten Typenbildung bei. Die Relevanz der theoretischen Fundierung des methodischen Vorgehens wird insbesondere für die qualitative Inhaltsanalyse kontrovers diskutiert (SCHREIER, STAMANN, JANSSEN, DAHL & WHITTAL 2019). So argumentiert KUCKARTZ (2016a, 2019), dass die qualitative Inhaltsanalyse keiner theoretischen Fundierung bedürfe (JANSSEN, STAMANN, KRUG & NEGELE 2017), demgegenüber lässt sich bei MAYRING (2000, 2015) die Relevanz einer gegenstandsbezogenen, das heißt inhaltsbezogenen, theoretischen Fundierung ausmachen. SCHNEIDER (2016) verweist darauf, dass der qualitativen Inhaltsanalyse eine "[...] theoretische Basis fehle [...]" (in JANSSEN et al. 2017, §13), dass also eine hinreichende Klärung der "[...] zugrundeliegenden Menschenbilder und Wissenskonzeptionen [...]" (a.a.O.) nicht vorhanden sei. Werden andere methodische Verfahren betrachtet, zeigt sich, dass mit der Wahl des methodischen Verfahrens auch gleichzeitig eine Entscheidung darüber getroffen wird, welche epistemische Qualität das Ergebnis aufweist, das mit dem gewählten Verfahren herausgearbeitet wird. Das heißt, mit diesen Methoden ist festgelegt, welche Qualität – also welche Eigenschaften wie beispielsweise Gültigkeit, Reichweite, Struktur – die Erkenntnis hat, die generiert wird. So wird beispielsweise mit der dokumentarischen Methode Erkenntnis in Form von handlungsleitenden Orientierungen herausgearbeitet, deren epistemische Qualität als implizites, handlungsleitendes, durch konjunktive Erfahrung konstituiertes Wissen theoretisch gefasst wird (BOHNSACK 2018). [1]

Demgegenüber ist durch die qualitative Inhaltsanalyse (z.B. KUCKARTZ 2016b; MAYRING 2015) oder auch die empirisch begründete Typenbildung (KELLE & KLUGE 2010) das Erkenntnisziel nicht in gleicherweise vorbestimmt. Vielmehr zeichnen sich diese Verfahren durch eine Offenheit bezüglich dessen aus, welche Art von Erkenntnissen damit herausgearbeitet werden (JANSSEN et al. 2017; NOHL 20132)). Wir argumentieren, dass diese Offenheit nicht von Theoriebezügen entbindet, die helfen, "[...] das Feld und den Gegenstand aufzuschließen und die Auswahl des Materials sowie seine Transformation in Daten anzuleiten" sowie "[...] Zusammenhänge und Aspekte im Material sichtbar zu machen [...]" (STRÜBING, HIRSCHAUER, AYAß, KRÄHNKE & SCHEFFER 2018, S.91). Dies können phänomenbezogene Theorien sein, aber auch Theorien, die sich auf die epistemische Qualität des Erkenntnisziels beziehen. Wir stellen hier die Relevanz letzterer in den Vordergrund und zeigen im Folgenden exemplarisch auf, dass sich vor dem Hintergrund solcher Annahmen genauer beschreiben lässt, welche Funktionen den einzelnen methodischen Verfahrensschritten zukommen und welche Konsequenzen dies für deren Konkretisierung sowie das Ergebnis selbst hat. [2]

Dies nehmen wir nachfolgend auf mit einem methodischen Verfahren für das Erkenntnisziel, wissenschaftliche Hypothesen und Theorien auf der Grundlage von idealtypischen subjektiven Welt- und Selbstsichten zu generieren. Theoretisch fundieren lässt sich dieses Erkenntnisziel ausgehend von der Annahme, dass Menschen über solides Wissen über die Welt, in der sie leben, verfügen (STRAUB & WEIDEMANN 2015) und dieses als Alltagstheorien repräsentiert haben. Diese Annahme wird im "Forschungsprogramm Subjektive Theorien" (FST) aufgegriffen und dahingehend konzipiert, dass Menschen als subjektive Theoretiker_innen in der Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer (Um-)Welt subjektive Selbst- und Weltsichten entwickeln und diese – ähnlich wissenschaftlichen Theorien – als subjektive Theorien organisieren (FLICK 1987; GROEBEN & SCHEELE 2010). Ein Verfahren, das sich, wie wir im Folgenden zeigen, für diese theoretischen Annahmen angemessen konkretisieren lässt, ist eine Methodenkombination aus zusammenfassender qualitativer Inhaltsanalyse (MAYRING 2015) als Primärverfahren und empirisch begründeter Typenbildung (KELLE & KLUGE 2010) als Sekundärverfahren (für die Unterscheidung Primär- und Sekundärverfahren siehe STAMANN, JANSSEN & SCHREIER 2016). Diese Konkretisierung umfasst die qualitativ inhaltsanalytische Interpretations- und Abstraktionsleistung durch eine induktive und abduktive Kategorisierung und die typenbildende Verdichtung durch das Sichtbarmachen additiver Merkmalskombinationen. [3]

Diesen konzeptionellen Vorschlag führen wir im Folgenden näher aus, indem wir im Abschnitt 2 zunächst das Erkenntnisziel theoretisch fundieren und die daraus hervorgehenden Konsequenzen für das methodische Vorgehen ausführen. Darauf fußend konkretisieren wir in Abschnitt 3 die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse (MAYRING 2015) und die empirisch begründete Typenbildung (KELLE & KLUGE 2010). Schließlich diskutieren wir in Abschnitt 4 vor dem Hintergrund dieses konzeptionellen Vorschlags die Relevanz theoretischer Annahmen zur epistemischen Qualität des Erkenntnisziels für die Konkretisierung der qualitativen Inhaltsanalyse und der empirisch begründeten Typenbildung und skizzieren die sich daraus ergebenden Anregungen für die Weiterentwicklung der qualitativen Inhaltsanalyse. [4]

2. Theoretische Fundierung und Konsequenzen für das methodische Vorgehen

Für das FST wurden nicht nur theoretische Annahmen formuliert, sondern auch elaborierte Verfahren entwickelt, um subjektive Theorien zu rekonstruieren (z.B. FLICK 1987; GROEBEN, WAHL, SCHLEE & SCHEELE 1988; KINDERMANN 2020; KINDERMANN & RIEGEL 2016; SCHREIER 1997; STRAUB & WEIDEMANN 2015). Gleichzeitig werden aber auch die Grenzen der vorgeschlagenen Methoden aufgezeigt, die insbesondere für die hier verfolgte Absicht eines qualitativ-theoriegenerierenden Verfahrens, das nicht auf das Erklären von Handeln, sondern auf das Verstehen eines Phänomens gerichtet ist, ernst zu nehmen sind. So zeigt beispielsweise FLICK (1987) auf, dass sich das FST und diesbezüglich elaborierte methodische Verfahren "[...] letztendlich doch an Quantifizierung [...] orientiert[en]" (S.131). Diese Ausrichtung auf Quantifizierung zeigt sich auch in Forschungsarbeiten, mit denen der Anspruch verbunden ist, über idiografische Erkenntnisse zu subjektiven Theorien hinaus auch nomothetisches Wissen zu generieren. Insbesondere wird hier der Ansatz der Modalstrukturen (SCHREIER 1997) angewendet. Diese sind Teile subjektiver Theorien, die mit einer bestimmten Häufigkeit im Material auftreten (FÄCKELER 2015; KELLER 2009). [5]

