Volume 9, No. 2, Art. 9 – Mai 2008

Rezension:

Sabine Bollig

Peter Cloos & Werner Thole (Hrsg.) (2006). Ethnografische Zugänge. Professions- und adressatInnenbezogene Forschung im Kontext von Pädagogik. Wiesbaden: VS, 253 Seiten, ISBN 978-3-531-15013-0, EUR 29,90

Zusammenfassung: Der Band versammelt heterogene Beiträge zur "Pädagogischen Forschung im Kontext von Ethnografie und Biografie", die ihren gemeinsamen Bezugspunkt in den Forschungswerkstätten an der Kasseler Universität haben. In der Rezension werden die 14 Artikel vor dem Hintergrund der Zielsetzung des Bandes dargestellt. Diese besteht darin, die Vielfalt von ethnografischen Zugängen zu pädagogischen Feldern entlang einer methodenreflexiven Präsentation von Forschungsergebnissen zu dokumentieren und damit einen Beitrag zur Methodendiskussion in der Erziehungswissenschaft zu leisten. Die meisten Einzelbeiträge legen ihre Forschungsergebnisse entsprechend methodenreflexiv dar, wobei sie sich jedoch sehr unterschiedlich und zum Teil auch eher vage auf Ethnografie ausrichten bzw. auf pädagogische Felder beziehen. Leider wird der Ertrag dieser Kompilation von teilweise disparaten Forschungszugängen von den Herausgebern nicht systematisiert, sodass – trotz interessanter Einzelbeiträge – das Potenzial des Bandes für die methodologische "Vergewisserungsarbeit" in der Erziehungswissenschaft nur wenig sichtbar wird. Vielmehr hinterlässt die Lektüre des Bandes insgesamt eher den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit im Gebrauch des Begriffes "Ethnografie".

Keywords: Ethnografie, Biografieforschung, Professionsforschung, AdressatInnenforschung, Pädagogik

Inhaltsverzeichnis

1. Zum Kontext des Bandes

2. Zielsetzung und Aufbau des Buches

3. Kurzdarstellung der Einzelbeiträge

3.1 "Studien zu Profession und Organisation"

3.2 "AdressatInnen im Blick der Forschung"

3.3 "Forschungspraktische und methodische Fragen"

4. Fazit

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Zum Kontext des Bandes

Ethnografische Forschung etabliert sich zunehmend in pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Forschungszusammenhängen und streut über verschiedene Forschungsfelder und -gegenstände. Davon zeugen aktuell Studien zur Leistungsbewertung in Schulklassen (z.B. BREIDENSTEIN, MEIER & ZABOROWSKI 2007), zur Jugend- und Kinderkultur in pädagogischen Organisationen (z.B. BENNEWITZ 2004), zu Ritualen und dem performativen Bildungsgeschehen in Familie und Freizeit (AUDEHM 2007), dem beruflichen Handeln in der offenen Jugendarbeit (z.B. KÜSTER 2003) oder dem Qualitätsproblem von Kindertageseinrichtungen (z.B. JUNG 2005) – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. [1]

Zudem gibt es seit einigen Jahren eine zaghafte methodologische Diskussion zur Spezifität einer "Pädagogischen Ethnografie" (ZINNECKER 2000), bei der es sowohl um deren Leistungsfähigkeit für die empirische Aufklärung pädagogischer Praxis als auch um die erziehungswissenschaftliche Konturierung und konkrete Operationalisierung der Ethnografie in pädagogischen Feldern geht. Deren Besonderheiten werden dabei in Bezug auf Rolle und Gestalt (FRIEBERTSHÄUSER 1996; SCHÜTZE 1994) ethnografischer Methoden oder Erkenntnisstile in der Erziehungswissenschaft sowie hinsichtlich ihrer spezifischen Gegenstandskonstruktionen (ZECK 2000; KLATETZKI 2003; HONIG 2002; BOLLIG & KELLE 2008) und besonderen Methodenproblemen (THOLE, CLOOS & KÜSTER 2004) aufgegriffen. Ein eigener thematischer Strang widmet sich zudem der Bedeutung der Ethnografie für die Professionalisierung pädagogischer Praxis, wobei sowohl der Gewinn des Einsatzes ethnografischer Methoden und Forschungsergebnisse für die Ausbildung von PädagogInnen diskutiert (KELLE 2004) als auch die Institutionalisierung einer "ethnografischen Sichtweise" (SCHÜTZE 1994) bzw. eines "ethnografischen Habitus" (MAROTZKI 2000) als pädagogische Kernkompetenz (FRIEBERTSHÄUSER 1996; LINDNER 2000) hervorgehoben wird. [2]

