Volume 26, No. 2, Art. 21 – Mai 2025
Tagungsbericht:
Agnes Kirchner, Markus Trimmel & Katharina Miko-Schefzig
"Materialität. Psychoanalyse. Subjekt". Tagung an der Wirtschaftsuniversität Wien, Österreich. 13.-14. Februar 2025, organisiert vom Netzwerk Subjektivierungsforschung
Zusammenfassung: Im Rahmen der zweitägigen Tagung an der Wirtschaftsuniversität Wien konnten wir 33 Vortragende aus dem deutschsprachigen Raum begrüßen, die gemeinsam Möglichkeiten eines transdisziplinären und multiperspektivischen Zugangs zu Prozessen der Subjektivierung diskutierten. Ziel der Veranstaltung war es, einen fruchtbaren Austausch zwischen Sozialwissenschaften und Psychoanalyse zu fördern und insbesondere die Rolle von Artefakten und Räumen als materialisierte Machtverhältnisse zu reflektieren, in und durch die Subjektivität hervorgebracht wird. In dem vorliegenden Bericht dokumentieren wir die zentralen Erkenntnisse der Tagung und verorten diese zugleich im Kontext aktueller subjekttheoretischer Debatten sowie lokaler Forschungszusammenhänge.
Keywords: Subjektivierung; Materialität; Methodologie; Psychoanalyse; qualitative Forschung; Machtkritik; Artefakt; interpretative Theorie; Struktur; Subjekt
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der erste Tag: das materialisierte Objekt zwischen dem Wir und dem Ich
2.1 Wo wird Subjektivierung erfahr-, greif- und beobachtbar?
2.2 Räume der Subjektivierung
3. Der zweite Tag: das Verhältnis von Psychoanalyse und Subjektivierung
3.1 Das Subjekt der Psychoanalyse
3.2 Geschlecht – Sexualität – Subjektivierung
3.3 Homo affectus: Subjektbildung im Spiegel von Emotionen und Affekten
3.4 Die Regentschaft des Ichs – aber welches Ich?
4. Conclusio
Zu den Autorinnen und zum Autor
Wien galt lange Zeit als ein Zentrum fruchtbarer und innovativer Diskussionen über das Subjekt und seine sozialtheoretische Einbettung. Dies trifft in besonderem Maße für die Psychoanalyse zu, aber auch für handlungstheoretische Ansätze, wie sie später in verschiedenen Ausprägungen innerhalb der Wissenssoziologie aufgenommen wurden. Das verbindende Moment psychoanalytischer und handlungstheoretischer Überlegungen liegt in der Einsicht, dass die Gesellschaft nicht ohne das Subjekt und das Subjekt nicht ohne die Gesellschaft gedacht werden kann (FREUD 2012 [1930]); SCHÜTZ 1981 [1932]). Ausgangspunkt der Tagung "Materialität. Psychoanalyse. Subjekt" war es, an diese Wiener Denk- und Forschungstradition anzuknüpfen und sie im Licht zeitgenössischer theoretischer Perspektiven neu zu reflektieren. [1]
Wie im Titel der Tagung bereits angedeutet, bestand eines der Ziele darin, Überlegungen zum Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft mit neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen über den Stellenwert von Materialität zu verbinden (FROSCHAUER & LUEGER 2020; LUEGER & FROSCHAUER 2018; MIKO-SCHEFZIG 2025). Im Zentrum stand die Frage, welche Bedeutung physischen Objekten, Körpern, sozialen Umgebungen und gesellschaftlichen Räumen für die Konstitution von Subjektivität zukommt und wie diese Prozesse empirisch in den Blick genommen werden können. Eine Besonderheit der Tagung lag darin, dass diese Zusammenhänge nicht nur aus subjektivierungstheoretischer, sondern auch aus psychoanalytischer Perspektive diskutiert wurden. Subjektivierungsforscher:innen beschäftigen sich mit den Prozessen, durch die Menschen zu Subjekten werden, also mit den gesellschaftlichen, diskursiven und institutionellen Praktiken, die Individuen formen, regulieren und zu bestimmten Weisen des Denkens, Fühlens und Handelns anleiten (BOSANČIĆ et al. 2022; GEIMER, AMLING & BOSANČIĆ 2019; RECKWITZ 2021; SAAR 2013). [2]
