Volume 9, No. 1, Art. 14 – Januar 2008

Rezension:

Steffen Großkopf

Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider & Willy Viehöver (Hrsg.) (2006). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 433 Seiten, ISBN: 978-3-531-14809-0, EUR: 34,90

Zusammenfassung: Das Handbuch gibt einen umfassenden Überblick über die inzwischen etablierte, aber auch unübersichtlich gewordene theoretisch-methodologische Begründung und Anwendung der Diskursanalyse. Der erreichte Ausdifferenzierungsgrad der Diskursanalyse mit ihren verschiedenen Wurzeln und deren Kombinationen gibt dem Buch eine zusätzliche Bedeutung als Versuch einer Systematisierung der Forschungsvielfalt innerhalb der Sozialwissenschaften. Schwerpunkt bildet die Diskursanalyse nach FOUCAULT. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der forschungspraktischen Umsetzung einer sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse. Widersprüche zwischen den Artikeln sind angesichts der Offenheit der theoretischen Grundlagen unvermeidbar. Folgerichtig ist die Diskursanalyse als heterogene Forschungsstrategie und nicht als stringente Methode zu begreifen. Lässt sich der/die Lesende auf Vielfalt und Differenz ein, ermutigt und hilft das Handbuch, eigene Forschungsprojekte umzusetzen.

Keywords: Diskurs, Diskursanalyse, Diskurstheorie, Forschungsstrategie, Foucault, Ideologiekritik, Interdiskursanalyse, Kritische Diskursanalyse (KDA), Kollektivsymbolik, Kollektivsymbolik-analyse, Methodologie, Wissenssoziologische Diskursanalyse

Inhaltsverzeichnis

1. Vorbemerkung

2. Fokus und Zielgruppe

3. Wissenschaftstheoretische Aspekte und forschungspragmatischer Anspruch des Handbuches

4. Struktur des Handbuchs und Einstieg

5. Interdisziplinäre Zugänge – Widersprüche und Kontraste: ein Artikelüberblick

5.1 Diskursstränge und disziplinäre Grenzen

5.2 Sprachwissenschaftliche und kulturalistische Forschungsansätze der Diskursanalyse

5.3 Diskursanalytische Forschungsansätze in der Tradition FOUCAULTs

5.4 Irritation: "Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft"

6. Fazit

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Vorbemerkung

Wenn es um den Diskursbegriff geht, liegt gerade im deutschen Sprachraum immer auch der Gedanke an Jürgen HABERMAS nahe. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieses Diskursverständnis ist nicht Thema des Handbuches. Das im Fokus des Handbuchs stehende Diskursverständnis ist überwiegend von einem anderen großen Philosophen des letzten Jahrhunderts geprägt: Michel FOUCAULT. [1]

Zentral sind folglich keine Fragen der Konsensbildung, sondern Fragen nach der Konstruktion von Wirklichkeit, Wissen bzw. symbolischer Ordnung durch Diskurse sowie die Frage nach Macht, die sich über Diskurse entfaltet. Nicht zuletzt geht es – wenn auch eher randständig – um nichtdiskursive Praktiken. [2]

2. Fokus und Zielgruppe

Neben den von den Herausgebern benannten Gründen – wie einem gewachsenen Interesse der sozialwissenschaftlichen Forschung an symbolischer Ordnung als Grundlage von Sozial- und Weltverhältnissen, den Entwicklungen im Zusammenhang mit der sogenannten "Wissensgesellschaft" und der Distribution von Macht und sozialer Kontrolle über Kommunikationsprozesse (S.8f.) – spricht auch die zweite aktualisierte und um einen Beitrag erweiterte Auflage des Handbuches für ein offensichtliches Interesse am diskursanalytischen Forschungszugang. Insgesamt lässt sich im Hinblick auf aktuelle Publikationen ein Wiederaufleben des Interesses an FOUCAULT und damit auch an "der" Diskursanalyse in den Sozialwissenschaften feststellen (vgl. BÜHRMANN, DIAZ-BONE, GUTIÉRREZ-RODRIGUEZ, KENDALL, SCHNEIDER & TIRADO 2007; für die Erziehungswissenschaft z.B. PONGRATZ, WIMMER, NIEKE & MASSCHELEIN 2004; RICKEN & RIEGER-LADICH 2004; WEBER & MAURER 2006). [3]

Das Handbuch wendet sich in erster Linie an Studierende und Akademiker(innen) im sozialwissenschaftlichen Bereich, die eine empirische Forschungsarbeit mit diesem Zugang beabsichtigen. Aber es sollte auch bei erfahrenen Diskursanalytiker(inne)n als Grundlagen- und Nachschlagewerk im Regal nicht fehlen. [4]

Die Artikel ermöglichen zum einen, die Vielfalt des diskursanalytischen Zugangs kennenzulernen, zum anderen aber auch die Komplexität der Diskurstheorie und Diskursforschung zu verstehen. [5]

Obwohl der mit dem Namen FOUCAULT verbundene diskurstheoretische Strang, der sich mit Machtwirkungen und der Wirklichkeitskonstitution durch Diskurse befasst, eine Hervorhebung im Handbuch erfährt (S.11f.), sind klare Abgrenzungen zu anderen Traditionssträngen nicht immer möglich und auch nicht beabsichtigt, sodass es zu Überschneidungen und Synthesen in den einzelnen Artikeln kommt. Dennoch lassen sich eine eher sprachtheoretische und eine eher als sozialwissenschaftlich zu bezeichnende, an FOUCAULT anknüpfende Perspektive unterscheiden (vgl. auch DIAZ-BONE 2003, Abs.2). [6]

