Volume 26, No. 2, Art. 15 – Mai 2025
How to Show an Image of Myself: Ein methodischer Vorschlag zur Rekonstruktion medialer Selbstpräsentationen am Beispiel geschlechterpolitischer Positionierungen
Viktoria Rösch, Paula Matthies & Michaela Köttig
Zusammenfassung: In diesem Beitrag stellen wir ein Design zur Rekonstruktion medialer Selbstpräsentationen auf Social-Media-Plattformen vor. Es wird ein methodischer Vorschlag entwickelt, der das Zusammenwirken der handlungspraktischen Herstellung sowie der visuellen Selbstpräsentation der Accounts umfasst. Wir triangulieren die Bildclusteranalyse nach MÜLLER (2016) mit der Text- und thematischen Feldanalyse nach ROSENTHAL (2015 [2005]), um sowohl die bildlichen als auch die textlichen Anteile in den Blick zu bekommen. Der Artikel ist das Ergebnis einer methodischen Suchbewegung mit dem Ziel, die mediale Selbstpräsentation hinsichtlich der geschlechterpolitischen Positionierung und vergeschlechtlichten Darstellungen zu rekonstruieren. Als Beispiel dient uns ein extrem rechter Account auf der Plattform X, anhand dessen wir entlang der Reflexion der Forschungspraxis die Potenziale und Grenzen des Vorgehens zeigen und die methodologische Verzahnung der beiden Methoden diskutieren. Die kombinierte Analyse erlaubt es, thematische Felder unter Berücksichtigung der visuellen und der herstellungspraktischen Dimension zu erschließen. Dadurch lassen sich die gegenwärtige politische und geschlechtliche Selbstpositionierung sowie deren bildliche und textliche Herstellung herausarbeiten. Auf diese Weise ist es möglich, die Gesamtgestalt der medialen Selbstpräsentation zu entschlüsseln.
Keywords: Bildclusteranalyse; Text- und thematische Feldanalyse; mediale Selbstpräsentation; geschlechterpolitische Positionierung; extreme Rechte; Social Media; Methodentriangulation; Biografieforschung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Konzeptualisierung des Gegenstandes und Herleitung der Problemstellung
3. Methodische Grundlegung der Bildclusteranalyse und der Text- und thematischen Feldanalyse
3.1 Bildclusteranalyse
3.2 Text- und thematische Feldanalyse
4. Methodisches Vorgehen und Darstellung der Analyse
4.1 Beschreibung des empirischen Falls
4.2 Darstellung Bildclusteranalyse
4.3 Darstellung Text- und thematische Feldanalyse
5. Erkenntnisse aus der Triangulation von Bildclusteranalyse und Text- und thematischer Feldanalyse
6. Fazit
Social-Media-Plattformen bieten eine technische Oberfläche, die es nicht nur ermöglicht, sondern auch danach verlangt, ein Image zu präsentieren. Die User*innen kuratieren verschiedene eigene und fremde Inhalte, editieren Beiträge und entwerfen so sukzessive ein mediales Selbst. Über das Zusammenspiel der Inhalte können die politische Selbstpositionierung, aber auch andere, damit verwobene Elemente der Selbstpräsentation analysiert werden. In unserem Projekt "Biographische Genese geschlechterpolitischer Verortung"1) fragen wir nach den Erfahrungsdimensionen im Lebensverlauf, die dazu führen, dass (extrem) rechte geschlechterpolitische Positionierungen aufgegriffen, in (medialen) Selbstinszenierungen dargestellt und politisch vertreten werden. Im Fokus unserer Forschung stehen Biografien von sich selbst als (extrem) rechts, traditionell oder konservativ positionierenden Social-Media-Nutzer*innen. Vor diesem Hintergrund ist unser Ziel die Rekonstruktion der Accounts2) hinsichtlich ihrer geschlechterpolitischen Positionierung und ihrer vergeschlechtlichten Darstellungen, um das Wechselverhältnis zwischen (medialen) Selbstpräsentationen auf Social-Media-Plattformen und den Biografien herauszuarbeiten. In diesem Beitrag leisten wir die Reflexion eines Ausschnitts unseres Forschungsdesigns, die Analyse der medialen Selbstpräsentation; die Rekonstruktion der Biografien klammern wir aus. Wir standen vor der Herausforderung, wie wir Bild- und Textkommunikation als die beiden zentralen Bestandteile der medialen Selbstpräsentation in ihren Bedeutungsgehalten erfassen und gegenstandsangemessen analysieren können. Diese Überlegungen sind aus unserer Sicht noch zu wenig ausbuchstabiert. Im Gegensatz zu fotografischen (Selbst-)Porträts (ROBERTS 2011), Familienalben (BRECKNER 2010, S.179-236, 2013) oder fotografischen Selbstbildern auf Plattformen (BRECKNER 2021; BRECKNER & MAYER 2023), die im Kontext der Selbstpräsentation in Interviewsituationen eingebracht werden, handelt es sich bei der von uns untersuchten Bildkommunikation in den sozialen Medien nicht notwendigerweise um Bilder einer Person von sich selbst, sondern vielmehr um eine Bricolage verschiedener bildlicher Darstellungen sehr unterschiedlicher Subjekte und Objekte. Unsere Fragen richten sich darauf, welche Bilder wie für die Selbstpräsentation auf Social-Media-Accounts genutzt und wie sie im Zusammenspiel mit den textlichen Elementen als mediale Selbstpräsentation eingesetzt werden, um u.a. eine geschlechterpolitische Positionierung vorzunehmen. [1]
Als Beispiel dient uns die Plattform X (früher Twitter). Wir fragen, ob und wenn ja wie wir die dortige Bildkommunikation als mediale Selbstpräsentation analysieren können, da auf X die Darstellung der eigenen Person vor allem über die fragmentarische Kommunikation in einzelnen Beiträgen, Kommentaren oder Interaktionen erfolgt und weniger über biografische Informationen, Bilder eigener Erlebnisse oder (thematisch) kuratierter Kurvideos (etwa die Highlight-Story-Funktion auf Instagram. Beiträge mit Bildern stehen neben rein textbasierten Beiträgen und Videos. Mit unseren Überlegungen möchten wir uns einreihen in einen methodologischen Bilddiskurs, bei dem weniger die spezifischen Strukturmerkmale von Bildern, sondern vielmehr die "konkrete Art und Weise des methodischen Zugriffs" (DIETRICH 2015, §2) auf Bilder bzw. Bildkommunikation zum Gegenstand gemacht wird. In diesem Artikel erarbeiten wir einen Vorschlag, die Bildkommunikation auf X im Zusammenspiel mit der textlichen Kommunikation mittels eines zweistufigen Verfahrens zu analysieren: Wir triangulieren die Bildclusteranalyse (MÜLLER 2016, 2020, 2024) mit der Text- und thematischen Feldanalyse (ROSENTHAL 2015 [2005]), um den Gegenstand adäquat erfassen und rekonstruieren zu können. Indem wir unser forschungspraktisches Vorgehen illustrieren und die methodologische Passung beider Zugänge diskutieren, loten wir die Grenzen und Potenziale unseres methodischen Vorschlags aus. Im Vordergrund steht nicht die vollständige Rekonstruktion der medialen Selbstpräsentation des Beispielaccounts, sondern die Reflexion unseres methodischen Vorgehens entlang dieses Falls. [2]
2. Konzeptualisierung des Gegenstandes und Herleitung der Problemstellung
Social-Media-Accounts können nach HAHN als "Biographiegeneratoren" (1987, S.16) verstanden werden. Die Account-Nutzer*innen sind strukturell dazu aufgefordert, sich selbst zum Thema zu machen. In Anlehnung an das Konzept des "Displays" (GOFFMAN 1976, S.1-8) verstehen wir einen Social-Media-Account als die Art und Weise, wie User*innen ihr Verhalten und Erscheinungsbild auf den sozialen Plattformen präsentieren, um dem Gegenüber ein bestimmtes Bild zu kommunizieren. Dies geschieht in Rückgriff auf ritualisierte Praktiken, die je nach sozialer Plattform variieren und sich dementsprechend in einem unterschiedlichen Verhältnis von Text(en) und Bild(ern) ausgestalten. Für Betrachter*innen wird über die Social-Media-Accounts ein Display sichtbar, welches sukzessive von den User*innen aufgebaut wurde. Sie kuratieren (ob bewusst oder unbewusst) verschiedene eigene und fremde Inhalte, editieren Beiträge und greifen dabei auf gängige Praktiken der Netzkultur zurück. Mit medialer Selbstpräsentation meinen wir, dass sich in Social-Media-Accounts Aspekte einer Person unter Rückgriff auf ritualisierte Praktiken der Darstellung – verwoben mit gesellschaftlichen Wissensbeständen und Wahrnehmungsschemata – abbilden. [3]
Im Rahmen unserer Analyse wird die mediale Selbstpräsentation zunächst in die visuelle und die herstellungspraktische Selbstpräsentation unterteilt. Dies ist eine rein analytische Trennlinie, da die beiden Modi in einem Wechselverhältnis zueinanderstehen und schlussendlich dieses Zusammenspiel herausgearbeitet werden soll. Unter der visuellen Selbstpräsentation mittels eines Accounts fassen wir das Zusammenspiel aller Bild- und Videoelemente.3) BRECKNER und MAYER (2023) argumentierten, dass Bilder und insbesondere Fotos eine zentrale Rolle bei der Konstruktion und Darstellung der eigenen Lebensgeschichte spielten. Die visuelle Selbstpräsentation, das Image, sei ganz im Sinne des Wortes elementar für die "biographical imagination" (S.664). Das in Social-Media-Accounts präsentierte Image konzeptualisierte BRECKNER in Anlehnung an WARBURGs Denkraum als "biographical iconic mental spaces" (BRECKNER 2021, S.4). Dieser Denkraum konstituiere sich durch ein gesamtgesellschaftliches (wenn oft auch präreflexives) Wissen über Symbole im Sinne der WARBURGschen "Pathosformel"4) sowie durch biografisches Wissen der Subjekte und "generational, societal and historical contexts" (BRECKNER 2021, S.7). [4]
Die herstellungspraktische Selbstpräsentation verstehen wir angelehnt an ein biografietheoretisches Verständnis der Selbstdarstellung im Interview als soziale Konstruktion, die durch ein zugrundeliegendes Regelsystem erzeugt wird (ROSENTHAL 2015 [2005], S.60). Dieses Regelsystem ist mit bestehenden (gesellschaftlichen) Wissensbeständen verknüpft, prozesshaft und unterliegt ständigen Reproduktions- und Transformationsprozessen, stellt sich also in Interaktionen immer wieder neu her. In der Selbstpräsentation repräsentiert sich die gegenwärtige Perspektive auf sich selbst, die gleichzeitig durch vergangene biografische Erlebnisse und den gegenwärtigen Interaktionskontext konstituiert ist. Auf Social-Media-Accounts übertragen bedeutet dies, dass der gesamte Auftritt als handlungspraktische Herstellung einer sich beständig transformierenden Selbstpräsentation verstanden werden kann. Interaktion fassen wir in diesem Fall nicht als notwendigerweise ko-präsent und zeitlich synchron, sondern als Interaktion in einem weiten Verständnis sowohl mit der Plattform als Infrastruktur und anderen User*innen als auch mit antizipierten Rezipient*innen. Die analytische Trennung ermöglicht es uns aus unterschiedlichen Perspektiven einen Blick auf die Selbstpräsentation in Social-Media-Accounts zu werfen: zum einen auf das Zusammenwirken visueller Elemente beim Betrachten eines Accounts und zum andern auf die Genese der bildlichen und textbasierten Anteile. Diese unterliegen gerade in den sozialen Medien permanenten inhaltlichen Triggern von außen, die in die Selbstpräsentation eingewoben werden. [5]