Forschende in diesem Feld orientieren sich an unterschiedlichen (wissens-)soziologischen, gouvernementalitätskritischen, praxeologischen und feministischen Ansätzen. Diese unterschiedlichen Zugänge haben zu einer fruchtbaren Ausdifferenzierung methodischer Perspektiven beigetragen: So werden Subjektivierungsprozesse teils auf der Grundlage konversationsanalytischer Überlegungen als wechselseitiges Adressierungsgeschehen in konkreten Interaktionen betrachtet (LEONHARD, GÜVENÇ, LEONHARD & MÜLLER 2023; ROSE & RICKEN 2018), teils im Anschluss an die dokumentarische Methode als Spannungsverhältnis zwischen Subjektnormen und Habitus analysiert (AMLING & GEIMER 2016). In der interpretativen Subjektivierungsforschung wird Subjektivierung dagegen als Zusammenspiel von diskursiven Subjektpositionen und praktischer Selbstpositionierung konzipiert – ein Zugang, bei dem eine empirische Doppelperspektive eingefordert wird (BOSANČIĆ 2019; JANY 2024). Allen drei Perspektiven ist gemeinsam, dass Subjektivierung nicht nur als Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen verstanden wird, sondern auch als Möglichkeit zur Selbstpositionierung, Reflexion und zum Widerstand gegen gesellschaftliche Anforderungen (KELLER 2012). [3]
Vor diesem Hintergrund erweist sich die Psychoanalyse als fruchtbare Dialogpartnerin für die Subjektivierungsforschung. Bei der Verknüpfung beider Perspektiven kann auf eine produktive Tradition zurückgegriffen werden (etwa auf LACLAU & MOUFFE 1991 [1985]), die insbesondere in der feministischen Theorieentwicklung Relevanz entfaltete (BUTLER 2021 [1997]). Eine psychoanalytische Perspektive ermöglicht vertiefte Einblicke in innerpsychische Prozesse und individuelle Erfahrungen, die für die Subjektbildung zentral sind. Im Hinblick auf die hier eröffneten Fragestellungen liegt ihr Potenzial in der Verschränkung psychischer Selbstwerdung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (CHARIM 2022; SCHÜLEIN 2016). [4]
Sowohl psychoanalytisch als auch subjektivierungstheoretisch bleibt die Frage nach der Rolle von Materialität in der Konstitution von Subjektivität ein offenes und herausforderndes Thema, insbesondere im Kontext der häufig diskurs- und sprachtheoretisch geprägten Ansätze. Die zweitägige Veranstaltung an der Wirtschaftsuniversität Wien bot einen geeigneten Rahmen, um sich diesem Problemkomplex in angemessener Tiefe zu widmen. Dabei wurden unter anderem folgende Fragestellungen diskutiert:
Wie beeinflussen materielle Umgebungen wie Architektur oder Objekte die Subjektwerdung in Arbeits-, privaten und öffentlichen Räumen?
Welche Rolle spielt Materialität in Prozessen sozialer Inklusion und Exklusion?
Inwiefern werden durch materielle Formen bestehende Machtverhältnisse und Prozesse der Subjektwerdung gespiegelt oder hinterfragt?
Wie können durch psychoanalytische Ansätze Einblicke in die Internalisierung sozialer Strukturen und materieller Bedingungen durch das Subjekt gegeben werden?
