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Volume 23, No. 3, Art. 12 – September 2022

Rezension:

Michael Wutzler

Miko-Schefzig, Katharina (2022). Forschen mit Vignetten. Gruppen, Organisationen, Transformation. 132 Seiten; ISBN: 978-3-7799-6550-3; Preis: 19,95 €

Zusammenfassung: Eine Einführung zum qualitativen Forschen mit Vignetten, mit der übersichtlich sowie nahe am empirischen Material unterschiedliche Leser:innengruppen angesprochen werden und mit der das Potenzial für verschiedenste Methoden und Studiendesigns in der qualitativen Sozialforschung abgedeckt wird, ist noch nicht geschrieben. MIKO-SCHEFZIG versucht in "Forschen mit Vignetten" Facetten der qualitativen Vignettenforschung aufzuzeigen und anhand eigener Studien anschaulich zu vermitteln. Im Mittelpunkt stehen dabei Konzepte der Situation und ein partizipativ-transformativer Anspruch. Die empirisch fundierte Darstellung hat ihre Stärken in der lesenswerten Darlegung zum Forschungsdesign und -anspruch, darüber hinaus werden wiederholt die allgemeinen Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen des Forschens mit Vignetten thematisiert. Das Buch erfüllt jedoch insgesamt nur im Ansatz den Charakter einer allgemeinen Einführung.

Keywords: Vignetten; Fokusgruppen; partizipatives Forschen; transformatives Forschen; Elizitierungsverfahren; Situation

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eine Einführung in das Forschen mit Vignetten als partizipativ-transformatives Forschungsdesign mit dem Fokus auf sozialen Situationen

3. Fazit

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Es gibt durchaus einige Texte zur sozialwissenschaftlichen Forschung mit Vignetten. Je nach disziplinärer, methodischer oder thematischer Ausrichtung lassen sich längere oder kürzere Einführungen finden. Dies gilt insbesondere für die Marktforschung und quantitative Sozialforschung (u.a. ROST 2018). Auch in der qualitativen Sozialforschung gibt es eine gewisse Breite an Studien (mit Bezug) zur Vignettenforschung. In FQS sind in den letzten Jahren bspw. Artikel von KANDEMIR und BUDD (2018), PITARD (2016) oder RIZVI (2019) erschienen. Gleichwohl gibt es jedoch noch Entwicklungspotenzial. Ganz allgemein versteht man in der Sozialforschung unter einer Vignette eine (kurze) meist fiktionale Beschreibung einer Interaktion, Situation oder eines Falls bspw. in Form eines Textes, von Bildern oder eines Comics, durch welche als Eingangsstimulus Befragte angeregt werden sollen, sich einzeln oder in Gruppen mit den Inhalten sowie Themen dieser Vignette auseinanderzusetzen oder diese zu beurteilen (u.a. HUGHES & HUBY 2004). [1]

Katharina MIKO-SCHEFZIG1) (2022) legte in der Reihe "Qualitativ forschen – Aktuelle Ansätze" im Verlag Beltz Juventa einen komprimierten Band mit dem Titel "Forschen mit Vignetten: Gruppen, Organisationen, Transformationen" vor. In dem Buch gibt sie einen Einblick zu unterschiedlichen Aspekten des qualitativen Forschens mit Vignetten, mit dem Untertitel knüpft sie zugleich an eigene Studien an, deren Inhalte im Text immer wieder praktisch und anschaulich aufgegriffen werden. [2]

Insgesamt weist das Buch einen sehr persönlichen Zugang über ihre eigene wissenschaftliche Karriere und Forschung2) auf, jedoch ohne damit allgemeine Anknüpfungspunkte der Vignettenforschung grundlegend zu übergehen. Bereits in der Einleitung ("Mein Weg zur Vignette") skizziert MIKO-SCHEFZIG ihren Weg zur Forschung mit Vignetten, mit dem sie zugleich historisch die Tradition des Forschens mit Vignetten aufzeigt. Im Zentrum steht für sie die Verknüpfung der Vignettenforschung als Elizitierungsverfahren – also der intendierten Hervorbringung von Erzählungen – mit Konzepten der Situation sowie transformativer Ansprüche des Forschens. Dabei verortet sie sich in der Tradition des Thomas-Theorems (THOMAS & THOMAS 1970 [1928]). [3]