Im Unterschied zur Herausarbeitung solcher Modalstrukturen, mit denen individuelle subjektiven Theorien sehr eng an den beschriebenen Theorien auf Ähnlichkeiten hin abstrahiert werden, ist mit der hier verfolgten qualitativ-theoriegenerierenden Erkenntnisperspektive der Blick auf das Typische, und damit von Anfang an auf das überindividuell Gemeinsame subjektiver Theorien gerichtet. Das heißt, es geht weniger darum, die subjektiven Theorien möglichst detailliert zu beschreiben, als vielmehr das überindividuell Gemeinsame zu einem Phänomen herauszuarbeiten und idealtypisch zu verdichten. Diese Erkenntnisperspektive hat uns dazu geführt, den theoretischen Überlegungen des FSTs zu Menschen als subjektiven Theoretiker_innen zu folgen, ohne das mit dem Forschungsprogramm verbundene methodische Vorgehen zu adaptieren. Bisher gibt es noch kaum Überlegungen dazu, wie durch ein theoriegenerierendes Verfahren idealtypische subjektive Theorien herausgearbeitet werden können (KELLER 2009; SCHREIER 1997; STRAUB & WEIDEMANN 2015). Vor diesem Hintergrund konzipierten wir das im Folgenden ausgeführte methodische Verfahren. [6]

Im folgenden Abschnitt führen wir zunächst die theoretischen Annahmen zu subjektiven Theorien aus (Abschnitt 2.1). Auf dieser Grundlage wird dann die epistemische Qualität des Erkenntnisziels präziser fassbar. Darauf aufbauend begründen wir, weshalb sich die gewählten Verfahren – zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse nach MAYRING (2015) und empirisch begründete Typenbildung nach KELLE und KLUGE (2010) – für das hier im Fokus stehende Erkenntnisziel eignen (Abschnitt 2.2). Vor diesem Hintergrund zeigen wir schließlich auf, welche Funktion den beiden Verfahren bei der Herausarbeitung entsprechender Erkenntnisse zukommt (Abschnitt 2.3). [7]

2.1 Subjektive Theorien als theoretische Fundierung

Die theoretische Fundierung erfolgt auf der Grundlage von Annahmen zu subjektiven Theorien. Aus der Perspektive des FST wird Menschen die Fähigkeit zur Wissenskonstruktion und -organisation zugeschrieben und davon ausgegangen, dass diese zur Hypothesengenerierung und -testung in der Lage sind (FLICK 1987; GROEBEN & SCHEELE 2010). Das so gebildete Wissen wird als subjektive Theorie verstanden, die im Unterschied zu wissenschaftlichen Theorien jedoch weder intersubjektiv validiert noch systematisch abgesichert ist. Subjektive Theorien werden von GROEBEN et al. (1988) als "[...] komplexe Aggregate von Konzepten [...]" (S.18) gefasst, die untereinander "[...] in Form von zumindest impliziten Argumentationsstrukturen verbunden sind" (a.a.O.). Das bedeutet: Subjektive Theorien sind in ihrer Binnenstruktur analog zu wissenschaftlichen Theorien als Argumentationsstrukturen zu verstehen, welche Konzepte zu einer Theorie miteinander verbinden. Subjektive Konzepte können von Individuen durch Begriffe, Explikationen und Beschreibungen kommuniziert werden (GROEBEN et al. 1988) und sind als die inhaltstragenden Elemente subjektiver Theorien zu begreifen. Die subjektiven Argumentationsstrukturen können in Abgrenzung zu den subjektiven Konzepten als die sinngenerierenden Elemente verstanden werden, die die subjektiven Konzepte argumentativ zu einer Aussage verbinden und damit zu einer subjektiven Theorie integrieren. Wir gehen also für subjektive Theorien von zwei relevanten Elementen aus:

Mit Forschungsfragen, mit denen aus einem hypothesen- und theoriegenerierenden Erkenntnisinteresse heraus nach idealtypischen Welt- und Selbstsichten gefragt wird, wird beabsichtigt, das überindividuell Gemeinsame subjektiver Theorien zu einem Phänomen herauszuarbeiten. Dieses Verständnis, im Subjektiven von "Überindividuell-Gemeinsame[m]" (MEUSER & NAGEL 2005, S.80) auszugehen, wird durch Annahmen des symbolischen Interaktionismus (BLUMER 1969; MEAD 1973 [1934]) plausibilisiert. Aus symbolisch-interaktionistischer Theorieperspektive wird herausgestellt, dass Menschen aufgrund von sozial ausgehandelten, momentanen, kontext- und situationsbezogenen Bedeutungen handeln (BLUMER 1969). Mit diesen Annahmen wird darauf verwiesen, dass individuelles Denken, Fühlen und Handeln von Menschen stets auch als sozial geprägt und verankert zu begreifen ist, jedem individuellen Denken also eine sozial geteilte Komponente inhärent ist. [9]

Fußend auf diesen Annahmen und der Unterscheidung der beiden Elemente subjektiver Theorien gehen wir für das methodische Verfahren davon aus,

Diese analytische Trennung der inhaltstragenden und sinngenerierenden Elemente für das forschungsmethodische Vorgehen ist auch bei BIRKHAN (1987) angelegt, der darauf hinweist, dass man "[...] bei der Rekonstruktion von [subjektiven] Theorien diese gleichsam in Bauteile zerlegen und wieder zusammenfügen [...]" kann (S.244). [11]

2.2 Konsequenzen für die Auswahl der Methode

Die analytische Trennung der beiden beschriebenen Elemente subjektiver Theorien legt nahe, bei der Auswahl der methodischen Verfahren den Blick auf diese zwei unterschiedlichen und gleichzeitig aufeinander bezogenen Elemente zu richten. Dies bedeutet zu beachten, dass mit der Herausarbeitung der inhaltstragenden Elemente (subjektive Konzepte) andere Ansprüche an das methodische Verfahren einhergehen als bei der Herausarbeitung der sinngenerierenden Elemente (Argumentationsstrukturen). Gleichzeitig wird durch diese analytisch verstandene Trennung darauf hingewiesen, dass die beiden Elemente gleichwohl miteinander verbunden sind und mit den methodischen Verfahren sowohl den einzelnen Elementen als auch deren Verbundenheit Rechnung zu tragen ist. Damit schließen wir uns den Überlegungen von BIRKHAN (1987) an, die beiden Elemente subjektiver Theorien in zwei getrennten Verfahrensschritten herauszuarbeiten und dabei dennoch aufeinander zu beziehen. Dadurch lässt sich sowohl für jedes Element subjektiver Theorien einzeln als auch für subjektive Theorien als Ganzes aufnehmen, dass in der qualitativen Forschung ein gegenstandsangemessenes methodisches Verfahren zu wählen ist (STRÜBING et al. 2018). [12]

