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Volume 22, No. 1, Art. 2 – Januar 2021

Reisen während der COVID-19-Pandemie: die Erosion alltäglicher Gewissheiten

Melanie Pierburg

Zusammenfassung: Mit autoethnografischen Texten kann die "gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (BERGER & LUCKMANN 2007 [1969]) anhand biografischer Erfahrungen (ELLIS, ADAMS & BOCHNER 2010) beschrieben werden. Ich nutze diese Art der Reflexion, um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Herstellung alltäglicher Gewissheiten zu untersuchen. Dazu beschäftige ich mich im ersten Teil des Artikels mit einer Urlaubsreise, die ich Mitte März 2020 nach Ägypten unternahm, wobei meine Selbstverständlichkeitsunterstellungen maßgeblich erschüttert wurden. Durch drohende Quarantänemaßnahmen und Grenzschließungen wurde der Urlaub in ein Abenteuer verwandelt. An diese Beschreibungen schließt eine theoretische Einordnung der Erfahrungen in Auseinandersetzung mit SCHÜTZ und LUCKMANN (1979 [1975], 1984) an. Die Erosion alltäglicher Gewissheiten analysiere ich hier sozialphänomenologisch, um das Erleben nicht nur deskriptiv zu ergründen, sondern darüber hinaus theoretisch zu verorten und damit soziologisch zu reformulieren.

Keywords: Autoethnografie; Wissenssoziologie; Corona-Krise; Erosion alltäglicher Gewissheiten; Reisen; soziale Wirklichkeit; Alltagssoziologie

Inhaltsverzeichnis

1. Sich in Sicherheit singen

2. Keine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, aber der Familie

3. Kugel mit Stäbchen: der Pandemiediskurs

4. Angelpunkt einer neuen Wirklichkeit: Temperaturmessen

5. Im Spiegel der Krise

6. Napoleon-Modus und explodierende Handywirklichkeit

7. Methodischer Zugang: Autoethnografie

8. Auslegung und Wirklichkeit

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Sich in Sicherheit singen

"Happy birthday to you. Happy birthday to you. Happy birthday, liebe Melanie, happy birthday to you. Happy birthday to you. Happy birthday to you. Happy birthday, liebe Melanie. Happy birthday to you."

Ich stehe vor einem silbernen Waschbecken in Toilettenräumlichkeiten des Flughafens Hannover und wasche meine Hände. Dazu verschränke ich die Finger ineinander, seife die Daumen gesondert ein und drücke die Fingerspitzen in die Handflächen. Innerlich singe ich dabei das Glückwunschlied – zweimal. Durch eine Dokumentation über Viruserkrankungen hatte ich wenige Wochen zuvor erfahren, dass man sich 30 bis 40 Sekunden lang die Hände waschen soll, um Infektionsrisiken zu verringern. Weiter hieß es, die geforderte Zeitspanne umfasse das zweimalige Singen von "Happy birthday to you", eine eingängige Orientierung, die ich mir ad hoc aneignete. Das extensive Händewaschen mit der spielerischen Kontrolle der einzuhaltenden Dauer ist inzwischen zu einer Alltagspraktik für mich geworden. Allerdings vollziehe ich sie nach wie vor bewusst, da ich sie als iterative Verzögerung meiner üblichen Routinen wahrnehme. Händewaschen ist zu einem Zeitposten geworden, der mich immer wieder daran erinnert, dass die Welt um mich herum potenziell kontaminiert ist. [1]

Mein aktueller Aufenthaltsort, der Flughafen, erscheint mir eine verschärfte Form einer Virenfalle zu sein, deswegen stehe ich schon wieder in Sanitärräumlichkeiten. Und dabei fühle ich mich eigentlich ganz gut. Schließlich befolge ich vorbildlich eine Hygienerichtlinie. Eine Frau tritt an das Waschbecken links neben mir. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel. Auch sie wäscht sich die Hände – nicht so lange wie ich. Sie schaut in den Spiegel. Ich drehe den Kopf weg und suche nach einer Möglichkeit, meine Hände zu trocknen. Ein Spender mit Papierhandtüchern. Hervorragend. Aber es ist schwierig, ein Tuch herauszuziehen. Ich fasse das Gerät dazu an. Soll ich jetzt etwa wieder von vorne anfangen? Ich wasche mir noch einmal kurz die Hände, ziehe dann zwei Papierhandtücher heraus und trockne meine Hände. Und schon stehe ich vor der nächsten Herausforderung: die Tür. Ich darf auf keinen Fall die Tür anfassen, die nach draußen führt. Die Türklinke würde meine Bemühung, Virenfreiheit herzustellen, augenblicklich zerstören. Ich muss leider ziehen, drücken wäre einfacher. Ich nehme mir noch ein Papiertuch und öffne damit schließlich die Tür. [2]

Im Folgenden beschreibe ich eine Urlaubsreise, die ich während der COVID-19-Pandemie im März 2020 unternahm und aufgrund globaler Infektionsschutzmaßnahmen abbrechen musste. Dabei gehe ich auf verschiedene Phasen des Auslandsaufenthaltes ein, in denen meine Normalitätsunterstellungen erschüttert und neue Alltagsbewältigungsstrategien notwendig wurden. Anschließend reformuliere ich die Erlebnisse in Anlehnung an SCHÜTZ und LUCKMANN (1979 [1975], 1984) sozialphänomenologisch, um einzuordnen, auf welchen Erfahrungsebenen ich die sozialen Auswirkungen der Pandemie in meine Lebenswelt integrierte. [3]

2. Keine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, aber der Familie

Ich trete in die Flughafenhalle und werfe das Papierhandtuch in den Mülleimer, der vor der Toilette steht. Christian, mein Freund, wartet auf mich. Das Check-in-Prozedere haben wir bereits hinter uns gebracht, es hat erstaunlich gut geklappt. Zwar hat es lange gedauert, bis die Schalter besetzt waren, weswegen ich immer wieder angespannt zur Anzeigentafel hinter uns geblickt habe, aber der Flug nach Hurghada, einer touristisch geprägten Stadt in Ägypten, wurde durchgehend als pünktlich ausgewiesen. Eine der Verbindungen, die nicht gecancelt wurden. [4]

Jetzt überlegen Christian und ich, wie wir die Zeit bis zum Boarding überbrücken sollen. Wir entscheiden uns für ein zweites Frühstück bei McDonald's. Vor einem Flug in dem Schnellrestaurant zu essen, ist für uns zu einer privaten Urlaubstradition geworden. Christian und mich verbinden u.a. zwei profane Vorlieben: Essen und Urlaubsreisen. McDonald's ist nicht meine erste Wahl, aber es gibt Burger und Cola. Beides mag ich – trotz diverser Bedenken. Genauso wie Cluburlaube, all inclusive. Meine Freund_innen reagieren auf diese Präferenzen teilweise mit subtil geäußerter Verachtung. Die banalen Unterschiede. [5]

McMuffin Bacon & Egg. Wir setzen uns an einen Tisch, an dem wir schon saßen, als wir letztes Jahr nach Lanzarote flogen. Die Filiale ist fast leer. Nach ein paar Minuten spreche ich an, was mir durch den Kopf geht, mich nicht loslässt, nach Relativierung verlangt: die Gespräche mit meiner Schwester, in denen sie versuchte, uns von dieser Reise abzuhalten. Sie macht sich Sorgen um uns. Oder wenigstens um mich. Ich bin schließlich ihre kleine Schwester. [6]

"Ich kette mich an Dir fest. Du darfst nicht nach Ägypten fliegen. Ich komme nach Hildesheim und halte Dich auf." Das erste Gespräch führte sie noch in einem scherzhaften Ton, der die Vehemenz ihrer Worte allerdings wenig abmilderte. Darauf folgte das ernste Telefonat, zusammen mit Christian. Ich zog ihn in die Kommunikation hinein, weil es mir schwerfiel, meine Schwester zu enttäuschen. Und genau das meinte ich zu tun. In diesem Gespräch klang über weite Strecken kein scherzhafter Ton durch. Mein Auftakt war auch keine Einladung zum Scherzen:

"Wir haben uns entschieden zu fliegen. Das Auswärtige Amt warnt nicht. Das Reisebüro sieht keine Probleme. Die Fallzahlen sind geringer als in Deutschland. Es gibt dort Krankenhäuser. Wir haben es uns mit der Entscheidung nicht leichtgemacht, wollen es aber tun." [7]

Ich reihte aneinander, was Christian und ich in unseren Dialogen zuvor als Argumente für das Antreten der Reise immer wieder aufgezählt hatten. Meine Schwester brachte während des Telefonats indessen die besseren Argumente vor. Dennoch war ihrer Stimme anzuhören, dass sie nicht damit rechnete, uns umzustimmen. Schließlich sagte sie, dass sie gar nicht so sehr Angst habe, dass wir uns infizierten, sondern dass wir nicht mehr zurück nach Deutschland kämen. Außerdem finde sie es unsozial, dass wir uns trotz der schwierigen Situation nicht an die Empfehlung hielten, Sozialkontakte zu reduzieren. Wenn es dazu käme, dass Beatmungsmaschinen knapp würden und entschieden werden müsste, wer beatmet würde, sollten diejenigen versorgt werden, die versucht hätten, gesund zu bleiben. [8]

3. Kugel mit Stäbchen: der Pandemiediskurs

Ein Gespräch, das wenige Wochen zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre. Aber zu der Zeit waren wir schon mitten in dem Prozess, der in den Medien inzwischen Corona-Krise genannt und gerne mit einer Kugel, von der rote Stäbchen abstehen, symbolisiert wird.1) Am letzten Tag des letzten Jahres hatte die Berichterstattung über die Erkrankung begonnen, die sich zu einer Pandemie entwickelte. Laut einem Artikel des SPIEGEL war in China am 31. Dezember 2019 "eine mysteriöse Häufung von Lungenentzündungen in Wuhan" (BERRES 2020, o.S.) gemeldet worden, die auf ein neuartiges Coronavirus zurückgeführt wurde. Schon zu Beginn der Berichterstattung über das Leiden, seine Herkunft und seine Folgen schwang eine Ausrichtung auf die Zukunft mit: In dem ersten online abrufbaren SPIEGEL-Artikel zu diesem Thema wurden Vorsichtsmaßnahmen asiatischer Länder bei der Einreise aus Wuhan thematisiert, die eine befürchtete Ausbreitung verhindern sollten (LE KER 2020). Die Infektionserkrankung, die inzwischen die gesamte Welt in Atem hält, wurde von Beginn an mit Neuartigkeit und einem Ausbreitungspotenzial assoziiert und erscheint so vor allem als prospektives Wissensereignis: Es zählt nicht nur das, was ist, sondern auch und vor allem das, was sein wird bzw. sein könnte. [9]

Als das Gespräch mit meiner Schwester stattfand, hatte COVID-19, die vom "neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelöste Atemwegserkrankung"2) bereits Europa und Deutschland erreicht und wurde am 11. März 2020 von der Weltgesundheitsorganisation als Pandemie deklariert (WHO-REGIONALBÜRO FÜR EUROPA 2020). Am 15. März 2020, dem Tag unseres Abflugs, existierten laut dem täglichen Lagebericht des Robert Koch-Instituts (RKI) 4.838 bestätigte infizierte Fälle in Deutschland.3) Die Bundeskanzlerin hatte bereits am 12. März 2020 gemahnt, "wo immer es möglich ist, auf Sozialkontakte zu verzichten" (PRESSE- UND INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG 2020), um die Ausbreitung zu verlangsamen. [10]

In welchen Fällen ist es möglich, auf Sozialkontakte zu verzichten? Wie zieht man die Grenze zwischen Durchführbarkeit und Unzumutbarkeit – solange man noch selbst darüber entscheiden darf? Stehen hier die selbstbestimmten Handlungsräume zur Disposition, da durch Arbeitgeber_innen oder Betreuungsaufgaben unhintergehbar Notwendigkeiten erzeugen werden? Sollte also jeder Sozialkontakt, der allein dem Wunsch nach Nähe, die mit einer körperlichen Distanzverringerung einhergeht, vermieden werden? Zu jener Zeit beschränkte sich mein Social Distancing – ein Begriff, der in den Medien inzwischen gerne genutzt wird4) – auf das Einhalten einer physischen Distanz zu meinen Eltern. Als Angehörige einer Risikogruppe5) aufgrund ihres Alters erschienen sie mir vulnerabel und von meiner zumutbar vermeidbaren physischen Ko-Präsenz gefährdet. [11]