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert und umfasst neben der Einleitung die Kapitel: 2. Wieso (noch) ein Buch zur Elizitierung? 3. Was ist eine Vignette und wie konstruiere ich sie? 4. In welchen Forschungssituationen kann ich Vignetten einsetzen? 5. Welche Analysemöglichkeiten ergeben sich durch das Forschen mit Vignetten? sowie 6. die Zusammenfassung: Chancen und Grenzen des Forschens mit Vignetten. Als zentrales Ziel des Buches soll "die Vielfältigkeit von Situationsdefinitionen und deren empirische Erfassung in Vignetten sowie – darauf aufbauend – deren Einsatz in ganz unterschiedlichen Interviewsettings" (MIKO-SCHEFZIG, S.11) diskutiert werden. [4]

In dem schlanken 132-seitigen Band werden durchaus vielfältige Facetten und Möglichkeiten der Vignettenforschung aufgezeigt. Im Durchgang ergibt sich durch den persönlichen methodischen Schwerpunkt jedoch auch ein stärkerer Fokus auf MIKO-SCHEFZIGs partizipativem Forschungsprogramm mit transformativem Charakter sowie auf der Aushandlung sozialer Situationen (in Organisationen), der nicht nur exemplarisch eingeführt, sondern im Detail entfaltet wird. Das transformatorische Potenzial folgt für sie aus dem Verständnis von Vignetten als Problemlösungstools. Hierbei knüpft sie an Konzepte der Performativität und Vulnerabilität von Judith BUTLER (2014) an, um Machtkonstellationen aufzuzeigen und deren Durchbrechung anzuregen. MIKO-SCHEFZIG behandelt Vignetten damit insgesamt auf vier Ebenen, hinsichtlich derer sich für sie die Vielfalt von deren Einsatzmöglichkeiten zeigt: als Mittel der Datenproduktion, in der Auswertung (bspw. als dichte Beschreibungen), als Darstellungs- und Reflexionsform (bspw. der eigenen Forschungsprozesse) und als Tool, um Transformationsprozesse bei den Befragten anzuregen. [5]

In Abschnitt 2 rekonstruiere ich zunächst die Themen der einzelnen Kapitel und die zentralen Argumente des Buches und zeige Grenzen sowie Leerstellen der Ausführung auf. Abschließend diskutiere ich in Abschnitt 3, ob das Buch als Einführung taugt und treffe zusammenfassend eine Einschätzung darüber, für welche Leser:innengruppe es besonders geeignet ist. [6]

2. Eine Einführung in das Forschen mit Vignetten als partizipativ-transformatives Forschungsdesign mit dem Fokus auf sozialen Situationen

MIKO-SCHEFZIG versteht Vignetten als Situationsbeschreibungen und schließt sich einer Definition von STIEHLER, FRITSCH und REUTLINGER (2012) an: "In den Sozialwissenschaften steht der Begriff 'Vignette' meist für eine stimulierende Ausgangssituation, die die befragten Personen zu Beurteilungen oder zu weiterführenden Handlungsmöglichkeiten anregen soll" (MIKO-SCHEFZIG, S.11). Als Spezifikum hebt sie für das Forschen mit Vignetten die Aushandlung (alltäglicher) Situationen als "die wesentliche empirische Einheit" (S.8) bzw. den "zentralen empirischen Fokus" (S.18) hervor. Sie folgt hierbei dem Konzept der "negotiated order" von Anselm STRAUSS (1993, S.255). Situationen erachtet sie demzufolge als soziale Interaktionen, die in den verfassten Vignetten präsent sein müssen: "Ich verstehe die Vignette als Werkzeug zur Datenproduktion, das im Laufe eines Forschungsprozesses zu einem tieferen Verständnis von Funktionsweisen von sozialen Situationen beitragen kann, das aber für seinen Einsatz bereits ein auf Daten basiertes Verständnis eben dieser Situation benötigt" (MIKO-SCHEFZIG, S.25). Wesentlich ist für MIKO-SCHEFZIG zudem, dass in der Vignette eine Anschlussfähigkeit an die Lebenswelt der Befragten gegeben sein sollte, d.h., die Vignette muss eine interne Stimmigkeit aufweisen und dies in Bezug auf die Raum-, Zeit- und die Relevanzstrukturen derjenigen, denen die Vignette zur Diskussion vorgelegt wird. [7]