Inwiefern kann die Psychoanalyse zum Verständnis von Widerstand und Handlungsfähigkeit (Agency) im Kontext der Subjektwerdung unter Machtverhältnissen beitragen? [5]
Das Diskussionsangebot fand breite Resonanz und führte zu vielfältigen Forschungsbeiträgen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie Soziologie, Gender Studies, Kulturpsychologie, Psychoanalyse und Philosophie. Veranstaltet und organisiert wurde die Tagung vom Netzwerk Subjektivierungsforschung. Das Netzwerk Subjektivierungsforschung ist ein Arbeitskreis in den Sektionen Biographieforschung und Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zudem ist es eine eigene Sektion Subjektivierungsforschung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Lokal wurde die Tagung durch das Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden der Wirtschaftsuniversität Wien organisiert. Rund 90 Gäste aus Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz diskutierten an zwei Tagen die neuesten theoretischen und methodologischen Ansätze. [6]
Im Folgenden stellen wir die Vorträge der Tagung vor. Im ersten Teil (Abschnitt 2, Tag 1) stehen Beiträge im Fokus, in denen der Zusammenhang von Materialität und Subjektivierung thematisiert wurde. Eingeleitet wird dieser Teil durch die Besprechung der Keynote von Ulrike FROSCHAUER und Manfred LUEGER, die eine Einführung in die Materialisierung von Subjektivierungsprozessen aus der Perspektive der interpretativen Sozialforschung gegeben haben. Anschließend folgt eine Zusammenfassung der beiden Vortragssessions des ersten Tages zur Rolle von Objekten, Körpern und sozioökonomischen Bedingungen in Subjektivierungsprozessen (Abschnitt 2.1) und zur wechselseitigen Konstitution von Räumen und Subjekten (Abschnitt 2.2). [7]
Im zweiten Hauptteil (Abschnitt 3, Tag 2) geht es um Verhältnis von Psychoanalyse und Subjektivierung. Den Auftakt bildet die Zusammenfassung der Keynote von August SCHÜLEIN, in der er das Subjektverständnis der Psychoanalyse und dessen Mehrwert für die Soziologie skizziert hat. Daran anschließend folgen Besprechungen der Vortragssessions, in denen Subjektivierung und Psychoanalyse (Abschnitt 3.1), die Verflechtungen von Geschlecht und Sexualität (Abschnitt 3.2) und die Rolle von Emotionen und Affekten in der Subjektbildung (Abschnitt 3.3) vertiefend reflektiert wurden. In Abschnitt 3.4 diskutieren wir die Keynote von Isolde CHARIM zur narzisstischen Gesellschaft. Den Abschluss bildet die Conclusio (Abschnitt 4), in der wir die zentralen Erkenntnisse zusammenführen und perspektivisch einordnen. [8]
2. Der erste Tag: das materialisierte Objekt zwischen dem Wir und dem Ich
Eine Einführung in die Materialisierung von Subjektivierungsprozessen wurde von Ulrike FROSCHAUER und Manfred LUEGER in einer ersten Keynote gegeben. Sie prägten mit der Artefaktanalyse (LUEGER 2010; LUEGER & FROSCHAUER 2018) bereits früh eine auf Materialität fokussierte Methodik innerhalb der interpretativen Sozialforschung. Subjektivierung wird den Vortragenden zufolge als Vergesellschaftung des Subjekts gedeutet. Menschen würden also erst innerhalb und durch gesellschaftliche Strukturen zu Subjekten, wobei dies weder als einseitig noch als statisch begriffen werden könne. Stattdessen sei der Subjektivierungsprozess als ein andauernder und dynamischer Aushandlungsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft zu verstehen. [9]
Ähnlich machten FROSCHAUER und LUEGER auch auf die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Artefakt aufmerksam: Aus wissenssoziologischer Perspektive seien Artefakte wie Gegenstände, Räume oder Kleidung Ausdruck kollektiver Bedeutungszusammenhänge. Menschen würden Artefakte schaffen, nutzen, reproduzieren und transformieren – bewusst oder unbewusst – und damit ihre Umwelt gestalten. Umgekehrt würden diese Artefakte auf die Subjekte zurückwirken: Sie strukturierten Wahrnehmungen, Handlungen und Zugehörigkeiten (FROSCHAUER & LUEGER 2020). [10]