Eine weitreichende politische Maßnahme gegen die Ausbreitung der Infektionserkrankung, die eine Empfehlung überstieg, wurde am 13. März 2020 bekanntgegeben: die bundesweite Schließung von Schulen und Kitas.6) Am selben Tag erreichte mich eine E-Mail von der Hochschulleitung der Universität Hildesheim, die an alle Lehrenden versandt und in der darüber informiert wurde, dass der Start der Vorlesungszeit im Sommersemester auf den 20. April verlegt worden sei; alle bis dahin geplanten Lehrveranstaltungen seien abzusagen. [12]

Wenn ich heute über diese Kette von medial kommunizierten Ereignissen nachdenke, erscheinen sie mir außerordentlich, aber wirklich. Damals kamen sie mir unwirklich vor. Ich hatte bis dahin niemals die politisch verfügte, flächendeckende Schließung von Bildungseinrichtungen erlebt. Das wäre mir, bevor es passierte, schlicht unmöglich erschienen. Schließlich wird diesen Organisationen eine dermaßen hohe Relevanz zugesprochen, dass ihr Besuch teilweise eine Pflicht ist. Für mich waren Schulen und Universitäten nicht nur institutionelle Grundlagen von teilweise lästigen, teilweise erfüllenden Pflichtprogrammen, sie gehörten darüber hinaus zum Takt meines Lebens. Entweder es gab Unterricht bzw. später Vorlesungszeit oder Ferien bzw. vorlesungsfreie Zeit. Diese Zeitabschnitte waren vorgängig geregelt und standen nicht infrage. Entsprechend irritierten mich die Schließungen, mehr als das, sie machten mir Angst. Ein Fundament der Selbstverständlichkeiten meiner Wirklichkeit geriet ins Wanken. Und das, nachdem mir bereits mein bis dahin größtes akademisches Projekt abhandengekommen war, weil die Arbeit daran vorläufig getan war: die Dissertation, abgegeben Ende Januar, als das neuartige Coronavirus endgültig auf den Weg in unserer aller Leben war. [13]

Die Reise nach Ägypten, die wir Mitte März antraten, war eine Belohnung. Christian und ich hatten beide unsere Dissertationsschriften eingereicht. Und damit waren zumindest vorerst die Projekte beendet, die unsere jeweiligen individuellen und unser gemeinsames Leben weitgehend strukturiert hatten. Ich hatte angefangen, am Wochenende zu arbeiten − wegen der Dissertation. Ich hatte Freund_innen, Familie und Hobbys vernachlässigt − wegen der Dissertation. Christian und ich waren nicht zusammengezogen − wegen der Dissertation. Jede Form von Freizeit- oder Zukunftsplanung hatte tendenziell zurückstehen müssen – wegen der Dissertation. Die Arbeit an dem zeitaufwendigen Projekt hatte Jahre meines Lebens beherrscht. Manchmal war die Dissertation auch so etwas wie eine Legitimierung, ein Leben aufrechtzuerhalten, welches die meisten meiner Freund_innen bereits hinter sich gelassen hatten: keine in Stein gemeißelten Arbeitszeiten, keine ausufernden Präsenzzeiten an der Arbeitsstelle, keine Familie, keine Kinderbetreuung, nicht einmal eine Partnerschaft mit Anwesenheitspflicht. Und plötzlich: Dissertation weg, Corona da. Was erschien mir absurder? Zunächst war es die Absenz des Projekts, dann übernahm die zugleich sichtbare und unsichtbare Präsenz von Corona – das Virus selbst ist nicht zu sehen, aber seine Auswirkungen sind es – langsam die Strukturierung meiner Beziehung zur Welt. [14]

4. Angelpunkt einer neuen Wirklichkeit: Temperaturmessen

Entsprechend dreht sich bei unserem Reiseauftakt bei McDonald's das Gespräch weniger um den Belohnungsaspekt des Urlaubs als um eine Bestätigung, trotz der jüngsten Erschütterungen die Ordnung unseres Lebens nach eigenen Maßstäben aufrechtzuerhalten. Nachdem wir gegessen haben, machen wir uns auf den Weg zu diversen Kontrollen und stehen dann in Warteschlangen, in denen ein infektionsbewusster Sicherheitsabstand noch keine Rolle spielt. Wir genießen ein Stück Normalität, wobei der Flughafen schon leerer wirkt als gewohnt und das Husten meines Hintermannes bereits mein Misstrauen weckt, das ich mit einem geflüsterten Scherz und Lachen mit Christian überdecke. Als wir in der Abflughalle sind, beschließen wir, uns mit Sandwiches und Wasser einzudecken. Christian kauft eine Ausgabe des SPIEGEL, in der fast ausschließlich das Coronavirus und seine Folgen thematisiert werden. Auf dem Titelblatt sieht man einen Mann in Schutzkleidung mit Atemmaske, Augenschutz und Haube, der aus einer Art Zelt kommt. Der Titel: "Sind wir bereit?"7) Ich kaufe eine Ausgabe von Psychologie Heute – weil in dem Heft Corona nicht thematisiert wird. Christian sagt kopfschüttelnd, dass er nicht gesehen habe, dass sich im SPIEGEL alle Artikel um Corona drehten. [15]

***

Wenn ich diese Stunden am Flughafen memoriere, jetzt, Monaten später, während ich an meinem Schreibtische sitze und diesen Text schreibe, wundere ich mich über die omnipräsente physische Nähe zu anderen Menschen, die ich zu jener Zeit noch kaum wahrnahm und implizit als relativ unproblematisch einstufte. Inzwischen kann ich mir nicht mehr vorstellen, in einer Schlange zu stehen, ohne die Distanz zu meinen anwesenden Mitmenschen einzuschätzen. Jeder Besuch im Supermarkt ist ein nervenaufreibender Spießrutenlauf, jeder enge Bürgersteig ein potenzielles Problem, jeder Mensch eine mögliche Gefahr. Das Infektionsrisiko erscheint ubiquitär, weil es sich nicht (visuell) kontrollieren lässt. Das Virus ist zu klein, um es wahrzunehmen, zumindest fehlen mir die technischen Mittel dazu. Das führt zu vielen meiner aktuellen Alltagsherausforderungen. Vor ein paar Wochen konnte ich die Reaktionen gesellschaftlicher Systeme, z. B. der Politik, durch die weitreichende Infektionsschutzmaßnahmen erlassen werden können, auf die Pandemie nicht antizipieren, es fehlte mir zumindest die Erfahrung dafür. Das war zu jener Zeit mein Problem. Der Modus der Unbestimmtheit hat sich verändert, aber nicht die Ungewissheit selbst. [16]

***

Unser Flug ist pünktlich. Wir sitzen am Notausgang. Die Reihe vor uns ist leer. In der Reihe rechts neben uns sitzen drei gut gelaunte junge Männer, die sich unterhalten und lachen. Wir starten, fliegen, füllen ein Formular für die Einreise aus, machen Scherze darüber, was passieren würde, wenn wir Fieber bekämen. Wir hatten im Vorfeld von Fieberkontrollen an Flughäfen gehört. Das weicht von meinen bisherigen Reiseerfahrungen ab. Aber ich sage mir, dass wir bald in der Sonne liegen werden, weit weg von den Sorgen in Deutschland. Mir ist natürlich bewusst, dass die Pandemie ein globales Phänomen ist, aber ich hoffe auf eine Auszeit von der dystopischen Alltagswirklichkeit in einer utopischen Urlaubswirklichkeit. Ich möchte in eine Heterotopie (FOUCAULT 1993 [1967]) fliehen. Alle Gedanken an Krankheitsverläufe, Quarantänemaßnahmen, Risikogruppen und politisch verfügte Beschränkungen sollen in die Ferne rückten. Erlaubt mir eine Pause von all dem Wahnsinn, der sich in meinem Fernseher, Laptop, Smartphone, Kopf und Alltag auszudehnen begonnen hat und mein Leben zu übernehmen droht. [17]

Allerdings ist diese Sehnsucht durchsetzt mit Ängsten: Könnte ich an der Einreise gehindert werden, z.B. aufgrund einer erhöhten Temperatur? Ich habe keine vollständige Kontrolle über meinen Körper – plötzliches Erkranken mit Temperaturanstieg nicht ausgeschlossen. Wird unser Hotel unter Quarantäne gestellt und zu einem Gefängnis werden? Wird es Probleme mit der Rückreise geben, weil Grenzen geschlossen sein werden? Wie viele Cocktails muss ich trinken, um im Hier und Jetzt zu leben und nicht in die parallel zur Pandemie ausgebrochenen Zukunftsängste zu verfallen? Aber eigentlich ist doch alles normal. Scherzende Reisende in der Reihe neben mir, freundliche Flugbegleiterinnen, Christian, der sein Sandwich schon kurz nach dem Start verspeist, die Enge in dem Ferienflieger, die Notwendigkeit, den Gurt anzufassen, um ihn zu schließen und zu öffnen. Ich gehe zu den Toiletten. "Happy birthday ... ." [18]

Eine Stunde vor der Landung verkündet eine Flugbegleiterin Sitzreihenabschnitt für Sitzreihenabschnitt, dass wir ein weiteres Formular für die Behörden in Ägypten ausfüllen müssten. Dabei verteilt sie die Dokumente. Wir müssten die Angaben machen, damit man bei Erkrankungen nachvollziehen könne, wer wo sei. Außerdem würde beim Verlassen des Flugzeugs Fieber gemessen. Sie wisse nicht, wie das genau ablaufen werde. Für sie sei das auch neu. Bevor sie zu unserem Sitzreihenabschnitt kommt, gehen ihr die Formulare aus. Sie geht die hinteren Reihen ab und sagt, dass wir die Zettel vor dem Aussteigen bekämen. Es dauere eh alles länger, weil wir auf die Beamten8) warten müssten, die unsere Temperatur mäßen. Sie bekäme nach dem Landen weitere Zettel, die wir dann in Ruhe ausfüllen könnten. Christian und ich nehmen das hin. Ich denke, wenn wir erst in unserem Hotel sind, gehören diese Komplikationen der Vergangenheit an. Außerdem beruhigt es doch, dass diese Kontrollen verhindern, dass Erkrankte in das Land einreisen – wobei die lange Inkubationszeit natürlich ein Problem darstellt. Und dass die Krankheit bei manchen symptomfrei verlaufen soll, was an der Infektiosität nichts ändere. Die Anschnallzeichen leuchten bereits wegen der bevorstehenden Landung, zu spät zum Händewaschen. Aber ich habe noch Desinfektionsgel für mich und Christian. Meine immer schon empfindlichen Hände sind rau, die Haut ist rissig und teilweise aufgeplatzt vom ständigen Waschen und Desinfizieren. [19]

Wir landen und warten. Christian und ich bekommen die Dokumente, die wir noch ausfüllen müssen, und tragen unsere Daten ein. Nach ungefähr 20 Minuten wird die Tür des Flugzeugs für die Passagier_innen geöffnet. Während ich noch darauf warte, meinen Sitzplatz verlassen zu können, höre ich, wie eine Flugbegleiterin einem Passagier hinter mir erzählt, dass ein Flugzeug nach Mallorca habe umdrehen müssen. Wir hätten Glück, dass wir in unser Urlaubsland noch einreisen dürften. An meine Schwester denkend frage ich mich, ob das tatsächlich Glück ist. Ich verlasse vor Christian das Flugzeug. Direkt hinter der Tür, in der Übergangsschneise, warten zwei Männer in Uniformen und mit Atemschutzmasken. Einer von ihnen richtet ein Infrarot-Fieberthermometer auf meine Stirn. Als er nickt, gehe ich ein paar Schritte weiter und warte, bis Christian das Prozedere hinter sich hat. Wir gehen weiter und bringen die nächste Hürde hinter uns: die Grenzkontrolle. Dort werden wir nicht aufgehalten. Durch die bekannten Einreisepraktiken entsteht bei mit der Eindruck von Normalität. Das Leben dreht sich nicht nur um Corona. [20]