In unserem Projekt rekonstruieren wir die mediale Selbstpräsentation im Hinblick auf zwei Aspekte: 1. die politische Selbstpositionierung und 2. die geschlechtliche Performanz.5) Beide sind gerahmt durch die kommunikativen Affordanzen der jeweiligen Plattformen (BAKER & ROJEK 2020, S.41), d.h. die technischen Möglichkeiten strukturieren die Art und Weise der Erzählung. Während etwa die Struktur von Instagram die Selbstpräsentation über ästhetische Bilder wahrscheinlicher macht, ist sie auf X eher durch kurze, textbasierte und schnelllebige Kommunikation gekennzeichnet (a.a.O.). Da wir uns in unserem Projekt auf verschiedenen Plattformen bewegen, ergibt sich zusätzlich die Aufgabe, ein gegenstandsangemessenes Design zu entwickeln, das für die unterschiedlichen Plattformen tragfähig ist. Für die Rekonstruktion der visuellen Selbstpräsentation auf Instagram entschieden wir uns, auf die Bildclusteranalyse nach MÜLLER (2016, 2020) zurückzugreifen, ein für die Analyse von Instagram-Accounts bereits bewährtes Verfahren (RÖSCH 2023). Die Zusammenstellung der Bilder verstehen wir im Anschluss als "ikonische Bildcluster" (MÜLLER 2016, S.134ff.; ausführlicher dazu in Abschnitt 3.1). Scrollt man durch Instagram-Profile, scheint dies auf den ersten Blick schlüssig, da der Fokus dort auf der Bildzusammenstellung liegt. Wir haben uns für unser Projekt gefragt, ob dieses Verfahren auch für die Darstellung auf X angemessen ist und welcher Erweiterungen des Verfahrens es bedarf. Instagram und X stellen gewissermaßen zwei Pole eines Kontinuums der Bildkommunikationspraxis dar – von stark kuratiert bis fragmentarisch. Vor diesem Hintergrund wollten wir wissen: Wie können wir Accounts auf X rekonstruieren? Wie verhält es sich mit der Bildkommunikation auf X? Können wir analog zu Instagram eine visuelle Selbstpräsentation rekonstruieren? Wir gehen davon aus, dass unser Vorgehen für weitere Plattformen adaptiert werden kann, wenn die Rekonstruktion der medialen Selbstpräsentation mittels unseres Verfahrens in diesen beiden strukturell sehr verschiedenen Plattformen gelingt. [6]
Bevor wir auf die methodenpraktischen Herausforderungen eingehen, wollen wir kurz X charakterisieren. Es handelt sich hierbei um eine Mikroblogging-Plattform, deren Struktur durch eine Mischung aus Nachrichtenmedium, synchroner interpersonaler Kommunikation und sozialer Gruppenbildung geprägt ist. X bildet durch seine breiten Vernetzungsmöglichkeiten einen Diskursraum, in dem sowohl bild-, text- als auch videobasierte Inhalte geteilt werden können (THIMM, EINSPÄNNER & DANG-ANH 2012, S.291f.).6) Folglich wird multimedial kommuniziert, das heißt mit verschiedenen Formaten wie Bildern, Texten, (Kurz)-Videos und GIFs.7) Ein Beitrag ist auf maximal 280 Zeichen begrenzt, durch die Möglichkeit der Verbindung mehrerer aufeinanderfolgender Beiträge (Thread), des Verwendens von Hyperlinks sowie der Kommentierung entstehen komplexe narrative Strukturen. Diese sind durch verschiedene funktionale Kommunikationsoperatoren geprägt. Zu nennen ist das Adressieren von und Interagieren mit anderen Accounts durch die Verwendung des @-Zeichens sowie das Markieren von Themen und die Bezugnahme auf Diskurse durch Hashtags (#). Mithilfe von Retweets kann außerdem der Inhalt eines veröffentlichten Beitrags geteilt werden. So entsteht eine Gesamthandlung mit Bezug zu anderen Accounts, die zu einem komplexen Bezugsystem zwischen Personen und den von ihnen publizierten, verlinkten Inhalten werden, welche sich in verschiedenen Modalitäten ausdifferenzieren (THIMM et al., S.292). [7]
Die mediale Selbstpräsentation auf X ist somit in hohem Maße relational zu den Inhalten anderer Nutzer*innen. Dies gilt sowohl für die textlichen als auch für die bildbasierten Inhalte. Daher ist das Posten, aber auch das Reposten, Bearbeiten oder Kommentieren von Bildern auf X nicht nur Teil einer individuellen Präsentation, sondern immer auch "Teil einer kollektiven Bildpraktik" (FAHLENBACH 2019, S.36), durch die eine weitere Ebene der Analyse eröffnet wird. Insbesondere hinsichtlich politischer Ausdrucksformen ist das Wissen um diese kollektiven Praktiken von Relevanz. Das Verwenden bekannter Sujets oder Symbole ist Teil politischer Bekenntnisse (TEUNE 2019), die ebenso wie das Wissen um die Netzkultur Teil ritualisierter Praktiken sind, aus denen sich die mediale Selbstpräsentation speist. Gleichzeitig ist die mediale Selbstpräsentation auf X in hohem Maße volatil und durch kleine fragmentarische Inhalte gekennzeichnet. Sie ist wie ein Mosaik aus vielen kleinen Steinen, die unterschiedlicher materieller Natur sind. Eine der großen methodenpraktischen Herausforderungen ist damit auch die schiere Menge an Beiträgen auf X und somit an Material, welche systematisiert werden muss. [8]
Zur Bewältigung dieser Herausforderungen haben wir ein methodisches Design gewählt, bei dem wir die oben genannten methodischen Zugänge miteinander kombinierten. Wir konstatieren eine Wahlverwandtschaft zwischen beiden Ansätzen. Ziel der Bildclusteranalyse ist die Frage nach dem "Wie" der Komposition und Montage verschiedener Bilder zu einem Cluster (MÜLLER 2020, §15). Es geht um die Identifikation ästhetischer und thematischer Muster und die Frage nach dem übergeordneten Prinzip der visuellen Darstellung innerhalb eines Bildclusters (§16). Diese Form der Präsentation muss nicht notwendigerweise bewusst vollzogen werden (§15). Ziel der Text- und thematischen Feldanalyse ist die Rekonstruktion der "Regeln für die Genese [...] der Selbstpräsentation" (ROSENTHAL 2015 [2005], S.213). Obwohl die Text- und thematische Feldanalyse weitgehend für den Kontext der Selbstpräsentation der Lebensgeschichte entwickelt wurde, lassen sich die Regeln der Darstellung auch an anderen Materialien wie etwa Zeitungsberichten, Beobachtungsprotokollen o.ä. rekonstruieren. Ähnlich wie bei der Selbstdarstellung im Interview steht die Rekonstruktion eines X-Accounts im Zeichen der Frage, "welches Image sie [die Person] damit vermitteln will" (S.214) — oder prägnanter: warum sich eine Person "so und nicht anders darstellt" (S.213). Die Selbstpräsentation erfolgt innerhalb eines thematischen Feldes, das sich rekonstruieren lässt (KÖTTIG 2004, S.77). Im Gegensatz zur Analyse der erzählten Lebensgeschichte bezieht sich das thematische Feld im Rahmen eines X-Accounts eher auf die inhaltlichen, thematischen und ästhetischen Bezugnahmen, durch die ein Bestimmtes Image erzeugt wird. Auch hier ist sekundär, ob sich dieser Präsentationsmodus bewusst oder unbewusst vollzieht (ROSENTHAL 2015 [2005], S.214). Sowohl die Bildclusteranalyse als auch die Text- und thematische Feldanalyse haben zum Ziel, den Modus Operandi der Selbstpräsentation im thematischen und im ästhetischen Sinne herauszuarbeiten, wir konstatieren also eine strukturelle Homologie des thematischen Feldes und der figurativen Prinzipien. Einschränkend müssen wir jedoch festhalten, dass wir mit der Wahl dieser beiden Methoden GIFs und Kurzvideos aus der Analyse der medialen Selbstpräsentation ausklammern, da wir diese zum jetzigen Stand nicht in unser methodologisches Design integrieren können. Unser Vorgehen ist vorerst der Versuch, exemplarisch aufzuzeigen, was die Triangulation8) (ALBER & SCHIEBEL 2018; KÖTTIG 2005) von Bild und Text mithilfe der beiden methodischen Zugänge an Erkenntnispotenzial für die Analyse der Selbstpräsentation von Social-Media-Accounts erbringen kann. Im Folgenden werden wir beide methodischen Zugänge näher vorstellen. [9]
3. Methodische Grundlegung der Bildclusteranalyse und der Text- und thematischen Feldanalyse
Ein Bildcluster ist nach Michael MÜLLER "eine wie auch immer geartete Zusammenstellung von Bildern zu einer größeren Einheit, wortwörtlich: zu einem 'Bilderhaufen'" (2016, S.96). Bildcluster sind keine zufällige Ansammlung von Bildern, sie werden vielmehr von Menschen nach ästhetischen und oder thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt. Im Alltag begegnen sie uns beispielsweise in Museen, in Fotoalben oder auf Social-Media-Plattformen. [10]
Die Bildcluster sind nicht allein Summe der Einzelfotos, sondern haben darüber hinaus einen eigenen visuellen Ausdruck, durch den im Zusammenwirken der Bilder bestimmte Aspekte hervorgehoben werden. Diese Konzeptualisierung ist angelehnt an den von "Felix Thürlemann (2013) geprägte[n] Begriff des Hyperimages" (MÜLLER & SOMMER 2021, S.810), unterfüttert durch "Wittgensteins Theorem des 'Bemerkens eines Aspektes'" (S.811). Es geht um das Verhältnis von Ähnlichkeiten und Differenz (MÜLLER 2016, S.131). Durch die Anordnung von Bildern in direkter Nachbarschaft werden neue Bedeutungen erzeugt, ihre räumliche und inhaltliche Beziehung eröffnet eine wechselseitige Kommentierung und Deutung (S.116). Die Bildcluster wirken nach diesem Verständnis "als sozialweltliche Techniken der Sichtbarmachung" (MÜLLER & SOMMER 2021, S.814). Übertragen auf die visuelle Selbstpräsentation auf Social-Media-Accounts bedeutet dies, dass über das Zusammenspiel der geposteten Bilder erfasst werden kann, welche zentralen Aspekte eines Accounts als Teil der Selbstpräsentation nach außen getragen werden sollen. [11]
Auf der visuellen Ebene wird durch das Kuratieren bzw. Posten von Bildern ein Image aufgebaut, welches wir in der Analyse rekonstruieren möchten. Selbstpräsentationen (online wie offline) sind notwendigerweise ausschnitthaft. Auf Social-Media-Accounts können die Nutzer*innen gewisse Aspekte nach außen tragen, die ihnen wichtig sind. Wir nähern uns mittels der Bildclusteranalyse der Beantwortung folgender Fragen: Welche Themen werden bei der visuellen Selbstpräsentation verhandelt und welcher stilistischen Mittel wird sich bedient? Wir fragen danach, was sichtbar gemacht wird, aber auch, was unsichtbar bleibt und wie sich die Praktiken der Sichtbarmachung vollziehen. Es wäre auch möglich, diesen Fragen mittels Einzelbildanalysen auf die Spur zu kommen (siehe etwa BRECKNER 2008). Durch die Kommunikationsstruktur auf X, die gekennzeichnet ist durch ein hohes Maß an Konnektivität mittels des ständigen Referenzierens auf die Inhalte Anderer (insbesondere durch Retweets), erscheint es uns allerdings gewinnbringend, unseren Blick auf die verbindenden Aspekte der teils unzusammenhängend erscheinenden fragmentarischen Inhalte zu richten. [12]
MÜLLER (2016, S.129) benannte drei Idealtypen digitaler Bildzusammenstellungen: klassifikatorisch, narrativ und ikonisch. Klassifikatorische Bildcluster werden entlang von Kategorien gebildet (verschiedene Bilder von Hunden, das Ergebnis einer Google-Bilder-Suchanfrage zum Thema "rechte Frauen" etc.). Bei narrativen Bildclustern wird mittels der sequenziellen Abfolge einer Geschichte ein Verlauf erzählt (etwa in Comics).9) Zentrales Kennzeichen für Ikonizität ist die Ähnlichkeitsbeziehung von Darstellung (also dem Bild) und dem dort Dargestellten (Szenerie Personen, Emotionen etc.) (S.130ff.). Die Ähnlichkeit kann – wie bei einer Porträtfotografie – einen stärker abbildenden oder einen eher abstrakten Charakter haben (a.a.O.). In ikonischen Bildclustern (aber auch bei Einzelbildern) besteht eine Gleichzeitigkeit von Ähnlichkeit und Differenz, deren Zusammenspiel den sinnhaften Ausdruck konstituiert (a.a.O.). Bilder, aus denen die visuelle Selbstpräsentation eines Accounts auf X zusammengesetzt ist, verstehen wir in diesem Sinne als ikonische Bildcluster. Folglich gehen wir davon aus, dass der Kern der visuellen Selbstpräsentation eben jenes Verhältnis von Ähnlichkeit und Differenz ist. Dieses gestaltet sich sowohl zwischen den Bildern als auch zwischen dem Abzubildenden – in diesem Falle der Selbstpräsentation – und den Bildern. Die Fokussierung auf das Wechselspiel von Ähnlichkeit und Differenz hat auch Implikationen für die methodische Umsetzung. Die Bilder eines Bildclusters werden auf eben jene Beziehung untereinander befragt (siehe ausführlicher in Abschnitt 4a). [13]
