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Volume 26, No. 2, Art. 22 – Mai 2025

Rezension:

Katharina Miko-Schefzig

Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster & Meinrad Ziegler (Hrsg.) (2024). Marie Jahoda. Rekonstruktionen meiner Leben. Wien: Edition Konturen; 264 Seiten; ISBN 978-3-902968-95-1; 34,00 EUR

Zusammenfassung: Marie JAHODA zählt zu den einflussreichsten Sozialforscher*innen des 20. Jahrhunderts. "Rekonstruktionen meiner Leben" bietet nicht nur einen tiefen Einblick in ihre persönliche Geschichte, sondern auch in ihre wissenschaftlichen Arbeiten und deren Relevanz für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen. In dem Buch werden biografische Rekonstruktionen mit einer kritischen Reflexion über soziale Forschung, Identität und politische Entwicklungen verbunden. Besonders hervorzuheben sind die Briefe von Marie JAHODA, die ihre intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung mit Flucht, Exil und Rückkehr dokumentieren. In diesen Schriftstücken werden ihre politische Haltung, ihre methodische Präzision und ihr unermüdliches Engagement für soziale Gerechtigkeit sichtbar. Ergänzt wird das Buch durch einen Essay von Lotte BAILYN, JAHODAs Tochter, die die familiären und wissenschaftlichen Einflüsse reflektiert und die Kontinuität von Marie JAHODAs Forschung verdeutlicht. Die Publikation zeigt eindrucksvoll, wie die Arbeit von Marie JAHODA nachwirkt –in der Sozialforschung und im gesellschaftlichen Diskurs über soziale Ungleichheit, Identität und politische Verantwortung. In einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung bleibt ihr Werk hochaktuell.

Keywords: Marie Jahoda; empirische Sozialforschung; Rekonstruktionen; Judentum; Wien

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Rekonstruktionen mit zeitgenössischer Relevanz: ein Spiegel für heutige gesellschaftliche Herausforderungen

3. Marie JAHODA und der Wiener Weg empirischer Sozialforschung

4. Die Bedeutung von Briefen in der Familie JAHODA

5. Lotte BAILYNs Essay: ein persönlicher und professioneller Blick

6. Fazit: ein aktuelles Buch für eine disruptive Gegenwart

Hilfsmittelverzeichnis

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Derzeit stehe ich drei- bis viermal pro Woche vor der Marie Jahoda Schule in Wien. Eine Fotografie dieser Schule findet sich in der Publikation im Abschnitt "Familienalben", einem eindrücklichen und rein visuellen Teil des Buches, der Bilder der Familie JAHODA beinhaltet. An diesem Bild zeigt sich etwas Relevantes: Marie JAHODAs Werk wirkt weiter und in diesem Fall als Artefakt, als Schule im Herzen des Wiener Bezirks Ottakring, die seit 25 Jahren ihren Namen trägt und von einer diversen Schüler*innenschaft geprägt ist. Kinder mit Fluchtbiografie, aus Wohngemeinschaften, aus prekären sozioökonomischen Verhältnissen gehen mit Kindern bildungsnaher Eltern in eine Schule. An den Wänden hängen Bilder mit Zitaten von Marie JAHODA. Ich vermute, die Schule hätte ihr gefallen. [1]

Ein weiteres, nicht weniger relevantes Artefakt im Kontext der Arbeiten von Marie JAHODA ist die Wohnung im Karl-Marx-Hof in Wien. Eine Bildunterschrift lautet: "Hier wohnte Paul F. Lazarsfeld mit der Tochter Lotte Anfang der 1930er Jahre." Das Leben im sozialistischen Umfeld, das sich hier an einem konkreten Ort manifestiert, wird in dem Buch immer wieder aufgegriffen. [2]