Ethnografie wird einerseits als sozialwissenschaftliche, methodenplurale und kontextbezogene Feldforschungsstrategie gefasst (s. LÜDERS 2000, S.389), in deren Mittelpunkt die teilnehmende Beobachtung steht, oder aber als forschende Erkenntnishaltung oder pädagogische Kernkompetenz im Sinne einer bestimmten praktischen Reflexionskompetenz annonciert – wobei diese durchaus auch in Wechselbeziehungen zueinander stehen können. Vielleicht ist es auch diese Vielfalt an unterschiedlichen Bezugnahmen, die dazu führt, dass nicht von einer ausgesprochenen Etablierung der Grundlagen- und Methodendiskussion zur Ethnografie in der erziehungswissenschaftlichen Forschung gesprochen werden kann. Vielmehr wird gerade diese methodologische "Vergewisserungsarbeit" als Desiderat der disziplinären Debatte markiert. Hierauf haben alleine im Jahr 2006 zwei Tagungen reagiert: Dies war zum einen die internationale deutschsprachige Tagung zur "Pädagogik der Ethnographie" in Zürich, die von Bettina HÜNERSDORF, Burkhard MÜLLER und Christoph MAEDER ausgerichtet wurde. Hier standen neben der methodenreflexiven Darstellung und Diskussion von Forschungsarbeiten und -ergebnissen auch die eher selten diskutierten grundlagentheoretischen Fragen nach den spezifischen Gegenstandskonstruktionen einer erziehungswissenschaftlichen Ethnografie und ihrem Beitrag zur "Formbestimmung des Pädagogischen" im Vordergrund (HÜNERSDORF, MAEDER & MÜLLER 2008). Die zweite Tagung wurde von den Herausgebern des vorliegenden Bandes ebenfalls 2006 gemeinsam mit Friederike HEINZEL in Kassel durchgeführt. Diese Tagung fokussierte unter dem Titel "Auf unsicherem Terrain" vorwiegend Methodenfragen zu den einzelnen Forschungsphasen ethnografischer Forschung in verschiedenen pädagogischen Feldern (siehe den Tagungsbericht in FQS von HÖBLICH 2007 und den Tagungsband von HEINZEL, THOLE, CLOOS & KÖNGETER 2008). [3]

Der hier zu rezensierende Sammelband ist im Kontext dieser "Standortbestimmungen" zur Ethnografie als Forschungsmethode innerhalb der Erziehungswissenschaften zu verorten. Die Herausgeber rechnen dabei der Ethnografie gerade in Bezug auf die Soziale Arbeit eine herausgehobene Bedeutung zu (S.9), was sicherlich auch deren eigener ethnografischer Forschungsarbeit und disziplinärer Verortung geschuldet ist (s. CLOOS 2007; THOLE, CLOOS & KÜSTER 2004). Allerdings heben die Herausgeber auch hervor, dass "gegenwärtig immer noch eine gewisse Scheu vor der direkten Teilnahme im Feld" (S.10) zu verzeichnen sei. Diese Scheu sehen sie vor allem immanent in der "forschungsmethodischen Offenheit ethnografischer Strategien" (S.9) begründet, die zwar zu einer Ausweitung und Profilierung heterogener ethnografischer Forschungsstrategien und -zugänge geführt habe, als Kehrseite jedoch auch die Verunsicherung darüber mit sich führe, was denn nun unter Ethnografie zu verstehen sei, "wenn nicht aus pragmatischen Gründen lediglich die mehr oder weniger lange forschungsorientierte Anwesenheit in einem Untersuchungsfeld als das Kernstück der Ethnografie betrachtet werden soll" (S.11). Entsprechend markieren die Herausgeber einen Bedarf an reflexiven Vergewisserungen zur ethnografischen Forschung in der Erziehungswissenschaft, welche bisher "nur vereinzelt stattfinden und wenn dann weitestgehend entkoppelt von der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion" (S.14). [4]

2. Zielsetzung und Aufbau des Buches

Interessanterweise begegnen die Herausgeber dieser Unsicherheit bezüglich der Ethnografie in der Erziehungswissenschaft nicht mit einer Gegenstands- oder Grenzbestimmung dessen, was unter erziehungswissenschaftlicher Ethnografie zu verstehen sei oder verstanden werden könnte. Vielmehr gehen sie den Weg, die "Vielfältigkeit von Forschungszugängen und -gegenständen abzubilden, durch die […] zum Teil recht innovative, unkonventionelle methodische Zugänge in der Forschungspraxis operationalisiert werden" (S.11). Die Auswahl der versammelten Beiträge begründet sich dabei maßgeblich darüber, dass sie alle in unterschiedlichen Forschungsbemühungen an der Universität Kassel wurzeln und die Weiterentwicklung und Ausweitung des dort von Fritz SCHÜTZE entwickelten Konzepts von Ethnografie als "empathisch verstehender Erkenntnishaltung" (SCHÜTZE 1994) hin zu einer sozialwissenschaftlichen, methodenpluralen Forschungsstrategie dokumentieren. Aus diesem Bezug zu den SCHÜTZEschen Forschungswerkstätten lässt sich wohl auch der starke Rekurs auf biografieanalytische Verfahren erklären. Allein sechs der 14 Einzelbeiträge des Bandes sind explizit der Biografieforschung (FABEL-LAMLA, ANER, FIECHTNER-STOTZ & BECKER, FUEST, SCHULZE, LOCH) zuzurechnen. [5]

Zielsetzung der Herausgeber ist es also, die Vielseitigkeit der in Kassel realisierten Forschungsarbeiten "mit mehr oder weniger deutlichem ethnografischen Zugang zu pädagogischen Handlungsfeldern und hier insbesondere zur Sozialen Arbeit" (S.11) entlang von Ergebnisdarstellungen zu dokumentieren. Gleichzeitig sollen "vor dem Hintergrund und entlang der gewonnenen Erkenntnisse insbesondere auch forschungsmethodische und methodologische Fragestellungen" (S.14) reflektiert werden, um einen Beitrag zu der eingeforderten Methodendiskussion zu liefern. Jedoch wird der Fokus auf "Ethnografische Zugänge" von den Herausgebern bereits in der Betitelung der Einleitung wieder etwas zurückgenommen, welche nun "Pädagogische Forschung im Kontext von Ethnografie und Biografie" lautet, jedoch keine systematische Klärung der Begriffe Ethnografie, Biografie (oder auch "pädagogischer Forschung") enthält. Vielmehr verweisen die Herausgeber auf die Vielfalt der unterschiedlichen Konzeptionen von Ethnografie und strukturieren die Beiträge des Bandes in einer Überblickssystematik, wobei sie induktiv die Bandbreite der in den Beiträgen verwendeten Gebrauchsformen des Begriffes "Ethnografie" und seiner methodischen Operationalisierungen auf unterschiedlichen Ebenen darlegen. Sie unterscheiden von den Beiträgen ausgehend sieben unterschiedliche Zugangsweisen, "die mehr oder weniger dezidiert ethnografisch oder eher biografieanalytisch angelegt sind" (S.11):