Insofern würde ich auch der Empfehlung KNOBLAUCHs folgen, dass "von Diskursanalyse nur mit Bezug auf diejenigen Arbeiten gesprochen werden [sollte], die sich auf den Diskursbegriff Foucaults beziehen" (S.213, vgl. auch KOLLER & LÜDERS 2004, S.58). Allerdings kann auch damit nur eingegrenzt werden, denn der Diskursbegriff FOUCAULTs ist keineswegs klar definiert, wie JUNG in seinem Beitrag herausstellt (S.33). Dennoch würde das Handbuch von dieser Sichtweise profitieren, insbesondere wenn von sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse gesprochen wird, wobei auch hier ein intuitives Wissen um die Ordnung der westlichen Wissenschaft vorausgeht (vgl. hierzu auch FOUCAULT 1974, S.17), welches letztlich einer interdisziplinären Vermittlung entgegensteht. [7]

Das Handbuch kann als grundlegende Einführung in die Spielarten der Diskurstheorie und ihre forschungspragmatische Umsetzung gelesen werden, allerdings ist diese Einführung durchaus anspruchsvoll. [8]

3. Wissenschaftstheoretische Aspekte und forschungspragmatischer Anspruch des Handbuches

Die Herausgeber des Handbuches verbinden mit dem Begriff Diskursanalyse explizit den Anspruch, Theorien und Methoden der empirischen Erforschung von Diskursen, d.h. die theoretisch-methodische Begründung dieser Umsetzung zu thematisieren. Bisher hat dieser Aspekt der Diskursanalyse in der wissenschaftlichen Behandlung ihnen zufolge zu geringe Beachtung gefunden (S.15f.). [9]

Trotz dieser Fokussierung auf den forschungspraktischen Aspekt der Diskursanalyse kann auf eine Diskurstheoriediskussion kaum verzichtet werden. Die Herausgeber stimmen dem zwar zu, möchten diesen Aspekt aber "untergewichten" (S.15f.). Dass dies aber kaum praktikabel ist, zeigt sich in den Artikeln, in denen überwiegend diskurstheoretische Grundlegungen einen breiten Raum einnehmen. Zentral bleibt die Klärung, was unter dem zu erforschenden Diskurs verstanden wird. Insofern ist die Unterscheidung Diskurstheorie i.S. einer Deutung der Relevanz von Diskursen in der Gesellschaft und Diskursanalyse (S.15) etwas unscharf (wenn auch nachvollziehbar), denn "[d]ie Theorie begründet die Regeln für die empirische Forschung. Demnach durchdringt die Theorie die Forschungspraxis von der Rahmung der Forschungsfrage über das Forschungsdesign bis hin zum konkretesten Zuschnitt einzelner Techniken und Methoden" (DIAZ-BONE 2005, Abs.6). [10]

Zwangsläufig stößt das Buch auf die Probleme, die aus der Ungeschlossenheit und Heterogenität der Diskurstheorie(n) folgen. Entsprechend unmöglich ist es, Diskursanalyse als eine klare und erlernbare Methode zu definieren, maximal kann von einer Methodologie (vgl. DIAZ-BONE 2005) bzw. von einer analytischen Forschungsstrategie gesprochen werden (vgl. ANDERSEN 2003, S.XIII). Einige Forschende vertreten auch den Standpunkt, dass es sich vielmehr um eine "philosophische Haltung" handelt (vgl. zusammenfassend KLEMM & GLASZE 2004). [11]

Konsequenterweise ist auch eine künstliche Trennung von Theorie und Methodenabhandlungen unangemessen und wird begründet im Handbuch nicht praktiziert. [12]

Angesichts der Vielfalt der theoretischen Zugänge, interdisziplinären Synthesen und vermittelnden Arbeiten auf dem Gebiet diskursanalytischer Forschung haben die Herausgeber aus der Not eine Tugend gemacht und Widersprüche und Kontraste zwischen den einzelnen Artikeln des Handbuchs in Aussicht gestellt. Diese betreffen beispielsweise das Verhältnis von Diskursanalyse und Hermeneutik bzw. das zur Ideologiekritik sowie die Bedeutung dessen, was unter Subjekt verstanden wird und dessen Bedeutung für Diskurse. Vor allem aber sind sie auf das Verhältnis Diskurs und "Wirklichkeit" bezogen. Die Herausgeber verweisen hier darauf, "dass jede Diskursanalyse – bis zu einem gewissen Grad – an der Konstruktion ihres Gegenstandes teilhat, insofern sie selbst als spezifischer (wissenschaftlicher) Diskurs Deutungen zur 'Wirklichkeit' dieses Gegenstandes produziert" (S.16). [13]

Vorgestellt werden unterschiedliche Konzeptualisierungen der "Diskursanalyse als Forschungsprogramm", welche vielfach mit Beispielen und expliziten Hinweisen zum methodischen Vorgehen untermauert sind. [14]

4. Struktur des Handbuchs und Einstieg

Das Handbuch umfasst 430 Seiten und ist in eine Einleitung und 15 Artikel gegliedert, die von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen wie Linguistik, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Geschichte verfasst wurden. Die Beitragenden des Handbuches sind keine Unbekannten auf dem Gebiet der Diskursforschung. Für den deutschen Sprachraum sind die bekanntesten Experten und Wegbereiter dieses Forschungszugangs vertreten: Reiner KELLER, Siegfried JÄGER, Jürgen LINK und Philipp SARASIN. [15]

Wer eine schlagwortartige Grundkonstruktion, wie sie bei vielen Handbüchern üblich ist, erwartet, der wird enttäuscht. Aufgrund der Komplexität und des theoretisch nicht geschlossenen Konzepts der Diskursanalyse (Theorien und Methoden) ist ein solches Design von den Herausgebern bewusst und zurecht abgelehnt worden. [16]

Wer auf ein Glossar nicht verzichten will, sei auf den Beitrag von BUBLITZ verwiesen, der als Kurzübersicht (!) zu wesentlichen Begriffen FOUCAULTs gelesen werden kann (S.257ff.) [17]