"Rekonstruktionen meiner Leben" ist mehr als nur eine Autobiografie. Es ist ein Werk, in dem die beeindruckende Karriere und das Leben einer der bedeutendsten Sozialforscher*innen des 20. Jahrhunderts beleuchtet wird. Marie JAHODA war nicht nur eine Pionierin der empirischen Sozialforschung, sondern verkörperte mit ihrer Lebensgeschichte auch das Zeitgeschehen des letzten Jahrhunderts. Ihre Tochter, die renommierte Psychologin und Wissenschaftlerin Lotte BAILYN, ergänzt das Buch mit einem berührenden und klugen Essay, mit dem sie nicht nur eine persönliche Sicht auf Marie JAHODA gibt, sondern auch die Bedeutung und Kontinuität von deren Werk verdeutlicht. Bei der ersten Präsentation des Buches in Wien war BAILYN anwesend und zeugte von der lebendigen Erinnerung an die Arbeit und den Geist ihrer Mutter. [3]

Ohne jemals platt eine Familiendynastie zu beschwören, präsentieren Johann BACHER, Waltraud KANNONIER-FINSTER und Meinrad ZIEGLER Mutter und Tochter im gleichnamigen Kapitel als "Zwei Sozialforscherinnen". Lotte BAILYN, selbst als Sozialpsychologin am Massachusetts Institute of Technology tätig gewesen, griff die Tradition ihrer Mutter auf, etwa wenn sie in einem Projekt der Ford Foundation über weibliche Berufslaufbahnen mittels Aktionsforschung über die Vereinbarung persönlicher Bedürfnisse mit Anforderungen des Arbeitsplatzes forschte. Das Buch bietet also interessante Einblicke in das Leben gleich zweier Wissenschaftlerinnen. [4]

Der Artikel gliedert sich in mehrere Abschnitte, mit denen ich jeweils unterschiedliche Perspektiven beleuchte. In Abschnitt 2 widme ich mich "Rekonstruktionen mit zeitgenössischer Relevanz" und zeige, wie historische Analysen gesellschaftliche Herausforderungen von heute spiegeln. In Abschnitt 3 steht Marie JAHODA und ihr Beitrag zum "Wiener Weg" der empirischen Sozialforschung im Mittelpunkt. In Abschnitt 4 wird die Bedeutung familiärer Briefe bei den JAHODAs untersucht, die Einblicke in persönliche und soziale Dynamiken geben. In Abschnitt 5 analysiere ich Lotte BAILYNs Essay, die einen persönlichen und zugleich professionellen Blick auf die Themen wirft. Ich schließe mit einem Fazit (Abschnitt 6), bei dem ich das Buch als wichtigen Beitrag für unsere disruptive Gegenwart einordne. [5]

2. Rekonstruktionen mit zeitgenössischer Relevanz: ein Spiegel für heutige gesellschaftliche Herausforderungen

Das Buch ist von außergewöhnlicher Aktualität, da Marie JAHODAs Leben und Werk in einer gesellschaftlich polarisierten Zeit stattfand bzw. entstand, die Parallelen zur aktuellen politischen und sozialen Situation aufweist. Diese werden im Kapitel "Rekonstruktionen" sichtbar, dem Hauptteil des Buches, geschrieben von Marie JAHODA selbst, um ihre "eigenen Erinnerungen zu Papier zu bringen" (S.21). Wir tauchen in die Familiengeschichte der JAHODAs ein, deren Wurzeln nach Böhmen reichen. Ihr Schreibstil ist ab den ersten Seiten rasant, und die Lesenden werden in eine weitverzweigte Familiengeschichte hineingezogen, die immer wieder Verbindungen zu prominenten Persönlichkeiten aufweist. Da ist etwa die Rede von einem der Brüder von Carl JAHODA, Maries Vater, der Medizin studierte, "mit Freud im Kaffeehaus Tarock zu spielen [pflegte,] und der Psychoanalyse nahe[stand]" (S.25). Ein weiterer Bruder des Vaters arbeitete in einer Druckerei, die er zu einem Verlag ausbaute. Auch hier sieht man den Bezug der Familie zu den scharfen Denker*innen dieser Zeit: "Zu seinem wichtigsten Autor und zu seiner Obsession wurde Karl Kraus [...] Als mein Onkel starb, einen Monat vor meinem Vater, veröffentlichte Karl Kraus zum Gedenken an ihn ein schönes Gedicht" (S.27). [6]