Bereits in dieser Systematik deutet sich ein Problem des Bandes an, der sich der Darstellung von Heterogenität verpflichtet fühlt, aber eine eigene systematische Perspektive vermissen lässt, unter der die unterschiedlichen Forschungsarbeiten als plural bzw. vielfältig und nicht lediglich "anders" zu bewerten wären. So ist nicht ersichtlich, warum die Herausgeber in der Einleitung Ethnografie zum einen vor allem als methodenplurale Feldforschungsstrategie fassen und zum anderen dann in der Klassifizierung von Zugangsweisen jedoch zwischen "methodenpluralen" und "dezidiert ethnografischen" Zugangsweisen unterscheiden. Denn im Weiteren fungiert insbesondere die Methodenpluralität im Kontext einer ethnografischen Fremdheitshaltung als Kriterium für methodische Nähe oder Anknüpfungsfähigkeit biografienanalytischer Verfahren zur Ethnografie – es wäre also zu vermuten, dass dann doch gerade darin das "dezidiert ethnografische" liegt. So sehr das Anliegen der Herausgeber, hier keine Top-Down-Klassifizierung der Forschungsarbeiten entlang "eines" Begriffes von Ethnografie vorzunehmen, nachzuvollziehen ist, so sehr wäre es an dieser Stelle jedoch wünschenswert gewesen, dass das verbindende Prinzip (bzw. die Differenzen) und der jeweils spezifische Beitrag der Einzelarbeiten im Sinne dieser Zugangsweisen in einer etwas systematischeren Matrix erfasst worden wäre. [7]

Die Gliederung des Buches folgt dann auch nicht diesen induktiv gewonnenen Klassifizierungen, sondern ordnet die insgesamt 14 Beiträge drei großen Abschnitten zu. Teil 1 und 2 folgen mit dem Fokus auf Organisation und AdressatInnen zwei "klassischen" Forschungsfeldern der erziehungswissenschaftlichen und vor allem sozialpädagogischen Forschung. Teil 3 widmet sich noch einmal dezidiert der Methoden- und Forschungsreflexion:

3. Kurzdarstellung der Einzelbeiträge

Da es die Zielsetzung des Bandes (und zum großen Teil auch Leistung der Einzelbeiträge) ist, die Ergebnisdarstellung der Forschungsarbeiten mit der Methodenreflexion zu verknüpfen, soll in der kurzen Skizzierung der Einzelbeiträge insbesondere auf dieses Verhältnis eingegangen werden. [9]

3.1 "Studien zu Profession und Organisation"

Davina HÖBLICH stellt in ihrem Beitrag Pädagogische Deutungsmuster in der Lehrer-Schüler-Beziehung – ein konstruktives Misstrauensvotum Ergebnisse einer multiperspektivischen Analyse unterrichtlicher Aushandlungsprozesse "in Bezug auf Sinn und Bedeutung in LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen und Deutung durch die schulischen AkteurInnen" (S.19) vor. Sie rekonstruiert sowohl die Interaktionsstrukturen bei der Herstellung von Arbeitsbündnissen im Unterricht als auch die "Verarbeitungen der AkteurInnen vor dem Hintergrund ihrer sich biografisch ausgeformten Struktur- und Selbstproblematiken" (S.22). Diese zunächst anhand von Unterrichtstranskripten und Interviews getrennt durchgeführten Auswertungen führt sie in einer triangulierenden Perspektive zusammen. Ergebnis ist die Darstellung "der Verschränkung von professionellen Deutungsmustern und Präskripten der Lehrerin in ihren Auswirkungen auf die Unterrichtsinteraktion" (S.31) mittels eines Etikettierungsansatzes. Sie grenzt ihr methodisches Vorgehen dabei in einer Fußnote explizit von einem "engen Begriffsverständnis" von Ethnografie ab, das lediglich auf die teilnehmende Beobachtung fokussiere und versteht unter Ethnografie vielmehr ein allgemeines Forschungsprogramm, das auf das "verstehende Begreifen von Sinnzusammenhängen der sozialen Wirklichkeit" und der Rekonstruktion der Alltagswelt der Teilnehmenden zielt (S.21). [10]

Friedericke HEINZEL hingegen macht in ihrem Beitrag Lernen am schulischen Fall – wenn Unterricht zum kommunizierbaren Geschehen wird die Fallarbeit in der LehrerInnenbildung selbst zum Fall und beobachtet die Auseinandersetzung einer Gruppe von Studentinnen mit einem Transkript einer unterrichtlichen Situation. Sie arbeitet auf Basis von videografiertem Datenmaterial heraus, wie der Einsatz von Fallarbeit in der Hochschullehre "Unterricht zum kommunizierbaren Geschehen" (S.45) macht und schließt aus den Aneignungs- und Interpretationsprozessen innerhalb der beobachteten studentischen Arbeitsgruppe, dass dadurch die "Sensibilisierung für die Komplexität schulischer Interaktionsprozesse" (S.46) bei den Studierenden befördert werde. Diese Sensibilisierung stütze auch die "professionelle Berufsvorbereitung" (S.46) vor allem im Hinblick auf die Antinomien des LehrerInnenhandelns in der Schule. HEINZEL plädiert zudem dafür, die Fallarbeit in Hochschulseminaren stärker selbst zum Gegenstand (ethnografischer) Forschung zu machen, um die von ihr vermuteten hochschuldidaktischen Leistungen empirisch differenzieren zu können. [11]