Die Volatilität der Bildkommunikation auf X macht es schwierig, die Grenzen eines Bildclusters immer klar zu umreißen. Diese Herausforderung findet sich grundlegend bei digitalen Bildclustern, was insbesondere durch Scrollen, verschiedene Verweisungsmodi und letztendlich die Möglichkeit, andere Abzweigungen zu wählen, bedingt ist (MÜLLER 2020, §33). Das heißt, die Grenzen sind auch immer "von den Beobachtungshandlungen ihrer Rezipient[*inn]en" (MÜLLER 2016, S.102) abhängig. Für die empirische Analyse bedeutet dies konkret, dass reflektiert werden muss, was warum Teil des zu analysierenden Bildclusters ist. [14]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ikonische Bildcluster durch einen eigenständigen Ausdruck charakterisiert sind, der über die bloße Summe aller Einzelbilder hinausgeht. Bildcluster werden durch Personen "nicht notwendig bewusst, wohl aber strukturell gezielt" (S.103) kuratiert. Im Fall von X fassen wir alle durch den Account geposteten Bilder darunter. Mittels der Bildclusteranalyse kann der ikonische Ausdruck des Bildclusters ermittelt werden: Dies betrifft sowohl die verwendeten Bildtypen als auch "deren axiale Verknüpfung untereinander" (S.105). Das Ziel ist die "Rekonstruktion des stilbildenden Prinzips ihrer Komposition und Montage" (a.a.O.) und damit auch die Suche nach Leerstellen des Clusters. [15]
Entsprechend der Konzeption erfolgt die methodische Umsetzung in zwei zentralen Analyseschritten: 1. Der Identifikation verwendeter Bildtypen und 2. Der Rekonstruktion der thematischen Akzentsetzung (MÜLLER 2024, S.93f.). Bevor wir unsere methodische Umsetzung der Analyseschritte präsentieren, skizzieren wir die Text- und thematische Feldanalyse nach ROSENTHAL (2015 [2005]). [16]
3.2 Text- und thematische Feldanalyse
Als zweites Verfahren haben wir die Text- und thematische Feldanalyse gewählt. Sie ermöglicht uns in Ergänzung zur Bildclusteranalyse nicht nur die visuellen, sondern auch die textlichen Inhalte in den Blick zu nehmen. Das Vorgehen hat Gabriele ROSENTHAL (2015 [2005]) ausführlich als einen Auswertungsschritt im Rahmen biographischer Fallrekonstruktionen vorgestellt, der dazu dient, die gegenwärtige Sicht auf sich selbst und deren Hervorbringung mit dem Ziel einer quellenkritischen Perspektive auf die Darstellung im Interview zu rekonstruieren. Hierbei spielt die grundlagentheoretische Überlegung einer Differenz von Erleben, Erinnern und Erzählen eine wesentliche Rolle. Diese Ebenen sind unterschiedlich konstituiert und in einem dialektischen Verhältnis miteinander verbunden. In diesem Sinne wird die gegenwärtige Darstellung der Vergangenheit als eine über Interpretationspunkte verbundene Erinnerung bis hin zur Gegenwartsperspektive verstanden, die im Rahmen des Interviews präsentiert wird (FISCHER 1978). Die lebensgeschichtliche Präsentation im Interview umfasst demnach die gegenwärtige Sicht auf das Leben in der Vergangenheit, auf das damalige Erleben, deren Interpretationen und Re-Interpretationen sowie auf die antizipierte Zukunft (ROSENTHAL 2015 [2005], S.197). Diesem Verständnis liegen gestalttheoretische Annahmen zugrunde, in denen Erinnern als Bedeutungszusammenhang konzipiert wird: Das Erinnern an einen Gedächtnisinhalt (Vergangenes) geschieht aufgrund eines in der Gegenwart auftauchenden Elementes (z.B. ein Gefühl, das funktionaler Bestandteil des Vergangenen wie des Gegenwärtigen ist), welches eine gemeinsame Bedeutung (eine Gestaltverbindung) mit dem Erinnerten hat (ROSENTHAL 1995, S.73ff.). Im Anschluss an KOFFKA und WERTHEIMER ist ROSENTHAL vom Gedächtnisinhalt als "Ganzeigenschaft" (S.73) und nicht als assoziativer Verbindung ausgegangen. [17]
In dem von uns vorgestellten empirischen Fall geht es jedoch nicht um biografische Interviews, sondern um X-Accounts. Deshalb widmen wir uns nicht dem Zusammenspiel der Ebenen von Erleben, Erzählen und Erinnern innerhalb der Selbstpräsentation, nicht zuletzt, da ein X-Account uns keinen Aufschluss darüber zu geben vermag. Dennoch verfolgen wir die Annahme, dass jeder gepostete Beitrag auf ein in der Gegenwart auftauchendes Element, z.B. ein Gefühl, verweist und eine gemeinsame Bedeutung mit der gegenwärtigen Perspektive der Person aufzeigt. Wir konstatieren also eine Gestaltbeziehung zwischen den geposteten Beiträgen, der Selbstpräsentation und der gegenwärtigen Perspektive. Die Ebene der Vergangenheit müssen wir an dieser Stelle aus der Analyse ausklammern, da wir anhand der Accountdaten allein, keinen Aufschluss darüber erlangen, auch wenn wir annehmen, dass sie in einem Zusammenhang mit der gegenwärtigen Selbstpräsentation anhand der geposteten Beiträge steht. Um eine solche Verknüpfung herstellen zu können, bedürfte es eines biografischen Interviews mit der Person, die den Account betreibt.10) [18]
In dem Beitrag interessiert uns folglich, anhand welcher Themen, auf welche Art und Weise und mit welcher Funktion sich eine Person durch ihren X-Account selbst präsentiert11). Hierüber gewinnen wir Erkenntnisse über die gegenwärtigen Themen, mit denen diese sich befasst und in welcher Weise sich hier Bezugnahmen auf Geschlecht und politische Positionierung zeigen. Wir adaptieren den methodischen Schritt der Text- und thematischen Feldanalyse also für die Analyse des X-Accounts und orientieren uns dabei an ROSENTHALs Annahme, dass "gemäß dem Verfahren [...] die sequenzielle Gestalt der Grobstruktur auch von anderen Textmaterialien als der des narrativen Interviews [...] rekonstruiert werden" (2015 [2005], S.228) kann. Im Sinne der Analyse wird zwischen Themen, dem thematischen Feld und dem thematischen Rand unterschieden. Themen sind das, was uns gegenwärtig beschäftigt. Sie sind in ein thematisches Feld eingebettet. Das thematische Feld ist "die Gesamtheit der mit dem Thema ko-präsenten Gegebenheiten, die als sachlich mit dem Thema zusammenhängend erfahren werden und den Hintergrund oder Horizont bilden, von dem sich das Thema als Zentrum abhebt" (GURWITSCH 1974 [1957], S.4). Die ko-präsenten Gegebenheiten bilden den Rand des thematischen Feldes, welches durch die Gegenwartsperspektive geprägt ist und die Art und Weise der Zuwendung zu und Präsentation von Themen bestimmt. So kann diese z.B. von einem Bedürfnis der Selbstvergewisserung und des Selbstverstehens motiviert sein, hier spielen also momentane Gefühle, körperliche Empfindungen und gegenwärtige Relevanzen in die Auswahl und Art und Weise der Präsentation von Themen hinein (ROSENTHAL 1995, S.86). Gleichzeitig verändern die Themen, denen sich zugewendet wird, das thematische Feld. Die Themen und das thematische Feld konstituieren sich gegenseitig und stehen in einer dialektischen Beziehung zueinander (a.a.O.). Diese Gestaltbeziehung bestimmt die Selbstpräsentation in der Erzählung beziehungsweise in geposteten Beiträgen (oder auch Tweets) auf dem X-Account. [19]
Noch einmal zusammengefasst versuchen wir, in diesem Schritt Folgendes herauszufinden: Welche Strategie der Selbstdarstellung verfolgt die Person mittels ihres Accounts und welche Funktionalität erfüllt diese? Welches Image will die Person mithilfe ihres Accounts vermitteln? Welche Themen werden in welcher Weise aufgegriffen und hierdurch Sinn konstruiert? Was ist hierüber über die gegenwärtige Perspektive der Person zu erfahren? Wir untersuchen also die Mechanismen, welche die Auswahl der präsentierten Themen sowie deren Gestaltung steuern (ROSENTHAL 2015 [2005], S.213). Dabei gehen wir davon aus, dass sich auch nicht intendierte Mechanismen hinter der Selbstpräsentation verbergen, die die Abfolge der geposteten Inhalte steuern, und die auf übergeordnete thematische Felder hindeuten, innerhalb dessen sich die Person durch ihren Account präsentiert (KÖTTIG 2004, S.77). Diese thematischen Felder sowie die in sie eingebetteten Themen und den thematischen Rand versuchen wir im Rahmen unserer Analyse zu rekonstruieren. Hierzu schauen wir auf Argumentations- und Deutungsmuster sowie deren Bedeutung für die thematische Einbettung (ROSENTHAL 2015 [2005], S.575). Möglicherweise wird auch auf thematische Felder außerhalb des Dokumentes verwiesen sowie auf immanentes Wissen und auf Repräsentationen sozialer Ordnung (S.257). Im Gegensatz zur Bildanalyse, bei der es um unterschiedliche mögliche Abfolgen der Fokussierung und Wahrnehmung geht, ist die Text- und thematische Feldanalyse der Abfolge des Entstehens der Selbstdarstellung gewidmet (S.253). [20]
4. Methodisches Vorgehen und Darstellung der Analyse
Wie erwähnt ist eines der Ziele unseres Forschungsprojekts die Rekonstruktion der medialen Selbstpräsentation (extrem) rechter, traditioneller und konservativer Social-Media-Accounts hinsichtlich der geschlechtlichen und der geschlechterpolitischen Dimension. Da bei der Bildclusteranalyse bildimmanent gearbeitet wird und zunächst die textliche Rahmung außen vor gelassen wird, haben wir uns entschieden, den Fokus zuerst auf die Rekonstruktion der visuellen Selbstpräsentation zu legen, bevor wir die textliche Ebene miteinbeziehen12). Die Rekonstruktion des stilbildenden Prinzips des Clusters ermöglicht es, unabhängig vom zeitlichen Verlauf der Postings einen Überblick über die verschiedenen Bildtypen und Sujets zu gewinnen, die im Account als Bildkommunikation sichtbar sind. Anhand der Text- und thematischen Feldanalyse widmen wir uns im Anschluss der Genese der Selbstpräsentation und nehmen damit den prozessualen Charakter in den Blick. Auf der einen Seite rekonstruieren wir die gegenwärtige Perspektive und wie diese die Auswahl, die Darstellung und die Zuwendung zu sowie die Präsentation von Themen bestimmt und auf der anderen Seite, wie diese Themen die Selbstpräsentation konstituieren. Dabei werden zusätzlich zu den bildlichen Elementen die textbasierten Elemente analysiert. Auf diese Weise können wir thematische Felder unter der Berücksichtigung beider Ebenen rekonstruieren und in Kombination mit der Bildclusteranalyse herausarbeiten, welche gegenwärtige politische wie geschlechtliche Selbstpositionierung vorgenommen wird und wie diese bildsprachlich und textuell hergestellt wird. Im Folgenden beschreiben wir kurz unseren empirischen Fall und stellen im Anschluss unsere Analyse vor. [21]
4.1 Beschreibung des empirischen Falls
Der von uns ausgewählte Account13) hatte rund 1.500 Follower*innen, positioniert sich als "offen rechtsradikal" und enthielt über 33.000 Posts und ca. 7.000 Bilder und Videos (Stand Ende Januar 2024). In der Regel wird mehr als ein Beitrag pro Tag gepostet, während unserer Erhebung konnten wir sogar über zehn Beiträge am Tag verzeichnen. (Aufgrund der großen Menge an Material wurde ein Erhebungszeitraum von einem Monat ausgewählt.) Die Rekonstruktion der Genese des Gesamtaccounts ist daher nicht Anspruch unserer Analyse14). Aus forschungspragmatischen Gründen schlossen wir nur die Posts in die Analyse ein, nicht aber Antworten auf Posts Dritter. Für die Datenerhebung nahmen wir in einem ersten Schritt das Scrolling durch den Account als Bildschirmvideo auf. Anschließend wurden Screenshots für die Bildclusteranalyse von allen Bildbeiträgen des Erhebungszeitraums aufgenommen. Der daraus entstandene Bildkorpus umfasst 127 Bilder (inklusive Header samt Profilbild). Für die Text- und thematische Feldanalyse haben wir exemplarisch die ersten Sequenzen des Erhebungszeitraums ausgewählt und für die Analyse aufbereitet. [22]
4.2 Darstellung Bildclusteranalyse
Zur Rekonstruktion des stilbildenden Prinzips der visuellen Selbstpräsentation wählten wir wie erwähnt die Bildclusteranalyse. "Der Modus des Vergleichenden Sehens" (MÜLLER & SOMMER 2021, S.809), in den Betrachter*innen eines Bildclusters verfallen, wird dabei methodisch gewendet. Die Analyse besteht darin, die Bilder auf Ähnlichkeiten (ästhetischer, thematischer, figurativer, aber auch kompositorischer Natur) hin zu befragen. Dies ermöglicht einen Überblick über das Bilddatenmaterial zu erlangen und zentrale Kategorien der visuellen Selbstpräsentation zu identifizieren. Im Folgenden werden wir unsere methodische Adaption der methodologischen Überlegungen von MÜLLER (2016, 2020, 2024) zur Bildclusteranalyse exemplarisch darstellen und einen Einblick in die Arbeit mit dem Bildmaterial auf X geben.