2.1 Wo wird Subjektivierung erfahr-, greif- und beobachtbar?
In der ersten Session der Tagung wurde die materialisierte Subjektivierung in den Mittelpunkt gerückt. Subjektivität wurde hierbei nicht ausschließlich als Ergebnis psychischer oder diskursiver Prozesse thematisiert, sondern als ein Gefüge, das wesentlich durch materielle, körperliche und sozioökonomische Bedingungen mitkonstituiert ist. [11]
Im Gegensatz zum dyadischen Verständnis von Subjektivierung als Verhältnis zwischen Norm und Subjekt fasste Lena SCHÜRMANN Subjektivierung nicht nur als diskursiven und psychischen, sondern auch als materiell fundierten Prozess. Sie begriff Störungen im Selbstverhältnis so weniger als individuelle Defizite denn als strukturell bedingt: Sie seien Ausdruck der Spannungsverhältnisse zwischen normativen Erwartungen und materiellen Lebensrealitäten und besäßen so zudem eine politische Dimension. Die materiellen Lebensbedingungen – sei es in sozialer, ökonomischer oder körperlicher Hinsicht – würden dabei nicht nur unterschiedliche Handlungsspielräume schaffen, sondern unmittelbar auf Selbst- und Fremdpositionierung innerhalb sozialer Ordnungen einwirken. So machte SCHÜRMANN den Einfluss von Macht- und Herrschaftsverhältnissen auf die Subjektwerdung deutlich, wodurch ein entfremdetes Selbstverhältnis auch als Ausdruck gesellschaftlicher Unterdrückung und Ungleichheit gelesen werden könne. [12]
Diese dritte Ebene, die Materialisierung des Subjekt-Werdens, findet sich beispielsweise in der Körperlichkeit wieder: Jasmin SCHMIDLIN betrachtete den menschlichen Körper als Bühne kultureller Verhandlungen und Diskurse. Sie verstand ihn als Medium, als sprechendes Gegenüber, das Subjektivierung reflektiere, reproduziere und aushandele. Auf der Basis von kulturellen Praktiken, die ein weibliches Leben in Einklang mit dem eigenen Menstruationszyklus idealisierten, beobachtete SCHMIDLIN die Dynamik des Körper-Subjekt-Verhältnisses in seiner historischen und kulturspezifischen Ausformung. Was also einerseits als emanzipatorischer Tabubruch (der offene Umgang mit weiblicher Menstruation) gedeutet werden könne, müsse andererseits als eingebettet in patriarchale Machtverhältnisse reflektiert werden. SCHMIDLIN zufolge erhält der Körper Legitimität, da er im Schleier einer körperlich-materiellen Neutralität als verlässliches, natürliches Gegenüber erscheint. Bezugnehmend auf ALTHUSSERs (1977 [1968]) Konzept der Anrufung wirke der menstruierende Körper hier auffordernd und anleitend, biete also Handlungsweisen und Selbstverhältnisse an. Durch die Unterwerfung des Subjekts auf Basis der eigenen materiellen Körperlichkeit könnten Frauen so einmal mehr vom vermeintlichen Schicksal eines weiblichen, menstruierenden Körpers eingeholt werden – und sich in diesem verhaftet wiederfinden. [13]
Marisa BECKMANN fragte nach Subjektidealen, die durch politische Programme, Bildungssysteme oder Arbeitsmarktlogiken produziert werden. Konkret untersuchte sie jene Ideale und deren Wirkungen, die im Rahmen eines pädagogisch begleiteten Übergangs zwischen Schule und Beruf hervorgebracht werden und schloss damit an Fragen der Materialisierung einer reflexiven Übergangsforschung (WALTHER, STAUBER, RIEGER-LADICH & WANKA 2020) an. BECKMANN ging davon aus, dass Jugendliche gerade in solchen Übergangsphasen besonders stark mit gesellschaftlich konstruierten Leitbildern konfrontiert seien, die bestimmte Weisen des Selbstverständnisses und sozialer Positionierung etwa in Form von Werten wie Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft oder Karriereorientierung vorgäben und