Melanie FABEL-LAMLA widmet sich in ihrem Beitrag Biografische Professionsforschung im Kontext der Schule auch dem Verhältnis von Profession und Schule, allerdings aus biografienanalytischer Perspektive. Sie berichtet von ihrer Forschungsarbeit zu biografischen Verläufen und Professionalisierungspfaden ostdeutscher Lehrkräfte. Ihren methodologischen Ansatz plausibilisiert sie vor dem Hintergrund eines biografieanalytischen Defizits der Professionsforschung, wohingegen sie davon ausgeht, "dass Professionalisierungsprozesse und die Herausbildung professioneller Orientierungs-, Deutungs- und Handlungsmuster nicht unabhängig von ihrer biografischen Genese verstanden und erklärt werden können" (S.50). Sie stellt dabei ausführlich und anschaulich ihr biografienanalytisches methodisches Vorgehen (Datenerhebung und -auswertung) dar, bezieht sich jedoch in keiner Weise auf Ethnografie, sodass CLOOS und THOLE ihr Vorgehen auch eher im Hinblick auf eine "ethnografische Erkenntnishaltung" einordnen, wobei es darum gegangen sei, "auf Basis von biografischen Interviews die konkrete Handlungspraxis" (S.14) herauszuarbeiten. [12]

Peter CLOOS und Stefan KÖNGETER heben hingegen hervor, dass es gerade der ethnografische Zugriff ermögliche, nicht "nur die Einschätzungen und Deutungen zum Handeln, sondern auch das Handeln (bzw. das Erhandelte, also beispielsweise 'das Stumme') selbst in den Blick zu nehmen" (S.67). Ihr Beitrag Eintritte in das Jugendhaus stellt Material und Ergebnisse aus dem Kontext des ethnografischen DFG-Projektes "Konstitutionsbedingungen und Dynamik (Performanz) sozialpädagogischen Handelns in der Kinder- und Jugendarbeit" vor (siehe auch die Beiträge von SCHONEVILLE sowie von SCHONEVILLE, KÖNGETER, GRUBER & CLOOS im Band). In diesem Projektzusammenhang wird Ethnografie im Sinne von LÜDERS (2000) als methodenplurale Feldforschungsstrategie gefasst, wobei Protokolle teilnehmender Beobachtungen, Aufzeichnungen ethnografischer Gespräche, leitfadengestützter Interviews und weiterer Besprechungen/Interaktionen nach einer getrennten Auswertung triangulierend zusammengefasst wurden. In dem hier vorliegenden Beitrag fokussieren die Autoren auf Übergangs- und Eintrittsituationen in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Den Eintritten in das Jugendhaus als Übergangsgeschehen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, "da das Angebot einer Freizeitstätte (Jugendtreffs, -häuser und -zentren) häufig bereits architektonisch-territorial auf die konzeptionellen Überlegungen hinweist, einen sozialen Ort zu konstituieren, der pädagogisch relevante Differenzerfahrungen zur sonstigen Umwelt ermöglichen" (S.83) soll. CLOOS und KÖNGETER analysieren die Eintrittsituationen als spezifische Ressourcen der "sozialen Arenen" der Kinder- und Jugendarbeit und zeigen in der Analyse von Beobachtungsprotokollen und Feldtagebuchnotizen aus zwei Jugendtreffs auf, wie dort spezifische Eintrittsmuster als unterschiedliche Handlungstypen rekonstruiert werden können, in denen Zugänglichkeit und Zugehörigkeit zur Kinder- und Jugendarbeit von den Teilnehmenden performativ hergestellt und entwickelt wird (s. S.81). An ihrer ausgesprochen methodenreflexiven Darstellung des Forschungsprozesses zeigt sich zudem besonders gut die facettenreiche Bedeutung der teilnehmenden Beobachtung als Kern der ethnografischen Feldforschungsmethode. Denn insbesondere die selbstreflexive Protokollierung der eigenen ersten Eintritte in die Jugendhäuser kann hier von den Autoren auf der Ebene einer "methodisch kontrollierten Beobachtung" (S.77) der Teilnahmeerfahrungen des "Ethnografen-im-Feld" (KALTHOFF 1997) für erste Hypothesenbildungen relevant gemacht werden. [13]

Kirsten ANER stellt in dem letzten Beitrag dieses Abschnitts einen wenig erforschten Bereich der Professionsforschung in der Sozialen Arbeit vor, nämlich das Zivilgesellschaftliche Engagement aus biografisch-analytischer Perspektive. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Frage, "wie unter Bedingungen befriedigender Lebenslagen zivilgesellschaftliches Engagement entsteht – oder auch nicht" (S.88). Dazu hat sie in einer qualitativen Engagementstudie Interviews mit "Neuen Alten" im Hinblick auf "übersituative Handlungslogiken" (S.90) analysiert. In ihrem biografienanalytischen Vorgehen bezieht sie verschiedene Theorieansätze aufeinander, um auf der Mikroebene "Modi der Vermittlung zwischen objektivierbaren Lebenslagen und individuellem zivilgesellschaftlichem Handeln" (S.92) aufzuspüren – ein Vorgehen, das im Beitrag selbst leider nur sehr wenig an der eigenen Empirie plausibilisiert wird. ANER führt zu Beginn an, dass mit ihrem Forschungsziel durchaus "ein ethnografischer Zugang denkbar gewesen" wäre (S.89), sich jedoch forschungspraktisch nicht realisieren ließ, und sie plädiert in der Reflexion des Forschungsertrages auch noch einmal für die Erweiterung um Verfahren der teilnehmenden Beobachtung. Leider führt sie jedoch nicht aus, was im Hinblick auf ihre Fragestellung von dieser Integration ethnografischer Methoden zu erwarten (gewesen) sei bzw. wie sich ethnografische Feldforschung und biografiebezogene problemorientierte Leitfadeninterviews hier ersetzen, ergänzen oder gegenseitig befruchten könnten. [14]