Abbildung 1: Das gesamte Cluster wird zu Beginn der Analyse auf einem Tisch ausgebreitet. [23]
Hierfür haben wir alle 127 Bilder ausgedruckt, ausgeschnitten und auf einem großen Tisch verteilt. In einer Analysesession mit mehreren Teilnehmer*innen wurden die Bilder in mehreren Runden entlang unserer visuellen Eindrücke sortiert und so die verschiedenen Bildtypen innerhalb des Clusters rekonstruiert. Im Gespräch ergaben sich verschiedene Sortierungen und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, die den Erkenntnisprozess sowohl themenspezifisch als auch nach gestalterischen Kriterien leiteten. In jeder Runde wurden dabei strukturierende Aspekte herausgearbeitet, die das gesamte Cluster umfassten. Im Sinne der "constant comparative method of qualitative analysis" (GLASER & STRAUSS 1967, S.101ff.) ermittelten wir nach und nach verschiedene Bildkategorien, wobei ein Bild Teil mehrerer Kategorien sein konnte, da je nach Blickwinkel verschiedene Aspekte sichtbar werden. Die Sortierung der Bildtypen erfolgte dabei auch assoziativ. Wir begannen zu sortieren und uns auszutauschen, einzelne Bilder zwischen verschiedenen neugebildeten Haufen hin- und herzuschieben und uns zu fragen, wie wir die so gebildeten Bildkategorien adäquat benannt werden könnten. Im Analyseprozess erläuterten wir, wie wir zur Sortierung gekommen waren, was die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Bildern ausmachte und wo wir Grenzen zogen. Die Kategorien wurden immer wieder aufgelöst und nach neuen Gesichtspunkten arrangiert. Innerhalb dieses dynamischen Prozesses gewann die Rekonstruktion der Struktur nach und nach an Kontur. Begleitet wurde dieser Prozess durch das Schreiben von Memos, in die neben der sprachlichen Beschreibung von Ähnlichkeiten und Differenzen der Kategorien und dem Formulieren von Hypothesen über den Modus Operandi der visuellen Selbstpräsentation auch Fotografien der gebildeten Kategorien (siehe z.B. Abbildung 2) integriert wurden. Durch die Rekonstruktion der Bildtypen und deren axiale Verknüpfung war es im zweiten Schritt möglich, schrittweise das "Wie" der Darstellung des Accounts zu ergründen. Im Folgenden versuchen wir, exemplarisch dieses "Wie" der "Komposition und Montage" am Beispiel der geschlechtlichen Performanz zu plausibilisieren.
Abbildung 2: Comic und Mangas sind als Stile im Cluster visuell dominant [24]
Bei vielen Feeds auf X rauscht die Bilderflut beim Durchscrollen an den Betrachter*innen vorbei, weswegen wir uns auch bei der Rekonstruktion des Clusters zunächst auf einzelne, auffallende stilistische Merkmale konzentrierten. Auf den ersten Blick war die visuelle Dominanz von Comics und Mangas innerhalb des Clusters für uns auffallend. Diese Genres sind stilbildend und fanden sich auch in anderen Bildtypen wieder: Fotografien etwa enthalten teils Elemente aus Comics und Mangas etwa in Form von Kostümen. Auch die Farbgebung des Clusters fiel auf, es prägten rosa-lila-Töne, schwarz, rosa-rot und blau den visuellen Gesamteindruck. Auf kompositorischer Ebene stach uns zudem insbesondere die Verwendung von zwei oder mehreren ‚Rechtecken‘ innerhalb eines Bildes ins Auge.
Abbildung 3: exemplarische Bildkategorien nach stilistischen Merkmalen [25]
Bereits der erste, noch recht rudimentäre Überblick über die verwendete Stilistik lieferte Hinweise auf die Struktur der visuellen Selbstpräsentation. Die Kategorie der "Rechtecke", die nach stilistischen Kriterien gebildet wurde, verweist bereits auf die Kommunikationsweise: Im Account kommen Bildvergleiche als Kommunikationsform zum Einsatz, sei es in narrativer Form – kurz Comics – oder in "Memes"15). Die stilistischen Merkmale deuteten für uns darauf hin, dass der Account über ein großes Wissen über Netzkultur und ihre Bildsprache verfügt und zudem spezifisches subkulturelles Bildwissen in die Kommunikation einfließt. Denn gerade die Memes setzen ein hohes Maß an kommunikativem Bildwissen voraus (HORNUFF 2020, S.61).
Abbildung 4: Verwendung des Comic-Froschs Pepe [26]
Ein eindrückliches Beispiel hierfür sind die Abbildungen, auf denen "Pepe" zu sehen ist. Pepe ist eine Comicfigur, die ab Mitte der 2010er Jahre von der amerikanischen Alt-Right-Bewegung genutzt wurde und auch zu einem Erkennungszeichen der Identitären16) in Deutschland geworden ist (HORNUFF 2020, S.62ff.). Insider*innen können die visuelle Selbstpräsentation des Accounts als politisch rechts einordnen. Für diejenigen, die diesen Code nicht kennen, bleibt "Pepe" eine Comic-Figur. Auf die Bedeutung von kulturellen Codes in der Bildkommunikation des Accounts und deren Implikationen für die Auswertung kommen wir im Laufe dieses Abschnittes noch zurück. Insgesamt fiel auf, dass für den Accounts in erster Linie Bilder genutzt wurden, die fiktive Charaktere darstellen, aber kaum private Fotos oder fotografische (Selbst-)Porträts. Wir fragten uns deshalb im Laufe des Analyseprozesses wiederkehrend: Welcher Blick wird hier nahegebracht? Was soll mit den Bildern sichtbar gemacht werden? [27]
Die Bildkategorien wurden nicht nur nach stilistischen Eindrücken gebildet, sondern auch entlang der Empfindungen, die sie bei uns als Betrachtenden hinterließen bzw. nach den Empfindungen oder Charakteristiken, die wir in den Bildern repräsentiert sahen. Es kristallisierte sich heraus, dass im Cluster eine ganze Bandbreite emotionaler Ausdrücke transportiert wurde: Verzweiflung und Hilflosigkeit, Angst, Phlegmatismus, Einsamkeit, aber auch Wut, Heimtücke oder Coolness, um nur einige zu nennen. Die mittels des vorliegenden Accounts dargestellte visuelle Selbstpräsentation ist auf dieser Ebene mehrdimensional, es deutete sich eine gewisse Zerrissenheit an. Dies ist insbesondere auch hinsichtlich eines weiteren Aspekts interessant: dem der geschlechtlichen Performanz.
Abbildung 5: exemplarische Bildkategorien nach den Emotionen "heimtückisch", "Einsamkeit", "hilflos-verzweifelt", "fröhlich"
[28]
Da es in unserem Projekt um geschlechterpolitische Positionierungen und vergeschlechtlichte Darstellungsformen geht, konzentrierten wir uns bei der weiteren Analyse auf den visuellen Bezug zu diesen Themen und bildeten in verschiedenen Analyserunden Kategorien hierzu. Dabei fiel auf, dass in der Bildkategorie "Frauen" der Mangastil dominierend war. Die Frauenfiguren zeichnen sich durch kindliche Gesichtszüge und stark überzeichnete äußerliche weibliche Geschlechtsmerkmale aus. Die Zeichnungen sind zugleich in ihrer Niedlichkeit sexuell aufgeladen. Zusätzlich war eine Überschneidung mit den Emotionskategorien feststellbar. Die Frauen wirkten auf uns kämpferisch, wütend, aber auch devot und einsam. Nur zwei der Bilder zeigen Frauen, die aus Sicht des Accounts als politische Gegnerinnen markiert werden: Sawsan CHEBLI und Nancy FAESER.17). Bilder mit männlichen Protagonisten erwiesen sich aus unserer Perspektive stilistisch variantenreicher, da sie mehr Fotografien und neben Mangas auch Zeichnungen und Comics umfassen.
Abbildung 6: "Frauen" und "Männer" [29]
Im Analyseprozess konnten auch die visuellen Übergänge zwischen einzelnen Bildkategorien ausgearbeitet werden. In diesem Beispiel fiel der zwischen "Frauen" und "Männern" in den Blick. Der "Catboy" wurde in unserem Cluster porträtiert als ein Junge mit schwarzen Haaren und Katzenohren und steht in der schwulen Subkultur für eine Form der Fetischisierung von sogenannten Twinks, d.h. sehr schlanken und androgynen Männern. Die geschlechtlichen Darstellungen innerhalb der Bildkommunikation waren demnach nicht allein gendertypisch und eindeutig binär gestaltet. Die wiederkehrenden Bilder, auf denen "Catboys" im Zentrum standen, bewegten sich zwischen Weiblichkeits- und Männlichkeitsperformanzen. Verstärkt wurde diese Mittlerposition innerhalb des Clusters durch die Verwendung des Mangastils. Darüber hinaus deuteten sowohl die dargestellten Emotionen als auch die Farbgebung (rosa-lila und schwarz) auf die Subkultur der Emos18) hin, die vor allem in den späten 2000er-Jahren international verbreitet war.
Abbildung 7: ambivalente Männlichkeitsdarstellungen [30]
Männlichkeitsperformanzen ließen sich jedoch nicht nur anhand von Männerabbildungen rekonstruieren. In der medialen Selbstpräsentation spielen auch weitere vergeschlechtlichte Ausdrucksformen eine wichtige Rolle. Zu nennen wären hier die in einem klassischen, binären und heteronormativem Geschlechterverständnis als "männlich" oder "weiblich" konnotierten Hobbies, Aufgaben oder Emotionen. Neben dem androgynen Catboy fanden wir auch Inszenierungen, die einem hegemonialen Männlichkeitsbild entsprachen, so z.B. ein wehrhafter Mann mit Waffe, Bebilderungen von Coolness ebenso wie andere Insignien "klassischer" Männlichkeit wie "Bier", "Grillen" und "Fleischessen". Die Ambivalenz in der Männlichkeitsdarstellung wird verstärkt durch die bildlichen Verweise auf Homosexualität bzw. Homoerotik einerseits und durch Mangas porträtierte heterosexuelle Beziehungen andererseits. Die visuelle Selbstpräsentation zeigt also eine spannungsgeladene Aushandlungen von Geschlechtlichkeit und Sexualität. [31]
Nach der Rekonstruktion der im Cluster verwendeten Bildtypen stellte sich uns in einem nächsten Schritt die Frage nach der axialen Beziehung zwischen den einzelnen Bildern und Bildtypen (MÜLLER 2016, S.105). Ziel war es, die thematische und gestalterische Schwerpunktsetzung des Bildclusters zu rekonstruieren. Hierbei hilft es, sich eine der konstitutiven Merkmale von Bildclustern in Erinnerung zur rufen, nämlich dass die dort befindlichen "Bilder sich gleichsam kommentieren und wechselseitig deuten" (S.116). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass durch das Cluster ambivalente Darstellungen rechter Männlichkeit abseits hegemonialer Geschlechterverhältnisse sichtbar wurden. Aufgrund der stilistischen Merkmale konnte auf ein hohes Bildwissen des*der Accountinhaber*in geschlossen werden. Thematisch wurden insbesondere Bezüge zu Politik, Geschlechtlichkeit und der eigenen emotionalen Situation hergestellt. Auffallend war auch die Dominanz des Comic- und vor allem Mangastils, die ebenfalls prägend für das Cluster sind. Im Zentrum stehen Kawaii-Charaktere, ein japanischer Stil, der geprägt ist durch Niedlichkeit (HEINZE 2014, S.7), der im Widerspruch zu hegemonialen Männlichkeitsbildern steht. Der Eindruck wird durch die Verwendung der kontrastreichen Farben Schwarz und Rosa-Lila verstärkt: Schwarz als Farbe der Trauer, des Todes, aber auch der Macht, trifft auf Rosa, das für Lieblichkeit, Weichheit, Kindlichkeit und Zartheit steht. Zugleich wird rosa weiblich kodiert und eng mit männlicher Homosexualität verknüpft. Innerhalb des Clusters werden folgerichtig weibliche und androgyne Charaktere in dieser Farbgebung dargestellt. Zusätzlich werden die Bilder der Frauen als auch die der Catboys teils offensiv, teils verdeckt sexualisiert. Im Kontrast zu den Comic- und Fotobildern wirken die Mangas wie eine Flucht aus der "Realität". Sie stellen die eigenen Wünsche und Sehnsüchte dar, ohne dabei auf eine rein positive Fantasiewelt zu setzen. In Verknüpfung mit den transportierten emotionalen Lagen deutet sich eine Ambivalenz der Sehnsüchte an.