Um die inhaltstragenden Elemente subjektiver Theorien angemessen zu erfassen, ist es erstens wichtig, dass das, was von den Interviewten3) gemeint ist, durch das Verfahren herausgearbeitet werden kann. Das heißt, ein geeignetes methodisches Verfahren soll helfen, die Interviewtexte nicht aus der Perspektive einer bestimmten Theorie, sondern aus der der Interviewten zu interpretieren. Zweitens ist mit Blick auf die Frage nach dem Typischen wichtig, dass die von den Interviewten beschriebenen oder benannten inhaltstragenden Elemente nicht einfach in dieser konkreten, sondern einer abstrahierenden Form abgebildet werden. Mit einem geeigneten methodischen Verfahren werden somit nicht möglichst detailliert die Qualitäten der inhaltstragenden Elemente der Individuen ergründet, sondern über die einzelnen Interviewten hinweg soll ein gemeinsamer Nenner in den inhaltstragenden Elementen identifiziert werden, mit dem sich die inhaltstragenden Elemente überindividuell, dicht und damit sparsam abbilden lassen. Das Verfahren muss es Forscher_innen also ermöglichen, das individuell Bedeutsame der inhaltstragenden Elemente auf einer überindividuellen Abstraktionsebene abzubilden. Mit der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse legt MAYRING (2015) ein Verfahren vor, mit dem sich Datenmaterial nach Regeln abstrahieren lässt, die auf Annahmen zu "[...] psychischen Prozesse[n] beim Verstehen [...]" (S.44), nämlich auf Makrooperatoren wie Bündelung, Generalisierung, Reduktion und Konstruktion beruhen. Vor dem Hintergrund der Annahmen zu subjektiven Theorien ist diese Abstraktionsleistung nicht nur den Forschenden, sondern auch den Interviewten zuzuschreiben. Denn subjektive Theorien sind das Resultat fortwährender Abstraktionsleistungen beim Verstehen eines Phänomens (GROEBEN et al. 1988). An diese Leistung lässt sich mit der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse anschließen, indem die Abstraktion nach den gleichen Regeln des Verstehens weitergeführt wird. So kann die in den Alltagstheorien geleistete Theoriebildung für eine wissenschaftliche Theoriebildung aufbereitet werden. [13]

Um die sinngenerierenden Elemente angemessen zu erfassen, ist es erstens wichtig, dass sich die Sinnzusammenhänge, die von den Interviewten zwischen den inhaltstragenden Elementen hergestellt werden, herausarbeiten lassen. Mit einem geeigneten methodischen Verfahren lassen sich folglich zum einen mehrere inhaltstragende Elemente gleichzeitig in den Blick nehmen. Zum anderen kann mit einem solchen Verfahren über die Beschreibung bestimmter Kombinationen von zusammenhängenden inhaltstragenden Elementen hinausgegangen werden, indem der Blick auf den Sinn gerichtet wird, den die Interviewten solchen Kombinationen zuschreiben. Zweitens ist es auch hier mit Blick auf die Frage nach dem Typischen wichtig, dass die von den Interviewten hergestellten Sinnzusammenhänge nicht im Detail nachgezeichnet, sondern hinsichtlich Unterschieden und Gemeinsamkeiten übersichtlich dargestellt werden. Mit der empirisch begründeten Typenbildung bieten KELLE und KLUGE (2010) ein Stufenmodell für ein Vorgehen, bei dem der Blick auf die Typisierung ebensolcher Sinnzusammenhänge gerichtet ist. Für die Typisierung des überindividuell Gemeinsamen subjektiver Theorien ist dieses Modell interessant, weil damit explizit aufgenommen wird, dass nicht nur Personen bzw. Fälle typisiert werden können, sondern auch Konstrukte wie Strategien, Ideen etc. und damit auch subjektive Theorien. [14]

2.3 Konsequenzen für die Funktion der methodischen Verfahren

Mit der Frage nach idealtypischen subjektiven Theorien wird auf eine Typologie abgezielt, mit der sich das überindividuell Gemeinsame subjektiver Theorien idealtypisch verdichten lässt. Im Hinblick auf dieses Ziel bauen die methodischen Verfahren erstens aufeinander auf, und zweitens kommt jedem Verfahren eine je eigene Funktion auf dem Weg zu dieser Verdichtung zu (in Abbildung 1 verdeutlichen wir die Funktionen, die den methodischen Verfahren zukommen). Durch die Unterscheidung von Primär- und Sekundärverfahren (STAMANN et al. 2016) wird der Position von SCHREIER (2014) gefolgt, mit der die Typenbildung nicht als Teil eines qualitativ-inhaltsanalytischen Basisverfahrens (KUCKARTZ 2016b) gesehen wird, sondern an das eigenständige qualitativ-inhaltsanalytische Primärverfahren anschließt. Die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse fungiert dabei als Primärverfahren, mit dem eine erste Auswertung des Datenmaterials realisiert wird. Vor dem Hintergrund subjektiver Theorien liegt der Fokus der Auswertung mit der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse auf den inhaltstragenden Elementen (subjektiven Konzepten). Die Funktion, die der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse zukommt, ist zu ermöglichen, vom Situations- und Personenbezogenen zu abstrahieren und das überindividuell Gemeinsame subjektiver Konzepte abzubilden. Dies wird in Form eines Kategoriensystems realisiert und stellt die erste Verdichtung auf dem Weg zur angestrebten Typologie dar. Für die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse als Primärverfahren wird deutlich: Bei der Auswertung des Datenmaterials wird der Blick auf die von den Individuen beschriebenen subjektiven Konzepte gerichtet. Damit wird analytisch zwischen den subjektiven Konzepten und deren Relationierung durch die subjektiven Argumentationsstrukturen unterschieden. Aus diesen subjektiven Konzepten wird das überindividuell Gemeinsame als Kategorien herausgearbeitet und damit die Grundlage für die idealtypische Verdichtung geschaffen.



Abbildung 1: Funktionen der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse und der empirisch begründeten Typenbildung. Bitte klicken Sie hier oder auf die Abbildung für eine Vergrößerung. [15]

Die empirisch begründete Typenbildung fungiert als Sekundärverfahren, mit dem auf dem Ergebnis der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse aufgebaut wird. Die dafür genutzte Datenbasis stellt demnach das herausgearbeitete Kategoriensystem dar. Mit der empirisch begründeten Typenbildung wird der Fokus auf die sinngenerierenden Elemente, das heißt auf die subjektiven Argumentationsstrukturen und damit auf die Relationierungen der subjektiven Konzepte gerichtet. Diesem Sekundärverfahren kommt die Funktion zu, unterschiedliche Kombinationen der Kategorien (das heißt des überindividuell Gemeinsamen subjektiver Konzepte) und die diese verbindenden oder unterscheidenden Sinnzusammenhänge als das jeweils idealtypisch überindividuell Gemeinsame subjektiver Argumentationsstrukturen sichtbar zu machen und damit die angestrebte Verdichtung in Form einer Typologie idealtypischer subjektiver Theorien zu erreichen. In Abbildung 1 ist die Funktion der Typenbildung als Sekundärverfahren im blauen Kasten dargestellt: Die Relationierungen werden auf der Grundlage der inhaltsanalytischen Kategorien in den Blick genommen. Aus den dadurch im Datenmaterial erkennbaren Argumentationsstrukturen wird das überindividuell Gemeinsame herausgearbeitet und zusammen mit dem überindividuell Gemeinsamen subjektiver Konzepte zu Idealtypen subjektiver Theorien verdichtet. [16]

3. Konkretisierung der methodischen Verfahren

Im Folgenden skizzieren wir zunächst das Verfahren der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING (2015) und konkretisieren es vor dem Hintergrund der im vorangehenden Abschnitt ausgeführten epistemischen Qualität des Erkenntnisziels und den daraus hervorgehenden Überlegungen zur Funktion des Verfahrens. Daran anknüpfend stellen wir das Verfahren der empirisch begründeten Typenbildung nach KELLE und KLUGE (2010) kurz vor und konkretisieren es ebenfalls. [17]