3.2 "AdressatInnen im Blick der Forschung"

Holger SCHONEVILLE verfolgt in seinem Beitrag Ins Café kann halt jeder kommen der Lust hat das Anliegen, die Kinder- und Jugendarbeit aus Sicht ihrer AdressatInnen zu rekonstruieren. Dazu wurden von ihm drei leitfadengestützte narrative Interviews mit Jugendlichen ausgewertet. Analytisch treten in der Beschreibung des Verhältnisses der Jugendlichen zu den Jugendzentren insbesondere zwei Themenkomplexe hervor, welche die Einrichtungen als "Orte für Jugendliche" erlebbar machen und die SCHONEVILLE vergleichend darstellt. Dies sind zum einen die unterschiedlichen Zugangserfahrungen und -wege zu den Einrichtungen und zum anderen ist es die soziale Binnendifferenzierung und Herstellung von Gruppenzugehörigkeit, welche von den Jugendlichen insbesondere über die Zurechnung zu Altersgruppen vollzogen wird. Zudem arbeitet der Autor in Lebensverlaufsperspektive die wandelnde Bedeutung der Einrichtungen im Sinne "partieller institutioneller Begleiter" heraus. Die Jugendhäuser sind für die AdressatInnen dabei Orte der Entwicklung in zweifacher Hinsicht: "Zum einen verändert sich das Verhältnis zur Einrichtung und zum anderen sind die Einrichtungen Orte, an denen sich Jugendliche selber entwickeln" (S.114). Gerade diese lebenslaufbezogene Perspektive hebt SCHONEVILLE als bedeutsamen Bestandteil einer "kaleidoskopischen Triangulation" von Datenmaterialien und Auswertungsgegenständen innerhalb des Gesamtzusammenhangs des zuvor bei CLOOS und KÖNGETER erwähnten DFG-Projekts "Konstitutionsbedingungen und Dynamik (Performanz) sozialpädagogischen Handelns in der Kinder- und Jugendarbeit" hervor. Denn im Gegensatz zu teilnehmenden Beobachtungen, "die vor allen Dingen das situative Geschehen in den Blick bekommen, wurde durch die Interviews die Rekonstruktion langfristiger Prozesse, wie z.B. die Zugänge der Jugendlichen zur Kinder- und Jugendarbeit, möglich" (S.105). [15]

Irene FIECHTNER-STOTZ und Maren BRACKERs Beitrag Lebenswelten minderjähriger Mütter stellt zwei Fallportraits und eine aus weiteren sechs Interviewtranskripten entwickelte Typologie zu "objektivierten Typen sozialen Handelns" im Umgang von jungen Müttern mit ihrer Lebenssituation dar. Die Autorinnen explorieren damit ein wenig untersuchtes Forschungsfeld und verknüpfen einen biografieanalytischen mit einem lebensweltbezogenen Forschungsansatz. Dazu wurden für die Datenerhebung problemzentrierte Interviews angewendet und die narrativen Anteile in den Interviewsituationen als biografische Elemente "in die auf das Problem fokussierte Fragestellung" (S.119) eingewoben. Die Generalisierung erfolgte über eine Verknüpfung von Idealtypen und Realtypen, wobei in der Ergebnisdarstellung nicht immer deutlich wird, wie die Interpretationen aus dem Fallmaterial gewonnen wurden, was sicherlich der Darstellungsform geschuldet ist. Anknüpfungspunkte an ethnografische Zugänge werden jedoch weder in Bezug auf Ethnografie als fremdverstehende Erkenntnishaltung noch als Feldforschungsmethode benannt oder erkennbar. [16]

Sarina Nicola FUEST untersucht in ihrem Beitrag Zur Ätiologie von Adipositas im Leben traumatisierter Frauen den Zusammenhang zwischen Traumatisierungen im Kindesalter und Essstörungen im Erwachsenenalter. Auf Basis biografischer Interviews mit übergewichtigen Frauen, die sich einer Traumabehandlung unterziehen, rekonstruiert FUEST in Fallportraits und vergleichender Analyse, wie sich die traumatisierenden Erfahrungen in der Kindheit mit den späteren Essstörungen verquicken und frühe Funktionalisierungen des Essens auch für die spätere Regulierung des Gefühlhaushaltes innerhalb der Traumaproblematik beibehalten werden (S.151). Methodisch interessant ist dabei, dass die Autorin den Interviews ein Praktikum in der betreffenden Therapieeinrichtung vorgeschaltet hat, um die erforderliche Vertrauensbasis zu den Teilnehmerinnen und eine Sensibilität für den Umgang mit traumatisierten Personen aufzubauen. Was diese Form der Teilnahme im Feld zur Etablierung eines forschungsbezogenen Arbeitsbündnisses von der teilnehmenden Beobachtung innerhalb der ethnografischen Feldforschung abgrenzt, macht FUEST selbst deutlich. Denn sie habe in ihrer Teilnahme am Feldgeschehen – als der der eigentlichen Datenerhebung vorgeschalteten Phase – beachten müssen, "dass über die Einsozialisation ins Feld die Teilnehmende Beobachterin mit den AkteurInnen des Feldes nicht allzu viel Kontextwissen gemeinsam teilte […] um zu verhindern, dass diese im Interview auf gemeinsames Kontextwissen zurückgreifen und somit Detailerzählungen unterlassen" (S.143). Hier wurde nun gerade die Leistung der teilnehmenden Beobachtung als Kernmethode der Ethnografie, nämlich über die partielle Einsozialisation ins Feld eine feldsensitive und kontextuelle Datenerhebung zu gewährleisten (vgl. HIRSCHAUER & AMANN 1997), zur Gefahr für die eigentliche Datenerhebung im Sinne narrativer Interviews. Daher wird in der Erläuterung dieser "unkonventionellen" Forschungsmethodik nicht deutlich, warum FUEST und auch die Herausgeber von teilnehmender Beobachtung/Feldforschung als "Möglichkeit, Zugang zum Feld zu finden", sprechen und nicht lediglich von einer sensiblen und vertrauensbildenden "Organisation des Feldzugangs". [17]