Abbildung 8: Selbstporträtierung als Excalibur [32]
Auffallend war darüber hinaus die Unsichtbarkeit der Person hinter dem Account. Als Profilbild wurde die Fotografie eines Kostüms gewählt – konkret eine Maske, die das heilige Schwert "Excalibur" aus dem Manga "Soul Eater" nachbildet (siehe Abbildung 8). Dieses Motiv wurde innerhalb unseres Clusters zweimal aufgenommen. Die visuelle Selbstpräsentation vollzieht sich also vor allem über die bildliche Kommunikation von politischen Positionen, aktuellen Stimmungslagen sowie Facetten vergeschlechtlichter Abbildungen. Damit unterscheidet sie sich strukturell von stark personenbezogenen visuellen Darstellungen etwa in Form von (Selbst-)Porträts. Thematisch werden Geschlechtsidentität und Sexualität akzentuiert, wodurch die politische Selbstpositionierung als "offen rechtsradikal" nebensächlich wird. Dennoch sei erwähnt, dass wir im Cluster durchaus visuelle politische Bezüge fanden, etwa zur AfD oder durch die Verwendung von Pepe. Betrachtet man die politische Positionierung und die geschlechtliche Performanz in Beziehung zueinander, so deutet sich für die visuelle Selbstpräsentation eine durch Ambivalenzen gekennzeichnete Aushandlung von rechter Männlichkeit abseits der klassisch heteronormativen Geschlechterordnung an. Die ambivalente Aushandlung geschieht dabei durch die Verknüpfung verschiedener Ebenen: 1. über die Verwendung von politischen Codes, die es ermöglichten, im Vagen zu bleiben, um die eigene Position nicht direkt zu exponieren; 2. durch die indirekte Kommunikation bzw. Ansprache, die über die Verwendung von Mangas und Comics erfolgte; 3. durch die Art und Weise der Geschlechterdarstellung: Einerseits begegnet uns eine explizite Sexualisierung von Frauen, die durch kindliche Gesichter und überdimensionierte Brüste im Mangastil zum Ausdruck kam, andererseits die androgynen Catboys. Diese Ambivalenz wurde 4. zusätzlich durch den Einsatz von Farben unterstrichen: Schwarz und Rosa stehen gleichzeitig für Macht und Zartheit.19) [33]
4.3 Darstellung Text- und thematische Feldanalyse
Im Anschluss an die Darstellung der Bildclusteranalyse wird im Folgenden gezeigt, wie die Text- und thematische Feldanalyse für die Analyse des X-Accounts adaptiert wurde, auf welcher Ebene sie sich bewegte und welchen Erkenntnisgewinn wir generieren konnten. Im Rahmen unserer Analyse haben wir exemplarisch die ersten chronologisch aufeinanderfolgenden Sequenzen des Erhebungszeitraums analysiert. Ein Beitrag wurde als eine Sequenz konzeptualisiert, unabhängig davon, ob es sich um Text, Bild oder eine Kombination aus beidem handelte. Wie in der Text- und thematischen Feldanalyse üblich, haben wir die Sequenzen für die Analyse kurz zusammengefasst, wenn es sich um einen längeren Textbeitrag handelte. Einfache Sätze wurden direkt übernommen. Die Bilder wurden für die Sequenzierung textlich zusammengefasst, sodass in der für die Analyse aufbereiteten Sequenzierung deutlich wurde, was text- und was bildbasierte Inhalte waren. Die Bilder wurden zunächst grob beschrieben. Im Analyseprozess stellte sich jedoch heraus, dass in den Bildern einzelne (pop- und subkulturelle) Referenzen und Symboliken vorkamen, die auf Community-Wissen und relevante Kontexte verwiesen. Ihre Recherche war notwendig, um alle für die Sequenz relevanten Bestandteile von Bildern miteinbeziehen zu können. Diese setzten wir u.a. über die umgekehrte Google-Bildersuche um, bei der ein Bild in die Suchmaske eingegeben wird und daraufhin ähnliche Bilder mit ähnlichem Inhalt angezeigt werden. Auch bezüglich sprachlicher Inhalte, die zunächst nicht verstanden wurden, wurde Fachwissen miteinbezogen, um als heuristische Möglichkeit das Hypothesenspektrum zu erweitern. Es lässt sich keine allgemeine Regel aufstellen, in welchem Fall eine detailliertere Recherche vonnöten ist. Aus diesem Grund halten wir es für sinnvoll, im Analyseprozess offenzuhalten, wann es notwendig wird, auf Details eines Bildes oder Textes zurückzukommen, um einzelnen Elemente zu recherchieren oder sogar ein Bild als solches in die Analyse einzubeziehen. Allerdings ist es hierbei nicht von Nutzen, sich im Detail der Bilder oder Texte zu verlieren. Schließlich benötigen wir nur so viele Informationen, dass wir die strukturelle Gestalt der Sequenz erschließen können. [34]
In der Analyse gingen wir sequenziell vor. Entsprechend des abduktiven Schlussfolgerungsverfahrens nach PEIRCE (1980 [1933]) deckten wir die Sinneinheiten chronologisch nacheinander auf und entwickelten jeweils möglichst unterschiedliche und vielfältige Hypothesen. Diese bezogen sich darauf, was zum Ausdruck gebracht werden sollte, welche Bedeutung das zum Ausdruck Gebrachte hatte und in welches thematische Feld es eingebettet sein könnte. Von diesen Hypothesen wurden Folgehypothesen deduziert im Sinne von "wie müsste es weiter gehen, wenn diese Hypothese zutrifft", die also mögliche Konsequenzen bzw. Vorhersagen umfassten und wiederum an den darauffolgenden Sequenzen überprüft wurden. Gewannen sie an Plausibilität, wurden sie beibehalten und weiterverfolgt, bestätigten sie sich nicht, wurden sie verworfen. Die bestehen bleibende Lesart galt als die zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlichste Strukturhypothese (ROSENTHAL 2015 [2005], S.61ff.).20) Dieses Schlussfolgerungsverfahren erlaubt, den prozesshaften und strukturbildenden Aufbau eines Geschehens, Textes oder eben eines Accounts zu erschließen. An den folgenden Sequenzen soll die Analyse ergebnisorientiert nachgezeichnet werden, d.h., es werden nicht alle gebildeten Hypothesen wiedergeben, sondern vornehmlich die, die in der Analyse immer weiter ausdifferenziert werden konnten. Um den Leser*innen den Zugang zur Hypothesenbildung zu erleichtern, verwenden wir an dieser Stelle durchgängig das Präsens.
30.9.2023 Tweet |
"Is the german public aware of this?"
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Bild: männlich, androgyne Mangafigur mit Kapuzenpulli und Katzenohren hebt den Zeigefinger Schrift: "A true Aryan man must be Blonde like Hitler, slim like Göring, handsome like Goebbels and straight like Röhm." |
Erste Sequenz [35]
Im ersten Beitrag zeigt sich eine Auseinandersetzung mit rechten Männlichkeiten (historischer Bezug zum Nationalsozialismus), die ironisch mit zur Realität konträren Attributen betitelt werden. Auf der Bildebene wird dies durch die Darstellung der androgynen Catboy-Mangafigur deutlich, die die Rezipient*innen (u.a. "the german public") direkt anspricht. Durch die englische Sprache wird der Anschein erweckt, dass eine internationale Öffentlichkeit adressiert wird. Die Person, die den Account betreibt, scheint sich über Männlichkeitsbilder im Nationalsozialismus lustig zu machen. Auf der einen Seite kann dieser Umstand darauf hindeuten, dass sie sich generell über Rechte lustig macht, auf der anderen, dass sie zeigen möchte, dass es auch andere rechte Männlichkeitsbilder außerhalb der Norm gibt, die das eigene Rechtssein nicht unterminieren. Möglicherweise handelt es sich um einen Versuch, das eigene Aussehen und die eigene Sexualität so darzustellen, dass sie trotz abweichender Merkmale mit rechten Vorstellungen vereinbar erscheinen. Die Verwendung von Antagonismen bindet zudem die Aufmerksamkeit der Betrachtenden. Es lässt sich vermuten, dass in späteren Sequenzen weitere Auseinandersetzungen mit dem Thema Homosexualität folgen und kommunikative Stilmittel wie Antagonismen, Ironie und Provokationen verwendet werden, was wiederum auf eine spannungsbesetzte Auseinandersetzung mit dem Thema rechte Männlichkeit hindeuten könnte.
30.9.2023 |
"G’schichten aus der Timeline" |
Bild: Ausschnitt aus der Timeline von X, Screenshot |
Zweite Sequenz [36]
Tatsächlich wird in der zweiten Sequenz erneut das Thema Homosexualität aufgeworfen. Das Reposten eines Timeline-Ausschnitts, in dem der Account von einem Nutzer gelobt wird und ein anderer darunter antwortet, dass er in diesem Moment "brachial schwul" sei, kann darauf hindeuten, dass die Person selbst homosexuell ist. Zugleich fällt die überspitzte Formulierung "brachial" als erneute ironische Konnotation der Aushandlung von Homosexualität in den Blick. Die Person bezeichnet sich hier selbst mit Ausgrenzungsbegriffen und suggeriert eine schwule Männlichkeit, was an den vorherigen Beitrag anschließt. Die wiederholt ironische Einbettung des Themas der Homosexualität lässt die sexuelle Orientierung der Person hinter dem Account im Vagen. Es könnte auch sein, dass sich nur darüber lustig gemacht wird. Deutlich wird, dass der provokante und ironische Duktus nicht nur in eigens verfassten Beiträgen und visuellen Darstellungen auftaucht, sondern auch in der Interaktion mit und in Reaktion auf andere Accounts. Ob die jeweiligen Personen sich auch offline kennen, ist unklar. Die Auseinandersetzung mit Männlichkeiten in der ersten Sequenz und die Selbstbezeichnung als "schwul" in dieser zweiten Sequenz lässt vermuten, dass die Person hinter dem Account ein Mann ist. Diese Lesart würde sich erhärten, wenn weitere Auseinandersetzungen mit Männlichkeit folgen. Wenn die Person hinter dem Account sich zu diesem Zeitpunkt in einer spannungsvollen Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität befand, lässt sich vermuten, dass auf diese Sequenz weitere Sequenzen folgen, die eine durch Ironie und Provokation gefärbte Thematisierung von Homosexualität aufweisen. Gemäß der Lesart, dass die Person sich über Homosexualität lustig macht, würden vermutlich eindeutiger abwertende Inhalte zu diesem Thema folgen. Insgesamt zeigt sich bis hierhin, dass das Thema nach außen hin ambivalent und uneindeutig verhandelt wird.
30.9.2023 Tweet |
"Ich trage einen gottverdammten Zylinderhut." |
Kein Bild |
Dritte Sequenz [37]
Diese Sequenz scheint auf den ersten Blick nicht in die Chronologie der ersten beiden Posts zu passen, und die Aussage wirkt an dieser Stelle unzusammenhängend. Der Duktus bleibt aber nach wie vor ironisch, was durch das "gottverdammt" markiert wird. Die Referenz auf den Zylinderhut könnte als Andeutung auf eine exklusive Salongesellschaft einer freien sexuellen Elite (1920er Jahre) gelesen werden, was wieder einen Verweis auf sexuelle Orientierungen darstellen würde. Insgesamt können wir den Verweis durch den Zylinderhut jedoch bisher nicht eindeutig zuordnen. Hier bedürfte es weitergehender Recherchen.