3.1 Konkretisierung der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse

Unter dem Begriff qualitative Inhaltsanalyse sind unterschiedliche Verfahren zusammengefasst, die in erster Linie der Systematisierung und Abstraktion von Datenmaterial dienen (KOCH 2016; MAYRING 2015; STAMANN et al. 2016). Methodologisch wird mit der qualitativen Inhaltsanalyse davon ausgegangen, dass das Datenmaterial in einem bestimmten Kontext und mit Blick auf eine bestimmte Forschungsfrage interpretiert wird; dieser Kontext bildet die Grundlage, um auf eine bestimmte Bedeutung des Textes und daraus auf relevante Kategorien für die Fragestellung zu schließen (MAYRING 2015). Die Forschungsfrage bestimmt somit sowohl Art und Grad der Interpretation als auch den Grad der Abstraktion, mit dem das Datenmaterial im Kategoriensystem abgebildet wird (GRANEHEIM, LINDGREN & LUNDMAN 2017; MAYRING 2015). [18]

Um auf Kategorien zu schließen, die das überindividuell Gemeinsame subjektiver Konzepte abbilden, eignet sich als Interpretationsart die Zusammenfassung, wie sie in Form der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse gedacht wird. MAYRING (2015) sieht für diese vor, zunächst die Analyseeinheit zu definieren, dann die inhaltstragenden Textstellen zu paraphrasieren (Z1-Regeln4)), diese auf ein zu bestimmendes Abstraktionsniveau hin zu generalisieren (Z2-Regeln), was zum ersten Reduktionsschritt führt (Z3-Regeln). Mit dem zweiten Reduktionsschritt wird durch Bündelung ähnlicher und durch die Integration unterschiedlicher Paraphrasen das Kategoriensystem konstruiert (Z4-Regeln). [19]

Bei der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse bleibt jedoch offen, worauf durch das Verfahren geschlossen werden soll und wie sich darauf schließen lässt. Mit andern Worten: sowohl der Interpretations-5) und Abstraktionsgrad als auch die Art des Schließens sind nicht vorbestimmt, sondern über die Forschungsfrage und die damit verbundene epistemische Qualität des Erkenntnisziels zu bestimmen. Im Folgenden gehen wir auf diese drei Punkte zur Konkretisierung des Verfahrens – den Grad der Interpretation, den Grad der Abstraktion und die dadurch erforderliche Art des Schließens – für die Frage nach dem überindividuell Gemeinsamen subjektiver Konzepte ein und illustrieren dies an Beispielen. [20]

GRANEHEIM et al. (2017, S.32ff.) unterscheiden bei inhaltsanalytischen Kategorien drei verschiedene Interpretationsgrade: Kategorien im engeren Sinne mit denen das an der Textoberfläche direkt Erkennbare erfasst wird, Kategorien im Sinne von descriptive themes, die einen mittleren, und Kategorien im Sinne von themes of meaning, die einen größeren Interpretationsgrad aufweisen. Mit ersteren wird erfasst, was die interviewte Person sagt, mit letzteren, welche Bedeutung dies für die Interviewten hat. Mit der Frage nach dem überindividuell Gemeinsamen subjektiver Konzepte wird eine Interpretation im Sinne von descriptive themes angestrebt, mit denen erfasst wird, was die Interviewten zu beschreiben versuchen. Hierbei stehen weder die expliziten Äußerungen der Interviewten noch deren Bedeutung für ihr Erleben im Vordergrund, sondern das, was für sie für das Verstehen oder Erklären eines Phänomens relevant ist. Zentral sind deshalb Begriffe, Explikationen und Beschreibungen, mit denen die interviewte Person die für sie relevanten subjektiven Konzepte im Sinne von descriptive themes zum Ausdruck bringt. Die Konzepte sind für die Befragten nicht zwingend reflexiv zugänglich, das heißt, sie sind durch situationsbezogene oder prototypische Beschreibungen skizzierbar, aber nicht explizit benennbar. Wenn die Interviewten ihre relevanten Konzepte aber nicht explizit benennen können, ist es für die Analyse erforderlich, auf der Grundlage von mehreren, mehr oder weniger situationsbezogenen Beschreibungen auf das von den Interviewten kognitiv repräsentierte Konzept zu schließen. Mit dem Beispiel in Abbildung 2 zeigen wir, dass sich vom abgebildeten paraphrasierten Interviewtext6) auf das Konzept divergierende Denkweisen im Sinne eines descriptive theme schließen lässt. Ein solcher Schluss ist jedoch nur im Kontext mehrerer Interviewtextstellen zulässig, sodass eine gesättigte, das heißt durch verschiedene Textstellen abgesicherte Kategorie gebildet werden kann. Im Unterschied zur Kategorie im engeren Sinne, mit der das explizit beschriebene Phänomen – fachliche Beratung der Politik – gefasst wird, wird mit dem descriptive theme auf das für das Verständnis des Phänomens relevante Konzept geschlossen. Und im Unterschied zum theme of meaning ist das descriptive theme nicht darauf gerichtet, die Bedeutung – Enttäuschung, Frustration, Ohnmacht – herauszuarbeiten, die das Beschriebene für das Erleben der interviewten Person hat.



Abbildung 2: Abstraktions- und Interpretationsgrad verdeutlicht an einem Beispiel. Bitte klicken Sie hier oder auf die Abbildung für eine Vergrößerung. [21]

Hinsichtlich des Abstraktionsgrades unterscheiden GRANEHEIM et al. (2017) zwischen Kategorien, mit denen man nahe an den konkreten Interviewtexten bleibt, und solchen, mit denen man weitgehend von den beschriebenen Spezifika in den einzelnen Interviewtexten abstrahiert. Um bedeutsame Kategorien für die Frage nach dem überindividuell Gemeinsamen subjektiver Theorien zu entwickeln, sind zunächst subjektive Konzepte erforderlich, mit denen fallintern von einzelnen situationsspezifischen Äußerungen der Interviewten abstrahiert wird. In einem zweiten Schritt ist dann ein Abstraktionsniveau erforderlich, das erlaubt, das fallübergreifend Gemeinsame der fallinternen subjektiven Konzepte abzubilden. Mit dem ersten Abstraktionsniveau werden also subjektive Konzepte angestrebt, die von situationsspezifischen Beschreibungen abstrahieren, jedoch noch personen- und umfeldspezifisch sind. Dieses Abstraktionsniveau ist leitend für die Generalisierung (Z2-Regeln). Mit dem zweiten Abstraktionsniveau ist das Fallübergreifende, also das überindividuell Gemeinsame subjektiver Konzepte im Fokus. Dieses Abstraktionsniveau ist leitend für die Konstruktion des Kategoriensystems (Z4-Regeln). Mit dem Beispiel in Abbildung 2 zeigen wir für das descriptive theme, dass nahe am Interviewtext zwischen nachhaltigkeits- und politikbedingten Denkweisen unterschieden werden kann. Diese Unterscheidung lässt sich für ein vom einzelnen Interviewtext abstrahierendes Konzept, das heißt ein fallübergreifend gültiges Konzept, nicht aufrechterhalten. Vielmehr könnte, wie im Beispiel, die Divergenz zwischen zwei Denkweisen als personen- und umfeldunabhängiger gemeinsamer Nenner herausgearbeitet werden. [22]