Wir gehen jeweils in eine Flughafentoilette, um unsere Hände zu waschen. Danach stellen wir uns an das Gepäckausgabeband, über das unsere Koffer verteilt werden sollen. Wir warten. Die Halle ist bis auf die Reisenden aus unserem Flugzeug und ein paar ägyptische Beamte, es handelt sich ausschließlich um Männer, leer. Wir warten. Ein junger Vater, der ein Baby in einem Tragegurt vor den Bauch geschnallt hat, geht vor uns auf und ab. Wir warten. Schließlich setzen Christian und ich uns auf eine Stange vor einem parallel gelegenen leeren Kofferband. Wir warten. Zwei kleine Kinder laufen lachend vor uns hin und her. Wir warten. Ich frage Christian, ob er in der Situation mit Kindern in den Urlaub geflogen wäre. Er hätte da keine größeren Probleme gesehen, sagt er. Ich hätte die Reise mit Kindern nicht angetreten, erwidere ich darauf. Wir warten. Ich werde nervös. Warum kommen die Koffer nicht? Ich denke an Zwangsquarantänemaßnahmen. Schließlich setzt sich das Band in Bewegung. Christian und ich stellen uns wieder daneben. Der erste Koffer, der auf das Band rutscht, ist der von Christian. Nachdem auch ich meinen Koffer vom Band ziehen konnte, gehen wir durch die Zollkontrolle Richtung Ausgang. [21]

Wir treten aus dem Flughafengebäude. Es ist bereits dunkel, die Luft ist warm. Urlaub, denke ich. Wir gehen in einem Pulk von Reisenden zu einer TUI-Auskunft, die sich direkt vor dem Flughafengebäude befindet. Zwei TUI-Mitarbeitende in hellblauen Sweatshirts verteilen die Urlaubenden auf Busse, die sie in ihre jeweiligen Hotels bringen sollen. Ich stelle mich an einer Schlange an. Als ich an die Reihe komme, sage ich meinen Namen und nenne das Hotel, das wir gebucht haben. Die Frau zögert kurz und bespricht sich leise mit ihrem Kollegen. Dann sieht sie mich an und sagt, ich solle kurz warten, ihr Kollege gebe uns weitere Informationen. Ich wuchte meinen Koffer nach rechts. Christian stellt sich neben mich. Der TUI-Mitarbeiter schickt ein Paar zu einem Bus und schaut uns dann an. Er sagt, unser Hotel sei geschlossen worden, es stünde unter Quarantäne. Dabei macht er eine ruckartige Geste mit beiden Armen. Ich bin überrascht, schockiert. "Oh nein, das ist nicht Ihr Ernst." Er kramt einen Umschlag hervor. "Doch, Corona ist auch in Ägypten angekommen." Man habe uns in ein anderes Hotel umgebucht, das sei sehr gut. Er schreibt den Namen unseres neuen Hotels auf den Umschlag und nennt uns unsere Busnummer. Konsterniert nehme ich den Umschlag aus seiner Hand. [22]

Wir sitzen im Bus. Ich bin wütend. Nicht, weil wir nicht in unser Hotel können, sondern weil eine meiner Befürchtungen, die ich im Vorfeld hatte, bereits kurz nach dem Verlassen des Flughafens wahr geworden ist. Unser Hotel steht unter Quarantäne, und wir können froh sein, nicht darin zu sein. Manchmal blitzt noch so etwas wie Hoffnung auf. Vielleicht ist das neue Hotel ja ausgesprochen schön. Vielleicht gibt es doch noch so etwas wie Urlaub. Aber ich weiß, dass meine Ängste und Befürchtungen durch den Besuch einer Cocktail-Bar jetzt nicht mehr zerstreut werden können. [23]

Christian und ich fangen an zu diskutieren, was wir jetzt tun sollen. Er wirkt traurig, ich bin aufgebracht. Ich sage, es könne jetzt eine Frage der Zeit sein, bis auch unser Ersatzhotel unter Quarantäne gestellt wird. Es könne sich als unfassbar dumme Idee erweisen, trotz allem geflogen zu sein. Meine Schwester habe womöglich recht gehabt. Christian sagt, wir hätten das nicht voraussehen können. Ich kontere. Wir diskutieren, kippen ins Streiten. Ich mache uns Vorwürfe. Christian verteidigt unsere Entscheidungen. Irgendwann sagt er, dass es für ihn jetzt erst real geworden sei. Davor seien Quarantäne, Ansteckungsgefahren, Grenzschließungen nur theoretische, unwahrscheinliche Möglichkeiten gewesen. Jetzt nicht mehr. Ich merke, dass er erschüttert ist und rufe mich zur Ordnung. Nicht mehr streiten, keine Vorwürfe mehr, die Lage einschätzen und entsprechend handeln. Schließlich sage ich, dass wir uns überlegen sollten, so schnell wie möglich das Land zu verlassen, da ich befürchte, dass nun alle unsere Ängste real werden könnten. Von der Infektionsgefahr abgesehen könnte unser Hotel unter Quarantäne gestellt, dann könnten Grenzen dicht gemacht werden, und schließlich säßen wir in einem Land fest, dessen Sprache und Regeln wir nicht verstünden. [24]

Nach einigen Problemen mit unserem Busfahrer, der uns zunächst zu einem falschen Hotel bringt, kommen wir schließlich an. Wir stehen vor einem imposanten Hotelgebäude, das halbkreisförmig angelegt ist. Unsere Koffer werden uns sofort von einem Mitarbeiter des Hotels abgenommen, der uns freundlich begrüßt. Wir gehen durch eine Tür in einen Vorraum, in dem sich ein Durchgangsdetektor befindet. Neben dem Detektor steht ein Tisch, hinter dem ein Mann in einer Uniform sitzt. Er winkt uns zu sich und deutet auf eine Flasche mit einer Dosierpumpe, die eine bläuliche Flüssigkeit enthält. Ich drücke zweimal. Der Geruch von Sterilium steigt mir in die Nase. Ich mag den beißenden Geruch, der mich an große, saubere Krankenhäuser erinnert. Hier gibt es wohl genug davon, denke ich. In Deutschland soll neben dem Toilettenpapier auch das Desinfektionsmittel knapp geworden sein. Das Wort Hamsterkäufe fing vor ein paar Tage an, durch die Medien zu gehen9). [25]

Ich gehe durch den Durchgangsdetektor. Er piepst, was den Mann in der Uniform nicht zu einer Reaktion veranlasst. Christian geht nach mir hindurch. Er piepst erneut. Wieder keine Reaktion, also gehen wir durch eine weitere Tür und stehen in einer riesigen, blau illuminierten Eingangshalle mit Marmorboden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals spielt eine Frau in einem Abendkleid Geige. Die Musik erfüllt den Raum. Auf der rechten Seite stehen zwei Empfangstresen. Wir gehen durch die Halle zur Rezeption. Ein Mann steht hinter einem der Tresen. Bevor ich ein Wort sagen kann, deutet er auf eine weitere Flasche Sterilium. Wir desinfizieren uns noch einmal die Hände. Nach dem Check-in überprüft auch der Rezeptionist unsere Körpertemperatur mit einem Infrarot-Fieberthermometer und trägt die Zahlen in eine Tabelle ein, in die wir vorher unsere Vornamen geschrieben haben. Ich sehe, dass meine Temperatur 35,9 beträgt und frage mich, was passieren würde, wenn die Zahl nicht so niedrig wäre. Der Mann desinfiziert sich die Hände und gibt uns danach unsere Zimmerkarten. [26]

5. Im Spiegel der Krise

Ein Hotelangestellter bringt uns zu unserem Zimmer. Es ist groß und schön. Ich setze mich auf das Bett. Christian steht davor. Wir diskutieren, wie es weitergehen soll. Durch die Quarantäne-Nachricht wurde unsere Hoffnung auf einen angstfreien Urlaub erschüttert. Ich sehe mich in dem Hotelzimmer um und denke, dass es mehr als genug Platz für zwei Personen bietet. Trotzdem will ich vermeiden, hier unter Quarantäne gestellt zu werden. Ich verbinde mein Handy mit dem W-LAN und öffne die App des SPIEGEL. Während ich herunterscrolle überfliege ich die Schlagzeilen. Laut lese ich vor: "Coronakrise: Deutschland schließt Grenzen zu Frankreich, Österreich und der Schweiz"10). "Krass", sagt Christian. Ich spüre Angst – mir wird warm und schwindelig. Grenzschließungen, da sind sie also. Quarantäne und Grenzschließungen. Befürchtungen, die nach und nach wahr werden. Christian und ich diskutieren wieder. Schließlich entscheiden wir, uns um einen schnellstmöglichen Rückflug zu kümmern. [27]

***

Während ich das schreibe, frage ich mich, ob der letzte Satz wahr ist. Haben wir tatsächlich gemeinsam entschieden, früher zurückzufliegen? Oder habe ich diesen Beschluss mehr oder minder dominant herbeigeführt und kommunikativ als gemeinsamen getarnt? Ich erinnere mich an das Bedürfnis nach einer Entscheidung, die meiner fundamentalen Verunsicherung etwas entgegensetzt. Zu jener Zeit, in dem Hotelzimmer konnte ich nicht mehr einordnen, was ich über die Welt erfuhr, die mich konkret betraf. Ich brauchte eine Einigung auf eine Weltdeutung und eine Handlungsorientierung. Die Reise abzubrechen und nicht mehr so zu tun, als könne man die Situation tatsächlich als Urlaub verstehen, half mir, ein neues Handlungsregister aufzurufen und damit überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Die Entscheidung war eine Sinnstiftung, die der Welt eine Kontur zurückgeben sollte, mit der ich umgehen konnte. [28]

***

Ich sage, dass wir heute Abend noch versuchen sollten, mit TUI in Kontakt zu treten, um alles in die Wege zu leiten. Wir wären jetzt wohl nicht die einzigen, die auf die Idee kämen, den Urlaub abzubrechen. Ich höre mir selbst zu und klinge wie mein großer Bruder. Etwas aggressiv, aber Herr der Lage. Ich sehe seine zusammengezogenen Augenbrauen vor mir. Das beste Vorbild für Krisenmanagement, das ich kenne. Als ich ein Kind war, sind wir einmal zusammen in einen Schneesturm geraten. Er hat mich mit auf einem Schlitten nach Hause gezogen. [29]

Christian ist ungewohnt schweigsam. Ich frage ihn, ob er doch bleiben wolle. Ich mache mich auf eine Relativierung der Situation gefasst, auf ein Stagnieren in Ambivalenz. Aber er sagt, dass er auch zurück wolle. Hier könne uns eine Quarantäne treffen. Und in Deutschland werde alles immer verrückter. Wir beschließen, uns umzuziehen, essen zu gehen und danach in Erfahrung zu bringen, wie wir mit TUI Kontakt aufnehmen können. Auf dem Weg zum Restaurant gehen wir einen langen schmalen Flur entlang und müssen in dessen Mitte eine Tür öffnen. Ich habe inzwischen ein T-Shirt an und kann die Türklinke nicht mit einem Ärmel anfassen. Hilflos bleibe ich vor der Tür stehen. Christian greift an mir vorbei und öffnet sie. "Keine Chance", sagt er. "Ja", sage ich, "keine Chance." Wir gehen den Flur weiter entlang, eine Treppe herunter und gelangen in einen Vorraum mit großen Flügeltüren, die Einlass in das Restaurant gewähren. Vor den Türen sind Spender mit Desinfektionsmittel angebracht. Wir desinfizieren unsere Hände und betreten den großen Saal. Rechts stehen Bistrotische mit Cocktails. Eine Frau bietet uns die Getränke lächelnd an. Ich nehme mir ein Glas. "Keine Chance", denke ich, als ich das Gefäß berühre. Das Restaurant ist relativ leer. Wir suchen uns einen Tisch und erkunden das Buffet. Mehrere Warmhaltebehälter aus Edelstahl sind nebeneinander aufgereiht. Man muss die Deckel hochschieben, um Speisen herausnehmen zu können. Ich fasse einen Deckel an und denke: "Keine Chance." [30]