Der Einleitung folgt ein kurzes Kapitel eigens zur Begründung der Relevanz des Buches: Warum braucht es ein weiteres Buch zu Vignetten als einem erzählgenerierenden Impuls der Datengenerierung? MIKO-SCHEFZIG ordnet die Vignettenmethode in verschiedene Verfahren ein und hebt die besondere Nähe zu Netzwerkkarten und visuellen Materialien wie bspw. Fotografien oder Kurzfilmen hervor. Als Besonderheiten unterstreicht sie den Einsatz in sowohl Einzel- als auch Gruppensettings sowie die besondere Nähe zum Lebensalltag der Befragten. Als weitere Stärke nennt sie die Möglichkeit, über die Reaktion auf Vignetten in Befragungen selbst Interaktionen zu evozieren. Anmerken lässt sich hier, dass dies natürlich für Gruppensettings stärker gilt, aber zugleich nicht nur für die Vignettenforschung, sondern auch für andere Erhebungsmethoden wie bspw. das Paarinterview (WIMBAUER & MOTAKEF 2017). Der Bedarf einer Einführung zur Vignettenforschung ergibt sich darüber hinaus m.E. jedoch nicht erst abgrenzend zu anderen erzählgenerierenden Verfahren, sondern schon aus der Herausforderung, das Handwerkzeug aufzuzeigen, das notwendig ist, um eine empirisch gesättigte und lebensweltlich anschlussfähige Vignette zu verfassen sowie diese in unterschiedliche sozialwissenschaftliche Methodiken integrieren zu können. Also ganz im Sinne von MIKO-SCHEFZIG ist sicherzustellen, dass die verwendete Vignette auf empirisch basierten Beschreibungen mit bspw. typisierten Elementen, Krisen oder Entscheidungssituationen fußt und nicht einfach eine erratische, aus dem eigenen Gefühl entspringende Narration ist. [8]

Für eine empirisch basierte Konstruktion von Vignetten schlägt MIKO-SCHEFZIG ein dreistufiges Verfahren vor, um empirisches Wissen zu erlangen, aus dem relevante Inhalte und Strukturen hervorgehen, die in die Vignette einfließen können, und zugleich die Anschlussfähigkeit an die Lebenswelt der Befragten sicherzustellen. Für die qualitative Forschung mit Vignetten wird damit – im Unterschied zur quantitativen Vignettenforschung, bei der Vignetten in der Regel aus statistischen Kriterien zusammengefügt werden – deutlich, dass die eigentliche Vignette nicht am Anfang des Forschungsprozesses stehen kann, sondern als "prozessual" (S.26) verstanden werden muss. In einem ersten Schritt sollte MIKO-SCHEFZIG zufolge empirisch fundiertes Wissen über den Untersuchungsgegenstand gesammelt werden, bspw. über Literaturstudien oder, wie wir es in einer eigenen Studie verfolgt haben, über ethnografische Beobachtungen (LOCHNER, WUTZLER, RIßMANN & REHKLAU 2022). In einem zweiten Schritt können daraus typische Elemente bzw. kondensierte Typisierungen konstruiert werden, so MIKO-SCHEFZIG. Diese bilden dann die Basis der Vignettenkonstruktion, also des Verfassens von Narrativen situativer Interaktionen, welche schließlich drittens in unterschiedlichen Settings eingesetzt werden können. Als weiteren Vorteil der Vignettenforschung benennt MIKO-SCHEFZIG in diesem Zusammenhang, dass in realistischen Szenarien einzelne Elemente und die Komplexität von Situationen niedrigschwellig dargestellt werden können, die nicht nur eine Alltagsnähe, sondern auch eine Distanz der Befragten zur Situation zulassen. [9]