In den Ausführungen zum Interpretations- und Abstraktionsgrad weisen wir auf die Relevanz des Schließens hin. Im Folgenden gehen wir darauf ein, wie vom Interviewtext auf die nun durch Interpretations- und Abstraktionsgrad definierten Kategorien geschlossen werden kann und was Anhaltspunkte dafür sind, dass es sich dabei um für die Fragestellung relevante Kategorien handelt. Hierzu ist zwischen den beiden dargestellten Abstraktionsniveaus zu unterscheiden: Mit ersterem wird darauf gezielt, auf das Bedeutsame aus der Sicht der Interviewten zu schließen. Dies erfordert fallintern von den situationsspezifischen Elementen der subjektiven Konzepte zu abstrahieren. Mit dem zweiten Abstraktionsniveau wird darauf gezielt, darauf zu schließen, was fallübergreifend das Gemeinsame oder Vergleichbare im Sinne eines Tertium Comparationis ist. [23]

Für das Schließen auf das fallspezifisch Bedeutsame (erstes Abstraktionsniveau) gehen wir davon aus, dass die Interviewten eine subjektive Theorie zu einem Phänomen haben. Diese muss in sich zwar nicht zwingend konsistent sein, die Annahme, dass allen Äußerungen, die die Interviewten zu einem Phänomen machen, eine subjektive Theorie zugrunde liegt, lässt es jedoch zu, den Interviewtext mit Blick auf eine solche auszuwerten7). Diese Sicht auf den Interviewtext ermöglicht, das Situationsspezifische in den Beschreibungen zu identifizieren und daraus auf das situationsunspezifisch Bedeutsame zu schließen. Im Sinne einer phänomenologischen Beschreibung lässt sich dies als Herausarbeitung des invarianten Kerns verstehen (HITZLER 2018). [24]

Für das Schließen auf das fallübergreifend Gemeinsame (zweites Abstraktionsniveau) der subjektiven Konzepte stehen im Rahmen der zusammenfassenden Inhaltsanalyse zwei Möglichkeiten zur Verfügung: erstens, ähnliche Paraphrasen (die mit den Regeln bis Z3 entstanden sind) zu bündeln und zweitens, unterschiedliche Paraphrasen in eine Kategorie zu integrieren oder eine neue zu konstruieren (MAYRING 2015). Spätestens wenn alle ähnlichen Paraphrasen gebündelt sind, wird Integration und Konstruktion erforderlich. Das Kategoriensystem zu verdichten zwingt also dazu, das an der Oberfläche Sichtbare in eine tieferliegende Struktur im Sinne eines Tertium Comparationis zu integrieren (GRANEHEIM et al. 2017). Dazu ist die Konstruktion von Kategorien notwendig. Dies erfordert Entscheidungen, die sich nicht durch Kriterien wie "Ähnlichkeit" direkt aus dem Datenmaterial herausarbeiten lassen. Vielmehr wird hier die Regel von MAYRING (2015) relevant, theoretische Vorannahmen zu Hilfe zu nehmen. Das heißt, das Schließen auf eine tieferliegende Struktur, mit der das überindividuell Gemeinsame subjektiver Konzepte gefasst werden kann, erfordert theoretisches Vorwissen, das Hinweise auf eine Struktur, ein Tertium Comparationis, geben kann. Das Schließen vom Text und den generalisierten Paraphrasen auf eine tieferliegende Struktur mithilfe theoretischer Annahmen lässt sich als abduktives Schließen bezeichnen (GRANEHEIM et al. 2017; KRIPPENDORFF 2019; REICHERTZ 2013). KELLE und KLUGE (2010) sprechen dann von einer abduktiven Kodierung, wenn "[...] neue Kategorien anhand des Datenmaterials entwickelt werden" (S.61) und dazu kein "[...] gut strukturiertes theoretisches Vorwissen [...]" (a.a.O.) zur Verfügung steht. Abduktives Kodieren lässt sich als theoretisch inspirierte Suche nach einer passenden Heuristik für die Strukturierung der Daten verstehen, bei der es nicht darum geht, eine passende Theorie für die Strukturierung zu finden, sondern ein bislang nicht theoretisch gefasstes Muster im Datenmaterial anhand des theoretischen Vorwissen sichtbar zu machen.

Paraphrasen zu nachhaltigkeitsbezogenen Anforderungen

Zieldimensionen nachhaltiger Entwicklung

 

Akteur_innen, die Nachhaltigkeitskriterien formulieren, und Handlungsbereich für den sie formuliert sind

Kategorien im finalen Kategoriensystem

(zusammengefasst unter der thematischen Klammer (Hauptkategorie): Nachhaltigkeitsansprüche)

Prüfung verschiedener, existierender landwirtschaftlicher Mindeststandards von NGOs

ökologisches Kriterium

durch NGOs formulierte Kriterien für das Handeln in einem bestimmten Handlungsfeld

Kriterien aus dem gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs
= Idee der Nachhaltigkeit konkretisiert für diverse Handlungsfelder durch gesellschaftliche Akteur_innen

Anstreben eines Fair Trade-Labels

soziales/globales Kriterium

durch NGOs formuliertes Kriterium für das Handeln in einem bestimmten Handlungsfeld

Kriterien aus dem gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs

Erreichung des CO2-Ziels der Organisation

ökologisches Kriterium

durch die Organisation(sleitung) formuliertes Kriterium für das Handeln der Organisation

Nachhaltigkeitsziele der Organisation = Idee der Nachhaltigkeit bzw. Kriterien aus dem gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs konkretisiert durch die Organisation für deren Handeln

Umsetzung der angestrebten Frauenquote

soziales Kriterium

durch die Organisation(sleitung) formuliertes Kriterium für das Handeln der Organisation

Nachhaltigkeitsziele der Organisation

Herausarbeitung relevanter Nachhaltigkeitskriterien von Entwicklungsorganisationen, des Amt für Wirtschaft, des Amt für Umwelt und solche von anderen Unternehmen aus derselben Branche

soziale und ökologische Kriterien
-> Unterscheidung der Zieldimensionen ist nicht relevant

durch NGOs, Staat, Unternehmen formulierte Kriterien für das Handeln in verschiedenen Handlungsfelder

Kriterien aus dem gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs

Tabelle 1: Beispiel für Gedankengänge abduktiver Kategorienbildung [25]