6. Napoleon-Modus und explodierende Handywirklichkeit

Ich kann das Essen nicht genießen. Die Nachricht von den Grenzschließungen geht mir immer wieder durch den Kopf, weil es mir trotz der bisherigen Eskalation staatlicher Einschränkungsmaßnahmen ausgeschlossen erscheint, dass Grenzen geschlossen werden. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass Dinge, die mir unmöglich scheinen, sukzessive wirklich werden. Während ich in diesem Restaurant sitze, das eine etwas unterkühlte Urlaubsatmosphäre ausstrahlt, kommt mir die damit assoziierte Normalität trügerisch vor. Neben das Buffet, die Gratiscocktails und die Urlaubenden in bunter Freizeitkleidung gesellt sich eine Gegenwirklichkeit, die meine (scheinbare) Kontrolle über mein Leben bedroht. Zuvor bestehende Zuschreibungen über den Zustand und die Regeln meiner alltäglichen Lebenswelt werden von neuen Informationen und Annahmen erschüttert und abgelöst. Damit geht eine subtile Angst einher, das Gefühl, die Welt buchstäblich nicht mehr zu verstehen und damit nicht mehr souverän in ihr handeln zu können. Ich möchte nach Hause. Wenn die Welt aus den Angeln gehoben wird, möchte ich in Deutschland sein. Denn zu Hause muss ein Stück Normalität möglich sein. Dort sind meine Wohnung, meine Kaninchen und mein Fernseher. Deutschland wird so zu meiner neuen Utopie. [31]

Nach dem Essen versuchen wir, unseren TUI-Reiseleiter ausfindig zu machen. Auf den Tafeln neben dem Restaurant finden wir nicht die entsprechenden Informationen, also gehen wir zur Rezeption. Ich frage den Mann dort, wann der deutsche TUI-Reiseleiter ins Hotel käme. Er antwortet, dass er das nicht wisse. Ich frage, wie wir ihn erreichen können. Er habe eine Handynummer, es sei aber halb zehn, zu spät zum Anrufen, sagt er daraufhin. Ich bräuchte dringend Informationen, entgegne ich. Er möge bitte anrufen. Der etwas überfahren wirkende Rezeptionist tippt auf einem Mobiltelefon und beginnt dann ein Gespräch auf Arabisch. Schließlich schaut er mich an und sagt, dass unser Reiseleiter am nächsten Tag um halb sechs kommen könne. Ich frage ihn, ob er halb sechs morgens meine. Nach einem Augenblick der Fassungslosigkeit reicht er mir das Handy. Und da spreche ich zum ersten Mal mit unserem Reiseleiter. Ich stelle mich vor, sage dass wir TUI-Gäste seien, dass das Hotel, das wir gebucht hätten, unter Quarantäne stehe und wir unsere Reise abbrechen wollten. Der Mann antwortet, dass er uns jetzt nicht helfen könne, weil er nicht mehr arbeite. Aber wir könnten morgen in das Nachbarhotel kommen und alles mit ihm besprechen. Er sei ab neun Uhr morgens da. Ich nehme das Angebot an und bedanke mich bei ihm, dass er sich trotz des Feierabends Zeit für mich genommen hat. [32]

Christian und ich gehen zurück zu unserem Zimmer. Er hätte nicht darauf bestanden, mit dem Reiseleiter zu sprechen, sagt er. Ich frage mich, ob er mich kritisiert und sage, dass wir nicht bis morgen Abend hätten warten können. Er stimmt zu und fährt fort, dass er im Urlaubsmodus sei. Da falle es ihm schwer, sich so durchzusetzen. Ich biete an, das Krisenmanagement zu übernehmen, denn ich bin im Napoleon-Modus. [33]

Am nächsten Morgen gehen wir zum Nachbarhotel. Der Mann neben dem obligatorischen Durchgangsdetektor hält uns dazu an, uns die Hände zu desinfizieren. Nach der Kontrolle folgen wir Schildern durch einen riesigen Hotelkomplex, bis wir die Rezeption erreichen. Schon von weitem sehe ich einen jungen Mann in einem hellblauen T-Shirt, der alleine an einem Couchtisch sitzt. Ich gehe auf ihn zu und sage, dass wir gestern wohl telefoniert hätten. "Ah, Melanie. Ja, wir haben telefoniert." Er deutet auf eine Couch neben seinem Sessel und sagt, wir sollten uns setzen. Dann stellt er sich als Mannheim11) vor, wie die Stadt in Süddeutschland. Er ist Ägypter, Anfang dreißig und wirkt gleichzeitig zurückhaltend und freundlich. Ich erkläre noch einmal unser Anliegen. Darauf sagt Mannheim, er könne unseren Wunsch nach einer früheren Rückreise nur an die Flugabteilung der TUI weitergeben. Da jetzt viele zurück nach Hause wollten, sei die Abteilung überlastet. Deswegen könne er uns nicht sagen, wann wir einen Rückflug bekämen, das könne erst morgen oder übermorgen sein. Das sei kein Problem, entgegne ich. Hauptsache, wir bekämen in den nächsten Tagen die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzufliegen. Auf seinem Tablet beginnt er, eine E-Mail an die Reiseabteilung der TUI zu schreiben. Er fragt, an welchem Flughafen wir landen wollten. Ich antworte, dass uns prinzipiell jeder Flughafen recht sei, solange wir so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkämen. Nachdem er die Mail geschrieben hat, bitte ich ihn, mit uns in Kontakt zu bleiben, unabhängig davon, ob er schnell eine Antwort von der Reiseabteilung bekomme. Daraufhin tauschen wir unsere Handynummern aus. Wir könnten über WhatsApp in Verbindung bleiben, sagt er. Da Telefonieren teuer sei, halte er uns per Mail auf dem Laufenden, rufe aber auf meiner Nummer an, damit wir wüssten, dass es Neuigkeiten gebe. Ich solle dann aber bitte nicht abnehmen. Da mein privater E-Mail-Account nicht gut abrufbar ist, gibt Christian ihm seine Mail-Adresse. [34]

Am Ende des Gesprächs fragt uns Mannheim, ob wir wegen Corona zurück wollten. Ich sage, dass es uns verunsichert habe, dass unser erstes Hotel unter Quarantäne gestellt worden sei. Wir hätten Angst, dass das auch unser aktuelles Hotel treffen könne und dass es Probleme mit der Rückreise geben könnte. Er verstehe das, entgegnet Mannheim. Aber unser Hotel sei wirklich gut. Dort würden alle Tische und Ablagen mehrfach am Tag desinfiziert. Dabei berührt er den Couchtisch vor sich. Er kenne andere Hotels, da würde auch er sich unwohl fühlen. Nach einer kurzen Pause sagt er, wir sollten trotzdem die restliche Zeit in Ägypten genießen. Dabei sieht er erst Christian und dann mich an und lächelt. Wir lächeln zurück. [35]

Zurück im Hotelzimmer öffne ich die SPIEGEL-App und lese die Schlagzeile: "TUI stellt den Geschäftsbetrieb ein"12). Ich lese, dass sich das Aussetzen der Reiseaktivitäten auf Pauschalreisen, Kreuzfahrten und Hotelbetriebe beziehe. Dabei frage ich mich, was das für Christian und mich sowie unsere Rückreise bedeutet. Ist TUI jetzt noch das Sicherheitsnetz, auf das ich mich zu verlassen begann, als Mannheim die Mail an die Flugabteilung in sein Tablet eingab? Christian und ich diskutieren wieder. Eine Nachricht von meiner Schwester erscheint auf meinem Handy. Sie schreibt, TUI habe den Geschäftsbetrieb eingestellt. Die Lufthansa fliege noch. Wir sollten versuchen, einen Lufthansa-Flug zu bekommen, egal, wie viel das koste. Hauptsache wir kämen zurück. Christian und ich recherchieren parallel auf unseren Handys. Wir finden keine Lufthansa-Flüge von Hurghada nach Deutschland. Aber Christian stößt auf einen Artikel, in dem behauptet wird, es könne Probleme an der Passkontrolle geben, wenn wir mit einem Charterflug nach Ägypten eingereist wären, aber mit einem Linienflug ausreisen wollten. Also versichern wir uns gegenseitig, den Rückweg bereits hinreichend in die Wege geleitet zu haben. [36]

Wir können nur warten. Aber nicht in diesem Zimmer, das immer kleiner zu werden scheint. Das Lesen der SPIEGEL-App macht mich wahnsinnig. Ich sehe nur noch Überschriften: "Schulschließungen, Grenzkontrollen, gesperrte Inseln: Deutschland macht dicht"13), "Corona-Krise: Hypovereinsbank schließt fast ein Drittel ihrer Filialen"14), "Katastrophenfall: Bayern will zehn Milliarden Euro zur Verfügung stellen"15). [37]

Wir verlassen das Hotelzimmer und suchen uns eine Liege im weitläufigen Poolbereich. Die Anlage ist riesig: Kleine Brücken führen über Poolabschnitte, Rasenflächen wechseln sich mit gefliesten Liegebereichen ab. Wenige Menschen in bunter Badekleidung verteilen sich über diese Hotellandschaft. Mitten in der Saison wirkt es so, als seien wir in der unbeliebtesten Reisezeit. Es ist warm, sonnig und wunderschön. Das ist die angenehmste Form des Pauschaltourismus – fast ohne Pauschaltourist_innen. Natürlich haben wir unsere Smartphones bei uns, falls sich Mannheim meldet. [38]

Wir suchen uns zwei Liegen im Schatten. Ich würde mich gerne wohlfühlen, aber ein subtiles Angstgefühl macht die aufkommende Behaglichkeit zunichte. Ich lege mich auf die Liege und schließe die Augen. Die Nachricht meiner Schwester taucht wieder in meinen Gedanken auf: "Hauptsache zurück". Habe ich die Lage immer noch nicht verstanden, oder warum liege ich hier, als hätte endlich der langersehnte Urlaub begonnen? Schließlich halte ich es nicht mehr aus und sage zu Christian, dass ich versuchen wolle, unser Reisebüro anzurufen. Vielleicht könnten die uns sagen, ob TUI überhaupt noch Rückreisen organisiere. Außerdem könnten wir über die TUI-Hotline versuchen, jemanden zu erreichen. Die Nummer hatten wir bereits auf einer Homepage gesehen. Christian wird von meiner Unruhe angesteckt, also teilen wir uns auf: Er ruft bei der Hotline an, ich versuche, das Reisebüro zu erreichen. [39]

Da ich mit meinem Handy keine Verbindung herstellen kann, gehe ich in den Rezeptionsbereich des Hotels und frage, wo ich über Festnetz telefonieren kann. Der Mitarbeiter verweist mich an ein Business-Center. Dort zeige ich der Mitarbeiterin, die hinter einem Tresen sitzt, die Nummer des Reisebüros. Sie schreibt sie ab und tippt sie dann auf das Zahlenfeld eines Festnetztelefons. Es klingelt, auch für mich hörbar. Niemand nimmt den Anruf entgegen. Die Frau sieht mich an und zuckt mit den Schultern. Ich bitte sie, noch einmal anzurufen. Wahlwiederholung. Klingelzeichen. Der Blick zu mir. Ich nicke und sage: "Please, try again." Wahlwiederholung. Klingelzeichen ... . Ich lasse die Mitarbeiterin sieben Mal eine Verbindung herstellen, bis sich endlich eine Stimme meldet. Die Frau reicht mir sogleich den Telefonhörer. Und wieder erkläre ich Christians und meine Situation. Die Reisebüro-Mitarbeiterin reagiert darauf relativ unfreundlich und sagt, dass sie von Deutschland aus wenig tun könne. Der Reiseleiter vor Ort sei der richtige Ansprechpartner, aber die TUI sei im Moment völlig überlastet. Sie erreiche da auch niemanden mehr. Wir müssten eben warten. Ich frage sie, ob TUI überhaupt noch Rückflüge organisiere, ob ich mich darauf verlassen könne, dass eine Rückreise über die TUI möglich sei. Sie antwortet, dass sie davon ausgehe, dass das klappen werde. Wenn sie weitere Informationen bekäme, melde sie sich aber bei uns. Ich sage ihr, dass ich über mein Handy keine Verbindung nach Deutschland habe herstellen können, deswegen würde ich meinen Freund bitten, eine Mail an das Reisebüro zu schreiben. Wir könnten dann über E-Mails kommunizieren. [40]