Martina GOBLIRSCH fragt in ihrem Beitrag Zur kommunikativen Herstellung von Identität und Moral danach, "wie Moral im Gespräch konstruiert wird und wie die interaktive Konstruktion von Moral und Identitätsherstellung zusammenhängen" (S.158). In Anwendung der Positionierungsanalyse von LUCIUS-HOENE und DEPPERMANN demonstriert sie an der Interpretation eines Gesprächsausschnittes zwischen einem fünfjährigen Mädchen und einer erwachsenen Frau, dass "Moral keine abstrakte statistische Größe [ist], sondern ein Verständnis von der Welt, eine Konstruktion, die im Gespräch selbst geschaffen, verfestigt und damit auch gleichzeitig ständig verändert wird" (S.166). Dabei geht es ihr in der Analyse der "konversationellen Erzählungen" um die "diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen aufeinander bezogen als Personen her- und darstellen" (S.159). Diese diskursiven Praktiken verweisen auf die biografische Dimension der Identitätsherstellung im Gespräch, denn in ihnen wird immer auch "auf bisherige soziale Erfahrungen und Konstruktionen sozialer Wirklichkeit in komplexer Form zurückgegriffen" (S.166). In dieser biografieanalytischen Erweiterung der Analyse von Sprechakten kann ein hohes Potenzial für die Analyse von Gesprächstranskripten innerhalb ethnografischer Feldforschung und die Verknüpfung von Biografieforschung und Ethnografie vermutet werden, auch wenn die Autorin selbst diesen Zusammenhang nicht explizit bemüht. [18]

3.3 "Forschungspraktische und methodische Fragen"

Jutta WIESEMANN legt in ihrem dezidiert methodologisch argumentierenden Beitrag Die Sichtbarkeit des Lernens ihr Verständnis einer ethnografischen Lernforschung dar, die entgegen kognitions- und individualzentrierten Lernbegriffen das Lernen in der Schule als sozialen, öffentlichen, alltagspraktischen und performativen Prozess "der sozialen Genese von Wissen" (S.174) zu fassen sucht. Entsprechend ist für sie die Ethnografie im Sinne einer Feldforschungsstrategie mit Orientierung an der Situativität gelebter Praxis die Methode der Wahl. In ihrer Forschungsarbeit ergänzt WIESEMANN die teilnehmende Beobachtung um Tonbandaufzeichnungen des sprachlichen und hörbaren Geschehens und bringt als weitere methodische Dimension auch die "teilnehmenden Kamera" (gemeinsam mit C. BOHN) zum Einsatz. In dem im Band gedruckten Beitrag legt sie die Leistungsfähigkeit ihres Ansatzes an zwei Fallbeispielen dar: im ersten rekonstruiert sie anhand eines Tonbandtranskriptes die soziale Lernoperation "Wiedererinnerung" als kommunikative Praxis, die spezifische Verstehens- und Erklärungshandlungen erzeugt. Lernen zeigt sich dabei als Bearbeitungspraxis von Aufgabenstellungen, in denen die Schülerinnen und Schüler interaktiv Strukturierungsleistungen erbringen. Im zweiten Beispiel legt sie anhand eines Beobachtungsprotokolls zu einem Vormittag in einer Alternativschule dar, wie sich spezifische didaktische Lernarrangements als Lernkulturen rekonstruieren lassen, in denen "Lernprozesse als performative Akte mit einer genuinen (schul-) kulturellen Überformung" erkennbar werden (S.181). "Lernen als performativen Akt zu verstehen heißt, Lernen als soziale Praxis zu begreifen, die in konkreten Situationen an konkreten Orten zur Aufführung kommt" (S.181). [19]

Peter CLOOS hebt in seinem Artikel Beruflicher Habitus. Methodologie und Praxis ethnografischer Entdeckung von Unterschieden ebenfalls Fragen der Gegenstandskonstitution ethnografisch rekonstruierbarer Forschungsgegenstände hervor. Er legt dazu seinen professionsbezogenen Forschungszugang "jenseits von Professionalisierungsforschung" (S.189) dar, in dessen Zentrum die Rekonstruktion des "beruflichen Habitus" steht. Mit diesem Konzept soll das Handeln von MitarbeiterInnen in der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund "– erstens – der individuell biografischen, – zweitens – der ausbildungsspezifischen und – drittens – der organisationsbezogenen Entwicklung beruflich-habitueller Orientierungen" (S.186) rekonstruiert werden. Analytisch nimmt vor allem der kontrastive Vergleich beruflich-habitueller Profile als "klassifizierbare Praktiken der beruflichen Akteure in Auseinandersetzung mit den Handlungsfeldern" (S.190) eine zentrale Rolle ein. CLOOS stellt in diesem Beitrag ausführlich die methodenplurale Anlage seines Forschungsvorhabens dar, in welchem er sich dem Themenfeld "Biografie" mittels narrativer Interviews und den Feldern "berufliches Handeln und Deuten" und "Organisationskultur" mittels teilnehmender Beobachtung, Audioaufzeichnungen von Teamsitzungen, Artefakten und Dokumenten genähert hat. Er differenziert seine Ergebnisdarstellung entlang von sieben Dimensionen von "Habitusrekonstruktionen" (S.192) und entwickelt abschließend ein empirisches Modell, das den Zusammenhang von Biografie, beruflichem Habitus und Organisationskultur multidimensional erschließt und somit habituelle Differenzen beobachtbar werden lässt: "Diese Praxis zu beobachten und dicht zu beschreiben wird möglich durch eine Perspektivenverschränkung von Biografie, Habitus und Organisationskultur und durch einen methodenpluralen ethnografischen Blickwinkel auf die unterschiedlichen Aspekte des beruflichen Habitus" (S.199). Sein Beitrag verweist damit vor allem auch auf die Produktivität des Einbezugs biografieanalytischer wie organisationsstruktureller Dimensionen beruflichen Handelns und zeigt damit nicht nur spezifische Potenziale für die Methodenentwicklung innerhalb ethnografischer Forschung auf, sondern erhellt auch für die Professionsforschung die Frage, wie jenseits bewertender Klassifizierungen von professioneller oder nicht-professioneller Praxis die Differenzen beruflich-habituellen Handelns empirisch rekonstruiert werden können (vgl. auch CLOOS 2007). [20]