Um solche Muster zu erkennen, ist ein guter Überblick über das Datenmaterial notwendig. Mit dem in Tabelle 1 dargestellten Beispiel versuchen wir einen Eindruck von Gedankengängen einer solch theoretisch inspirierten Suche nach Kategorien zu vermitteln. Dazu stellen wir zwei solcher Gedankengänge dar. Ausgangspunkt des Beispiels sind Paraphrasen in Form von Aussagen zum Phänomen nachhaltigkeitsbezogener Anforderungen in der Beschäftigungspraxis. Diese stammen aus drei verschiedenen Interviewtexten mit befragten Praxispersonen. Auf der Suche nach einer passenden Heuristik zur Strukturierung lässt sich zunächst überlegen, ob die Unterscheidung nachhaltigkeitsbezogener Zieldimensionen – Ökologie, Soziales und Ökonomie – das Gemeinsame bzw. Vergleichbare bilden könnte (zweite Spalte). Dies lässt sich anhand der ersten vier Paraphrasen stützen. Hingegen zeigt die fünfte Paraphrase, dass für diese interviewte Person die Unterscheidung von Zieldimensionen nicht bedeutsam ist: Hier werden Nachhaltigkeitskriterien unabhängig von der Unterscheidung der Zieldimensionen als relevant dargestellt. Dies führt die Suche nach dem Gemeinsamen bzw. Vergleichbaren im Verständnis nachhaltigkeitsbezogener Anforderungen in der Beschäftigungspraxis weiter. Angeregt durch die theoretische Annahme, dass die Idee der Nachhaltigkeit für die Praxis zu konkretisieren ist, wird der Frage nachgegangen, ob als Vergleichspunkt die Akteur_innen, die die Idee der Nachhaltigkeit konkretisieren und somit die nachhaltigkeitsbezogenen Kriterien und Ansprüche an das Handeln der Organisation formulieren, bedeutsam sind (dritte Spalte). Vor diesem Hintergrund lassen sich in den hier abgebildeten Paraphrasen zwei Akteur_innengruppen ausmachen, die Nachhaltigkeitsansprüche konkretisieren. Mit dieser Perspektive auf das Datenmaterial zeigt sich zudem ein Muster der Konkretisierungsgrade der Kriterien, nämlich in deren unterschiedlicher Reichweite: für das Handeln der Organisation und für das Handeln in nicht nur für die Organisation relevanten Handlungsfeldern. Aus diesen Überlegungen heraus lassen sich dann Kategorien konstruieren, die die bedeutungstragenden Inhalte des Datenmaterials strukturieren (vierte Spalte). [26]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unter Verwendung des Verfahrens der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse ein Kategoriensystem aus dem Datenmaterial herausgearbeitet werden kann, das die inhaltstragenden Elemente der subjektiven Theorien abbildet. Diese Abbildung der inhaltstragenden Elemente ist dahingehend verdichtet, dass mit den Kategorien das überindividuell Gemeinsame subjektiver Konzepte im Sinne von descriptive themes gefasst ist. Diese sind als Kategorien unter gemeinsamen Bezugspunkten im Sinne thematischer Klammern unter wenigen Hauptkategorien gebündelt. Eine solche Zusammenfassung der Kategorien ist besonders deshalb von Bedeutung, weil sich die Konstruktion des Kategoriensystems nicht nur am Ziel, das überindividuell Gemeinsame subjektiver Theorien verdichtet abzubilden, zu orientieren hat. Vielmehr steht mit dem Blick auf die anschließende Typenbildung das Ziel im Zentrum, das Kategoriensystem als Ausgangspunkt für das Sichtbarmachen des überindividuell Gemeinsamen subjektiver Argumentationsstrukturen nutzen zu können. Dafür ist die Kategorienanzahl so zu reduzieren, dass sie der für die Typenbildung erforderlichen Mustererkennung zuträglich ist. Aus unserer Erfahrung sind bis zu drei Hauptkategorien mit je bis zu vier Kategorien für eine Idealtypenbildung gut handhabbar. [27]

Um ein Kategoriensystem in dieser Qualität herauszuarbeiten, ist also das Verfahren der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse zu konkretisieren. Und zwar wird dabei die Aufmerksamkeit auf den für die Frage nach dem überindividuell Gemeinsamen subjektiver Konzepte erforderlichen Interpretations- und Abstraktionsgrad gelenkt und argumentiert, dass über induktives Schließen (das zu den fallinternen, situationsunabhängigen subjektiven Konzepten führt) hinaus abduktives Schließen erforderlich ist, um die tieferliegenden Strukturen herauszuarbeiten, über die sich das überindividuell Gemeinsame subjektiver Konzepte abbilden lässt. Mit einem solchen Kategoriensystem sind nun die inhaltstragenden Elemente der subjektiven Theorien herausgearbeitet, damit steht – wie in Abbildung 1 ersichtlich – die Herausarbeitung des sinngenerierenden Elements mittels Typenbildung an. [28]

3.2 Konkretisierung der empirisch begründeten Typenbildung

Mithilfe typenbildender Verfahren kann ein komplexer und unübersichtlicher Gegenstandsbereich beschrieben werden, indem die Komplexität auf eine "beschränkte Anzahl" (KELLE & KLUGE 2010, S.10) von Gruppen/Typen reduziert und dieser so überschau- und erschließbar wird. Mit der Reduzierung eines Gegenstandsbereichs auf wenige Gruppen wird das Charakteristische sichtbar. Gleichzeitig werden im Rahmen des Charakteristischen "Ähnlichkeiten und Unterschiede" (KELLE & KLUGE 2010, S.11) realtypisch oder idealtypisch zu einer Typologie verdichtet. In diesem Sinne bietet die empirisch begründete Typenbildung eine heuristische Leiter, um ausgehend vom empirischen Datenmaterial zu Hypothesen zu gelangen, die über dieses Datenmaterial hinausreichen. [29]

Eine Typologie, die Antwort auf die Forschungsfrage gibt, wie Personen in einem bestimmten Kontext ein Phänomen typischerweise verstehen, ermöglicht also, idealtypisch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der subjektiven Theorien, mit denen sich die Personen das Phänomen verstehbar machen bzw. erklären, abzubilden. Mit Blick auf das Ziel der Hypothesen- und Theoriegenerierung wird hier die Bildung von Idealtypen vorgeschlagen. Bei einer solchen werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Typen nicht einfach beschrieben, sondern übersteigert dargestellt, um deren Charakteristiken besser sichtbar zu machen (KELLE & KLUGE 2010). Zur forschungsmethodischen Umsetzung schlagen KELLE und KLUGE ein vierstufiges Modell vor: Zunächst werden die relevanten Vergleichsdimensionen und Merkmale herausgearbeitet, mit denen sich der Merkmalsraum der Typologie aufspannen lässt (Stufe 1). Daraufhin werden entlang der Vergleichsdimensionen die empirischen Regelmäßigkeiten identifiziert, indem die Dateneinheiten mit ähnlichen Merkmalskombinationen gruppiert werden (Stufe 2), um dann die Sinnzusammenhänge zwischen diesen zu erschließen (Stufe 3). Diesen dreistufigen Prozess verstehen KELLE und KLUGE jedoch eher als zyklisch denn als linear. Abschließend werden die empirisch begründete Typologie und die Typen beschrieben (Stufe 4). [30]

Dieses Stufenmodell vor dem Hintergrund der angestrebten epistemischen Qualität des Erkenntnisziels als Sekundärverfahren zu konkretisieren bedeutet, den Konsequenzen Aufmerksamkeit zu schenken, die sich daraus ergeben, dass das Kategoriensystem aus dem Primärverfahren als Ausgangspunkt für die Typenbildung verwendet wird. Das bedeutet erstens, dass der Merkmalsraum der zu erarbeitenden Typologie durch alle Kategorien inhaltstragender Elemente gebildet wird und damit bereits feststeht. Denn im Unterschied zu Typologien, mit denen die soziale Wirklichkeit beschrieben wird, bestimmen bei Typologien subjektiver Theorien die Interviewten durch ihre subjektiven Konzepte, welche Merkmale relevant sind. Daher ist Stufe 1, das Herausarbeiten der relevanten Vergleichsdimensionen und Merkmale, mit Blick auf die Typisierung subjektiver Theorien bereits durch das Primärverfahren abgeschlossen und nicht zyklisch mit Stufe 2 und 3 verwoben. [31]