Ich treffe Christian in der Lobby. Er habe niemanden bei der TUI-Hotline erreicht, sagt er. Da komme eine automatische Nachricht, dass wegen Überlastung nur noch die Anfragen, die per Mail eingingen, nacheinander bearbeitet würden. Ich berichte von meinem Telefonat und sage, dass uns das Reisebüro wohl nicht helfen könne, bitte ihn aber trotzdem, eine Mail mit unserem Anliegen an die Agentur zu schicken. Währenddessen rufe ich Mannheim an. Er sagt, dass er noch nichts von der Reiseabteilung gehört habe. Er habe gerade keine Zeit, sei aber um 17 Uhr in unserem Hotel. Da könnten wir noch einmal miteinander sprechen. [41]

Nachdem wir die restliche Zeit im Poolbereich verbracht haben, gehen wir am Nachmittag zurück auf unser Zimmer. Ich sitze auf dem Bett. Mein Handy piepst. Zum ersten Mal bekomme ich eine Nachricht von TUI. Ich lese laut vor:

"Lieber TUI-Gast, Die ägyptischen Behörden haben beschlossen, dass alle Gäste in Ihrem Hotel bis auf Weiteres unter Quarantäne bleiben müssen, um das Infektionsrisiko zu verringern. Gäste, die Symptome von COVID-19 zeigen, werden auf das Virus getestet. Gäste, die keine Symptome zeigen, dürfen das Hotel NUR verlassen, um, mit Unterschrift eines Verzichtsformulars der ägyptischen Behörden, in ihr Heimatland zu reisen. TUI wird weiterhin die gebuchten Flüge nach Hause anbieten." [42]

Eine Minute später kommt eine weitere Nachricht:

"Gäste können ihre Flüge vorbehaltlich des begrenzen Kontingents der Flüge ändern. Das Hotel bleibt bis zur Abreise des letzten Gastes unter Quarantäne, bietet jedoch weiterhin Dienstleistungen für alle Gäste an. Es tut uns leid, aber die Behörden erlauben es nicht, dass das Hotel von unseren Reiseleitern betreten wird. Sie können uns jedoch über unsere anderen Servicekanäle Telefon, SMS, E-Mail, TUI App (MEINE TUI Urlaub & Reiseportal) kontaktieren. Liebe Grüße, Ihr TUI Team". [43]

Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben wird mir verboten, Räumlichkeiten zu verlassen. Das Hotel ist in meiner Wahrnehmung jetzt tatsächlich zu einer Art Gefängnis geworden. Wobei es sich um eine luxuriöse Anstalt handelt, die interne Bewegungsfreiheit gestattet. Ich habe einmal eine Freundin in einer Justizvollzugsanstalt besucht, das war eine andere Art von Ort. Trotzdem fühle ich mich beklommen, weil eine selbstverständliche Annahme über meine Welt verloren gegangen ist: Ich habe jederzeit die Möglichkeit, mich in weiten Teilen meiner Umgebung frei zu bewegen. Christian wirkt schockiert. Wir diskutieren. Über die Möglichkeit, dass unsere Bewegungsfreiheit noch weiter eingeschränkt werden könne. Darüber, ob die Rückreise sicher sei. Über das brüchig gewordene Vertrauen in einen Konzern, der gerade verkündet hat, den Geschäftsbetrieb größtenteils einzustellen. [44]

***

Wenn ich jetzt an diese Diskussionen in dem Hotelzimmer zurückdenke, kommt mir unsere damalige Stimmung fast ausgelassen vor. Nach meiner Erinnerung entstand zumindest in mir eine Mischung aus Entsetzen und Euphorie. Die Nachrichten führten zu einer Stärkung meines Tatendrangs mit seiner herrischen Komponente, ohne völlige Panik auszulösen. Das, was am Möglichkeitshorizont schon vor Reiseantritt aufschien, war Realität geworden. Damit wurden die Befürchtungen meiner Familie legitimiert – und der Wunsch so schnell wie möglich die Rückreise anzutreten. [45]

Christians Familie und meine reagierten konträr auf unsere Situation, was meine Verunsicherung verstärkte. Christians bedenkenvolle und vernünftige Familie fragte uns, ob die Anlage schön sei – trotz unseres Lageberichts. Und meine freiheitsliebende und chaotische Familie machte sich Sorgen, gab Tipps und war wie ich im Katastrophenbewältigungsmodus. In den Nachrichten beider Familien während unseres Aufenthalts in Ägypten spiegelten sich diverse Wirklichkeitszuschreibungen, die mich wütend machten, weil ein konstantes Problem darin bestand, die Lage adäquat einzuschätzen. Wir befanden uns in einem Pauschaltourismus-Paradies und von den ubiquitären Desinfektionsmittelspendern abgesehen schien alles so zu sein wie in all unseren Urlauben davor auch. Gleichzeitig wurde durch die Nachrichten des SPIEGEL auf meinem Handy der Eindruck vermittelt, es sei eine Apokalypse angebrochen. Manchmal hatte ich eine Strophe von Bleib geschmeidig, einem Song der Band 2raumwohnung im Kopf: "Apokalypse – auf die ist kein Verlass. Am Morgen stehen bei uns noch alle Häuser. Und leise wächst das Gras."16) Auch unsere Urlaubsapokalypse kam mir – zumindest zu Beginn – manchmal wankelmütig vor. [46]

***

Als es 17 Uhr wird, beschließe ich trotz der Nachricht der TUI in der Lobby nachzusehen, ob Mannheim in das Hotel gekommen ist. Ich betrete die Vorhalle und sehe eine Traube von Menschen in der Nähe einer Sitzecke. Sie entpuppen sich als deutsche Urlaubende, die gerade von Mannheim informiert werden. Ich bekomme nur noch den Rest seiner Ansprache mit. Er sagt, alle, die einen früheren Rückflug wollten, sollten zu ihm kommen, dann leite er das weiter. Ein korpulenter Mann in einem Hawaii-Hemd fragt, ob man ganz normal im Hotel bleiben und den Urlaub genießen könne. Das sei kein Problem, antwortet Mannheim. Daraufhin lacht der Mann und sagt, er habe wohl Glück gehabt, überhaupt noch nach Ägypten gekommen zu sein. Heute seien Flugzeuge umgedreht, die bereits auf den Weg nach Ägypten gewesen seien, erwidert Mannheim. Ich trete auf ihn zu und frage, ob meine Anfrage bearbeitet werde, oder ob er noch etwas von mir brauche. Er sieht mich an und sagt: „Melanie, ich habe jetzt keine Zeit für Dich." Er müsse sich um die anderen Gäste kümmern. Die Anfrage für mich laufe aber. Wir müssten abwarten. [47]

Christian und ich gehen zum Abendessen. Wir desinfizieren unsere Hände, bevor wir das Restaurant betreten. Auf der Terrasse suchen wir uns einen freien Tisch – weil es draußen warm ist, aber auch weil wir das potenzielle Ansteckungsrisiko hier als geringer einschätzen. Dann öffne ich die Deckel von Warmhaltebehältern, nehme mir von den Speisen und desinfiziere anschließend noch einmal meine Hände. Zurück am Tisch versuche ich, einen Salzstreuer mit einer Serviette anzufassen. Er rutscht mir aus der Hand, also fasse ich ihn an. "Keine Chance." [48]

Wir genießen es, draußen zu sitzen und zu essen. Für einen Moment kommt doch noch Urlaubsstimmung auf. Vorspeise. Hauptgericht. Noch ein Nachtisch? Push-Nachricht – vom Auswärtigen Amt.17) Christian liest vor, dass die Flughäfen in Ägypten ab dem 19. März geschlossen werden. Kein Nachtisch. Panik. Und jetzt vollständig wirklich und uneingeschränkt. Wir dürfen das Hotel nicht ohne bürokratische Hürden verlassen, haben bis jetzt keinen früheren Rückflug bekommen, und die Flughäfen im Land werden in zwei Tagen geschlossen. Das Worst-Case-Szenario ist beim Abendessen eingetreten. Irgendwann zwischen eingelegtem Feta und Malaysischem Huhn erreicht es uns über das Smartphone. Ich halte es am Tisch nicht mehr aus. Also stehen wir auf und laufen zur Lobby. Ich sage, dass ich versuche, Mannheim anzurufen. Christian will derweil den Posteingang seines E-Mail-Accounts kontrollieren. [49]

Nach mehrmaligem Klingeln nimmt Mannheim meinen Anruf entgegen. Er klingt gestresst, als er sagt, dass er im Nachbarhotel sei und eine Gruppe von Gästen informieren müsse. Ich könnte dazukommen, wenn ich wolle. Ich dürfe das Hotel nicht mehr verlassen, entgegne ich, wolle ihn aber dringend sprechen, weil in Ägypten Flughäfen geschlossen würden und ich langsam Panik bekäme, das Land nicht mehr verlassen zu können. Er sagt, dass er zu mir ins Hotel käme, wenn er fertig sei. Ich bedanke mich herzlich bei ihm und sage, dass ich in der Lobby auf ihn warten würde. [50]

***

Ich erinnere mich, dass ich während des Telefonats draußen stand, weil es in der Lobby zu laut war. Es war bereits dunkel, aber die Luft immer noch warm. Ich bin unserem Reiseleiter bis heute dankbar, dass er jeden meiner Anrufe entgegennahm, immer versuchte, uns zu helfen, und Verständnis für meine Angst und Panik hatte. Weder TUI noch die Mitarbeiter_innen des Reisebüros waren in dieser Zeit verlässliche Ansprechpartner_innen. Nur der Mann, der uns seinen Namen mit einer Stadt in Süddeutschland erklärte, war immer für uns da. Mannheim, auch wenn Du diesen Text wohl nie lesen wirst, auch auf diesem Weg: Ich danke Dir für Deine Unterstützung. Du hast mich (mindestens emotional) gerettet. Ohne Dich hätte ich mich noch verlorener gefühlt. [51]

***

Ich gehe zurück in die Lobby. Christian sitzt auf einer Couch. Er wirkt angespannt. Ich setze mich zu ihm und male Katastrophenszenarien aus. Irgendwann bittet er mich, damit aufzuhören. Ich bin wütend. Er ist traurig. Beide fühlen wir uns hilflos. Wir beobachten den Eingang. Es kommen Personen herein, die sich die Hände desinfizieren. Wie kann das sein, wenn die Hotels laut TUI unter Quarantäne stehen? Ich behalte den Hoteleingang im Blick. Schließlich betritt Mannheim die Lobby. Ich gehe auf ihn zu und bedanke mich dafür, dass er gekommen ist. Das sei kein Problem, aber wir könnten jederzeit das Hotel verlassen, sagt er. Wir stünden nicht unter Quarantäne und seien nicht eingesperrt. Ich bitte ihn, uns irgendwie zu helfen, nach Hause zu kommen. Egal, was es koste. Wir hätten Angst, nicht mehr aus dem Land zu kommen, weil Flughäfen gesperrt werden sollten. Er nickt und sagt, er verstehe das, könne aber nichts daran ändern, dass die Flugabteilung sich nicht meldet. TUI sei völlig überlastet, und er könne nicht mehr machen, als auf E-Mails zu warten. Ich frage ihn, ob es irgendeine andere Möglichkeit gäbe, einen Rückflug zu bekommen. Er sagt, dass wir einfach im Internet schauen könnten: Fluege.de. Das könnten wir über sein iPad mache, wenn wir wollen. [52]