Besonders die Beschreibung der Kindheit von JAHODAs Mutter sticht ins Auge und man versteht, dass Marie JAHODAs wissenschaftlicher Fokus auf Armut und die Relevanz von Arbeit für ein sinnstiftendes Leben biografische Wurzeln hatte. Berichtet wird, dass ihre Mutter Betty aufgrund des frühen Todes der Mutter und der verzweifelten ökonomischen Lage des Vaters zu einem Onkel und dessen Frau gebracht. Dort erfuhr sich Betty JAHODA als unerwünschtes Waisenkind, obwohl der Ausschluss aus dem Familiensystem eher von den Stiefgeschwistern ausging als von der "Tante Rauch" mit ihrer "unerschöpflichen Liebesfähigkeit" (S.31). [7]

Auf die Detailgetreue in Marie JAHODAs Rekonstruktionen kann in einer Rezension nur hingewiesen werden. Sie gab Einblicke in familiäre Herausforderungen und politische Situationen, etwa wenn wir erfahren, dass ihre Familie bei Kriegsausbruch ohne den Vater im österreichischen Mondsee Urlaub machte und der elfjährige Bruder Edi am Bahnhof auskundschaften musste, ob "Truppentransportzüge auch Waggons für Zivilpersonen mitführten" (S.37). In all den Turbulenzen dieser Jahre beschreibt sich Marie JAHODA selbst als neugieriges Kind, das "wahllos jedes Buch" las, das ihr "in die Hände fiel" (S.43). [8]

Die zunehmende Fragmentierung und Politisierung der Gesellschaft finden in ihren Erfahrungen und Forschungen eine Art Spiegel. Ihre Beobachtungen und Analysen sind nicht nur historisch wertvoll, sondern helfen auch dabei, Mechanismen und Dynamiken, die unsere Zeit prägen, besser zu verstehen und einzuordnen. [9]

Neben den sozioökonomischen Bedingungen der eigenen Herkunftsfamilie, ist viel über das Jüdisch-Sein von Marie JAHODA zu erfahren. Dieser Teil ist nicht nur historisch interessant, sondern er ist aktuell notwendig. Sie erzählt, dass sie erst spät verstand, was das Judentum für sie bedeutete. Die Frage nach dessen Einfluss auf ihre Identität beantwortet sie, indem sie ein eigenes Essay im Buch zitiert. Sie hatte einen "simplen Test zur Einschätzung der persönlichen Identität" (S.46) entwickelt. Sie verdeutlicht anhand des Beispiels eines Schwarzen Menschen1), dessen Vater von Marie JAHODA im Rahmen dieses Tests interviewt wurde, dass ihre eigene Identität als Jüdin nur über den Spiegel der gesellschaftlichen Zuschreibung zu verstehen sei: Das "Interesse ging auf eine Untersuchung über die Rassenbeziehungen in einer amerikanischen Sozialbausiedlung zurück" (a.a.O.). In dieser Siedlung wurden die Wohnungen an Schwarze und Weiße in separaten Blöcken vermietet. Dies erwies sich selbstverständlich als "Barriere für die Kontaktaufnahme" (a.a.O.), weshalb ein Vermieter die Trennung aufhob. In einem weiteren Interview mit einem Schwarzen Menschen lobte dieser die Durchmischung und die gegenseitige Achtung, die daraus erwuchs. In dieses Interview platzte der Sohn hinein und rief "Denen haben wir's aber gezeigt, den N.2) von da drüben, dass die hier nichts zu suchen haben" (a.a.O.). Ein peinlicher Abschluss eines Interviews. [10]