Heidrun SCHULZE beschäftigt sich in ihrem Beitrag Biografie und Sprache wiederum explizit biografieanalytisch mit dem methodischen Problem des Verstehens in einem transkulturellen Forschungsfeld. Entlang eines Interviewausschnitts aus einer Untersuchung zu Krankheitsverläufen türkischer Migrantinnen und Migranten stellt sie dar, wie mittels einer "methodisch fundierten Fremdheitshaltung" (S.204) gerade auch unverständliche Passagen in transkulturellen Interviews für eine heuristisch vielschichtige Interpretationspraxis genutzt werden können. Hier wird die "lebenspraktische Fremdheit" zur Ressource eines methodischen Verstehens, das darauf zielt, das "Vorwissen über einen Gegenstand möglichst lange einzuklammern und auszuschalten, um zu verhindern, dass die Explikation der inneren Strukturiertheit des Untersuchungsgegenstandes zu früh abgebrochen und einem vorgängigen Wissen zugeordnet wird" (OEVERMANN, zitiert nach SCHULZE, S.205). Sie führt die heuristische Fruchtbarkeit einer solchen "ethnografisch reflexiven Forschungshaltung" entlang einer ausgedehnten Fallanalyse auf der Ebene eines biografisch-linguistischen Zugangs und der fallstrukturellen Perspektive vor. Dabei wird als Analyseergebnis "eine sich wechselseitig strukturierende, subjektive und gesellschaftliche Problemkonstellation deutlich, artikuliert vor dem Hintergrund verinnerlichter, gesellschaftlicher Rede- und Schweigegebote und sozialer Diskurspraxen" (S.215). Abschließend resümiert SCHULZE die forschungspraktischen, professions- und erkenntnisbezogenen Vorteile einer ethnografischen Fremdheitshaltung, die auf "Forschungshaltung, Forschungsfragen, auf institutionelle Rahmenbedingungen und professionelle Haltungen einwirkt" (s. S.216) und somit auch für das Feld der klinischen Diagnostik als "erweiterte Reflexionsmöglichkeit" gegen die Einseitigkeit der "Migrationskrankheitsdiagnostik" fruchtbar gemacht werden kann. [21]

Ulrike LOCH präsentiert in dem Artikel Geschichte(n) (de)konstruieren – Geschichte rekonstruieren einen weiteren biografieanalytischen Zugang, der von einer "ethnografischen Erkenntnishaltung" profitiert, mittels derer die "Wechselwirkungen zwischen Erzählungen und sozialen bzw. historischen Kontexten sichtbar werden" (S.219). Sie analysiert familien- und lebensgeschichtliche Interviews im Hinblick auf sexualisierte Gewalt in Kriegs- und Nachkriegsgenerationen. Dabei ergänzt sie die narrativen Interviews mit traumatisierten Frauen um Interviews mit deren Angehörigen; hinzukommt die Erhebung der jeweiligen Familiengeschichte über Akten und andere Dokumente. Analytisch wird es mit dieser Methodenkombination möglich, die Rekonstruktion der Familiengeschichte in die Interaktion mit den Biografinnen einzubeziehen und für ein tieferes Verständnis des "erlebten Lebens" fruchtbar zu machen. Bezogen auf "ethnografische Zugänge" wird jedoch nicht ganz deutlich, ob für die Autorin der Einbezug einer historisierenden Perspektive als "dynamische Konstellation von Vergangenheits-, Gegenwarts- und der im Interview stattfindenden Interaktionserfahrung" (S.223) mit der ethnografischen Forschungshaltung zusammenfällt, oder ob sie dies vielmehr auf das "Anstoßen" von Fremdheitserfahrungen bei den Biografinnen durch den Einbezug "anderer Geschichten" bezieht. [22]