Wir sitzen an einem Tisch in der Nähe der Rezeption und schauen auf der Webseite nach Rückflügen. Ein Flug nach Hannover hat einen Zwischenstopp in Istanbul – hilft uns nicht weiter. Ein Flug nach Hamburg hat zwei Zwischenstopps außerhalb Deutschlands – hilft uns nicht weiter. Ein Flug nach München ist bereits ausgebucht – hilft uns nicht weiter. Ein Flug nach Frankfurt geht erst am 20. März – hilft uns nicht weiter. Ein Nonstopflug nach Düsseldorf geht am nächsten Tag. Er kostet 400 Euro, und zwei Sitzplätze sind noch frei. Das hilft uns weiter. Von der Fluggesellschaft habe ich zwar noch nie gehört, aber alle anderen Bedingungen sind in Ordnung. Wir entscheiden uns zu buchen. Mannheim sagt, dass wir alles in die Maske eingeben sollten. Er wolle schnell eine rauchen gehen. Ich muss meine Kreditkarte holen. Mannheim ist weg, also briefe ich Christian, er solle ihn bitten, unsere Anfrage bei TUI noch nicht zurückzuziehen, weil ich nicht sicher sei, ob der Flug wirklich stattfindet. Wenn er gecancelt würde, hätten wir noch die TUI-Option. [53]

Die Nacht vor dem Flug ist schrecklich. Ich kann nicht schlafen. Immer wieder kontrolliere ich über eine App, ob der Flug noch angezeigt wird – ohne Christian zu wecken, der neben mir schläft. Ich halte es nicht aus und öffne mitten in der Nacht das Tor zur Hölle: die SPIEGEL-App. "Corona-Krise: EU schließt Außengrenzen ab Dienstagnachmittag"18). Bedeutet das, dass wir einen Flug bekommen haben, der vor der Flughafenschließung geht, wir aber nicht mehr in die EU einreisen dürfen? Kann das auch für EU-Bürger_innen gelten? Das wäre einst unvorstellbar gewesen. Aber was vorstellbar ist und was nicht, hat sich für mich in den letzten Wochen grundlegend verändert. Inzwischen erscheint mir alles möglich zu sein. Meine Wirklichkeitsunterstellungen befinden sich im freien Fall und mein Gefühl der Sicherheit ebenso. Die Welt ist völlig verrückt. Die Wirklichkeit erweist sich als unzurechnungsfähig. Und ich muss in diesem Spiel agieren, in dem sich im Stundentakt die Regeln ändern. Ich würde all das gerne von meiner Couch im Wohnzimmer betrachten. Soziologisch, politologisch, verfassungsrechtlich, meinetwegen auch virologisch ist all das doch hochinteressant. Aber ich bin in Ägypten und habe Angst, für lange Zeit nicht mehr nach Hause zu kommen, nicht mehr arbeiten zu können, keinen neuen Vertrag zu bekommen und in eine Situation zu kommen, die mehr ist als nur unangenehm, sondern existenziell. [54]

Wir sollten mit Hotelmitarbeitenden sprechen, um zu klären, ob wir zurück ins Hotel kommen könnten, wenn der Flug nicht stattfindet, sage ich am Morgen zu Christian. Also gehen wir vor dem Frühstück zur Rezeption, zahlen unsere Rechnungen und lassen uns versichern, dass wir zurückkehren könnten, sollte es Probleme geben. Ich bin ein wenig erleichtert. Wir gehen zum Restaurant, um zu frühstücken. Neben uns sitzt ein Mann mit seiner jugendlichen Begleitung, vermutlich seine Tochter. Es sind Deutsche. Sie schauen ab und zu zu uns herüber. Die junge Frau tippt auf einem Tablet. Ich nehme an, dass auch sie regelmäßig das Tor zur Informationshölle aufstößt. Ich frage mich, wie unsere Tischnachbar_innen damit umgehen. Verlassen sie sich auf ihren Reiseanbieter? Bin ich hysterisch? Oder schlimmer noch: egoistisch? [55]

Christian und ich nehmen ein Taxi zum Flughafen. Während der Kontrolle vor dem Flughafengelände verhandeln wir mit dem Taxifahrer den Preis – ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Der Mann will zu viel Geld für die Fahrt. Christian sitzt vorne und fängt an zu diskutieren. Ich sage ihm, er solle einfach zahlen. Schließlich erreichen wir den Flughafen. Erste Hürde überwunden. Wir kommen mit einem Ausdruck unseres online gebuchten Fluges in das Flughafengebäude. Zweite Hürde überwunden. Wir kommen durch die erste Sicherheitskontrolle. Dritte Hürde überwunden. Wir kommen durch die Passkontrolle. Vierte Hürde überwunden. Unser Flug wird am Gate angezeigt. Aufatmen. Unser Flug wird pünktlich aufgerufen. Im Gegensatz zu einem Flug, der nach Frankfurt gehen soll. Die Wartenden auf diesen Flug bleiben im Bereich unseres Gates stehen. Wir müssen uns an ihnen vorbeidrängeln. Ein Bus fährt uns zum Flugzeug. Wir starten. Fünfte Hürde überwunden. Der Pilot gibt während des Flugs Informationen durch und sagt u.a., dass wir uns im Luftbereich der EU befänden. Sechste Hürde überwunden. Neben mir sitzt ein junger Mann, mit dem ich ins Gespräch komme, weil er etwas von dem Desinfektionsmittel möchte, das ich zwischen meinen Händen verteile. Kurz vor der Landung erzählt er mir, dass seine Mutter auf einer Palliativstation sterbe, und er sie wegen des Virus nicht besuchen dürfe. Es fällt mir schwer, darauf angemessen zu reagieren. Ich empfinde Scham, weil meine Herausforderungen angesichts dieser pandemiebedingten Problemlage marginal sind. Wir landen in Düsseldorf. Siebte Hürde überwunden. Wir passieren die Passkontrolle am Flughafen. Wir sind am Ziel: zurück in Deutschland. [56]

An die Rückfahrt nach Hildesheim erinnere ich mich als Mischung aus dem Konsum apokalyptischer Nachrichten des SPIEGEL, einem Bier im Speisewagen, das wir aufgrund neuer Hygienerichtlinien selbst am Tresen abholen und Erleichterung. Außerdem schreibe ich eine Nachricht an meine Schwester, in der ich mich bei ihr entschuldige und ihr in allen Punkten der Kritik an unserer Reise recht gebe. Als wir in einem Regionalzug sitzen, bekomme ich eine Nachricht von TUI. Es sind Daten für einen früheren Rückflug. Kurz danach kommt eine weitere, mit veränderten Abholzeiten. Dann noch eine, die auf die Möglichkeit verweist, den originären Rückflug in Anspruch zu nehmen. Ich schalte mein Handy aus. [57]

Zwei Tage später stehe ich abends in meiner Küche und koche – Restaurants sind inzwischen geschlossen. Während ich die Zutaten in der Pfanne umherschiebe, schaue ich auf meinem Laptop die Tagesschau. Es wird über eine Ansprache von Angela MERKEL an die Nation berichtet, wieder ein Novum. Außerdem wird u.a. eine Rückholaktion der Bundesregierung thematisiert. Erste Tourist_innen, die in Marokko, Tunesien und Ägypten gestrandet gewesen seien, seien zurückgeholt worden. Wegen der Ausbreitung des Erregers hätten mehrere Länder Grenzen geschlossen und Flugverbindungen gestoppt. Ein Einspieler beginnt mit den Worten "Aufbruchsstimmung in Hurghada. Deutsche am Roten Meer auf dem Weg zurück in die Heimat. Für die meisten früher als geplant. Nach einem hektischen Vormittag mit einiger Verunsicherung."19) Nie bezogen sich Nachrichten mehr auf meine konkrete Lebenswirklichkeit. Ich wende mich meinem Abendessen zu und bin erleichtert, dass meine Probleme banaler geworden sind. [58]

7. Methodischer Zugang: Autoethnografie

Bei dem vorangegangenen Text handelt es sich um eine evokative Autoethnografie (DENZIN 2014; ELLIS, ADAMS & BOCHNER 2010; PLODER & STADLBAUER 2013), mit welcher ich den Versuch unternehme, biografische Erfahrungen während der Corona-Pandemie als gesellschaftlich relevante Ereignisse nachvollziehbar zu machen, indem ich mit der erzählten Geschichte Anschlussmöglichkeiten für die Geschichten anderer anbiete (PLODER & STADLBAUER 2013, S.376). Mit der Verortung in diesem hinsichtlich seiner Akzeptanz umkämpften wissenschaftlichen Genre verbinde ich nicht das Ziel, klar bestimmbare Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern an dem "emotionalen Erleben der jeweiligen RezipientInnen" (S.377) anzuknüpfen. In diesem Sinne orientiere ich die Form der Darstellung an der Vermittlung von Erleben als sinnlichem und affektivem Geschehen; dadurch möchte ich einen evokativen Text schaffen, der eine Wirkung beim Lesen entfaltet. [59]

Der methodische Zugang der Autoethnografie, der zwischen Wissenschaft und Literatur angesiedelt ist, ermöglicht es mir, der 1. Person-Perspektive genügend Raum zu geben, um Erleben umfänglich darzustellen (ELLIS 2004). Dabei gehe ich über die von BREUER (2003) im Rahmen einer methodischen Subjektivitätsdebatte skizzierte "leibhaftig-personal-soziale Forscherperson-in-Interaktion" (Abschnitt 3) hinaus, indem ich biografisches Erleben mit seiner Perspektivierung als Feld verschmelze. Auf diese Weise kann ich als bedeutsam kategorisierte Phänomene meines Lebens, die sich genretypisch bspw. auch auf das Erleben von Verlust und seine spezifische Gestalt (CLARKE 2020) richten könnten, wissenschaftlich thematisieren. Das Schreiben autoethnografischer Texte nutze ich darüber hinaus als Strategie, um Sinn zu generieren, wenn gesellschaftliche Verhältnisse unsicher werden (STEPHENS GRIFFIN & GRIFFIN 2019), so erscheint es mir gerade in der Corona-Pandemie als wichtige Forschungsressource. [60]

Erfahrungen als Ausgangspunkt der Forschungsstrategie zu nutzen, hat die Autoethnografie mit der Ethnografie gemein (PFADENHAUER 2018). Dabei basiert die klassische Feldforschung zwar auf teilnehmenden Beobachtungen (SPRADLEY 1980) oder sogar beobachtenden Teilnahmen (HONER 1993) und beinhaltet so explizit die Nähe zum Forschungsfeld, sie bleibt aber einer Trennung zwischen Forschenden und Forschungsfeld verhaftet. Ethnograf_innen erarbeiten sich idealtypisch einen Zugang zu einem Feld (BREIDENSTEIN, HIRSCHAUER, KALTHOFF & NIESWAND 2013, S.45ff.; GOBO 2010, S.117ff.), pendeln dann zwischen den interessierenden sozialen Situationen und dem Schreibtisch (BREIDENSTEIN et al. 2013, S.109) und verlassen dieses Geschehen am Ende vollständig (GOBO 2010, S.306) – zumindest in der Rolle der wissenschaftlichen Beobachtenden. Hier findet gleichfalls eine Auseinandersetzung mit immer auch biografisch fundierten Erlebnissen statt, doch bleiben die Forscher_innen wissenschaftliche, letztlich instrumentell motivierte Fremdkörper in den jeweiligen sozialen Kontexten. In der Autoethnografie dagegen wird die Distanz zwischen Forschenden und Feld aufgegeben zugunsten einer biografisierten Perspektive auf den interessierenden Ausschnitt sozialer Wirklichkeit (ELLIS et al. 2010, S.345). Damit gehen Freiheitsgrade einher – und wissenschaftliche Schwierigkeiten (PLODER & STADLBAUER 2013, S.380ff.). So erlaubt und erfordert eine evokative Autoethnografie eine performative Art des Schreibens (S.376ff.), durch die das Erleben – zumindest im Fall des Gelingens – für die Lesenden ein Stück weit nacherlebbar gemacht werden soll. Nicht Schlüsse stehen entsprechend im Vordergrund, sondern die Übersetzung von Erfahrungen in Sprache, wobei den Rezipierenden die Möglichkeit gegeben werden soll, eigene Anschlüsse zu ergründen (DÜRIG 2020, S.27). Das Lesen eines autoethnografischen Textes soll also Räume der Auseinandersetzung öffnen und nicht abschließen und ist damit auch niemals abgeschlossen, sondern ein Übersetzungsmodus. [61]