Zwölf der Artikel – JUNG (Linguist), SARASIN (Historiker), JÄGER (Sprach- und Sozialwissenschaftler), KELLER (Soziologe), DONATI (als Sozialwissenschaftler ausgewiesen), VIEHÖVER (Soziologe), KNOBLAUCH (Soziologe), BUBLITZ (Soziologin), SCHWAB-TRAPP (Soziologe), NULLMEIER (Politikwissenschaftler), POTTER (Psychologe) – stellen nach einer verschieden stark explizierten diskurstheoretischen Grundlegung und vor allem der Konzeptionierung dessen, was unter "Diskurs" zu verstehen ist, Vorgehensweisen zur Analyse dar. Hierzu zählt auch der neu hinzugekommene (aus publikationstechnischen Gründen am Ende des Buches stehende) Artikel von LINK (Literaturwissenschaftler). [18]

Zwei weitere Artikel, von FAIRCLOUGH (Sprachwissenschaftler) und HARK (Soziologin) dienen zur Illustration der Bedeutung, der Erkenntnismöglichkeiten und der "praktischen" Relevanz sozialwissenschaftlicher Diskursanalysen. Der quasi abschließende Artikel von HIRSELAND und SCHNEIDER untersucht das Verhältnis von Diskurstheorie und Ideologiekritik. [19]

Wer sich noch nie mit der Thematik Diskurs/Diskursanalyse befasst hat und einen ersten Einblick in Sinn und Möglichkeiten einer Diskursanalyse erhalten möchte, dem oder der seien (nach der Einleitung) zunächst – im Gegensatz zur Empfehlung der Herausgeber – die Artikel von FAIRCLOUGH "Globaler Kapitalismus und kritisches Diskursbewusstsein" und HARK "Feministische Theorie – Diskurs – Dekonstruktion" empfohlen. FAIRCLOUGH zeigt am Beispiel des Flexibilisierungsdiskurses die Bedeutung von Diskursen und das kritische Potenzial ihrer Analyse auf. Die Erkenntnisse werden anschließend in ihrer Konsequenz für Bildung und Erziehung des Subjekts diskutiert. Diejenigen, die die mit der Diskurstheorie und dem dekonstruktionistischen Ansatz vielfach verbundene Ablehnung des Subjekts kritisieren, finden hier möglicherweise einen Zugang, der Diskursanalyse auch für sie attraktiv macht. Wer sich hiervon überzeugen lässt, dem oder der sei auch der Beitrag JÄGERs empfohlen, der sich mit dieser Problematik vertiefend auseinandersetzt. [20]

Der Beitrag von HARK verweist auf den besonderen Nutzen der Diskursanalyse für die wissenschaftliche Bearbeitung von Aporien und führt dies für die feministische Theoriebildung aus, welche strukturell von solchen begleitet wird. [21]

5. Interdisziplinäre Zugänge – Widersprüche und Kontraste: ein Artikelüberblick

5.1 Diskursstränge und disziplinäre Grenzen

In der einleitenden kurzen Darstellung "Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse – Eine Einführung" wird die Karriere des Begriffs "Diskurs" wissenschaftshistorisch skizziert. Es werden vier Traditionsstränge der Diskursanalyse von den Herausgebern identifiziert: discourse analysis, Diskurstheorie, kulturalistische Diskursanalyse und Diskursethik. Letztere wird in der Publikation nicht weiter verfolgt. Abschließend folgen ein grundlegender Überblick über die beide Bände des Handbuches sowie eine kurze Beschreibung der Einzelbeiträge von Band I. [22]

Anhand des Inhaltsverzeichnisses ist es relativ schnell möglich, über die Titel der Beiträge zu disziplinspezifischen Ansätzen der diskursanalytischen Forschung zu finden, was m.E. auch angesichts der verschiedenen Erkenntnisinteressen der Disziplinen hilfreich und dem Handbuch nicht abträglich ist. Auch wenn "disziplinäre 'Gruppenbildungen'" (S.19) nicht beabsichtigt waren, werden disziplinäre Grenzen nur bedingt durchstoßen (S.18f.). Zu den Beiträgen, die gerade aus Sicht der empirischen Forschungsperspektive interdisziplinär lesenswert sind, zählen z.B. der Beitrag von JUNG, dessen forschungspragmatischer Text durchaus für Projekte aus verschiedenen Disziplinen interessant sein kann sowie der Beitrag von VIEHÖVER, der das Konzept der "Narration" für die Soziologie fruchtbar macht. Andere Beiträge hingegen, wie die von SARASIN, DONATI, NULLMEIER und POTTER, zielen auf eine disziplinspezifische Auseinandersetzung bzw. eine Grundlegung der Diskursanalyse für die eigene Disziplin. [23]

5.2 Sprachwissenschaftliche und kulturalistische Forschungsansätze der Diskursanalyse

Fünf der zwölf Artikel, die sich einer Konzeption und Umsetzung der Diskursanalyse widmen, nehmen wenig bzw. gar keinen Bezug auf FOUCAULT und folgen eher anderen Traditionslinien. Hierzu zählen die Beiträge von DONATI, NULLMEIER, VIEHÖVER und POTTER sowie der Beitrag "Diskurshistorische Analyse – eine linguistische Perspektive" von JUNG. (Ich folge in der Rezension nicht der Anordnung der Artikel im Handbuch.) JUNG bezieht sich direkt auf die Vorgabe der Herausgeber des Handbuchs und stellt Empirie und Methode gleichberechtigt neben die Theorie. Er rekurriert dabei auf die Erfahrungen aus verschiedenen Projekten und nimmt eine Längsschnitt-Perspektive auf Diskursentwicklungen unter Beachtung einer speziellen sprachwissenschaftlichen Blickrichtung ein. Besondere Beachtung erfahren dabei die Abhängigkeiten von Form und Inhalt. Zentral und plausibel ist die Repräsentation des Diskurses durch die systematische Auswahl eines (großen) Textkorpus, durch den der Diskurs z.B. als ein thematischer repräsentiert wird. Dieser wird modellhaft in Beziehung gesetzt zu den Textsorten, Diskursebenen und Teildiskursen, ohne dabei den forschungspraktischen Aspekt und die Begrenztheit der Forschungsmöglichkeiten aus den Augen zu verlieren. Über JUNGs Artikel hinaus gilt darum der Hinweis, dass themenbezogene Aussagen "nur insofern aufgefunden werden, als dass ihr Auftreten in bestimmten Texten erwartbar ist" (S.42). Der Aufsatz schließt mit zehn Thesen, die als Zusammenfassung gelesen werden können. Dabei wird betont, dass neben den Erkenntnissen zum erforschten Diskurs auch Zugänge zu allgemeinen sprachwissenschaftlichen Fragen, wie z.B. der nach der Geschichte eines Wortes, eröffnet werden. [24]