Neben einem gewissen narrativen Rahmen, der Verständlichkeit, Plausibilität und der Möglichkeit der Identifikation mit der beschriebenen Situation (S.29) sei außerdem wichtig, dass aus der Vignette eine Irritation, Handlungsaufforderung, eine Potenzialität oder eine Offenheit hervorgehe. Dies könne bspw. ein Konflikt- bzw. Eskalationspotenzial oder ein Entscheidungszwang sein. Dazu müssten sich die Befragten nicht nur (normativ) positionieren, sondern aus der Auseinandersetzung mit der Vignette erwüchsen zudem beobachtbare Interaktionen zwischen ihnen. Die Vignette müsse demnach geschlossen genug sein, um als Narration zu wirken, aber auch offen genug, um Reaktionen und Diskussionen zu generieren. An diesem Punkt ist aus meiner Perspektive die methodische Engführung auf Situationen und Idealtypen (nach JAHODA, LAZARSFELD & ZEISEL 1994 [1933]; THOMAS & THOMAS 1970 [1928]; WEBER [1904]) etwas bedauerlich, da dadurch nicht explizit an Methodiken angeknüpft wird, die auf der Idee eines Falles bzw. einer Fallstruktur aufbauen, die m.E. umfassender ist.3) [10]

Kapitel 4 und 5 bilden das Herzstück des Buches. Kapitel 4 ist zunächst der Frage gewidmet, für welche Forschungssituationen sich Vignetten eignen. Das Kapitel beginnt mit dem Fokus auf Gruppensettings und einer Einordnung verschiedener Gruppenverfahren. Das Buch verliert jedoch spätestens an dieser Stelle den Anspruch einer allgemeinen Einführung, viel mehr fokussiert MIKO-SCHEFZIG ihr eigenes Forschungsprogramm, denn die vignettenbasierte Fokusgruppe wird als einziges Setting herausgegriffen und detailliert beschrieben. Ein Exkurs auf zwei Seiten zu erzählgenerierenden Fragetechniken fällt dagegen eher kurz aus. [11]

Vignettenbasierte Fokusgruppen dienen ihr zufolge dazu, "typische Argumentations- und Einschätzungsmuster der befragten Personen hinsichtlich einer konkreten Situation zu erheben" (S.40). Zentral sei dabei, wie die beschriebene Situation von den Befragten definiert wird, welche Merkmale sie in der Diskussion – also der Aushandlung der Bewertung der Situation –herausgreifen oder wie divergierende Einschätzungen miteinander ausgehandelt werden. Darüber sollen latente Muster in der Bewertungs- und Urteilsbildung der Befragten in Bezug auf die Vignette rekonstruierbar werden. Fokusgruppen versteht MIKO-SCHEFZIG als typisierte Gruppen, die bezogen auf typisierte Situationen die Lebenswelt oder einen situativen Kontext miteinander teilen bzw. darüber in Beziehung stehen. Relevant ist dies für die Soziologin vor allem auch aufgrund ihres Anspruches, partizipativ und transformativ zu forschen. [12]

Hierauf legt MIKO-SCHEFZIG den Schwerpunkt im 4. Kapitel. Als theoretische Fokussierung auf alltagsnahe Situationen werden partizipative Elemente und der transformatorische Anspruch ihrer Vignettenforschung kleinteilig beschrieben. Ziel sei es, in alltagsnahen problematischen Situationen, deren Interaktionen in Vignetten festgehalten sind, über die Auseinandersetzung zu diesen Vignetten gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Möglich sei dies, da in Fokusgruppen Personen mit unterschiedlichen Machtpositionen zusammengebracht werden können, deren Lebenswelten sich zugleich in Bezug auf die spezifische Situation überschnitten. [13]

Als Beispiel dient MIKO-SCHEFZIG ihre Forschung zur Schubhaft, bei der Polizist:innen, Häftlinge, Beamt:innen und Sozialarbeiter:innen beteiligt waren. Partizipativ sei die Vignettenforschung hierbei, da sie den Befragten die Möglichkeit biete, in einem "methodisch abgesicherten Raum" (S.56) auch mit unterschiedlichen Positionierungen zusammen am Diskurs teilzuhaben und gemeinsam oder wechselseitig Veränderung anzustoßen. Herausfordernd sei dabei jedoch, achtsam mit Machtgefällen umzugehen und forschende Distanz zu bewahren. MIKO-SCHEFZIG verfolgt damit zugleich den Anspruch, auch "vulnerablen Gruppen als Ko-Forschenden eine Stimme zu verleihen" (a.a.O.). Machtverhältnisse sollen nicht nur rekonstruktiv erfasst werden, sondern MIKO-SCHEFZIG zielt mit ihrer Forschung darauf, "'den Schnittpunkt von Technologien der Macht und des Selbst' mittels transformatorischer Forschung greifbar zu machen, d.h. in logischer Konsequenz, die Partizipierenden in die Analyse 'der Anwendung dieses Wissens auf sich selbst' einzubeziehen" (S.57). In Anschluss an BUTLERs (2014) Konzepte der Performativität und Verwundbarkeit erwachse damit ein nicht nur für die Befragten theoretisch herausfordernder, sondern zugleich auch mediativer Anspruch, der über Kernelemente wissenschaftlicher Praxis hinausgehe. [14]