30. 9.2023 Retweet |
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Bild: Eine weibliche und eine männliche (gezeichnete) Figur liegen auf dem Bett, die männliche Figur umarmt die weibliche Figur von hinten, und sie halten Händchen. Beide schauen auf einen alten Fernseher, auf dem das Filmplakat eines Actionfilms zu sehen ist. |
Vierte Sequenz [38]
In dieser Sequenz ist das Bild nicht wie in den anderen Beiträgen durch einen Text gerahmt. Es handelt sich um einen Retweet, also das Teilen eines Beitrags eines anderen Accounts. Auch in dieser vierten Sequenz wird deutlich, dass mit Ambivalenzen und Irritationen gespielt wird. Es wird eine zärtlich intime Situation abgebildet, in der eine männliche und eine weibliche Figur kuschelnd auf dem Bett liegen. Geschlechternormenkonform liegt der Mann hinter der Frau und hält sie in den Armen. Der Actionfilm, der auf dem Bildschirm gezeigt wird, stellt dazu einen Bruch dar. Das Zeigen eines Liebesfilms wäre naheliegender. Hier zeigt sich außerdem der Verweis auf ein hegemoniales Männlichkeitsbild, welches durch den Actionfilm repräsentiert wird. Dies ist zudem die erste Sequenz, in der Heterosexualität dargestellt wird. Es scheint, als würde eine Art Wunschvorstellung von der Person, die den Account betreibt, illustriert werden. Diese Lesart würde sich bestätigen, wenn weitere Sequenzen folgen würden, in denen eine sehnsüchtige Perspektive auf heterosexuelle Paarbeziehungen, gefärbt durch Neid, Leid und Vermissen gezeigt werden würde. Hegemoniale Männlichkeit würde entsprechend weiterhin als gewaltvoll und gegebenenfalls auch homosexuell präsentiert. Insgesamt können die bisherigen Tweets in das thematische Feld "Auseinandersetzung mit homosexuellen und heterosexuellen Männlichkeiten" eingebettet werden.
30.9.2023 Tweet |
"Is a man not entitled to his submissive catboy bf [boyfriend]?"
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Bild aus animiertem Film/Spiel: Mann im Anzug mit erhobenem Zeigefinger steht hinter dem "submissive catboy bf" (Mangastil, kurze Jeans, bauchfreie Bluse, Katzenhände und Katzenschwanz). Letzterer blickt erschrocken, beide gucken in Richtung Rezipient*in. |
30.9.2023 Retweet |
Retweet des vorherigen Tweets aus Sequenz 5 |
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Fünfte und sechste Sequenz [39]
In der fünften und sechsten Sequenz findet sich derselbe Inhalt, da die sechste ein Retweet der fünften ist. Warum dies erfolgt, ist unklar, zumal der Retweet nicht textlich gerahmt ist. Es lässt sich vermuten, dass der Inhalt der Person besonders wichtig war und sie sicher sein wollte, dass ihn viele Rezipient*innen sehen. Zur Vereinfachung wurden beide Sequenzen als eine behandelt. In der Figur des Anzug tragenden Mannes deutet sich erneut ein Bild schwuler Männlichkeit an, die mit Macht- und Herrschaftsdarstellungen kombiniert wird. Die textliche Rahmung verstärkt diesen Eindruck. Es wird gefragt, ob ein Mann nicht ein Anrecht auf einen submissiven "Catboy Boyfriend" habe. Der Bezug auf eine abweichende Männlichkeit (homosexuell, Catboy, Androgynität) und die Inszenierung von klassischer Männlichkeit (der Mann im Anzug) finden gleichzeitig statt. Die Inszenierungen von homosexuellen Machtspielen könnten dem folgend als Versuch gedeutet werden, der eigenen Homosexualität Ausdruck zu verleihen und auszutarieren, wie diese in einer rechten Szene ausgelebt werden kann. Im Analyseprozess wurde deutlich, dass Hintergrundinformationen zu dem dargestellten Mann im Anzug hilfreich waren. Durch die umgekehrte Google-Bildersuche fanden wir heraus, dass es sich bei dem Mann um einen Videospielcharakter aus dem Videospiel BioShock handelt, der den Namen Andrew Ryan trägt und als reaktionär dargestellt wird. Für den Charakter ist unter anderem sein Hass auf Linke kennzeichnend. Durch diese Kontextinformation bestätigte sich die Lesart, dass es sich nicht nur um eine spannungsvolle Auseinandersetzung mit Homosexualität handelt, sondern diese zusätzlich innerhalb des eigenen Rechtsseins und ggf. in einer rechten Szene eingebettet ist. Zudem wird erneut eine Darstellung hegemonialer Männlichkeit mit Homosexualität in Beziehung gesetzt. Das zuvor formulierte thematische Feld "Auseinandersetzung mit homosexuellen und heterosexuellen Männlichkeiten" ließ sich nun weiter präzisieren. Zentral für den Account ist das Austarieren (homosexueller) Männlichkeit im Kontext der extremen Rechten.
30.9.2023 Tweet |
Wildcard überschreibt das Bild mit "ich" |
Bild eines Tweets eines anderen Accounts Zweigeteilt: Oben sieht man den Schatten eines Mannes, der auf eine Leinwand blickt, die eine Anime-Darstellung21) einer glücklichen Familie zeigt, unten das Gesicht des Mannes (der Schauspieler Ryan GOSLING) mit traurigem Blick und einem demolierten Gesicht (Blut und gebrochene Nase) |
Siebte Sequenz [40]
In der siebten Sequenz wird im thematischen Anschluss an die vierte Sequenz eine leidvolle Sehnsucht in Bezug auf heterosexuelle, normenkonforme Beziehungen deutlich. Die Person scheint die Wunschvorstellung einer romantisch zärtlichen heterosexuellen Beziehung und Familie zu inszenieren. Die Kommentierung des Bildes mit "ich" markiert eine Selbstverortung in der Rolle des verletzten Mannes, der mit traurigem Blick auf die Leinwand mit der Familiendarstellung blickt. Die Lesart, dass ein mit Leid und Sehnsucht besetztes Streben nach einer heterosexuellen Beziehung inszeniert wird, bestätigte sich anhand dieser Sequenz. Zugleich findet sich auch hier eine Bezugnahme auf die Auseinandersetzung mit Homosexualität: Der Schauspieler Ryan GOSLING genießt Zuspruch in US-amerikanischen homosexuellen Communities und es wird spekuliert, ob er schwul sei. Zudem verkörperte er im Film Barbie die männliche Barbiepuppe "Ken", die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds als "gay icon" bezeichnet wurde (KILEY 2022), ein erneuter Hinweis auf das Spannungsfeld zwischen homosexueller Männlichkeit und der Sehnsucht nach Heterosexualität. Allerdings ist in dieser Sequenz kein ironisch provokativer Duktus zu finden. Möglicherweise braucht das Streben nach einer normkonformen Familie keine Aufrechterhaltung von Vagheit zum Selbstschutz, da es an gesellschaftliche und Normen innerhalb der rechten Szene anschließt. [41]
Im weiteren Verlauf ließen sich fortlaufend Inszenierungen von und Bezugnahme auf Männlichkeit erkennen, die mit Homosexualität konnotiert waren. Diese Themen wurden auf ironische Art verhandelt und in pervertiert dargestellter Sexualität ausgedrückt. Die Person scheint immer wieder ein Spannungsfeld aufzumachen zwischen dem, was sie sich wünschte, wonach sie sich sehnte und dem, was Realität war sowie zwischen einem weichen, fragilen und nach Zärtlichkeit in einer romantischen heterosexuellen Beziehung strebenden Part und einer "klassischen" dominanten Männlichkeit, die als schwul inszeniert wird. Die heterosexuelle Beziehung wirkt unerreichbar und wird mit Minderwertigkeitsgefühlen in Verbindung gebracht. Gleichzeitig scheint die heterosexuelle romantische Liebe auch mit einer "verweichlichten" Männlichkeit konnotiert zu sein. Die Bezugnahme auf und Kommunikation mit anderen X-Accounts erfolgt in weiteren Beiträgen der Timeline. Es handelt sich scheinbar um eine Gruppe aus schwulen rechten Accounts, in denen unter anderem auf gemeinsame Codes und Symboliken (z.B. die Figur des Catboy) zurückgegriffen und mit Ironie, Fetischisierung und Provokation gespielt wird. Hierdurch wurde die Selbstdarstellung im Account in Interaktionen kontinuierlich hergestellt.22) Die einzelnen Beiträge folgen einer zeitlichen Abfolge, die jedoch nicht selbstläufig ist und wiederholt von äußeren Einflüssen unterbrochen wurde. Insgesamt verblieben die Beiträge aber in dem beschriebenen Aushandlungszusammenhang. Durch die Einbeziehung der weiteren Sequenzen gewann das thematische Feld "Auseinandersetzung mit homosexuellen und heterosexuellen Männlichkeiten im Kontext der extremen Rechten" immer stärker an Plausibilität. [42]
Die Darstellung von mit Macht und Gewalt konnotierter Homosexualität und Männlichkeit, gepaart mit Ironie einerseits und der sehnsuchts- und leidvollen Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlich normierten heterosexuellen Beziehung anderseits veranschaulichen die zum Zeitpunkt der Postings präsenten Themen. Diese sind eingebettet in das thematische Feld der ambivalenten Auseinandersetzung mit Sexualität bei gleichzeitiger rechter politischer Selbstpositionierung. Die ironische Selbstdarstellung fungiert dabei als eine Form des Selbstschutzes, durch den das Verbleiben in (sexueller und geschlechtlicher) Ambivalenz ermöglicht und gleichzeitig eine Haltung der Unangreifbarkeit suggeriert wird. Das Spielen mit Ironie und provokativen Elementen in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen (v.a. Homosexualität) wird schließlich in der Namensgebung des Accounts aufgegriffen. "Wildcard" kann frei als "Freifahrtschein" oder "Trumpfkarte" übersetzt werden, womit eine gewisse Narrenfreiheit konnotiert ist. [43]
5. Erkenntnisse aus der Triangulation von Bildclusteranalyse und Text- und thematischer Feldanalyse
Abschließend diskutieren wir die Erkenntnisse der beiden Analyseschritte und arbeiten ihr Zusammenspiel sowohl auf inhaltlicher als auch auf methodologischer Ebene heraus. Bei der Rekonstruktion der visuellen Selbstpräsentation durch die Bildclusteranalyse konnten wir die ambivalente Darstellung rechter Männlichkeit abseits der hegemonialen Geschlechterordnung als Schwerpunkt herausarbeiten. Unser Vorgehen ermöglichte es uns, die Bandbreite an Themen, deren figurative Umsetzung sowie die adressierten Emotionen in der visuellen Kommunikation des Accounts durch die Rekonstruktion der verwendeten Bildtypen zu erfassen. Wir erhielten einen Überblick über die unterschiedlichen stilistischen Mittel, die eingesetzt wurden und konnten Ambivalenzen in der Selbstpräsentation ausmachen. Die geschlechtliche Darstellung als männlich war sowohl geprägt von Attributen "klassischer", "harter" und "soldatischer" als auch von androgyner Männlichkeit. Dies manifestiert sich insbesondere in der Figur des Catboys. Auffällig war, dass die Bilder von Männlichkeit(en) eindimensionaler wirkten, d.h. in erster Linie einen Ausdruck vermittelten, während die von Weiblichkeit(en) nuancierter waren. Die abgebildeten Frauen erschienen "süß" und "wütend" oder "niedlich" und "traurig", während die Männer primär als "cool", "nachdenklich" oder "gewaltvoll" attribuiert wurden. Die Männlichkeitsdarstellungen waren also segregierter und standen unverbunden nebeneinander. Mit Blick auf die Geschlechterperformanz war insbesondere der Übergang zwischen den beiden geschlechtlichen Polen auf der visuellen Ebene äußerst aufschlussreich. Dieser war fließend zwischen den vergeschlechtlichten Darstellungen und zugleich im Mangastil gehalten. Die Mangas nahmen dabei noch eine weitere Funktion ein: die Bebilderung der ambivalenten Sehnsüchte. Darüber hinaus war es uns möglich, die Themen zu rekonstruieren, die in der Bildkommunikation präsent waren. Neben Geschlecht und Sexualität und dem Ausdruck von Emotionen eröffnete sich über die Bildclusteranalyse auch ein Zugang zur politischen Selbstpositionierung als Teil der visuellen Selbstpräsentation. In unserem Beispiel erfolgte diese über die Verwendung von Parteiemblemen (AfD), aber auch durch die Nutzung bekannter Figuren aus der rechten Social-Media-Sphäre wie des Comic-Froschs "Pepe". [44]