zudem politisch intendiert seien. Vor diesem Hintergrund setzt sich BECKMANN in ihrer Arbeit mit den aktiven Aushandlungsprozessen von Jugendlichen auseinander, die sich diese Anforderungen aneignen, sie ablehnen oder im Sinne eines individuellen Selbstentwurfs umdeuten. Anknüpfend an Studien von Helga KELLE (2022, 2023), in denen das Konzept des Doing Biography im Kontext subjektivierungstheoretischer Forschung aufgriffen wurde, hob sie hervor, dass Körper, Kleidung und andere Artefakte innerhalb solcher biografischen Praktiken eine zentrale Rolle spielten, indem sie Zugehörigkeiten markierten, Normen infrage stellten und individuelle Positionierungen sichtbar machten. [14]
Der Mythos der neutralen Materialität wurde auch in Jozef ZELINKAs Vortrag im Kontext psychischer Gesundheitsvorsorge infrage gestellt: Am Beispiel der Burnout-Prävention zeigte er auf, wie durch jene Programme nicht nur psychische Zustände gemessen und reguliert, sondern zugleich Subjekte im FOUCAULTschen Sinne zur Selbstkontrolle und -optimierung angeleitet würden – etwa durch Wearables, Bioresonanz-Geräte oder einer Healing Architecture (NICKL-WELLER & NICKL 2013). Damit leistete er einen wertvollen Beitrag für ein besseres Verständnis darüber, wie sich Machtverhältnisse innerhalb eines Präventionsdispositivs als Gefüge aus Diskursen, Praktiken, Subjektivierungsformen und Artefakten materialisieren. [15]
Christine BAUHARDT widmete sich der Frage, wie Subjektivität und Agency jenseits etablierter (neo-)materialistischer Ansätze gedacht werden können. Von einem feministischen Standpunkt ausgehend nahm sie dabei "Arbeit" und "Körper" als zentrale materielle "Schauplätze" gesellschaftlicher Naturverhältnisse in den Blick, in denen sich Macht- und Herrschaftsstrukturen konkret niederschlügen. Im Zentrum ihres Vortrags stand das Verhältnis zwischen menschlicher Agency und Materialität. BAUHARDT zeigte auf, in welcher Weise Handlungsmacht konstituiert und welche Wirkmacht der Materialität in diesem Gefüge zugeschrieben wird. [16]
In der folgenden Session setzten sich die Vortragenden mit räumlichen Subjektivierungsprozessen auseinander. Im Fokus stand dabei, wie Subjekte und Räume einander wechselseitig verändern, reproduzieren und gestalten. Besonders anschaulich wurde diese Beziehung in Hannah KAUßENs Vortrag, in dem sie sich mit der künstlerisch-performativen Gestaltung von Ateliers beschäftigte. Sie beschrieb den wechselseitigen Prozess zwischen Künstler:innen, die Räume zu Ateliers und Ateliers, die Subjekte zu Künstler:innen machten. Die Materialität des architektonischen Raums sei dabei als biografischer Raum (SCHÜRKMANN 2017) eng verflochten mit den künstlerischen Handlungen und Ausdrucksformen der Subjekte. Die Künstler:innen würden sich also zwischen Schaffen und geschaffen werden – zwischen Selbst- und Fremdpositionierung – bewegen. [17]
Jochen KIBEL verband in seinem Vortrag zu kolonialer Psychiatrie subjektivierungs- und raumtheoretische Ansätze unter dem Begriff der kolonialen Raumpolitik. Hier erörterte er die Wechselwirkung zwischen Raum und Subjekt und die Macht, die durch räumliche Fixierung von kolonialisierten Minderheiten in Kenia ausgeübt werde. Räume seien demnach nicht bloß Schauplatz von Subjektivierungsprozessen, sondern würden von Machtakteur:innen mitgestaltet, um bestimmte Subjektpositionen wie etwa die einer kolonial gedachten African Mind zu ermöglichen und andere gezielt auszuschließen (McCULLOCH 1995). Er folgerte: Wer Macht über Raum besitze, besitze demnach auch Macht über die Positionierungen seiner selbst und anderer in sozialen Ordnungen, die wiederum die realen Handlungsspielräume und Lebensrealitäten von Subjekten begrenzten und formten. [18]