Da die Bildung eines Textkorpus' – als Repräsentation eines Diskurses – "die" Grundfrage der meisten Diskursanalysen ist, ist der Aufsatz auch in interdisziplinärer Perspektive lesenswert. Allerdings ist es immer auch der Moment, der nur plausibilisiert werden kann und auf dem Vorverständnis und letztlich der Entscheidung des/der Forschenden beruht. [25]

Die beiden politikwissenschaftlichen Beiträge von DONATI "Die Rahmenanalyse politischer Diskurse" und NULLMEIER "Politikwissenschaft auf dem Weg zur Diskursanalyse" konstatieren, dass die Diskursanalyse in dieser Wissenschaftsdisziplin bisher kaum eine Rolle spielt. Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland liegen noch keine Konzepte für eine diskursanalytische Politikwissenschaft vor, was unter anderem auf eine geringe Vernetzung mit anderen Disziplinen und eine Fokussierung auf Methoden der Wahl- und Einstellungsforschung zurückzuführen ist. NULLMEIER profiliert Diskursanalyse als Methode der Policyforschung und betont – für Fachfremde nicht immer nachvollziehbar – die institutionelle Dimension als spezifisch politikwissenschaftlich. Vier Aspekte muss eine politikwissenschaftliche Diskursanalyse hiernach berücksichtigen: Bestimmung des Gegenstands durch einen Begriff (z.B. Idee), die Entwicklung einer entsprechenden Analytik, die Plausibilisierung der Entstehung politischer Gemeinschaften und Konflikte, und die Erklärung politischen Wandels als Wandel des Gegenstandsbegriffs. NULLMEIER schlägt vor, den Diskursbegriff für große Textkorpora zu reservieren und empfiehlt, methodisch an die Massentextanalyse anzuschließen. Ziel ist das Auffinden großer Sinneinheiten, die als Kern von Politiken gelten können. Dabei werden auch Abgrenzungsprobleme zu reinen Inhaltsanalysen und der Hermeneutik von ihm erwähnt. Der Beitrag bietet einen Forschungsüberblick und ein Plädoyer für eine diskursanalytische Politikwissenschaft und ist insofern eher als programmatische Wegbereitung für eine solche zu verstehen. [26]

Forschungspraktischer orientiert ist der Artikel DONATIs. Er folgt einem kulturalistischen Ansatz und fokussiert die Analyse der Ideologien von sozialen Bewegungen. Diskurs wird in einer linguistischen Tradition als "Form der Rede" (S.149) verstanden, bei der Sprechende als Stellvertretende von Gruppen fungieren, die wiederum Teil von Kontroversen sind. Diskursanalyse untersucht die "symbolischen Kämpfe" zwischen diesen Akteur(inn)en, dabei sind "frames" (kulturell geprägte Wahrnehmungsschemata) zentral, denn sie sind "Waffen" in diesen Kämpfen. Politische Diskursanalyse rekonstruiert nun die Deutungsrahmen, die in themenbezogenen politischen Debatten verwendet werden und bezieht sich dabei vor allem auf Texte. DONATI beschreibt anschließend beispielhaft Deutungsrahmen und expliziert Diskursanalyse als Spezialfall der Inhaltsanalyse (S.165ff.), welche die Rahmenanalyse politischer Diskurse leistet, die vielfach auf Metaphern und Analogien beruhen. Abschließend verweist DONATI auf die bisher vernachlässigte Verknüpfung von Idee- und Handlungsebene, die eine Übertragung der Rahmenanalyse von Diskursen auf "Praktiken" eröffne. [27]

Auch der Artikel POTTERs "Diskursive Psychologie und Diskursanalyse" zählt zu denen, die keinen bzw. nur abgrenzenden Bezug zu FOUCAULT aufweisen. POTTER beschreibt die Bedeutung der Diskursanalyse für die Psychologie und ihre Methoden im Sinne eines Paradigmenwechsels. Danach zeichnet sich die Diskursive Psychologie im Gegensatz zu kognitiven Theorien und Methoden der Psychologie dadurch aus, dass sie den Menschen nicht losgelöst vom Kontext betrachte (S.315f.). Diskurs wird von ihm als "Gesprochenes (talk) oder Geschriebenes (text)" (S.316) verstanden und ist "Hauptmedium sozialer Interaktion" (S.316). POTTER verfolgt eine konstruktivistische Perspektive und ist überwiegend an eine "relativistische Meta-Theorie" gebunden (S.316), d.h. experimentelles Vorgehen und positivistische Sichtweisen werden abgelehnt. Die theoretischen Grundannahmen der diskursiven Psychologie lassen sich aus den "primären Kennzeichen von Diskursen" (S.319f.) ableiten. Diese sind situiert (situativ veranlasst und rhetorisch), handlungsorientiert (in Diskursen werden Handlungen vollzogen), konstruiert (z.B. durch Metaphern) und konstruierend (Weltversionen produzierend). POTTER zeigt an einem Beispiel die analytischen Prinzipien der diskursiven Psychologie auf und stellt abschließend eine zukünftige Klärung des Verhältnisses der diskursiven Psychologie zu den Ansätzen, die in der Tradition FOUCAULTs arbeiten, in Aussicht. Er verweist auf den höheren Ertrag konversationsanalytischer Verfahren für die Untersuchung von Interaktionen, welche in der FOUCAULTschen Tradition der Diskursanalyse eher ignoriert werden (S.332f.). [28]