Meine Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie während einer Urlaubsreise kann ich nur mithilfe der Autoethnografie wissenschaftlich ein Stück weit verfügbar machen, weil ich im Rahmen dieser Kategorie eine Selbsterzählung produzieren kann, welche die Auswirkungen sozialer Veränderungen auf mein konkretes Erleben problematisierbar macht. Damit möchte ich auch die Verzahnung des biografischen Erlebens mit der sozialen Wirklichkeit deutlich machen. Ein Ausschnitt meines Lebens konnte nachträglich zum Forschungsfeld werden und soll offenbaren, wie Wirklichkeitsauslegungen unsicher werden können. Um diese Erfahrungen einzuordnen, möchte ich im nächsten Abschnitt eine theoretische Perspektive auf das Erleben richten. Die Differenz zwischen Erleben und seiner wissenschaftlich orientierten Reflexion zeigt sich hier auch sprachlich. Die Beschreibungen zuvor können als "messy stories" (PLODER & STADLBAUER 2013, S.377) gelesen werden, in denen ich mit sprachlichen Regeln z.T. gebrochen habe. Dagegen verwende ich in der theoretisch inspirierten Reformulierung einen davon abweichenden Duktus. [62]

8. Auslegung und Wirklichkeit

In der Alltagssoziologie soll nicht nur das alltägliche Leben wissenschaftlichen Betrachtungen unterzogen werden, sondern es wird darüber hinaus behauptet, dass in der Auseinandersetzung mit dieser Sphäre etwas Grundlegendes in den Blick gerate. Soll menschliches Handeln verstanden und erklärt werden, müssen die Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen Wirklichkeit beschrieben werden (SCHÜTZ & LUCKMANN 1979 [1975], S.25)20). Vielleicht kann dieser protosoziologische Ansatz mit aller Vorsicht auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation übertragen werden: Will man soziologisch informiert etwas über die Corona-Krise herausfinden, kann es zumindest ein vielversprechender Ansatzpunkt sein, die alltäglichen Erfahrungen zum Gegenstand der Deskription und Analyse zu machen. [63]

Die Darstellung meiner Reise nach Ägypten während der Corona-Pandemie sollte einen bestimmten Typ von Erfahrungen ein Stück weit zugänglich machen: das umfassende Prekärwerden von Normalitätszuschreibungen, die Verschiebung von Selbstverständlichkeitsunterstellungen. In diesem Abschnitt versuche ich nun, die vorausgegangenen Beschreibungen theoretisch einzuordnen. Dabei soll keine Generalerklärung des zuvor zum Teil ausbuchstabierten und partiell nur angedeuteten Erlebens und seiner Bedingungen unternommen werden. Es soll vielmehr eine Brücke zu einem theoretischen Rahmen geschlagen werden, um die Beschreibungen mit einer abstrakteren Ebene des Verstehens zu verbinden. [64]

Nach SCHÜTZ und LUCKMANN (1979 [1975], S.25) ist die Lebenswelt des Alltags die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit der Menschen, in der sie miteinander eine kommunikative Umwelt konstituieren. In der damit verbundenen natürlichen Einstellung wird die Welt als fraglos erfahren und erscheint selbstverständlich wirklich. Dabei werden "Außenweltdinge" (S.26) wie bspw. silberne Schalen als Kulturdinge, nämlich Waschbecken, identifiziert. Darüber hinaus wird ebenso der Kulturwelt ein fragloser Wirklichkeitsstatus zugesprochen (S.27), so wird bspw. das Gebot, sich in bestimmten Situationen die Hände zu waschen, Teil der sozialen Realität. [65]

Trotz des Modus des Selbstverständlichen erscheint die Welt den Menschen nicht einfach, sondern ist ihnen zur Auslegung aufgegeben (S.28). Eine Flugreise muss bspw. anhand eines Wissensvorrats, der mittelbare und unmittelbare Erfahrungen enthält, als solche identifiziert und hervorgebracht werden. Dazu stehen Bezugsschemata Pate, anhand derer Flugzeugen, Grenzkontrollen, Check-in-Schaltern, Zollbeamt_innen etc. Bedeutungen zugeschrieben werden können. Gegenstände und Ereignisse in der Lebenswelt zeichnet eine Typenhaftigkeit aus, durch die Orientierung und Sinnstiftung möglich wird. [66]

Diese Wissensgrundlage ist allerdings dynamisch — verändert sich also — und historisch, beruht demnach auf einem Bildungsprozess. "Jedes lebensweltliche Auslegen ist ein Auslegen innerhalb eines Rahmens von bereits Ausgelegtem, innerhalb einer grundsätzlich und dem Typus nach vertrauten Wirklichkeit" (S.29). Damit geht die implizite Unterstellung einher, dass den Wissensvorrat zukünftige Gültigkeit auszeichnet, dass also Waschbecken, Flughäfen und das Händewaschen als Typen, die orientierungsstiftend anschlussfähiges Handeln ermöglichen, weiterhin als solche Bestand haben. [67]

Das Husserlsche "Und So Weiter" (SCHÜTZ & LUCKMANN 1979 [1975], S.29) kann sich allerdings als verpasstes Ideal erweisen, dem aktuelle Erfahrungen nicht entsprechen. So können Probleme entstehen, die nicht vom Wissensvorrat abgesichert sind. Die Antizipation zukünftiger Ereignisse kann prekär werden, bspw. wenn eine Rückreise durch Flughafenschließungen bedroht wird. Ebenso kann sich die Typikebene als unzureichend herausstellen (S.34), bspw. wenn Wissen darüber existiert, dass Händewaschen Viren unschädlich macht, dieses aber nicht die Dauer abdeckt, die für den gewünschten Effekt mitverantwortlich ist. Wenn der Kern einer Erfahrung problematisch wird, muss sie neu perspektiviert werden, indem ihr Horizont ausgelegt wird. Denn jeder fraglose Wissensbereich ist von einem Horizont des Unbestimmten umgeben, der allerdings prinzipiell bestimmbar ist (S.30). Wenn ich bspw. weiß, dass mich ein Flugzeug nach Ägypten bringen kann, bedeutet das noch nicht, dass ich der technischen Prozesse kundig bin, die es ermöglichen, dass ein tonnenschweres Luftfahrzeug abhebt. [68]

Perspektiviert man meinen autoethnografischen (Reise-)Bericht sozialphänomenologisch, lässt sich argumentieren, dass sich die Auslegungen meiner Erfahrungen im Prozess der Entwicklung des Corona-Diskurses auf drei Ebenen als unzureichend herausstellten. So wurde auf der ersten Ebene die Einschätzung verunsichert, dass die mich umgebenden Außenweltdinge in den meisten Fällen keine Bedrohung für meine Gesundheit darstellen. Das vermittelte Wissen über eine mögliche Kontamination durch das Virus machten sie zu einer potenziellen Gefahr. Vor der Pandemie war meine Kenntnis davon, dass Krankheiten z.T. über Schmierinfektionen übertragen werden, nicht maßgeblich für die meisten meiner Handlungen. In der Corona-Krise wurde dieser Information allerdings handlungsdeterminierende Relevanz zugewiesen. Aus einem Bekanntheitswissen wurde so ein Vertrautheitswissen (S.174f.). Das daraus resultierende exzessive Händewaschen zeigt, dass ich diese Kulturpraktik neu erlernte, indem ich seine Dauer kontrollierte, um einer unterstellten, aber nicht sichtbaren Gefahr zu begegnen. Der mangelnden Kontrolle über die verborgene Gefährdung setzte ich eine Kontrollpraktik entgegen, die sich in meinen Körper und mein Körperwissen einschrieb und Spuren in Form von rissiger Haut hinterließ. Die Welt in meiner aktuellen Reichweite (S.63f.) wurde so einer Neu-Perspektivierung unterzogen, weil ein aktuelles Wissen darüber Ungewissheit erzeugte. Dinge verstand ich nun als potenziell kontaminierte Dinge. Mein Verhältnis zu meiner Nah-Welt wurde so grundlegend verändert. Die Horizontauslegung bezog sich hierbei auf ein Gefährdungsmanagement, das prekär und ungewiss blieb, wie die Erfahrungen zeigen, in denen es schwierig war, Dinge nicht zu berühren oder keine Möglichkeiten zum Händewaschen und Desinfizieren gegeben waren. [69]

Auf der zweiten Ebene erwies sich mein Wissensvorrat in Bezug auf meine Bewegungsfreiheit als unzureichend. Vor der Krise wusste ich, dass ich mit einem Ausweisdokument und eventuell einem Visum in andere Länder als Touristin einreisen darf. Ebenso war ich überzeugt, dass die Rückkehr aus diesen Ländern nicht grundsätzlich gefährdet ist. Außerdem ging ich davon aus, dass ich mich an den meisten zugänglichen Aufenthaltsorten frei bewegen darf. Durch Corona wurden auch hier Horizontauslegungen unumgänglich. Während der Reise wurde die Frage relevant, ob Quarantänemaßnahmen mich daran hindern könnten, das Hotel zu verlassen. Außerdem stand zur Disposition, ob der Flugverkehr eingestellt und Grenzen geschlossen werden könnten. Das Wissen um die Welt in meiner potenziellen Reichweite (S.64f.) erodierte. [70]

Auf der dritten Ebene wurde meine moralische Beziehung zur Welt unklar. Vor der COVID-19-Pandemie war eine Urlaubsreise im Rahmen des Ökologie-Diskurses fragwürdig, davon abgesehen aber tendenziell ein ethisch eher unbedenkliches Tun. Durch den Corona-Diskurs wurde auch diese selbstverständliche Zuschreibung verändert. Das Vermeiden von Infektionsrisiken wurde zu einem moralischen Gebot, das politisch zunächst als Empfehlung formuliert wurde. Es galt, Sozialkontakte zu vermeiden, um Gefahren für andere und sich selbst abzuwenden. Die als unaufhaltsam gerahmte Pandemie sollte entschleunigt werden, um Gesundheitssysteme nicht vor unbewältigbare Herausforderungen zu stellen. Die Selbstsorge, sonst ein moralisches Gebot, das vor allem das eigene Leben qualitativ absichern sollte, wandelte sich in eine soziale Fürsorgeleistung. Die eigene Gesundheit zu schützen, wurde ein Dienst an der Gesellschaft. War es also nicht nur risikobelastet, sondern verwerflich, nach Ägypten zu reisen? Nehme ich jemandem irgendwann ein Beatmungsgerät weg, weil ich mich einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt habe, das an Flughäfen und in Hotels gegeben ist? [71]

In allen drei Erfahrungsbereichen vollzog sich eine Erosion meines Wissens über die Welt. Dinge, Möglichkeiten und Überzeugungen über das eigene Selbst erwiesen sich als problematisch, weil ungewiss, mussten neu gerahmt werden, was herausfordernd war, weil mit grundsätzlichen und weitreichenden Normalitätsunterstellungen gebrochen wurde. Dabei entzog sich der Hervorbringungszusammenhang, die Zuschreibung einer Gesundheitsgefahr, zunächst der eigenen Erfahrung. Corona wurde für mich wirklich, als der soziale Umgang damit auch für mein alltägliches Leben relevant wurde. Der Urlaub musste als Reise mit ungewissem Ausgang umdefiniert werden, um den medial vermittelten Informationen über die Welt gerecht zu werden. Keine Gefahr und keine Maßnahme erlebte ich unmittelbar. Die Corona-Gefährdung blieb für mich also vermittelt und wurde dabei immer wirklicher. [72]