Durch die Bildclusteranalyse erarbeiteten wir uns eine Zusammenschau der visuellen Ausdrucksformen, die uns beim flüchtigen Scrollen verborgen geblieben wären. Gleichzeitig ermöglichte sie es uns, einen Überblick über die gesamte Gestalt des Accounts zu erhalten und der Frage nach dem Modus Operandi der Selbstpräsentation auf der Ebene des Visuellen auf die Spur zu kommen. In der Analyse wurde jedoch eine zentrale Leerstelle deutlich: die fehlende Berücksichtigung der Texte – sowohl als Bestandteil der bildlichen Komposition als auch in Form der Tweets, die die Bilder rahmen und so wesentlich zur Blickführung und Bedeutungsproduktion beitragen. Zugleich bekamen wir keinen Zugriff auf den herstellungspraktischen Charakter der Selbstpräsentation des Accounts, der ebenfalls als "Bilder-Rahmen" (GOFFMAN 1981 [1976], S.45) fungierte. Insbesondere die auf X omnipräsenten Verweisungszusammenhänge in der Bildkommunikation durch Retweets oder Reaktionen auf die Beiträge anderer bleiben in der Bildclusteranalyse unsichtbar, stellen aber einen zentralen Baustein des Kuratierens dar. [45]
Mithilfe der Text- und thematischen Feldanalyse konnten wir die Art und Weise ihrer Herstellung und Aufrechterhaltung, die sprachlichen und bildlichen Mittel, mit denen die Themen gestaltet wurden, sowie die Selbstinszenierung der Person hinter dem Account untersuchen. Die Chronologie der Beiträge war nicht selbstläufig und wurde immer wieder aufgrund der (durch Interaktionen geprägten) hohen Volatilität und der fragmentarischen Gestalt der Inhalte auf X unterbrochen. Dennoch verblieben die Beiträge im Aushandlungszusammenhang. Insgesamt zeigte sich eine Verbindung der Themen Sexualität und Emotionen. So war zum Beispiel das Thema Sexualität mit Sehnsucht und Leid konnotiert. Durch das Betrachten der bildlichen und textlichen Anteile ließ sich diese Verknüpfung erst erkennen. Zudem konnten wir die Mechanismen rekonstruieren, durch die sich die präsentierten Themen entfalteten — etwa Ironie sowie das Spiel mit Umkehrungen und Überzeichnungen. Diese Mechanismen erfüllten eine doppelte Funktion: Sie banden einerseits die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen und dienten andererseits dem Suggerieren von Unangreifbarkeit und dem Selbstschutz. Das spiegelte sich auch bildkommunikativ in der ausschließlich indirekten Selbstporträtierung als Excalibur-Maske wider. Insgesamt konnten wir so Hinweise auf die damalige Perspektive der Person hinter dem Account finden und wie diese die Art und Weise der Zuwendung zu Themen und deren Präsentation steuerte (ROSENTHAL 1995, S.86). Dabei wurde ersichtlich, dass die Darstellung von Männlichkeit in Auseinandersetzung mit Homosexualität vor dem Hintergrund der eigenen rechten Positionierung geschah. [46]
Um dieses Wechselspiel von Was, Wie und Warum sowie die Funktion der Selbstpräsentation zu entschlüsseln, bedarf es einer Analyse sämtlicher Elemente einer Sinneinheit. Das inkludiert sowohl den textlichen (einschließlich des Beitragstextes und der im Bild enthaltenen Textelemente) als auch den bildlichen Bestandteil. Auf diese Weise lässt sich rekonstruieren, wie die Sinneinheiten miteinander verknüpft sind und welche Zusammenhänge sie bilden. Im Analyseprozess zeigte sich, dass es je nach empirischem Fall Sinn ergab, eine genauere Recherche zu den Bildern und Texten zu betreiben, um Referenzen und Symboliken wie zum Beispiel bestimmte Manga- oder Videospielcharaktere zu erkennen. Diese Referenzen und die Symbolik wurden nicht zufällig gewählt und deuten auf ein geteiltes Community-Wissen hin, das für Außenstehende nicht unmittelbar zugänglich, jedoch wesentlich für die Rekonstruktion der Selbstpräsentation ist. Zugleich zeigte die Analyse der fünften Sequenz unseres Falles, dass sich das rekonstruierte thematische Feld durch das Auffinden des Videospielcharakters nicht änderte. Sie erhärtete die bis dahin formulierten Lesarten. Damit verbunden sind die Herausforderungen bei der Übersetzung der Bilder in Sprache für die Text- und thematische Feldanalyse. Üblicherweise bezieht diese sich auf textbasierte Inhalte, sodass über den Interpretationsrahmen leichter Einigkeit hergestellt werden kann. Die Verschriftlichung der Bilder stellt insoweit eine Übersetzungsleistung einer Symbolisierungsform in eine andere dar (BRECKNER 2010, S.31ff.), was bereits eine Interpretationsleistung erfordert. Zugleich lässt sich nach unserer Erfahrung konstatieren, dass für die Rekonstruktion der Struktur einer Sequenz die vordergründigen Elemente des Bildes ausreichen. Sollte im Analyseprozess deutlich werden, dass detaillierte Informationen zu Bildern benötigt werden, um Lesarten entwickeln zu können, plädieren wir dafür, die erneute Betrachtung der Bilder flexibel in den Prozess einzubinden und in diesem Zug heuristisch relevante Hintergrundinformationen zu recherchieren. [47]
Welche Erkenntnisse liefert die Triangulation beider Methoden und wie gestaltet sich das Zusammenspiel beider Ebenen der Selbstpräsentation (visuell und herstellungspraktisch)? Durch die Betrachtung der Gesamtgestalt der Tweets werden sowohl bildimmanente Bestandteile als auch die textliche Rahmung der Bildbeiträge in die Analyse integriert. Auf diese Weise erhält die Bildclusteranalyse eine wesentliche Ergänzung. Die Bildclusteranalyse erlaubte, die Vielfalt und die thematische Bandbreite der Bildpräsentation (Geschlecht, Sexualität, Emotionen und politische Selbstpositionierung) zu entschlüsseln. Ergänzt durch die Ergebnisse der Text- und thematischen Feldanalyse ist es möglich, die Zusammenhänge und thematischen Verknüpfungen aufzeigen. In dem vorgestellten Fall zeigte sich, dass die Emotionen Traurigkeit, Leid und Sehnsucht in Verbindung mit dem Thema Heterosexualität standen. Diese Erkenntnis half uns, die Aushandlung von Sexualität vor dem Hintergrund des eigenen Rechtsseins zu rekonstruieren. Die Bildclusteranalyse half wiederum, die visuelle Rahmung dieser Dynamik und das breite Spektrum der Geschlechterdarstellungen in den Blick zu nehmen. So erschienen Ambivalenz und Vagheit der Themen Sexualität und Geschlecht nicht nur in dem textlichen Gestus von Ironie und Provokation, sondern auch in der visuellen Gestalt der Mangas, die für einen bildlichen Ausdruck der eigenen Wünsche und Sehnsüchte standen. Die durch die Bildclusteranalyse rekonstruierte Ambivalenz der Sehnsüchte manifestierte sich wiederum in den Lesarten der Text- und thematischen Feldanalyse. Die Nebensächlichkeit der politischen Positionierung durch die Akzentuierung der Themen Geschlecht und Sexualität zeigte sich anhand beider Methoden. Zugleich ermöglichte die Bildclusteranalyse durch die Betrachtung eines deutlich größeren Materialausschnitts, die im Rahmen der Text- und thematischen Feldanalyse eines kleineren Ausschnitts rekonstruierten Themen zu überprüfen. So bestätigte sich mit Blick auf erstere, dass die rechte politische Positionierung einen Referenzrahmen innerhalb der Selbstpräsentation darstellte. Beide Methoden ergänzten sich und erhärteten die Lesarten aus der jeweils anderen. Mit der Bildclusteranalyse konnten wir einen breiteren Überblick über das Material gewinnen, wohingegen die Text- und thematische Feldanalyse erlaubte, die Herstellungsmechanismen herauszuarbeiten und die Detailliertheit der Analyse zu erhöhen. Auf diese Weise konnten wir den Modus Operandi der Selbstpräsentation auf der visuellen und auf der herstellungspraktischen Ebene rekonstruieren und das strukturelle Ineinandergreifen beider sichtbar machen. Zusammenfassend bot die Triangulation beider Methoden eine vergrößerte Breite und Tiefe der Analyse sowie die Einbeziehung von Inhalten unterschiedlicher Materialität (Bild und Text) (KÖTTIG 2005, S.65). [48]
Insgesamt lässt sich feststellen, dass auf dem X-Account wiederholt auf implizites Wissen referenziert wurde. So wurden die Inhalte für "Nichteingeweihte" schwerer erschließbar. Durch den ironischen Gestus, der nahezu alle Themen, auch die politische Positionierung prägte, wurde dieser Umstand verstärkt. Letztlich bleibt auf dieser, wie auf den meisten Social-Media-Plattformen, offen, ob es sich um reale Darstellungen handelt oder eine Imitation bzw. Vortäuschung. [49]
Auf der methodologischen Ebene zeigt sich die von uns konstatierte strukturelle Homologie der Bildclusteranalyse und der Text- und thematischen Feldanalyse. Beide haben zum Ziel, den Modus Operandi der Selbstpräsentation herauszuarbeiten. Diese kann in beiden Fällen als Gestalt im Sinne einer "Ganzeigenschaft" (KOFFKA 1925, S.567) konstatiert werden. So besteht zwischen den Bildern, den Bildkategorien und dem Bildcluster analog zu den Themen, den thematischen Feldern und der herstellungspraktischen Selbstpräsentation eine Gestaltbeziehung. Die Summe der Einzelbilder bzw. einzelnen Themen ist also inhärenter Bestandteil der Gesamtgestalt der visuellen und herstellungspraktischen Selbstpräsentation und umgekehrt. [50]
Sowohl der herstellungspraktischen als auch der visuellen Selbstpräsentation (in Form eines ikonischen Bildclusters) liegt eine strukturelle Besonderheit zugrunde, welche für "die jeweilige weltanschaulich diskursive, beziehungsstiftende oder pathetische Gestalt [...] konstitutiv ist" (MÜLLER 2016, S.97). Diese strukturelle Besonderheit zeigt sich in den figurativen Prinzipien bzw. im thematischen Feld, dessen Rekonstruktion wir uns in der Analyse angenommen haben. Anhand beider Methoden kommen wir zum Schluss, dass ein strukturgebendes Moment der medialen Selbstpräsentation des analysierten Accounts die Ambivalenz von Sehnsüchten war. Diese wurde visuell ästhetisch durch Mangas und herstellungspraktisch durch den Gestus der Ironie wirksam. Die Triangulation beider Methoden ermöglichte, die Erkenntnisse in die Gesamtgestalt beider Ebenen der Selbstpräsentation einzubetten. Entscheidend hierfür ist der sequenzielle Zugriff auf das Material, durch den das Zusammenspiel der präsentierten Themen (sowohl visuell als auch textlich) sichtbar wird. Die Abfolge der geposteten Inhalte gewährt einen Einblick in das, was die Person, die den Account betreibt, zu einer Zeit beschäftigt und wie diese Perspektive die Darstellung der Themen prägt (KÖTTIG 2004, S.77). Im Zuge der Integration der Text- und thematischen Feldanalyse begeben wir uns analytisch auf eine andere Ebene und blicken nicht nur auf den Account, sondern auch auf den*die Account-Betreiber*in. Die Mechanismen der Selbstpräsentation werden durch die figurativen Prinzipien auch auf der visuellen Ebene wirksam. Die Anordnung der Bilder spiegelt die je aktuelle Perspektive auf die verhandelten Themen auf der visuellen Ebene wider. In unserem Beispiel strukturierten die figurativen Prinzipien des Accounts wie das thematische Feld die spannungsbesetzte Aushandlung von Sexualität und Geschlecht vor dem Hintergrund der politischen Verortung. Das thematische Feld und die figurativen Prinzipien griffen ineinander und wirkten in ihrer Gesamtheit als mediale Selbstpräsentation auf beiden Ebenen, der visuellen und der herstellungspraktischen. Hierin zeigt sich schließlich die anfänglich von uns konstatierte strukturelle Homologie des thematischen Feldes und des figurativen Prinzips. Erst in ihrem Zusammenspiel wird die Gesamtgestalt der medialen Selbstpräsentation sichtbar. [51]
Zugleich bleiben Aspekte offen, die wir in unserem Vorgehen nicht näher beleuchtet haben, die jedoch einer genaueren Betrachtung bedürfen. Hierzu gehört zum einen die Frage, wie die Übersetzung der Bilder in Text im Rahmen der Text- und thematischen Feldanalyse eingeordnet werden kann, handelt es sich doch um eine zusätzliche Interpretationsleistung. Für eine weitere Ausarbeitung der Methodentriangulation müsste dieser Interpretationsakt weitergehend konzeptualisiert werden. Zudem bedarf es einer präziseren Systematisierung des Verhältnisses zwischen dem Account und der ihn betreibenden Person. Dies ließe sich durch die Analyse biografischer Interviews einholen. Nicht zuletzt sollten auch die videobasierten Accountanteile in das methodische Design integriert werden. [52]
Wir danken Linda HOFFMANN, Moritz GOLOMBEK und Ender YILMAZEL für ihre wertvollen Beiträge und ihre Unterstützung bei den Auswertungssessions.