Ein sich von den anderen soziologischen Zugängen im Buch abhebender Artikel ist der von VIEHÖVER. Diskurse werden von ihm als Narrationen verstanden. Im Blickpunkt dieser Perspektive stehen damit Regelsysteme, die die Erzählung strukturieren. Der Mensch wird als geschichtenerzählend begriffen (S.180), d.h. gesellschaftliche Akteur(inn)e(n) nutzen Narrationen, um ihren Weltdeutungen Kohärenz, Bedeutung und Kontinuität zu verleihen. VIEHÖVER arbeitet ähnlich wie DONATI auf Basis der "frame analysis" und verbindet diese mit der Narrationsanalyse. Dabei erstreckt sich der Fokus der Analyse von der Ebene der Worte bis zur Rahmung der Narration (z.B. angesprochene Problemlösungen). Allerdings wird der Diskursbegriff nur insofern expliziert, als es sich bei ihm nicht um einen Einzeltext handelt (S.196). Mit diesem Ansatz können beispielsweise unterschiedliche Perspektiven auf Probleme zu verschiedenen Zeitpunkten herausgearbeitet werden, darüber hinaus ist aber auch zu prüfen, inwiefern soziale Praktiken mit den Analyseergebnissen erklärt werden können. [29]

5.3 Diskursanalytische Forschungsansätze in der Tradition FOUCAULTs

Die folgenden Beiträge beziehen sich explizit auf die Diskurskonzeption FOUCAULTs und erweitern diese. Die in diesem Zusammenhang überzeugendsten und theoretisch eigenständigsten Beiträge sind die von KELLER "Wissenssoziologische Diskursanalyse" und von JÄGER "Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse". [30]

Während für KELLER das FOUCAULTsche Konzept der Diskursanalyse eine Möglichkeit bietet, die von ihm als zu wenig auf institutionelle Wissensproduktion achtende wissenssoziologische Theorie von BERGER und LUCKMANN zu ergänzen, hakt JÄGER gerade an dieser – für ihn bei FOUCAULT überbewerteten – Stelle ein, um wiederum die Bedeutung der Subjekte stärker zu betonen. Dies erreicht er durch eine Erweiterung der Diskurstheorie FOUCAULTs um Elemente von MARX, WYGOTSKI und LEONTJEW. Objekt dieses im deutschen Sprachraum als Kritische Diskursanalyse (KDA) bekannt gewordenen Zugangs sind aktuelle Diskurse und ihre Machtwirkungen i.S. einer herrschaftslegitimierenden und sichernden Technik. Ziel ist die Aufdeckung dieser Zusammenhänge durch das Aufzeigen von Widersprüchen, Verschleierungen und Strategien der Erzeugung von gesellschaftlicher Akzeptanz. Implizit ist dabei die auch wissenschaftliche Selbstreflexion, d.h. die der Analyse zugrunde liegenden Wertentscheidungen der Forschenden. Die KDA ist aber nicht als Ideologiekritik marxistischer Provenienz misszuverstehen. Schwierig bleibt auch hier das Verhältnis zwischen Diskurs, der eine eigene Wirklichkeit darstellt, und der "wirklichen" Wirklichkeit (S.87), welches bereits bei FOUCAULT angelegt ist und die Diskurstheorie in ähnliche Probleme wie den Konstruktivismus verwickelt. JÄGER debattiert diese Problematik intensiv und löst sie mit Hilfe der oben genannten Theoretiker auf (S.90f.): Das tätige Subjekt ist demnach das Bindeglied zwischen den Wirklichkeiten. FOUCAULT entging dieser Aspekt, da er laut JÄGER dem Dualismus zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verhaftet blieb. Weiterhin klärt JÄGER die Methodologie und die Grundbegriffe der KDA, deren Vorgehensweise anschließend anschaulich formuliert und in einem Leitfaden verdichtet wird. Es folgen Überlegungen zur Analyse von Dispositiven, mit denen sich JÄGER gegen den – seiner Meinung nach zu stark dem Verbalen verhafteten – Diskursbegriff FOUCAULTs absetzt. Er betont stärker den eher impliziten Charakter einer Methodik der Diskursanalyse, der sich "bastelnd" während der Analyse des Diskurses entwickele (S.113). [31]

Auch KELLER verdeutlicht, dass die Diskursanalyse "ein Forschungsprogramm bzw. eine Forschungsperspektive" (S.115) ist, also keine explizite und klar definierte Methode darstellt. Die von ihm entwickelte Konzeption einer "Wissenssoziologischen Diskursanalyse" ist im interpretativen Paradigma der Hermeneutischen Wissenssoziologie verankert. KELLER erweitert aber den Ansatz von BERGER und LUCKMANN um den FOUCAULTschen Diskursbegriff und damit um die institutionelle Wissensproduktion. Integrierendes Element beider Theorien ist die kollektive Konstruktion von Wissen. Im Fokus stehen "Prozesse der sozialen Konstruktion [...] und Legitimation von Sinn, d.h. [es gilt] Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren" (S.115). FOUCAULT steuert also den Teil des Emergenten des Sozialen im Sinne DURKHEIMs bei, wird aber von KELLER bezüglich seiner monolithischen Eigenständigkeit der Wissensordnung und der Ablehnung der Hermeneutik kritisiert (S.126). Nach der Klärung wichtiger Kategorien wird die methodische Umsetzung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse anschaulich beschrieben. Das Erkenntnisinteresse gilt sowohl Akteur(inn)en und Publika, als auch Veränderungen in Diskursen. Abhängig vom Gegenstand werden verschiedene Methoden der Datenerhebung und Auswertung benannt (z.B. Gesprächsanalyse, Bildanalyse, teilnehmende Beobachtung; linguistische Verfahren sind für eine Wissenssoziologische Diskursanalyse nicht relevant). Abschließend wird auf das Grundproblem der Materialauswahl eingegangen, welches in Grenzziehungs- (Reduktion/Diskursdefinition) und Geltungsprobleme (Generalisierungsfragen) unterteilt wird. [32]