Diese Situation führte zu einer Reflexion bei Marie JAHODA. Da in dem weiter oben erwähnten Identitätstest fünf Sätze mit "Ich bin ..." zu beenden waren, füllte sie dies auch für sich selbst aus. Am Ende bemerkte sie, dass sie nirgends "Ich bin Jüdin" geschrieben hatte:

"So muss ich schließlich doch noch akzeptieren, dass im Gegensatz zu religiösen Juden, nationalistischen Juden und rassistischen Juden meine bewusste jüdische Identität von der Welt um mich herum definiert wird, nicht von mir, eine existenzielle Leere, eine zugeschriebene und keine erworbene Identität" (S.49). [11]

In einer Zeit wachsenden Antisemitismus von unterschiedlicher Seite wirkt dieser Teil der Rekonstruktionen tagesaktuell, wie ein Text, den man mit Studierenden lesen und reflektieren will. Er zeigt auch eine frühe Beschäftigung mit der Reflexivität des eigenen Standortes, etwas, das auch für die aktuelle Debatte über Positionalität (SPIES, BUDAK-KIM, AKTAN & TUIDER 2025/im Druck) gewinnbringend ist. [12]

3. Marie JAHODA und der Wiener Weg empirischer Sozialforschung

Marie JAHODA steht für einen Ansatz in der empirischen Sozialforschung, bei dem quantitative und qualitative Methoden verbunden, Grundlagenforschung und der politische Anspruch der Veränderung für jene, die sie beforschte, miteinander vereint werden. Es wird derzeit diskutiert, ob dieser – auch aus Sicht von 2025 – innovative Umgang mit empirischen Methoden als einer der Ursprünge einer Wiener Schule der interpretativen Sozialforschung gelten kann (MIKO-SCHEFZIG, JANCSARY & REICHERTZ 2025/im Druck). Indem Marie JAHODA die Analyse quantitativer Parameter mit einer tiefgehenden qualitativen Durchdringung verband, schuf sie Modelle, mit denen das Individuum in den gesellschaftlichen Kontext eingeordnet und seine Erfahrungen und Wahrnehmungen abgebildet werden. Diese Methodik ist auch heute noch richtungsweisend und relevant, da mit ihr wissenschaftliche Forschung auf menschliche Erlebnisse und soziale Strukturen angewendet werden kann, ohne die Subjektivität in der Komplexität der sozialen Erfahrungen zu verlieren, aber mit dem Anspruch, letztendlich auch etwas mit der Forschung bewirken zu wollen. Marie JAHODA verlor trotz dieses Anspruchs niemals das Primat von Forschungsbasiertheit und empirischer Evidenz. Sie ist somit eine Vorläuferin der transformatorischen Forschung (MIKO-SCHEFZIG 2024). [13]

4. Die Bedeutung von Briefen in der Familie JAHODA

Ich muss zurückgehen zur Marie Jahoda Schule in Wien. An einem von der Schule veranstalteten Marie-Jahoda-Tag wurden unterschiedliche Workshops für 6-19-jährige Kinder und Jugendliche angeboten. In einem wurde "Die Bedeutung der Briefe in der Familie Jahoda" behandelt. Was an diesem Tag kindgerecht aufbereitet wurde, findet sich in zwei Kapiteln des Buches ganz prominent und detailreich. Im dritten Kapitel werden die Briefe von Marie JAHODA an Joseph BUTTINGER (1939-1946) dargestellt, im vierten jene an Walter HACKER (1946-1948). Das Briefeschreiben als eigene kommunikative Gattung in seiner besten Form macht Lust auf das Lesen und bietet wissenschaftliche und private Einblicke in einer Parallelität, die nur durch diese Gattung zugelassen und wobei gleichzeitig etwas eingehalten wird, was für andere Textformen kaum möglich ist: dass nämlich die Reflexion der eigenen Positionierung zu einer Reflexivität des wissenschaftlichen Tuns führt und dieses somit erst einordenbar macht. Joseph BUTTINGER, der schon "im Alter von 13 Jahren als Knecht bei einem Bauern zu arbeiten begann" (S.145), war ab 1935 Vorsitzender der Revolutionären Sozialisten3). Marie JAHODA gehörte zu seiner Gruppe und wurde "als Leiterin der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle 1936 verhaftet, [verriet] in den polizeilichen Vernehmungen Buttinger aber nicht" (a.a.O.). Über diese Zeit schrieb BUTTINGER 1953 in seinem Buch "Am Beispiel Österreich" über die "Niederlage des Schutzbundes 1934, die Gründung der Revolutionären Sozialisten und deren Auseinandersetzungen untereinander und mit anderen" (BACHER et al., S.147). [14]