1) Es handelt sich um ein Teilprojekt des Forschungsverbundes GERDEA: Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen und der zeitgenössischen extremen Rechten. Dynamiken-Effekte-Ambivalenzen. <zurück>
2) Unter Accounts verstehen wir kuratierte mediale Erscheinungsformen, die durch spezifische Darstellungen und Praktiken auf Social-Media-Plattformen sichtbar werden. Accounts nehmen in der Social-Media-Kommunikation Subjektformen an, stellen jedoch mediale Konstruktionen dar, die sich im Wechselverhältnis zwischen den jeweiligen Account-Betreiber*innen und anderen Social-Media-Nutzer*innen konstituieren. Um der Subjektform Rechnung zu tragen, ohne Accounts mit den dahinterstehenden Betreiber*innen gleichzusetzen, verwenden wir in diesem Beitrag Accounts in Subjektform, sofern wir uns auf diese kommunikative Form beziehen. <zurück>
3) Aus forschungspragmatischen Gründen konzentrieren wir uns ausschließlich auf Standbilder und klammern Bewegtbilder aus. <zurück>
4) WARBURG (2018, S.31-183) verwendete den Begriff "Pathosformel" für pathetisch gesteigerte Gebärden, die affektiv wirken und zeitlich überdauernd sowie kulturell übergreifend verstanden werden. Er entwickelte den Begriff bei der Beschäftigung mit dem Nach- und Überleben bestimmter Bilder aus der Antike, in der Renaissance und Frühneuzeit, womit er das Forschungsgebiet der Ikonologie begründete. <zurück>
5) Im Rahmen des Projektes rekonstruieren wir die Selbstpräsentation zusätzlich auf der biografischen Ebene anhand der Konstruktion der Lebensgeschichte in narrativen Interviews. <zurück>
6) Hierbei handelt es sich zunächst einmal um eine Beschreibung der grundlegenden Charakteristika der Plattform, die konkrete Auswirkung auf unser methodisches Design haben. Doch darf – gerade auch vor dem Hintergrund unseres Forschungsfeldes – nicht unerwähnt bleiben, dass im Zuge der Übernahme durch Elon MUSK im Jahr 2022 es zu weitreichenden Veränderungen kam, infolge derer insbesondere die Regulierung von Hassrede und Desinformation deutlich reduziert wurde. Zudem kommt es zu einer offen rechten politischen Positionierung von Elon MUSK. Je nach Forschungsfrage kann es ebenfalls von Relevanz sein, wie die Algorithmen zu (Un)Sichtbarkeit von Postings innerhalb des Netzwerks beitragen. <zurück>
7) GIF steht für "Graphics Interchange Format" und ist ein digitales Bildformat, durch das die Kombination von mehreren Bildern zu kurzen Animationen ermöglicht wird. <zurück>
8) Wir verstehen unter Triangulation das Kombinieren zweier Methoden mit dem Ziel, das Wissen bezüglich eines Falles anhand der Zunahme weiterer Perspektiven zu vergrößern (KÖTTIG 2005). Es geht uns um die Sichtbarmachung einer forschungspraktischen Perspektive für die Analyse von Biografien im Wechselverhältnis mit medialen Selbstdarstellungen. Auf die methodologische Debatte um Triangulationen wird nicht eingegangen. <zurück>
9) Aufgrund unseres biografieanalytischen Zugriffs mag das zunächst kontraintuitiv erscheinen, da gerade bei narrativen Bildclustern die kommunikative Funktion die Sichtbarmachung von Entwicklungen ist. Ein anschauliches Beispiel sind die im Bereich der Körpermodulationsdiskursen beliebten Bildzusammenstellungen, in denen über einen gewissen Zeitraum eine (meist lineare und positive) Veränderung des eigenen Körpers porträtiert wird. Wir interessieren uns jedoch bei der Rekonstruktion der visuellen Selbstpräsentation eines Accounts weniger für die sequenzielle Narration als für den visuellen Ausdruck als "ein Bild aus Bildern" (MÜLLER 2016, S.130). <zurück>
10) Die Hinzunahme von biografisch-narrativen Interviews mit Accountnutzer*innen ist im Zuge unserer Forschung geplant. Die Selbstpräsentation im Rahmen der erzählten Lebensgeschichte im Interview und die mediale Selbstpräsentation verstehen wir dabei als gleichrangig. Für die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte können zudem über den Account verfügbare Informationen genutzt werden, um die biografischen Daten anzureichern (vergleichbar mit Akten oder Autobiografien etc.). Beide Ebenen (mediale Selbstpräsentation und rekonstruierte Fallgeschichte) werden schließlich in einer synthetisierenden Interpretation (BRECKNER 2021, S.10) trianguliert mit dem Ziel, das Wechselverhältnis der medialen Selbstpräsentation und der Lebensgeschichte zu entschlüsseln. Das hier vorgestellte Vorgehen bezieht sich entsprechend auf eine von zwei Ebenen der Analyse, die mediale Selbstpräsentation. <zurück>
11) Präziser müssten wir von Personen im Plural sprechen, da wir die Einzelautor*innenschaft bei Accounts nicht mit Sicherheit feststellen können. <zurück>
12) Im Anschluss an LANGER verwies BRECKNER auf den Unterschied zwischen "diskursiver und präsentativer Symbolisierung" (2010, S.44ff.). Präsentative Formen der Symbolisierung beziehen sich auf die Darstellung von Bedeutung und Sinn durch die gleichzeitige Sichtbarkeit aller Elemente, die ein Gesamtbild ergeben. In diesem Kontext können "Phänomene wie Gleichzeitigkeit, Koinzidenz oder Überlagerung unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden" (S.12). Bei der diskursiven Form der Symbolisierung handelt es sich um jene Bedeutungen, die in einer sequenziellen Abfolge von Aussagen konstruiert und verstanden werden (S.45). <zurück>
13) Die Nennung von Accountnamen ist eine Gratwanderung, zum einen ist eine vollständige Anonymisierung aufgrund der Auffindbarkeit im Netz nur schwer bis gar nicht umzusetzen (SIRI 2013), zum anderen stellt sich in unserem Forschungsfeld stets die Frage, ob die Nennung von Accountnamen nicht unbeabsichtigt zusätzliche Aufmerksamkeit auf die betreffenden Accounts lenkt (BLEE & LATIF 2021, S.51ff.). Und schließlich besteht darüber hinaus immer auch die Frage nach Bildrechten. Wir entscheiden uns in diesem Beitrag dafür, den Accountnamen, wenn es für das Verständnis notwendig ist, zu benennen, ihn aber nicht prominent zu stellen. <zurück>
14) Wir nehmen darüber hinaus an, dass dies für die Rekonstruktion der Art und Weise der medialen Selbstpräsentation nur von sekundärer Bedeutung ist, denn mit OEVERMANN (1981) lässt sich konstatieren, dass die Struktur eines Falls sich in jeder Sequenz wiederfindet. Definiert man einen Beitrag bzw. Post als eine Sequenz, ist anzunehmen, dass die Struktur der (politischen und geschlechtlichen) Selbstpositionierung sowie der geschlechtlichen Performanz sich hierin abbildet. Dieser Annahme folgend benötigten wir für die Untersuchung nicht alle 33.000 Posts, um die Selbstpräsentation des Accounts zu rekonstruieren. <zurück>
15) Bei Memes wird das Ursprungsbild in einen anderen Kontext gesetzt und damit eine satirische Botschaft transportiert, sei es über die Verwendung von Text oder über die Kontrastierung mit anderen Bildern. <zurück>
16) Der Begriff Alt-Right [Alternative Rechte] ist eine Selbstbezeichnung extremer rechter Akteur*innen in den USA, deren ideologisches Betätigungsfeld vor allem in den sozialen Medien liegt. Bekannt ist die Bewegung auch für die Etablierung alternativer Verbreitungsplattformen. Sowohl ideologisch als auch in der Form des Aktivismus steht die "Identitäre Bewegung" in Europa der Alt-Right nahe. Sie wird zwar als Jugendbewegung inszeniert, Struktur und Größe stützen diese Selbsteinschätzung jedoch nicht. Um die Selbstbeschreibung der "Identitären Bewegung" als Bewegung nicht zu reproduzieren, wird in diesem Artikel von "Identitären" gesprochen (vgl. dazu BRUNS, GLÖSEL & STROBL 2017 [2014]). <zurück>
17) Sawsan CHEBLI und Nancy FAESER sind prominente SPD-Politikerinnen, die insbesondere in (extrem) rechten Diskursen häufig zur Projektionsfläche politischer Ablehnung und Feindbildkonstruktion werden. CHEBLI ist eine ehemalige Berliner Staatssekretärin mit palästinensischem Hintergrund, die in rechten Diskursen häufig als migrantische Gegnerin markiert wird. FAESER ist als Bundesinnenministerin (bis 2025) zentrale Akteurin im sicherheitspolitischen Umgang mit der extremen Rechten. <zurück>
18) Emo bezeichnet eine Jugendkultur, die eng mit dem gleichnamigen, aus dem Hardcore stammenden Musikstil verknüpft ist. Kernmerkmale sind die Beschäftigung mit introspektiven Themen und die Zentralsetzung von Weltschmerz. Das äußere Erscheinungsbild ist durch eine schwarze, mit neonfarbenen Akzenten geprägte Ästhetik sowie androgyne Männlichkeitsbilder gekennzeichnet (SCHUBOTH 2013). <zurück>
19) Die Ambivalenz wird durch die Plattformstruktur von X, die flüchtige Darstellung und die Schnelllebigkeit bei der Betrachtung der Inhalte weiter verstärkt. Dieses visuelle Erleben kann bei zukünftigen Anpassungen unserer Methode etwa durch die Einbeziehung von Feldnotizen noch umfassender berücksichtigt werden. <zurück>
20) Wichtig ist dabei, den Kontext, in diesem Fall also alles, was wir über den Account wussten, auszuklammern (so auch die Ergebnisse der Bildclusteranalyse). Der Kontext und die Ergebnisse aus anderen Analyseschritten werden erst am Ende der Analyse als Kontrastfolie hinzugezogen. <zurück>
21) Ein Anime ist eine aus Japan stammende Form einer animierten Serie oder eines Films. <zurück>
22) Es bleibt offen, ob die wiederholte Verwendung der Catboy-Mangafigur eine Selbstdarstellung ist oder als Beziehungsgegenüber inszeniert wird, sodass die Person sich selbst als den fiktiven maskulinen, machtausübenden Partner darstellt. <zurück>
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Viktoria RÖSCH ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frankfurt University of Applied Sciences im Teilprojekt "Biographische Genese geschlechterpolitischer Verortungen" des Projektverbundes GERDEA. Sie ist Soziologin und beschäftigt sich mit Fragen an der Schnittstelle von Geschlechterverhältnissen und der extremen Rechten. Weitere Schwerpunkte liegen auf politischen Bildpraktiken, qualitativen Methoden zur Erforschung von Social Media sowie auf methodologischen Fragen und der qualitativen Methodenlehre.
Kontakt:
Viktoria Rösch
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich für Soziales Gesundheit
Nibelungenplatz 1, 60381 Frankfurt/M.
E-Mail: viktoria.roesch@fb4.fra-uas.de
URL: https://www.projekt-gerdea.de/
Paula MATTHIES ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frankfurt University of Applied Sciences im Teilprojekt "Biographische Genese geschlechterpolitischer Verortungen" des Projektverbundes GERDEA. Sie ist Soziologin, und ihre Forschungsschwerpunkte sind die extreme Rechte, Geschlechterverhältnisse, Antisemitismus und Biografieforschung.
Kontakt:
Paula Matthies
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich für Soziales Gesundheit
Nibelungenplatz 1, 60381 Frankfurt/M.
E-Mail: paula.matthies@fb4.fra-uas.de
URL: https://www.projekt-gerdea.de/
Michaela KÖTTIG ist Professorin für Gesprächsführung, Kommunikation und Konfliktbearbeitung und Sprecherin des Kompetenzzentrums für Soziale Interventionsforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences im FB Soziale Arbeit und Gesundheit. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Gender und Rechtsextremismus mit dem Fokus auf Familiengeschichte, biografische Entwicklungen und Gruppeninteraktionen sowie Radikalisierungsentwicklungen und -dynamiken und (forcierte) Migration. Sie beschäftigt sich mit methodologischen Fragen und forscht insbesondere mit qualitativ-interpretativen Methoden im Bereich Biografieforschung und Ethnografie.
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Michaela Köttig
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich für Soziales Gesundheit
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Rösch, Viktoria; Matthies, Paula & Köttig, Michaela (2025). How to Show an Image of Myself: Ein methodischer Vorschlag zur Rekonstruktion medialer Selbstpräsentationen am Beispiel geschlechterpolitischer Positionierungen [52 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 26(2), Art. 15, https://doi.org/10.17169/fqs-26.2.4419.