KNOBLAUCH setzt in seinem Beitrag "Diskurs, Kommunikation und Wissenssoziologie" die Diskursanalyse ebenso wie KELLER in Bezug zur Wissenssoziologie und sieht die Bereicherung des subjektlosen Ansatzes FOUCAULTs im Macht- als Integrations-Aspekt auf einer Makroebene, der Wissen und Handeln verknüpft und von der Wissenssoziologie, die sich auf die Mikroebene konzentriert, nicht thematisiert werde. Er setzt den Begriff "Diskurs" dem des "kommunikativen Haushalts" (LUCKMANN), welcher der Gesamtheit aller Äußerungen der Gesellschaftsmitglieder entspricht und kaum fassbar ist, entgegen. Themen werden als "Kerne" von Diskursen, die sich durch gesellschaftliche Relevanz auszeichnen, bestimmt. Wer sie bestimmt, hat hegemoniale Macht. Empirisch ist dieses Verständnis gut an den soziologischen Topikbegriff anschließbar, der den Niederschlag kollektiver Erfahrungen beschreibt (S.221). Folglich plädiert KNOBLAUCH für die Topikanalyse als ein Instrument der Diskursanalyse. [33]

BUBLITZ' Beitrag widmet sich der "diskursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit" (S.227). Der soziologischen Tradition DURKHEIMs folgend wird darauf verwiesen, dass die soziale Wirklichkeit als Wirkmächtigkeit von Diskursen sich der Verfügung der Einzelnen entzieht. BUBLITZ entwickelt unter relativ strengem Bezug auf FOUCAULTs Schriften und insbesondere den Begriff des "Archivs" ein Denkmodell, das seinem subjektlosen Ansatz folgt und zur Analyse von Regelzusammenhängen und deren Machtwirkungen und Wirklichkeitskonstitutionen dienen soll. Diskursanalyse ist folglich eine Rekonstruktionsmethode, wobei Diskursgeflechte als strategische Situationen in Gesellschaften verstanden werden. Hierbei wird die "Archäologie", die eigentlich die Theorie der Regeln verschiedener Praktiken ist, zugleich als Methode vorgestellt. Interessant ist dabei die Abgrenzung von Diskursen: Sie erfolgt nicht über Themen, sondern über Regeln, was an einem Beispiel verdeutlicht wird. Hier fällt besonders auf, wie entscheidend das Wissen der Forschenden ist, um das Konstrukt "Diskurs" zu identifizieren. [34]

Im Artikel von SCHWAB-TRAPP "Diskurs als soziologisches Konzept. Bausteine für eine soziologisch orientierte Diskursanalyse" wird Diskursanalyse als "spezifische Form politischer Soziologie" (S.268) verstanden, deren Aufgabe es sei, die Institutionalisierung von Deutungsmustern und ihre konflikthafte Durchsetzung zu untersuchen. Wiederum ist der Anschlusspunkt FOUCAULTscher Theorie an die Soziologie die DURKHEIMschen Tradition eines Kollektivbewusstseins als Ebene sui generis sowie die Wissenssoziologie. Am Beispiel der Erforschung des Diskurses von Bündnis 90/Die Grünen über den Jugoslawienkrieg wird diese Konzeption der Diskursanalyse veranschaulicht. [35]

LINK stellt in seinem Beitrag "Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik" eine Konzeption der Interdiskursanalyse vor, die in Auseinandersetzung mit Defiziten der FOUCAULTschen Theorie entstanden ist. LINK unterteilt theoretisch in Diskurs, Spezialdiskurs und Interdiskurs. Er stellt dabei einen Zusammenhang zur Kollektivsymbolik her und erschließt so auch das wenig bearbeitete Feld der Bilder im Zusammenhang mit der Diskurstheorie. Interdiskurs meint Diskurse mit kompensatorischen Effekten, die parallel zur Spezialisierung von Diskursen verlaufen und brückenschlagende Funktion haben. Ein Beispiel hierfür ist der populärwissenschaftliche Diskurs. LINK entwickelt die Beziehung zwischen Macht und Wissen anhand eines Zwei-Achsenmodells, wobei diese interferieren. Ein eindeutiges Determinationsverhältnis, wie z.B., dass Wissen von der Klassenstruktur abhängig ist, wird so ausgeschlossen. Diese Sichtweise ermöglicht, dass mit den gegensätzlichen Positionen in einem Diskurs adäquater umgegangen werden kann, da die Korrelation zwischen Macht und Wissen nicht abgeleitet (i.S.v. Wissen aus Macht bzw. umgekehrt), sondern verkoppelt wird. Hieraus wird auch der kritische Anspruch der Interdiskursanalyse abgeleitet. Auch dieser Artikel endet mit Hinweisen und einem Beispiel zur Durchführung der Interdiskursanalyse, auch unter Verwendung der bereits ausgearbeiteten Kollektivsymbolikanalyse LINKs sowie eines von JÄGER entwickelten Instrumentariums. [36]

Besondere Potenziale der Interdiskursanalyse sieht LINK in der Möglichkeit, den Begriff "Kultur" besser fassen zu können, da dieser ein Ensemble aus Spezial- und Interdiskursen sei. Darum plädiert er abschließend dafür, dass Forschungsprojekte neben dem spezifischen Erkenntnisinteresse auch den Fragehorizont einer aktualgeschichtlichen Rekonstruktion des Systems heutiger Interdiskurse (als Inbegriff der "Kultur") mit anstreben. [37]