Das Kategoriensystem als Ausgangspunkt zu haben, bedeutet zweitens, dass sich der Merkmalsraum durch inhaltstragende Elemente, die sich additiv verbinden lassen, konstituieren lässt und nicht wie im Stufenmodell von KELLE und KLUGE durch Vergleichsdimensionen mit verschiedenen disjunkten Ausprägungen. Dadurch sind die empirischen Regelmäßigkeiten, die es im Datenmaterial zu finden gilt, nicht als unterschiedliche Ausprägungen auf bestimmten Vergleichsdimensionen zu beschreiben, sondern vielmehr als Kombinationen inhaltstragender Elemente. Dies ermöglicht, dass unterschiedlich viele Elemente kombiniert und zu einer idealtypischen subjektiven Theorie integriert werden können. Damit lassen sich die Hauptkategorien auch nicht als Vergleichsdimensionen verwenden, da die Hauptkategorien thematische Klammern darstellen und nichts darüber aussagen, welche und wie viele Kombinationen inhaltstragender Elemente im Datenmaterial sinngenerierend verbunden werden. [32]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass vor dem Hintergrund der Forschungsfrage nach dem überindividuell Gemeinsamen subjektiver Theorien mit der Typenbildung auf all denjenigen Kategorien, die die inhaltstragenden Elemente subjektiver Theorien abbilden, aufgesetzt wird. Diese Kategorien bilden den Ausgangspunkt, um die empirischen Regelmäßigkeiten im Auftreten der inhaltstragenden Elemente im Datenmaterial zu finden. Die gefundenen Kombinationen inhaltstragender Elemente gilt es dann daraufhin zu analysieren, wie diese im Datenmaterial sinngenerierend in Relation gesetzt werden, um daraus das überindividuell Gemeinsame subjektiver Argumentationsstrukturen zu erschließen und die Sinnzusammenhänge dieser Kombinationen sichtbar zu machen (Stufe 3). Darauf gründet schließlich die Charakterisierung der idealtypischen subjektiven Theorien und die Beschreibung der Typologie, mit der sich die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Idealtypen anhand ihrer charakteristischen inhaltstragenden und der diese verbindenden sinngenerierenden Elemente abbilden lassen (Stufe 4). [33]

4. Anregungen zur Weiterentwicklung der qualitativen Inhaltsanalyse

Unser Ausgangspunkt für diesen Beitrag war das Fehlen eines elaborierten qualitativ-theoriegenerierenden Verfahrens für Forschungsfragen nach idealtypischen subjektiven Welt- und Selbstsichten. Deshalb haben wir einen konzeptionellen Vorschlag entwickelt, wie ein solches fundiert und konkretisiert werden kann: Vor dem Hintergrund theoretischer Annahmen zu subjektiven Theorien (GROEBEN et al. 1988) und zum symbolischem Interaktionismus (BLUMER 1969; MEAD 1973 [1934]) wurde dargelegt, durch welche epistemische Qualität sich das Erkenntnisziel auszeichnet und weshalb es sich durch eine Methodenkombination von zusammenfassender qualitativer Inhaltsanalyse und empirisch begründeter Typenbildung angemessen erfassen lässt. Wir haben weiter gezeigt, dass es erforderlich ist, die beiden Verfahren für dieses Erkenntnisziel zu konkretisieren. Mit dieser vorgeschlagenen Konkretisierung lässt sich zeigen, dass es mit der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse sensu MAYRING (2015) durch die Interpretation aus der Perspektive der Interviewten und durch ein an das induktive Schließen anschließendes abduktives Schließen möglich ist, das situations-, personen- und umfeldunabhängige Gemeinsame subjektiver Konzepte und damit die inhaltstragenden Elemente subjektiver Theorien herauszuarbeiten. Darauf aufbauend gelingt es mit der empirisch begründeten Typenbildung sensu KELLE und KLUGE (2010) durch das additive Kombinieren dieser inhaltstragenden Elemente, die Sinnzusammenhänge, die diese inhaltstragenden Elemente verbinden, sichtbar zu machen und damit idealtypische subjektive Theorien zu charakterisieren. Diese wiederum haben Anregungspotenzial für wissenschaftliche Hypothesen- und Theoriebildung. [34]

Diesen konzeptionellen Vorschlag reflektierend regen wir eine Weiterentwicklung der qualitativen Inhaltsanalyse in Richtung Begründbarkeit und Beschreibbarkeit des Verfahrens an. Dazu möchten wir zwei Überlegungen beitragen: Erstens haben wir gezeigt, dass abduktives Schließen für gewisse Forschungsfragen erforderlich werden kann und dass dieses bereits genuin in der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING (2015) angelegt, jedoch nicht so benannt ist. Eine Weiterentwicklung bedeutet in diesem Sinne, das vorhandene Potenzial der qualitativen Inhaltsanalyse explizit zu machen. Zweitens haben wir durch die Konkretisierung gezeigt, dass die Präzisierung der epistemischen Qualität des Erkenntnisziels es ermöglicht zu bestimmen, was mit einem methodischen Verfahren zu leisten ist und zu welcher Art von Ergebnis es führt. Eine Weiterentwicklung der qualitativen Inhaltsanalyse bedeutet daher, diese nicht nur inhalts- und themenbezogen zu spezifizieren, sondern auch mit Blick auf die epistemische Qualität des angestrebten Ergebnisses. [35]

Zur ersten Überlegung: Wie in Abschnitt 3 beschrieben, ist vor dem Hintergrund der Forschungsfrage und deren Fundierung in den subjektiven Theorien die Interpretation der Daten aus der Perspektive der Interviewten zentral. Das induktive Schließen bildet also ein wesentliches Moment. Es ist damit jedoch nicht möglich, zu dem von den Interviewten nicht formulierbaren überindividuell Gemeinsamen subjektiver Theorien und damit zu etwas Neuem vorzudringen. Dies wird durch abduktives Schließen ermöglicht, bei dem nach dem bestmöglichen Tertium Comparationis zu suchen ist, also dem gemeinsamen Bezugspunkt, der (noch) nicht formuliert ist, jedoch im Formulierten entdeckt werden kann. Die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse ist von MAYRING (2015) als induktives Verfahren konzipiert. Die Anlage der abduktiven Vorgehensweise wird jedoch in den Regeln zu den vier Verfahrensschritten deutlich, mit denen darauf verwiesen wird, nicht alleine vom empirischen Material auszugehen, sondern "theoretische Vorannahmen" (S.72) zu Hilfe zu nehmen. Mit der Regel, nicht nur ähnliche, sondern auch unterschiedliche Aussagen zusammenzufassen und so Kategorien zu konstruieren, wird dies verdeutlicht, da die Konstruktion von Kategorien das Entdecken gemeinsamer Bezugspunkte erfordert. Die erwähnten Regeln lassen sich damit als Verweis auf die Möglichkeit einer abduktiven Kategorienbildung verstehen (RUIN 2019; ŽELINSKY 2019). Vor dem Hintergrund dieses für die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse explizierten Potenzials möchten wir anregen, weitere in der qualitativen Inhaltsanalyse angelegte, aber bislang kaum diskutierte Möglichkeiten aufzugreifen und die qualitative Inhaltsanalyse dahingehend weiterzuentwickeln. [36]