Der Zeitraum zwischen 1939 und 1946 war von der Flucht geprägt. Man erhält wertvolle Informationen darüber, wie diese Erfahrung verarbeitet wurde und gleichzeitig das Denken prägte. Auch hier sind es oft kleine biografische Informationen, die bei der Einordnung helfen, etwa wenn die Frage BUTTINGERs, wie es Marie JAHODA gehe, eine gefühls- und arbeitsorientierte Antwort nach sich zog:

"Lieber Hubert, es war eine nette Idee von Dir mich zu fragen, wie's mir geht. Die einfachste Antwort darauf wäre: gut, so wie immer. Aber weil ich nicht weiß, ob nicht etwas die räumliche und zeitliche Distanz Dein Verständnis für die ironische Wahrheit so einer Antwort schwächt, erzähl ich Dir's lieber ausführlicher. Am liebsten fast hätt' ich Dir als Antwort auf Deine Frage, die drei Arbeiten geschickt, die ich geschrieben habe, seit ich in England bin: eine Studie über die Arbeitslosen in South Wales, eine Studie über eine Fabrik, in der ich 5 Monate lang gearbeitet habe, und eine Novelle über Dinge, die ich vor ein paar Jahren erlebt habe" (S.151) [15]

Die Briefwechsel mit dem sozialdemokratischen Publizisten und Politiker Walter HACKER setzen später an (1946-1948) und nehmen direkt in die Nachkriegszeit mit. Dieser Teil zeigt Marie JAHODAs Nachdenken darüber, ob sie in das – natürlich immer noch antisemitische – Österreich zurückkehren solle und welche Hindernisse sich zeigten. Gleichzeitig wird in die Armut Wiens nach dem Krieg eingeführt, wenn Marie JAHODA versuchte, CARE-Pakete4) in die Stadt zu schicken. Auch die Einblicke in die damals nach wie vor bestehenden Netzwerke sind dabei aufschlussreich, etwa wenn sie an HACKER schrieb: "Ich habe heute an Dich ein CARE-Paket geschickt, das Du bitte mit Rosl Jochmann teilst. Die Schwierigkeit ist, dass diese Pakete – von denen es heißt, sie seien großartig und enthielten 40.000 Kalorien – so verflixt teuer sind" (S.188). [16]

Dieser Briefwechsel ist (vonseiten JAHODAs) kürzer, aber äußerst gewinnbringend, weil man aus Fluchtforschungsperspektive viel darüber lernt, was es bedeutet, zur Gruppe der "people on the move" (PIJNENBURG & RIJKEN 2021, S.273) zu gehören: zum Beispiel entscheiden zu müssen, ob man alte (in JAHODAs Fall sozialistische) Netzwerke wiederbelebt oder überhaupt wagt, wieder in das Heimatland zurückzukehren oder auch zu erkennen, dass die Flucht sie zur Weltbürgerin befähigte (hier in den dargelegten Optionen England oder Wien, oder zuvor Jamaika?, S.190). Es schimmert aber auch die Mutter JAHODAs durch, die ernsthafte Entscheidungen erst traf, als die Tochter auf dem College war. [17]