Die Bedingungen und Herausforderungen in der Auseinandersetzung, der Austausch und die Vermittlung unterschiedlicher Perspektiven zu einem gegenseitigen Verständnis, also zentrale Elemente eines mediativen Verfahrens und eines theoretischen Nachvollzugs der eigenen Situation, werden von MIKO-SCHEFZIG an diesem Punkt jedoch nicht expliziert. Performativ sei die Vignettenforschung, da der Austausch über die Vignette über den Perspektivwechsel die Situation iterativ (DERRIDA 1988 [1973]) verändere und dabei eine generative Wirkung (BUTLER 2014) habe. Als "politische Intervention" (MIKO-SCHEFZIG, S.59), bei der Machtverhältnisse situativ reflektiert und gebrochen werden können, wird die Vignettendiskussion in Fokusgruppen als Moment der Verständigung und nicht nur Wiederholung konzipiert. Begründet wird dies bspw. damit, da die Auseinandersetzung mit der Vignette außerhalb der alltäglichen (teils stark formalisierten) Routinen der Befragten in einem alternativen Rahmen stattfindet. Es geht MIKO-SCHEFZIG darum, dass dadurch neue Kontexte erarbeitet und neue Handlungsoptionen eröffnet werden können. Ihr zufolge kann Offenheit daraus entstehen, dass zwar anschlussfähige und konkrete Situationen über die Vignetten besprochen würden, diese aber einen hypothetischen Charakter hätten und nicht explizit von den Beteiligten selbst handelten. Zweifelhaft ist m.E., dass dies bereits den hierarchischen Strukturen, die ggf. in den Fokusgruppen bestehen, diametral entgegenstehen soll. [15]

Im 4. Kapitel werden außer der Einbindung von Vignetten als Rollenspiel in Lehrveranstaltungen hinsichtlich des transformativen Potenzials auch die Anknüpfungspunkte an das "Theater der Unterdrückung" von BOAL (1979 [1973]) aufgegriffen. Abschließend werden relativ kurz die Möglichkeiten der Reflexion des Forschungsprozesses über Vignetten und der Beobachtung bzw. Initiierung von Gruppenprozessen mittels Vignettendiskussionen als quasi Live-Experimente skizziert. [16]

Im 5. Kapitel sollen die Analysemöglichkeiten und -ebenen der Vignettenforschung aufgezeigt werden. Einer allgemein einleitenden Positionierung zugunsten interpretativer Paradigmen, also einer sinnhaften Deutung der Daten bspw. mittels wissenssoziologischer Methoden oder der Grounded-Theory-Methodologie und der Abgrenzung von inhaltsanalytischen Verfahren folgen Darstellungen zu Forschungsprojekten von MIKO-SCHEFZIG. Anhand von "situativen Fragestellungen in der Organisationsforschung" (S.74) werden zunächst die Möglichkeiten der Deutungsmusteranalyse und der Ausarbeitung von Maps in Anlehnung an die von Adele CLARKE (2012 [2005]) entwickelte Situationsanalyse aufgezeigt. Die genannten Konzepte werden ebenso wie die konzeptionelle Verortung von Organisationen in Situationen theoretisch aufgearbeitet und anschaulich an Praxisbeispielen verdeutlicht. [17]