Zur zweiten Überlegung: Wie im Verlauf des Artikels deutlich wurde, ermöglicht die präzise Fassung der epistemischen Qualität des Erkenntnisziels, theoretisch zu verorten und zu bestimmen, was wie herausgearbeitet und typisiert wird. Wir veranschaulichten, dass die epistemische Qualität idealtypischer subjektiver Theorien sich als fallübergreifend kohärentes und komplexitätsreduzierendes Phänomenverständnis auszeichnet. Dieses Verständnis lässt sich darin begründen, wie Individuen ihre Sicht auf das Phänomen versuchen zu beschreiben, und nicht zum Beispiel in der Beobachtung sozialer Realitäten oder in der Analyse von Informationen. Diese theoretische Fassung der epistemischen Qualität umfasst Annahmen darüber, wie subjektive Selbst- und Weltsichten kognitiv strukturiert und sozial eingebunden sind. Aus diesen Annahmen haben wir zum einen Ansprüche an das methodische Verfahren und die einzelnen Verfahrensschritte abgeleitet und darauf hingewiesen, dass sich so eine gegenstandsangemessene Auswahl und Konkretisierung des methodischen Verfahrens begründen lässt. Zum anderen werden durch diese Annahmen die Struktur und Reichweite der Ergebnisse beschreibbar; dies wiederum ermöglicht, den Stellenwert der Ergebnisse für die Theoriegenerierung einzuschätzen. Wir haben damit gezeigt, dass sich das methodische Vorgehen nicht nur inhaltlich konkretisieren lässt, sondern auch in seinem Beitrag zur Herausarbeitung der angestrebten epistemischen Qualität des Ergebnisses. Mit anderen Worten: Bisher findet, wie einleitend skizziert, eine theoretische Fundierung der qualitativen Inhaltsanalyse wenig Anklang oder wird inhaltlich diskutiert (JANSSEN et al. 2017; MAYRING 2000, 2015). Wir haben in diesem Beitrag einen Vorschlag lanciert, die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse durch die epistemische Qualität des Erkenntnisziels theoretisch zu untermauern. Vor dem Hintergrund dieser Präzisierung der epistemischen Qualität, wie sie hier exemplarisch für idealtypische subjektive Selbst- und Weltsichten erfolgte, regen wir an zu prüfen, welche weiteren Theorien das Potenzial haben, an die theoretische Offenheit und Flexibilität der qualitativen Inhaltsanalyse anzuschließen und die epistemische Qualität des Ergebnisses präziser fassbar zu machen. [37]

Danksagung

Wir danken Dr. Antonietta DI GIULIO, Julia MACH-WÜRTH und Prof. Dr. Annette SCHEUNPFLUG für ihre Anregungen und ihr kritisches Nachfragen, mit denen sie uns im Laufe des Entstehungsprozesses dieses Beitrags unterstützt haben. Ebenso möchten wir den Gutachter_innen und insbesondere auch dem Mitherausgeber Christoph STAMANN für die konstruktiven Rückmeldungen und den reibungslosen Prozess besten Dank aussprechen. Die vielfältigen Hinweise ermutigten uns, unsere Überlegungen weiterzuentwickeln und zu schärfen.

Anmerkungen

1) Ein solches Erkenntnisinteresse schlägt sich in empirischen Forschungsfragen nieder, beispielsweise Wie verstehen bzw. erklären sich Praxisexpert_innen typischerweise nachhaltigkeitsbezogene Anforderungen in der Beschäftigungspraxis? oder Wie verstehen und erklären sich Studierende im Kontext eines Seminars zum forschenden Lernen typischerweise das Erlernen von Unterrichts- und Forschungspraxis? Mit diesen beiden Forschungsfragen werden zwei inhaltlich unterschiedliche Phänomene fokussiert: einerseits nachhaltigkeitsbezogene Anforderungen in der Beschäftigungspraxis und anderseits das Erlernen von Unterrichts- und Forschungspraxis. Ihnen gemein ist jedoch ihre Ausrichtung auf dieselbe epistemische Qualität der Erkenntnis: auf idealtypische subjektive Theorien. Der hier entwickelte konzeptionelle Vorschlag fußt auf Forschungsprojekten zu den beiden angeführten Forschungsfragen. <zurück>

2) Hinsichtlich der empirisch begründeten Typenbildung findet sich ähnlich zur qualitativen Inhaltsanalyse eine Einschätzung des Fehlens einer theoretischen Basis. NOHL (2013) zufolge ist die empirisch begründete Typenbildung, "[...] eine ganz allgemein und sehr formal gehaltene Beschreibung der Typenbildung, die offen lässt, wie die empirischen Daten im Einzelnen interpretiert werden und was mithin genau typisiert wird" (S.37). <zurück>

3) Im Folgenden gehen wir davon aus, dass Interviewtexte das Datenmaterial bilden, weil solche unseren Forschungsprojekten zugrunde lagen und damit auch die hier präsentierten methodologischen und forschungspraktischen Überlegungen prägen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass das hier vorgestellte Verfahren sich nicht auch für andere Arten von Texten eignet, mit denen ein Individuum seine subjektive Theorie zu einem bestimmten Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven oder in unterschiedlichen Erzählkontexten aktualisiert (z.B. Vorträge, Bücher etc.). <zurück>

4) Als Z-Regeln bezeichnet MAYRING (2015) die Interpretationsregeln für die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse. <zurück>

5) Mit der Analyseeinheit wird bestimmt, wie viel Text gleichzeitig in die Interpretation einbezogen werden muss bzw. kann, so muss diese für einen größeren Interpretationsgrad "entsprechend weit definiert werden" (MAYRING 2015, S.51; siehe zur Auseinandersetzung mit der Reichweite der Kontexteinheit CARL & HOLDER 2020). <zurück>

6) Der paraphrasierte Interviewtext stammt aus einem der beiden Forschungsprojekte, die dem hier skizzierten konzeptionellen Vorschlag zugrunde liegen. Interviewt wurden Nachhaltigkeitsexpert_innen aus Dienstleistungsunternehmen und der öffentlichen Verwaltung. <zurück>

7) Bezüglich des Datenmaterials ist festzuhalten, dass dieses idealerweise so ist, dass die Befragten ihre subjektiven Theorien zu einem Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven elaborieren können. Dies ermöglicht vom Situationsspezifischen zu abstrahieren und den situationsunspezifischen Kern herauszuarbeiten. <zurück>

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Zu den Autorinnen

Sabine LANG ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Lehren und Lernen im Kontext nachhaltiger kultureller Transformation in Schule und Hochschule, soziologische und anthropologische Theorien zur Transformation, Bildungskonzepte der Bildung für nachhaltige Entwicklung und der Global Citizenship Education, forschendes Lernen in der Lehrerbildung sowie wissenschafts- und professionstheoretische Zugänge zu forschendem Lernen.

Kontakt:

Sabine Lang

Fach Erziehungswissenschaft
Pädagogische Hochschule Weingarten
Kirchplatz 2
D-88250 Weingarten

Tel.: +49 (0)751/501-8260

E-Mail: Lang@ph-weingarten.de
URL: http://ew.ph-weingarten.de/das-fach/lehrende/lang/

 

Corinne RUESCH SCHWEIZER ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Inter- und Transdisziplinarität des Programms Mensch Gesellschaft Umwelt (MGU) an der Universität Basel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind (Hochschul-)Bildung für nachhaltige Entwicklung, Kompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung, beschäftigungspraktische Anforderungen und organisationales Lernen im Kontext nachhaltiger Entwicklung, interdisziplinäres Arbeiten sowie nachhaltiger Konsum.

Kontakt:

Corinne Ruesch Schweizer

Programm Mensch Gesellschaft Umwelt (MGU)
Universität Basel
Vesalgasse 1
CH-4051 Basel

Tel.: +41 (0)61/207-0474

E-Mail: corinne.ruesch@unibas.ch
URL: https://mgu.unibas.ch/de/team/corinne-ruesch-schweizer/

Zitation

Lang, Sabine & Ruesch Schweizer, Corinne (2020). Idealtypische subjektive Theorien – eine theoretisch fundierte Konkretisierung der Kombination von zusammenfassender qualitativer Inhaltsanalyse und empirisch begründeter Typenbildung [37 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 21(1), Art. 18, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-21.1.3433.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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