Deborah NÄGLER hob in ihrer exemplarischen Analyse des Übergangs von der Lebensphase der Kindheit in die der Adoleszenz nachdrücklich hervor, dass Materialität nicht als objektiv begriffen werden könne, sondern als Scharnier zwischen Machtstrukturen und persönlichem Erleben, zwischen der Dynamik des Gesellschaftlichen und der Dynamik des Psychischen. Das theoretische Fundament für ihre Analyse bildeten zum einen die psychoanalytisch orientierte Soziogenese (LORENZER 1973) und zum anderen die gesellschafts- und strukturtheoretische Ontogenese (BOURDIEU 1979 [1972]). Dazu führte NÄGLER aus, dass die materielle Welt in sozialen Interaktionen konstruiert werde, deren Räume Einzelnen Struktur gäben und sie als Subjekte formten, gleichzeitig aber von Subjekten geformt würden. Räume, Körper und Artefakte würden so einerseits zu Orten der Repräsentation sozialer Ordnungen und andererseits zu Orten von lebendiger Erfahrung, Widerstand und Transformation. [19]
Die Machtverhältnisse, die in Räumen materialisiert und reproduziert werden, reflektierten auch Rouven SEEBO und Martin HUTH anhand ihrer Analyse des Inklusionspotenzials von Bildungs- oder Kultureinrichtungen. Körper seien demnach immer in eine materielle Umwelt eingebettet und orientierten sich an ihr – sie "bewohnten" diese – sowohl aktiv als auch reflexiv: Entsprechend verwiesen die Vortragenden darauf, dass Räume gesellschaftliche Ordnungen spiegelten und legitimierten, indem diese die Rahmenbedingungen dafür schufen, welche Körper sich wie bewegten und welchen überhaupt erst Zugang gewährt werde. Im Spannungsverhältnis zwischen Menschen mit Behinderungen, den normativen Erwartungen an Körper und den materiellen Gegebenheiten machten SEEBO und HUTH deutlich, dass die konkrete Ausgestaltung von Räumlichkeiten dazu beitrage, Inklusion zu fördern oder neue Verwundbarkeiten zu schaffen und damit Exklusion zu verstärken. [20]
3. Der zweite Tag: das Verhältnis von Psychoanalyse und Subjektivierung
Am zweiten Tag beschäftigten sich die Vortragenden mit dem Verhältnis von Psychoanalyse und Subjekt. Die Keynote hielt August SCHÜLEIN, der seit den 1970er Jahren eine prägende Figur an der Schnittstelle von Soziologie und Psychoanalyse ist. In seinem Vortrag gab er einen Einblick in seine Subjekttheorie. Darin verbindet er gesellschaftliche Strukturen mit psychodynamischen Prozessen und schafft so einen erweiterten Subjektbegriff, der beiden Ebenen gerecht wird. Ziel seiner Arbeit sei es, psychoanalytische Erkenntnisse für die soziologische Theorie nutzbar zu machen und damit ein Verständnis des Subjekts zu entwickeln, bei dem sowohl die sozialen Bedingungen seiner Existenz als auch die innerpsychischen Dynamiken einbezogen würden. Mit dieser Perspektive bot er einen idealen Einstieg, um Fragen nach der Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft neu zu beleuchten und ebnete den Weg für die psychoanalytischen Überlegungen der folgenden Vortragsreihe. [21]
3.1 Das Subjekt der Psychoanalyse
Während durch die empirische Subjektivierungsanalyse Aufschluss über den Einfluss von materiell-strukturellen und diskursiven Gesellschafts- und Machtverhältnissen auf die Subjektkonstitution gegeben und das Subjekt in seiner historischen Einbettung verstanden wird, werden mittels der Psychoanalyse unbewusste, affektive Dynamiken untersucht, die sich innerhalb des Subjekts abspielen. Gemeinsam prägen sie den Prozess des Zum-Subjekt-Werdens, deren Zusammenspiel in den Vorträgen der dritten Session der Tagung noch einmal deutlich gemacht wurde. [22]