Der Artikel von HIRSELAND und SCHNEIDER "Wahrheit, Ideologie und Diskurse" untersucht das Verhältnis von Diskurstheorie und Ideologiekritik. Insofern zählt er zwar nicht zu den bisher unter Punkt sechs verhandelten forschungspragmatischen Beiträgen, bildet aber einen guten Abschluss an dieser Stelle, da in ihm das kritische Potenzial der Diskursanalyse nochmals aufgegriffen wird, welches neben FAIRCLOUGH auch die Beiträge von JÄGER und LINK thematisieren. Der Artikel fokussiert die Problematik der Ideologiekritik. Die Autoren entwickeln in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Ideologiekritik eine diskurstheoretisch fundierte Kritik der Ideologiekritik. Damit folgt der Beitrag einem erkenntnistheoretischen Anspruch und formuliert die theoretisch-methodologischen Prämissen für eine ideologiekritische Diskursanalyse. Das Verhältnis von Ideologie und wissenschaftlicher Theorie wird so als ein diskurstheoretisches bestimmt. [38]

5.4 Irritation: "Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft"

Ein Beitrag, der sich m.E. wenig in das Handbuch integriert, ist der des Historikers SARASIN. Obwohl er im Rahmen der Beiträge zur forschungspraktischen Umsetzung der Diskursanalyse im Handbuch verortet wird, folgt er diesem Anspruch kaum. Vielmehr handelt es sich um ein an Historikerinnen und Historiker gerichtetes Plädoyer: SARASIN kritisiert den halbherzigen "linguistic turn" in der Geschichtswissenschaft und zeigt den theoretischen Gewinn, den die Rezeption der Diskurstheorie FOUCAULTs, erweitert um Elemente von DERRIDA, LACLAU, MOUFFE und LACAN, und deren methodisches Vorgehen für die Geschichtswissenschaft bringen kann. Er tritt dabei den Kritiker(inne)n des Ansatzes entgegen und verweist darauf, dass es einer diskursanalytischen Geschichtswissenschaft nicht darum geht, die Fiktivität des Vergangenen zu denken – hierzu ist sie viel zu materialistisch: Quellen sind historisch situierbar und an bestimmte Medien gebunden. Es gehe vielmehr darum, ihre Eigenlogik zu verstehen, das Verhältnis von Medium und Kommunikation sowie Sinnproduktion. Für SARASIN ist die spannendste "Frage [die], wo sich in all den rekonstruierbaren symbolischen Strukturen, die die soziale Wirklichkeit als wahrnehmbare hervorbringen, die Grenzen dieser Struktur und damit das Reale zeigt, das sie konstituiert" (S.76). Dieses Reale ist nach LACAN das "unsagbare Negative" (S.73), ohne das "das Subjekt tatsächlich nichts mehr [wäre] als eine Schnittstelle im Raum von Diskursen" (S.73). Dieses "außersprachlich" Reale wird aber m.E. einem Großteil der westlichen Wissenschaft verschlossen bleiben bzw. ist es eher im Werk SARTREs – einem philosophischen Opponenten FOUCAULTs – zu finden. [39]

6. Fazit

An Systematik und theoretischem Bezug fehlt es den Artikeln größtenteils nicht, im Gegenteil, einige sind auch unter einem rein theoretischen Interesse lesenswert (z.B. JÄGER). Hilfreiche Leitfäden und Beispiele zur Praxis von Diskursanalysen finden sich bei den meisten Beiträgen. [40]

Aber aufgrund der Vielfalt und Heterogenität vorausgehender Diskurstheorie wird neben Klarheit vielfach Differenz erzeugt. Hierbei spielen vermutlich auch Übersetzungsprobleme fremdsprachiger Texte (z.B. im Falle DONATIs und POTTERs) eine Rolle, worauf auch KNOBLAUCH (S.212) verweist. [41]

Artikelübergreifend wird deutlich, dass Diskursanalyse auf die Erforschung einer diskursiv konstruierten Wirklichkeit zielt. Klar ist auch, dass die Diskursanalyse eine empirisch-materialistische Vorgehensweise bezeichnet, die Regelhaftigkeit bzw. deren Veränderungen nachzuweisen versucht. Zudem eint alle Beiträge das Problem, den Diskurs definieren zu müssen, was von einer zugrunde gelegten Diskurstheorie bzw. deren Interpretation durch Forschende abhängig ist. Damit korreliert auch der Stellenwert gesellschaftlicher Praktiken und Machtaspekte in der Diskursanalyse sowie das Problem der "Wirklichkeit", welches gelegentlich (wie bei POTTER, S.317f.) in die Aporien des Konstruktivismus gerät. Darüber hinaus verbindet die Aufsätze mit soziologischem Hintergrund ein starkes Interesse an der Diskurstheorie FOUCAULTs, welche vorrangig über die wissenssoziologische Theorietradition (BERGER & LUCKMANN) oder das klassische soziologische Denken DURKHEIMs integriert wird. Ein anderer interessanter, meines Wissens aber bisher kaum explizierter Integrationspunkt wird daneben mit der Systemtheorie LUHMANNs bei KNOBLAUCH sichtbar (vgl. hierzu auch DIAZ-BONE 2005, 2003, Abs.6; KOLLER 1996). [42]

An dieser Stelle sei zudem darauf verwiesen, dass (nicht DONATI sondern) LINK als einziger Autor im Handbuch den Namen Antonio GRAMSCI erwähnt. Dieser hätte mehr Beachtung im Zusammenhang mit der Thematik sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse verdient. [43]