Organisationen werden von ihr dabei in Anlehnung an Mehrebenenmodelle als Mesoebene verstanden, durch welche die Diskursebene mit der Situationsebene verbunden wird. Zudem versteht sie Organisationen als eigenen Subjektivierungskontext. Dies erlaubt es ihr, eigens organisationale Subjektivierungsweisen zu analysieren, die mit spezifischen organisationalen Subjektpositionen einhergingen. Hierbei knüpft sie an methodologischen Ausführungen von FROSCHAUER und LUEGER (2020) an, die sich konzeptionell der Idee der latenten Sinnstruktur und des Konzepts der Spuren von Diskursen bedienten. Dass MIKO-SCHEFZIG Subjektpositionen als in Situationen relational versteht erlaube, bei der Vignettenbefragung einen Perspektivenwechsel der Befragten zu initiieren. Dies wird an dieser Stelle erneut als Basis des transformativen Potenzials der Vignettenforschung angeführt. Das 5. Kapitel wird mit den Möglichkeiten der Analyse von Eigen- und Fremdzuschreibungen innerhalb der Aushandlungen der Vignetten, der damit einhergehenden Spannungen zwischen Einzel- sowie Gruppenmeinungen und der Multiperspektivität in Fokusgruppen abgeschlossen. [18]

Das 6. Kapitel ist mit "Chancen und Grenzen des Forschens mit Vignetten" überschrieben. Zwar wird die Vielfältigkeit der Vignettenforschung erneut angesprochen, aber als Chancen werden wiederholt vor allem die Anknüpfungspunkte ihrer eigenen Forschung aufgegriffen. Dazu zählen situative sowie diskurs- und machttheoretische Fragestellungen, die Analyse von Subjektivierungsweisen und das transformative Potenzial des Forschens mit Vignetten. Ergänzt wird dies durch das Potenzial in Lehrsettings oder im Stakeholdermanagement sowie in der Reflexion der Forschungspraxis. Als Grenzen werden der hohe Aufwand und die "Schweigsamkeit des Sozialen" angeführt. Letztere gilt selbstredend für alle methodischen Verfahren. Aufgegriffen werden zudem die Grenzen des performativen und transformativen Potenzials der Vignettenforschung. [19]

Am Schluss wird die "Wiederentdeckung der Situation" in der sozialwissenschaftlichen Forschung als Konzept erneut theoretisch aufgegriffen. Es werden unterschiedliche Anknüpfungspunkte (Chicagoer Schule, kommunikativer Konstruktivismus, Praxistheorie, Situationsanalyse, Rahmenanalyse) sowie begriffliche Differenzierungen (Situation, situativ, Situiertheit) skizziert und sie diskutiert, wie die unterschiedlichen Aspekte mit der konzeptionellen Integration von Gegenständen und Artefakten zusammengebracht werden können. [20]

3. Fazit

Der zentrale Mehrwert der Einführung ist zugleich deren Grenze. MIKO-SCHEFZIG hat die einführenden Ausarbeitungen zur Vignettenforschung stark auf die eigene Forschung bezogen. Dabei stehen Theorien der Situation in der Verknüpfung mit Vignetten als geeigneter Erhebungsform im Mittelpunkt. Über Beispiele und eine starke Nähe zum empirischen Material macht sie immer wieder sehr anschaulich, was mit der Vignettenforschung möglich ist und umgesetzt werden kann. Sie bleibt dabei jedoch meist bei den eigenen Forschungsschwerpunkten stehen und verschenkt – ungeachtet dessen, dass das methodische und konzeptionelle Fundament ihres Forschungsschwerpunktes vielfältig ist – die Möglichkeit, das Potenzial des Forschens mit Vignetten für unterschiedliche qualitative Methodiken zu explizieren und die weitreichenden Anknüpfungsmöglichkeiten detailliert aufzuzeigen. Wenn MIKO-SCHEFZIG in der Zusammenstellung der Fokusgruppen z.B. in Anschluss an MANNHEIM (u.a. 1980 [1924/25], S. 236) das Konzept des "konjunktiven Erfahrungsraums" aufgreift, wäre es leicht möglich gewesen, auch Bezüge zur dokumentarischen Methode herzustellen (u.a. zu unterschiedlichen Diskussionsmodi). [21]