Zu Beginn führte Janina KÖLBING in Eric SANTNERs theoretisches Konzept des "sublimen Körpers" (2015 [2011], S.17) ein: Dieser hatte KANTOROWICZ’ Theorie der zwei Körper des Königs (1990 [1957]) in die Moderne übertragen und psychoanalytisch weiterentwickelt. SANTNER (2015 [2011]) zufolge verschwindet der sublime Körper, also die symbolische Tragkraft des königlichen Körpers, mit dem Ende der Monarchie nicht, sondern verlagere sich auf das Volk als neuen Souverän. Mit Bezug auf SANTNER führte KÖLBING weiter aus, dass es durch den Verlust traditioneller, transzendental legitimierter Autoritäten an Identifikations- und Repräsentationsfiguren fehle, was zu destabilisierten Selbstverhältnissen und scheiternden Subjektivierungsprozessen führe. In der Moderne werde der sublime Körper biopolitisch produziert, indem er etwa über Konzepte wie "Rasse" natürlich-biologistisch verankert und so legitimiert werde. Anstelle des Königs stabilisiere also nun der Volkskörper als kollektives Phantasma die symbolische Ordnung. An diesem Punkt will KÖLBING mit ihrer kommenden Untersuchung vergangener und gegenwärtiger maskulinistischer Körpervorstellungen ansetzen. [23]
Jakob TRÖNDLE suchte nach Möglichkeiten der Verbindung von sozialwissenschaftlicher Theorie und Psychoanalyse, die sich teils ergänzend, teils widersprechend gegenüberstünden. Dabei stellte er in seinem Vortrag die Frage, ob das Subjekt sowohl von innen heraus als auch von außen hineingedacht werden könne. TRÖNDLE zufolge steht hier die soziale Konstruktion einem biologischen und phylogenetischen Modell des Unbewussten entgegen. Er griff daher auf LAPLANCHE (2011 [1987]) zurück, für den das Unbewusste des Kindes vom Unbewussten des Erwachsenen geprägt war und damit von der sozialen Welt, die es umgibt. Weiter führte TRÖNDLE aus, inwiefern die Präsenz des Anderen im Selbst das narzisstische Verlangen nach einem stabilen und lebbaren Selbstverhältnis beeinflusse und forme, sodass das angestrebte Selbst womöglich eher ein Ideal darstelle, das vom Über-Ich, vom Anderen, vom Sozialen geprägt und angerufen werde. Diese Überlegung wurde später von Isolde CHARIM in ihrem Vortrag über die narzisstische Gesellschaft vertieft (siehe Abschnitt 3.4). [24]
Wie eine psychoanalytische Perspektive empirisch eingesetzt werden kann, zeigte Ingmar ZALEWSKI in seinem Vortrag zur Ethnopsychoanalyse, ein ethnografischer Ansatz mit den Werkzeugen der Psychoanalyse, die auf Georges DEVEREUX (1967) zurückgeht. Angewandt auf die Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten (in diesem Fall syrischen Flüchtlingen in Deutschland) untersuchte ZALEWSKI (2022) Subjektivierungsprozesse. Diese Beziehung verstand er dabei als zentrales (Spiel-)Feld, in dem affektiv-relationale Beziehungen als empirische Daten genutzt würden, um diese der Analyse zugänglich zu machen. [25]
Am Beispiel von Scham zeigte Mai-Britt RUFF das theoretische Potenzial einer Verschränkung von subjektivierungs- und psychoanalytischen Perspektiven. Scham solle dabei nicht lediglich als manifeste, punktuelle Reaktion auf eine soziale, äußerliche Stigmatisierung in Form von "Schamsubjekten" (LIETZMANN 2003, S.9) verstanden werden, wie es bislang im theoretischen Diskurs üblich sei. Vielmehr begriff sie Scham als grundlegenden, latenten Bestandteil des Prozesses der Subjektwerdung. Schon frühzeitig und oftmals unbewusst präge Scham so konstitutiv das Selbstverhältnis – lange bevor sie als solche bewusst wahrgenommen werden könne. [26]
3.2 Geschlecht – Sexualität – Subjektivierung