Einig sind sich die explizit auf Forschungspraxis eingehenden Autor(inn)en darin, dass jede Diskursanalyse als Methode erst am Gegenstand entwickelt werden kann und insofern nur Leitfäden, aber keine scharfen Regeln, verpflichtenden Techniken oder Instrumente für die Vorgehensweise angeboten werden. "Die" Diskursanalyse gibt es nicht. Es handelt sich um ein Forschungsprogramm mit vielfältigen theoretischen Bezugspunkten, das "zuallererst einen breiten Gegenstandsbereich, ein Untersuchungsprogramm [... beschreibt]" (KELLER 1997, S.325). Es kann also eine Methodologie geben, aber keine singuläre Methode der Diskursanalyse. An verschiedenen Stellen werden Methoden, wie z.B. Hermeneutik, Topikanalyse oder Inhaltsanalyse als Instrumente der Diskursanalyse benannt, allerdings wird das "mehr", welches die Diskursanalyse leisten soll, nicht immer deutlich. Möglicherweise ist dieses "mehr" weniger in einer Methodisierung, als vielmehr einer Methodenkritik zu sehen (vgl. SCHRAGE 1999). [44]

Lassen sich Lesende auf das Handbuch ein und lernen sie, mit Vielfalt und Differenz umzugehen, mithin von ihnen zu profitieren, eröffnet sich eine adäquat gestaltbare Forschungsstrategie. Das Handbuch ermutigt durch das Aufzeigen der pluralen Möglichkeiten einer Diskursanalyse, eigene Wege selbstbewusster zu gehen. Es geht um theoretisch untermauerte Erkenntnis, nicht um blinden Methodenfetischismus. [45]

Empfohlen sei an dieser Stelle auch Band 2, der ergänzend zu den theoretisch-methodischen Reflexionen von Band 1 eine anschauliche Übersicht über die konkrete Anwendung diskursanalytischer Forschungsstrategien vermittelt. Die Bände sind eine hilfreiche und anregende Informationsquelle zur Planung und Durchführung von Forschungsarbeiten. Beide Bände zusammen repräsentieren zudem einen Großteil des aktuellen empirischen Forschungsstandes in Deutschland. [46]

Mit FOUCAULT gesprochen kann das Handbuch als eine hilfreiche "Werkzeugkiste" verstanden werden, um eigene Forschungsprojekte durchzuführen. Wer allerdings nach präzise anwendbaren Forschungstechniken sucht, sollte sich nicht mit der Diskursanalyse befassen. [47]

Literatur

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Bührmann, Andrea D.; Diaz-Bone, Rainer; Gutiérrez Rodriguez, Encarnación; Kendall, Gavin; Schneider, Werner & Tirado, Francisco J. (Hrsg.) (2007). Von Michel Foucaults Diskurstheorie zur empirischen Diskursforschung. Aktuelle methodologische Entwicklungen und methodische Anwendungen in den Sozialwissenschaften. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 8(2), http://www.qualitative-research.net/fqs/fqs-d/inhalt2-07-d.htm [Zugriff: 10.07.2007].

Diaz-Bone, Rainer (2003). Entwicklungen im Feld der foucaultschen Diskursanalyse. Sammelbesprechung zu: Glyn Williams (1999). French discourse analysis. The method of post-structuralism / Johannes Angermüller, Katharina Bunzmann & Martin Nonhoff (Hrsg.) (2001). Diskursanalyse. Theorien, Methoden, Anwendungen / Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider & Willy Viehöfer (Hrsg.) (2001). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden / Patrick Charaudeau & Dominique Maingueneau (Hrsg.) (2002). Dictionaire d'analyse du discours / Reiner Keller (2003). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen [66 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 1, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-03/3-03diazbone-d.htm [Zugriff: 18.01.2007].

Diaz-Bone, Rainer (2005). Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse [48 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(1), Art. 6, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-06/06-1-6-d.htm [Datum des Zugriffs: 18. 01.2007].

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Keller, Rainer (1997). Diskursanalyse. In Ronald Hitzler & Anne Honer (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung (S.309-334). Opladen: Leske+Budrich.

Klemm, Jana & Glasze, Georg (2004). Methodische Probleme Foucault-inspirierter Diskursanalysen in den Sozialwissenschaften. Tagungsbericht: "Praxis-Workshop Diskursanalyse" [64 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 24, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-05/05-2-24-d.htm [Zugriff: 18.01.2007].

Koller, Hans-Christoph (1996). Der pädagogische Diskurs und sein Verhältnis zu anderen Diskursarten. Eine diskurstheoretische Alternative zur systemtheoretischen Betrachtung des Erziehungswesens? In Niklas Luhmann & Karl-Eberhard Schorr (Hrsg.), Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pädagogik (S.110-143) Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Koller, Hans-Christoph & Lüders, Jenny (2004). Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse. In Norbert Ricken & Markus Rieger-Ladich (Hrsg.), Michel Foucault: Pädagogische Lektüren (S.57-76). Wiesbaden: VS.

Pongratz, Ludwig A.; Wimmer, Michael; Nieke, Wolfgang & Masschelein, Jan (Hrsg.) (2004). Nach Foucault. Diskurs- und Machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden: VS.

Ricken, Norbert & Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.) (2004). Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: VS.

Schrage, Dominik (1999). Was ist ein Diskurs? Zu Michel Foucaults Versprechen, "mehr" ans Licht zu bringen. In Hannelore Bublitz, Andrea D. Bührmann Christine Hanke & Andrea Seier (Hrsg.), Das Wuchern der Diskurse. (S.63-74). Frankfurt/M.: Campus.

Weber, Susanne & Maurer, Susanne (Hrsg.) (2006). Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wissen – Macht – Transformation. Wiesbaden: VS.

Zum Autor

Steffen GROßKOPF, MA., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte sind Übergänge an der "ersten Schwelle", Grundlagenprobleme pädagogischer Theoriebildung sowie Bildungsphilosophie.

Kontakt:

Steffen Großkopf

Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik
Institut für Erziehungswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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D-07743 Jena

Tel.: 03641/945317
Fax: 03641/945312

E-Mail: steffen.grosskopf@uni-jena.de
URL: http://www.uni-jena.de/ls_allgpaed_sozpaed.html

Zitation

Großkopf, Steffen (2007). Rezension zu: Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider & Willy Viehöver (Hrsg.) (2006). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden [47 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 14, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801143.

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