Insgesamt werden zwei Ziele verfolgt: eine gebündelte, allgemeine Einführung sowie die Darlegung einer spezifischen Idee des Forschens mit Vignetten. Wird in den Kapitelüberschriften der Einführungscharakter deutlich, so liegt der Fokus der Kapitelinhalte doch meistens bei MIKO-SCHEFZIGs eigenem Forschungsprogramm, und sie versucht innerhalb des geringen Umfangs, zahlreiche theoretische Hintergründe zu verknüpfen. Die Hülle entspricht demnach nur teilweise dem Inhalt. Dies erweckt beim Griff nach dem Buch ggf. Erwartungen, die es nicht vollkommen erfüllen kann. In der Summe wird im Versuch, beide Ziele umzusetzen, weder das Potenzial einer Einführung noch das Potenzial der Darstellung ihres Forschungsprogramms als eine exemplarische Möglichkeit des Forschens mit Vignetten voll ausgeschöpft. Für Leser:innen, die an Letzterem interessiert sind, sei die Lektüre eher empfohlen. Herauszuheben ist, dass sich der Text sehr gut lesen lässt und verständlich geschrieben ist, er ist also auch für Einsteiger:innen zugängig. [22]

Es lohnt durchaus ein Blick in die spannenden Forschungsarbeiten MIKO-SCHEFZIGs, die durchweg nachvollziehbar veranschaulicht werden. Immer wieder werden auch Möglichkeiten der Vignettenforschung darüber hinaus aufgezeigt oder angerissen, meist jedoch nicht im Detail verfolgt. Verweise auf das Potenzial und die Vielfalt des Forschens mit Vignetten werden all zu oft einseitig mit Ausführungen zu ihrem Forschungsfokus und dem performativ-partizipativen Ansatz beantwortet. Es wäre wünschenswert gewesen, die Ausrichtung des Buches als Präsentation des eigenen Forschungsprogramms zu schärfen, bei dem Vignetten eine entscheidende (transformative) Rolle spielen. Die Relevanz und das Potenzial dessen steht außer Frage. Dies hätte zugleich die Chance geboten, die darunter liegenden theoretischen Konzepte noch stärker auszuführen, zu verknüpfen sowie in ihren Verschränkungen zu schärfen, wenngleich das Buch dann wahrscheinlich umfangreicher ausgefallen wäre. Eine allgemeine Einführung, mit der das Potenzial der Vignettenforschung in der Verknüpfung mit unterschiedlichen qualitativ-sozialwissenschaftlichen Methodiken sowie die dafür notwendigen Grundlagen und die daraus folgende Praxis mit den damit einhergehenden Herausforderungen und Potenzialen aufgezeigt wird, bleibt weiterhin zu schreiben. [23]

Anmerkungen

1) Sie leitet das Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind laut ihrer Homepage: qualitative Methoden, Sicherheitsforschung, interpretative Soziologie, soziologischer Film, Familiensoziologie und Gender Studies. <zurück>

2) Insbesondere wird auf Projekte zur subjektiven Sicherheit im öffentlichen Raum, Häftlingen in Polizeianhaltezentren und Pflegesituationen in der stationären Langzeitpflege Bezug genommen. <zurück>

3) Bspw. wird in der Grounded-Theory-Methodologie ein Fall als eine sich entwickelnde autonome Handlungseinheit bzw. ein sich entfaltender autonomer Handlungszusammenhang mit Geschichte verstanden, der rekonstruktiv in seiner Eigenlogik als Fall zur Sprache gebracht wird (HILDENBRAND 1998, S.12). <zurück>

Literatur

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Zum Autor

Michael WUTZLER ist Projektkoordinator der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts "Vielfalt vor Ort begegnen" an der FH Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Paar-, Familien- und Kindheitssoziologie sowie die Methoden der qualitativen Sozialforschung.

Kontakt:

Dr. Michael Wutzler

Fachhochschule Erfurt
Fakultät für angewandte Sozialwissenschaft
PF 450155, 99081 Erfurt

Tel.: +49 (0)361 6700-3217

E-Mail: Michael.Wutzler@fh-erfurt.de

Zitation

Wutzler, Michael (2022). Review: Miko-Schefzig, Katharina (2022). Forschen mit Vignetten. Gruppen, Organisationen, Transformation [23 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 23(3), Art. 12, https://doi.org/10.17169/fqs-23.3.3952.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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