5. Lotte BAILYNs Essay: ein persönlicher und professioneller Blick

Das letzte Kapitel, geschrieben von Lotte BAILYN, ist ein wesentlicher Bestandteil des Buches. BAILYN bringt nicht nur eine persönliche Perspektive in das Werk ein, sondern vertieft auch das Verständnis von Marie JAHODAs Einfluss auf die akademische Welt und darüber hinaus. BAILYN beleuchtet, wie Lebenswerk von Marie JAHODA und ihre Methodik sowohl die soziale Forschung als auch das Leben ihrer Familie geprägt haben. Ihre Worte schaffen eine Verbindung zwischen den Generationen und geben Einblick in die andauernde Relevanz von JAHODAs Werk. [18]

Dieser Essay ist historisch spannend, weil die Verbindungen zwischen den Familien LARZARSFELD und JAHODA erkennbar werden. So unterhielt BAILYNs Großmutter väterlicherseits einen "Salon für liberale und sozialdemokratische Intellektuelle der Stadt" (S.198). Sie "bildete sich autodidaktisch im Rahmen der von Alfred Adler [...] gegründeten Beratungskliniken und wurde durch eine Analyse mit Adler selbst auch zu einer führenden adlerianischen Analytikerin" (S.199). Hier zeigt sich, dass in BAILYNs familiärem Umfeld Frauen führend in wissenschaftlichen Feldern sein konnten. Betty JAHODA (JAHODAs Mutter) kam aus einfachen Verhältnissen in Polen, entwickelte aber im Laufe der Jahre in der Familie, in die sie einheiratete, "eine tiefe Liebe zur und Kenntnis von Musik" (S.202). Beide Frauen waren für ihre Zeit überraschend selbstständig, etwas, das nur durch ihren eigenen Antrieb erklärbar ist. Dieses Umfeld erklärt vielleicht auch etwas, das BAILYN bei ihrer Mutter Marie JAHODA beschrieb: "Sie akzeptierte nichts, weigerte sich, sich an Traditionen zu halten, und beteiligte sich mit Begeisterung an den reformerischen Kämpfen ihrer Zeit" (S.203). [19]

6. Fazit: ein aktuelles Buch für eine disruptive Gegenwart

"Rekonstruktionen meiner Leben" ist ein Buch, das in seiner Tiefe und Vielschichtigkeit beeindruckt. Es ist eine wertvolle Lektüre für alle, die sich für Sozialforschung und Geschichte interessieren, aber auch für jene, die gesellschaftliche Dynamiken verstehen möchten. Marie JAHODAs Ansatz, die Gesellschaft zu beobachten und zu analysieren, hat heute, in einer von Krisen und Fragmentierungen geprägten Welt, nicht an Aktualität verloren. Sie zeigte mit ihrer Forschung, wie man das Menschliche und das Gesellschaftliche verbinden kann – und gibt damit Werkzeuge, um die Gegenwart und vielleicht auch die Zukunft besser zu verstehen. [20]

Aber auch die spezifische Zeit von Marie JAHODAs Kindheit bis in die Nachkriegszeit wird fassbar. In seinem jüngst erschienenen Buch "Vienna. How the city of ideas created the modern world" beschrieb Richard COCKETT (2024), dass viele theoretische Entwicklungen, die ihren Ursprung in Wien hatten, bei den "gewöhnlichen Menschen" starteten. Die Frage, was man im Alltagsleben benötigt und wie man dieses besser, das heißt oft gerechter, organisieren kann, war in vielen Fällen der Ausgangspunkt für theoretische und praktische Arbeiten. Auch das scheint in "Rekonstruktionen meiner Leben" kontinuierlich durch. Ich möchte daher mit COCKETT schließen:

"Furthermore, the liberal Viennese usually started with lives and concerns of ordinary people as their primary 'evidence'—Kant's 'crooked timer (of) humankind'. Eschewing the vast impersonal forces of class and nation that bewitched so many of their contemporaries, Viennese architects, craftsmen, social scientist, economists and more, always tried to start their work with real people, whether it be Richard Neutra interrogating his clients as to their architectural needs; Herta Herzog's focus groups; Lazarsfeld's and Jahodas's investigation of the unemployed at Marienthal; Hayek's concern with the free interplay of market forces in economics; or Josef Frank's opposition to what he regarded as the lifeless square blocks that passed for modern architecture, imposed on people by authoritarian designers in the name of abstract principle" (S.384). [21]

Hilfsmittelverzeichnis

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Anmerkungen

1) "Schwarz wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt, und keine reelle 'Eigenschaft', die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist" (SCHEARER & HARUNA 2013, o.P.). <zurück>

2) Im Protokoll JAHODAs erscheint das N-Wort in ausgeschriebener Form. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Wiedergabe – eingebettet in einen historischen Kontext – vertretbar ist. JAHODA selbst reflektierte den Gebrauch des Begriffs kritisch, was auf eine frühe Auseinandersetzung mit Fragen von Reflexivität und Positionalität hinweist. Ich habe mich entschieden, das Wort abzukürzen und eine erläuternde Fußnote hinzuzufügen. <zurück>

3) Nach den Februarkämpfen 1934 formierten sich oppositionelle Sozialdemokrat*innen im Untergrund neu und traten bald als "Revolutionäre Sozialisten" auf. <zurück>

4) CARE-Pakete (Cooperative for American Remittances to Europe) waren Lebensmittelpakete, die im Rahmen amerikanischer Hilfsprogramme nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa entsandt wurden. <zurück>

Literatur

Cockett, Richard (2024). Vienna. How the city of ideas created the modern world. New Haven, CT: Yale University Press.

Miko-Schefzig, Katharina (2024). Transformatorische Sozialforschung: sich einmischen als empirischer Auftrag. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 25(1), Art. 16, https://doi.org/10.17169/fqs-25.1.4193 [Datum des Zugriffs: 13. März 2025].

Miko-Schefzig, Katharina; Jancsary, Dennis & Reichertz Jo (Hrsg.) (2025/im Druck). The Vienna School of interpretive social research. London: Routledge.

Pijnenburg, Annick, & Rijken, Conny (2021). Moving beyond refugees and migrants: Reconceptualising the rights of people on the move. Interventions, 23(2), 273-293, https://doi.org/10.1080/1369801X.2020.1854107 [Datum des Zugriffs: 23. April 2025].

Schearer, Jamie & Haruna, Hadija (2013). Über Schwarze Menschen in Deutschland berichten. Blogbeitrag Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), 31. Januar, https://isdonline.de/uber-schwarze-menschen-in-deutschland-berichten/ [Datum des Zugriffs: 23. April 2025].

Spies, Tina; Budak-Kim, Hazal; Aktan, Oktay & Tuider, Elisabeth (Hrsg.) (2025/im Druck). Diversity and differencePerspectives on subjectivation research. Wiesbaden: Springer VS.

Zur Autorin

Katharina MIKO-SCHEFZIG, Univ.-Doz., Dr.in phil., leitet das Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind qualitative Forschungsmethoden, interpretative Theorie, transformatorische Sozialforschung, Sicherheits- und Polizeiforschung, visuelle Soziologie und sozialwissenschaftlicher Film. Sie arbeitet augenblicklich zu Wissenschafts- und Institutionenskepsis sowie zur Subjektivierungsforschung.

Kontakt:

Katharina Miko-Schefzig

Wirtschaftsuniversität Wien
Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden
Welthandelsplatz 1
1020 Wien

E-Mail: kmiko@wu.ac.at
URL: https://research.wu.ac.at/de/persons/katharina-miko-schefzig-4/publications/

Zitation

Miko-Schefzig, Katharina (2025). Review: Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster & Meinrad Ziegler (Hrsg.) (2024). Marie Jahoda. Rekonstruktionen meiner Leben [21 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 26(2), Art. 22, https://doi.org/10.17169/fqs-26.2.4428.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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