Geht man nach SCHÜTZ und LUCKMANN also davon aus, dass uns die Welt immer zur Auslegung aufgegeben ist, basieren die Selbstverständlichkeiten des Alltags auf Hervorbringungsprozessen. Der so normalisierte Bereich der Lebenswelt existiert nicht einfach, sondern wird gemacht. Seine Relevanz zeigt sich in der mit ihr verbundenen ontologischen Sicherheit (GIDDENS 1991, S.36f.). So sind in der natürlichen Einstellung existenzielle Fragen eingeklammert. Die Brüchigkeit dieser weitreichenden, auf Fraglosigkeit beruhenden Sekurität zeigt sich darin, dass sie schon durch das Einnehmen einer theoretischen Einstellung oder einer Perspektive des philosophischen Fragens erodiert (a.a.O.). Allerdings sind diese unsicherheitserzeugenden Modi sozusagen reversibel, der "Wirklichkeitsakzent" (SCHÜTZ & LUCKMANN 1984, S.176) wird hypothetisch. Der Blickwinkel der theoretischen Einstellung kann oder muss aufgegeben werden, wenn lebenspraktische Relevanzen überwiegen. Wird die mit der natürlichen Einstellung assoziierte Sicherheit aber da bedroht, wo es kein Entkommen gibt, wenn die alltägliche Lebenswelt von basalen Unsicherheiten erschüttert wird, weil Wissen sich in der oben beschriebenen Form als ungenügend erweist, sind Horizont-Auslegungen notwendig, die nicht nur dem Anpassen handlungspraktischer Orientierungen dienen, sondern eine grundlegende Neu-Perspektivierung (in) der sozialen Welt erzeugen müssen, um Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zu stützen. Meine Beschreibungen der Reise nach Ägypten sollen nachvollziehbar machen, auf welche Weise Normalitätszuschreibungen verunsichert werden können und welche Folgen damit potenziell verbunden sind. [73]

Durch Veränderungen unterschiedlicher Ebenen oder Abstraktionsgrade meiner Weltbeziehungen aufgrund des neuen Wissens wandelte sich meine Lebenswirklichkeit. Dabei suchte ich nicht nur einen Ausweg aus einer mehr oder minder krisenhaften Situation, sondern begann meine Lebenswelt neu zu verstehen und in diesem Prozess eine veränderte Wirklichkeitssicht zu schaffen. In dieser Entwicklung spielten die geschilderten Kommunikationen, die ausgehandelten Situationsdefinitionen, die sich abwechselnden Gefühle, die Selbst-Monologe, die ambivalenten Assoziationen, der Konsum von Weltwissen über digitale Vermittlungswege und dessen Einordnung eine je eigene Rolle, ohne dass die Phänomene in Variablen übersetzt und in Kausalitätsbeziehungen gesetzt werden können. [74]

Um diesen unordentlichen Sinnstiftungen im Rahmen alltäglicher Wirklichkeitskonstruktionen, deren Ergebnis nicht weniger messy ist als die Prozesse selbst, als solche zu verstehen, wird eine sozialphänomenologische Einordnung vorgenommen. Die theoretische Reformulierung bleibt allerdings hier ein Zuschreibungsangebot, eine Richtung, in der die Darstellungen verortet werden können – ein evokativ ausgerichteter autoethnografischer Text gestattet m.E. eine solche Vagheit, da das Interpretieren als assoziatives Nachdenken den Rezipierenden überlassen werden kann und soll (PLODER & STADLBAUER 2013, S.377). Dabei erlaubt die Anlehnung an die Wissenssoziologie und ihre Vorläufer die soziologische Relevanz der Erfahrungen in Anspruch zu nehmen. [75]

Die Herstellung einer neuen Wirklichkeit (BERGER & LUCKMANN 2007 [1969]) unter sozial hervorgebrachten Pandemiebedingungen vollzog sich für mich als Prozess: Mit wachsender Unklarheit baute sich ein Wissen um eine gesteigerte Vulnerabilität auf. Die Welt des Alltags funktionierte nicht mehr wie gewohnt, war nicht mehr antizipierbar und musste mit erhöhter Wachsamkeit bewältigt werden. Dabei kam es zu einer Konkurrenz von Wirklichkeitskonzepten. Eine Vor-Corona-Wirklichkeit mit ihren Überzeugungen und Möglichkeiten blieb als immer zweifelhafter werdende Orientierung bestehen, bis eine Corona-Wirklichkeit mit ihren neuen Relevanzen sie vollständig ablöste. Die Transformation erfolgte anhand einer mühsam herzustellenden Neu-Orientierung, die immer wieder verunsichert wurde. [76]

Die Corona-Wirklichkeit selbst geht zwar mit der Konstitution eines neuen Rezeptwissens (SCHÜTZ & LUCKMANN 1979 [1975], S.141) einher, bleibt aber mit Ungewissheit assoziiert. Das Wissen um die mögliche Kontamination der Außenweltdinge ist eines, das eine Potenzialität zum Angelpunkt der notorisch ungewissen Gewissheit macht. Die politischen Maßnahmen bleiben ebenso schwer antizipierbar. Welche Freiheitsrechte werden wann wie eingeschränkt? Die politischen Gebote und Verbote verändern den Alltag grundlegend in nahezu allen Bereichen und werden ständig neu justiert. So gibt es den Corona-Alltag eigentlich nicht, sondern nur sich beständig wandelnde Alltagserfahrungen unter Corona-(Diskurs-)Bedingungen. Die sich neu aufbauenden Routinen und das damit verbundene Rezeptwissen sind einem intensivierten Transformationsprozess unterworfen. Es kommt zu einer Beschleunigung alltäglichen Wandels und damit verbundenen Subjektivierungsprozessen (siehe dazu z.B. RECKWITZ 2017), durch die Selbstkonzepte verunsichert und verändert werden. Die Verflüssigung der Einordnung lebensweltlicher Erfahrungen kann in diesen Zeiten beobachtet werden. Die ganze Welt ein Krisenexperiment, welches unsere alltäglichen Gewissheiten als vulnerabel entlarvt. [77]

Anmerkungen

1) "Corona-Krise in Deutschland: Steigende Fallzahlen und Blick nach Bayern", Norddeutscher Rundfunk, 21. März 2020, https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-678117.html [Datum des Zugriffs: 31. März 2020]. <zurück>

2) Robert Koch-Institut, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html [Datum des Zugriffs: 6. Juli 2020]. <zurück>

3) Robert Koch-Institut, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-03-15-de.pdf?__blob=publicationFile [Datum des Zugriffs: 31. März 2020]. <zurück>

4) Siehe z.B. Zeit Online, https://www.zeit.de/thema/social-distancing [Datum des Zugriffs: 31. März 2020]. <zurück>

5) Siehe zur Definition Robert Koch-Institut, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html [Datum des Zugriffs: 31. März 2020]. <zurück>

6) "Bundesländer schließen Schulen und Kitas", Norddeutscher Rundfunk, 21. März 2020, https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-674273.html [Datum des Zugriffs: 31. März 2020]. <zurück>

7) https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2020-12.html [Datum des Zugriffs: 30. Oktober 2020]. <zurück>

8) Da die Flugbegleiterin keine gendersensible Formulierung wählte, wird auch in der Darstellung darauf verzichtet. <zurück>

9) Siehe z.B. "Sinn und Unsinn von 'Hamsterkäufen'", tagesschau.de, 3. März 2020, https://www.tagesschau.de/inland/corona-hamsterkaufe-101.html [Datum des Zugriffs: 6. Juli 2020]. <zurück>

10) DER SPIEGEL (online), 15. März 2020, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/coronavirus-deutschland-schliesst-grenzen-zu-frankreich-oesterreich-und-der-schweiz-a-9910fb81-f635-4be5-8138-bcbcbfd491d4 [Datum des Zugriffs: 13. April 2020]. <zurück>

11) Ich verwende die deutsche Übersetzung des arabischen Namens. <zurück>

12) So ist es in meiner Erinnerung. Wochen später, als ich zu Hause bin und recherchiere, um welche Uhrzeit dieser Artikel veröffentlich wurde, finde ich ihn nicht. Schließlich entdecke ich den Artikel, der am 16. März mitten in der Nacht online ging: "Reiseaktivitäten ausgesetzt. TUI will Staatsgarantien", DER SPIEGEL (online), https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/corona-krise-tui-setzt-reiseaktivitaeten-weitgehend-aus-und-will-staatsgarantien-a-01f355af-2dbf-482e-aba2-98e19d8304f5 [Datum des Zugriffs: 7. April 2020]. <zurück>

13) DER SPIEGEL (online), https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-das-kommt-am-montag-auf-deutschland-zu-schulen-grenzen-inseln-a-a77c4088-198e-416f-94fb-53e908453996 [Datum des Zugriffs: 7. April 2020]. <zurück>

14) SPIEGEL (online), https://www.spiegel.de/wirtschaft/coronakrise-hypovereinsbank-schliesst-ein-drittel-ihrer-filialen-a-8262d4e8-07a2-4d51-a07e-a76fff64fb87 [Datum des Zugriffs: 7. April 2020]. <zurück>

15) DER SPIEGEL (online), https://www.spiegel.de/politik/deutschland/markus-soeder-will-in-bayern-fuer-kampf-gegen-corona-zehn-milliarden-euro-zur-verfuegung-stellen-a-95ec0301-dd09-447a-9aa1-39103b1adca1 [Datum des Zugriffs: 7. April 2020]. <zurück>

16) https://www.songtexte.com/songtext/2raumwohnung/bleib-geschmeidig-13d345fd.html [Datum des Zugriffs:16. Dezember 2020]. <zurück>

17) Christian hatte sich eine App des Auswärtigen Amtes heruntergeladen und wird informiert, wenn es relevante Neuigkeiten im Zusammenhang mit unserer Reise gibt. <zurück>

18) DER SPIEGEL (online), https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronakrise-eu-schliesst-aussengrenzen-ab-dienstagmittag-a-831a6255-436d-46d2-8ccd-1e4564225e3e [Datum des Zugriffs: 14. April 2020]. <zurück>

19) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-36195.html [Datum des Zugriffs: 22. April 2020]. <zurück>

20) In diesem Abschnitt gehe ich hauptsächlich auf die Arbeiten von Alfred SCHÜTZ und Thomas LUCKMANN (1979 [1975], 1984) ein, weil in diesen für die Sozialphänomenologie grundlegenden Werken (SEBALD 2018) m.E. basale Auslegungsprozesse in der alltäglichen Lebenswelt konzise beschrieben werden; sie sind so als Verstehensgrundlage für soziale Sinnstiftungsprozesse und ihre Herausforderungen fruchtbar. Durch die von SCHÜTZ (1932) angestoßene Literatur – von dem klassischen Werk "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (BERGER & LUCKMANN 2007 [1969]) bis zu dem neueren "Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit" (KNOBLAUCH 2017) – wurde eine Vielzahl an theoretischen und methodischen Weiterentwicklungen initiiert, an denen sich zeigt, wie anschlussfähig die Grundlagen für ein weitreichendes Verständnis sozialer Phänomene und ihre Untersuchbarkeit ist (siehe dazu u.a. HITZLER & EISEWICHT 2020 [2016]; KNOBLAUCH 2009; SEBALD 2017; TUMA & WILKE 2018). <zurück>

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Zur Autorin

Melanie PIERBURG ist Soziologin und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim. Dort bietet sie neben ihrer Lehrtätigkeit Beratungen zu qualitativen Forschungsmethoden an. Ihre eigenen Forschungsprojekte basieren vor allem auf ethnografischen Zugängen, die sie versucht zu reflektieren und weiterzuentwickeln.

Kontakt:

Dr. Melanie Pierburg

Institut für Sozialwissenschaften, Universität Hildesheim
Universitätsplatz 1, 31141 Hildesheim

Tel.: +49 (0)5121/-883-10725

E-Mail: pierbu@uni-hildesheim.de
URL: https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/institut-fuer-sozialwissenschaften/soziologie/mitglieder/wissenschaftliche-angestellte/melanie-pierburg/

Zitation

Pierburg, Melanie (2021). Reisen während der COVID-19-Pandemie: die Erosion alltäglicher Gewissheiten [77 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 22(1), Art. 2, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-22.1.3581.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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