Der letzte Beitrag dokumentiert unter dem Titel Feldeintritte Gespräche zwischen Holger SCHONEVILLE, Stefan KÖNGETER, Diana GRUBER und Peter CLOOS, in denen diese vor dem Hintergrund ihrer je unterschiedlichen praktischen Felderfahrungen die "spannungsreichen Momente der Einsozialisation in sozialpädagogische Einrichtungen" (S.231) reflektieren. Thematisch geht es dabei vor allem um den Umgang mit dem Feldnotizbuch als Symbol des Fremden, die verschiedenen Rückzugsstrategien zur Protokollierung von Beobachtungen, die soziale Ausgestaltung der FeldforscherInnenrolle und die eigenen ethischen Bedenken gegenüber dem potenziell unmoralischen "Gaffen" der Feldforschenden. Entlang ihrer konkreten forschungspraktischen Erfahrungen mit diesem Problemstellungen und den feldspezifischen Umgangs- und Lösungsstrategien werden im Gespräch strukturelle Besonderheiten ethnografischer Forschungspraxis und im Besonderen der ethnografischen Feldforschung im Feld der Kinder- und Jugendhilfe rekonstruiert. Gerade in dieser Form des dokumentierten Gesprächs liefert der Beitrag einen anschaulichen Eindruck von der konkreten Ausgestaltung struktureller Feldforschungsprobleme und stellt zugleich die Fruchtbarkeit der kommunikativen Reflexion in Forschungswerkstätten dar. Denn die dargelegten Variationen stellen in Bezug auf die unterschiedlichen Feldforschungsituationen eine "wichtige Datenquelle zur Rekonstruktion des jeweiligen Feldes dar" (S.232). Forschungsgruppen, in denen sich Kommunikationszusammenhänge über solche unterschiedlichen Forschungsfelder und Feldzugangserfahrungen etablieren, verfügen entsprechend über ein ausgesprochen produktives Potenzial, um diese Varianzen sichtbar und als praktische Fremdheitsressource für die Reflexion der eigenen Einsozialisationsprozesse fruchtbar zu machen. [23]

4. Fazit

Der vorliegende Sammelband bündelt eine Reihe interessanter Forschungsarbeiten, die, wenn sie den Bezug zur Ethnografie herstellen, in ausgesprochen differenter Weise auf Ethnografie als Methode, Erkenntnishaltung oder Feldforschungsstrategie rekurrieren. Damit wird der Band seiner ersten Zielsetzung, nämlich der Sichtbarmachung dieser Vielfalt von "Ethnografischen Zugängen" entlang der Forschungsarbeiten aus dem Kasseler Universitätszusammenhang, gerecht. Viele der Beiträge formulieren zudem interessante Methodenentwicklungen in Bezug auf ihr Forschungsfeld und ihre Forschungsmethode und stiften aufschlussreiche Einblicke in die jeweils untersuchten Felder und Forschungsfragen. Die "innovativen, unkonventionellen methodischen Zugänge" (S.11) werden jedoch fast ausschließlich vor dem Hintergrund der eigenen Referenzfelder diskutiert. Diese Vorgehensweise verlangt den Lesenden ein hohes Maß an eigener forschungsmethodischer und theoretischer Kompetenz (bezogen auf Biografieforschung und auf die ethnografische Methodologie) ab, um den spezifischen Beitrag der einzelnen Arbeiten für die Frage nach den "Ethnografischen Zugängen" für die erziehungswissenschaftliche Forschung einschätzen zu können. [24]

Es fehlt, wie von mir oben bereits angedeutet, die ordnende Perspektive, vor der die Verschiedenheit und Selbstbezüglichkeit der Beiträge dann tatsächlich als heterogene Zugänge zu einem bestimmten Thema erkennbar werden würde. Hier wäre es hilfreich gewesen, wenn die Einzelarbeiten sich stärker auf ihren forschungspraktischen Gebrauch der Chiffre "Ethnografie" vor dem Hintergrund der möglichen Vielfalt bezogen hätten bzw. dies von den beiden Herausgebern in einem zusammenführenden Beitrag geleistet worden wäre. Im Hinblick auf die von den beiden Herausgebern markierten Desiderate in der erziehungswissenschaftlichen Methodendiskussion zur Ethnografie wäre dies eine gute Gelegenheit gewesen, quasi "am Fall" der Einzelbeiträge eine systematische Auffächerung der Differenzierungslinien, Gemeinsamkeiten, Unverträglichkeiten und thematischen Ebenen herauszuarbeiten. Eine weitere Strategie zur Hebung des methodologischen Potenzials des Bandes hätte zudem in der systematischeren Herausarbeitung der realisierten Verknüpfung von Ethnografie und Biografieforschung bzw. teilnehmender Beobachtung und narrativen Daten gelegen, da ja gerade darin die Stärke der Kasseler Forschungsarbeiten zu liegen scheint. [25]

Trotz der zum Teil ausgesprochen hohen Güte und Produktivität der Einzelbeiträge bleibt somit die Lektüre des gesamten Bandes etwas enttäuschend. Man könnte auch sagen, der Band verstärkt noch das Gefühl, "dass es zunehmend unsicher zu sein scheint, was unter Ethnografie zu verstehen ist" (S.11) – und markiert in diesem Sinne eher die Notwendigkeit einer weiteren "Vergewisserungsarbeit". Dies weckt jedoch zumindest die Neugier auf die beiden oben angedeuteten Tagungsbände als "Anregungspotenziale" für eine weitere Diskussion zur ethnografischen Forschung innerhalb der Erziehungswissenschaften. [26]

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Zur Autorin

Sabine BOLLIG ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der JWG-Universität Frankfurt und forscht im DFG-Projekt "Kinderkörper in der Praxis. Eine Ethnographie zur Prozessierung von Entwicklungsnormen in Kindervorsorgeuntersuchungen (U3-U9) und Schuleingangsuntersuchungen". Sie erarbeitet eine ethnografische Dissertation zu medizinischen und pädagogischen Wissensordnungen in kindermedizinischen Untersuchungen. Arbeitsschwerpunkte: Ethnografie, Kindheitsforschung, praxistheoretische Objektanalysen, Pädagogik als Sinnform.

Kontakt:

Sabine Bollig

Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe
Fach 113
Senckenberganlage 15
D-60054 Frankfurt am Main

Tel.: 069 798-23426

E-Mail: Bollig@em.uni-frankfurt.de
URL: http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/bollig.html

Zitation

Bollig, Sabine (2008). Rezension zu: Peter Cloos & Werner Thole (Hrsg.) (2006). Ethnografische Zugänge. Professions- und adressatInnenbezogene Forschung im Kontext von Pädagogik [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(2), Art. 9, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs080291.

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