Da Psychoanalyse und Sexualität im theoretischen Diskurs kaum voneinander trennbar sind, die sozialen, materiellen, historischen und normativen Kontexte, in denen Geschlecht und Sexualität verhandelt werden, aber oftmals eine untergeordnete Rolle spielen, waren für die vierte Session folgende Fragen leitend:. Wie lassen sich Subjektivierungsprozesse verstehen, in denen normative Geschlechter- und Sexualitätsordnungen zugleich von außen wirken und im Innern des Subjekts verankert sind? Welche Rolle spielen unbewusste Schamdynamiken, Begierden und frühkindliche Objektbeziehungen beim Erwerb von Geschlechter- und Sexualidentität? Und wie verändern sich diese inneren Dynamiken durch materielle Bedingungen wie etwa Körperpraktiken, biopolitische Regime oder technologische Infrastrukturen? [27]
Martina RÖTHL stellte sich anhand der Theaterperformance "Herbert", in der die Geschichte eines homosexuellen Protagonisten im Kontext der NS-Zeit erzählt wird, die Frage, wie Subjektivierungsweisen sexueller Identität im performativen Kontext beobacht- und damit empirisch fassbar gemacht werden können. Durch die Praxis der retrospektiven Erzählung, des Darstellens im Theater werde Identität als ein Prozess der aktiven Aneignung und Aushandlung präsentiert. In Abgrenzung zu ethnopsychoanalytischen Perspektiven rückte RÖTHL den Erfahrungsbegriff ins Zentrum ihrer Analyse und berief sich dabei auf das Fantasy-Konzept von Joan SCOTT (2001, 2011) sowie auf das Phantasma-Konzept von Jacques LACAN (2010 [1964]). Mit diesem Rekurs richtete sie den Fokus auf die Selbstwahrnehmung unter der Leitfrage: Inwiefern erfahren und erleben wir Subjektivität? [28]
Tanja VOGLER untersuchte in ihrer Analyse von Sexualität innerhalb aktueller und historischer Bildungsdiskurse die Konstitution ethischer Selbstverhältnisse nach FOUCAULT (2023 [1984], 2024 [1984]). Sie zeigte dabei auf, wie sich Subjekte gegenüber sexualmoralischen Handlungsaufforderungen positionieren, diese in das Selbst integrieren und in der Praxis materialisieren. So begriff VOGLER Artefakte wie Kondome oder Dildos als symbolische Objekte, die in kulturelle und historische Diskurse eingeflochten seien – sie fungierten als Spiegel sowohl gesellschaftlicher Normen als auch unbewusster psychischer Prozesse. [29]
3.3 Homo affectus: Subjektbildung im Spiegel von Emotionen und Affekten
In einer abschließenden Session der Tagung wurde die Rolle von Emotionen und Affekten bei der Hervorbringung von Subjekten in den Fokus gerückt. Ob in der affektiven Selbstdarstellung auf Social Media, in der Mensch-Roboter-Interaktion oder durch Mental-Health-Apps: In den Vorträgen und Diskussionen wurde deutlich, dass Emotionen und Affekte den Prozess der Subjektwerdung wesentlich beeinflussen – insbesondere in einer Gegenwart, die von Algorithmen, digitalen Aufmerksamkeitsökonomien und parasozialen Beziehungen geprägt ist. Diese seien nicht bloß Ausdruck individueller Erfahrungen: Affekte strukturieren Beziehungen, lenken Handlungen und tragen zur (Re-)Stabilisierung gesellschaftlicher Institutionen bei. [30]
Eine besondere Form materialitätsbezogener Subjektivierung fand sich im Vortrag von Moritz MEISTER und Thomas SLUNECKO zu Mood-Tracking-Apps, jenen Anwendungen, die dem regelmäßigen Protokollieren des eigenen affektiven Zustands dienen sollen. Dabei führten die beiden Vortragenden aus, dass digitale Materialität – die Quantifizierung und (vereinfachte) Visualisierung komplexer emotionaler Zustände – den affektiven Selbstbeschreibungen eine vermeintliche Eindeutigkeit und Objektivität verleihe, die das Selbst auf neue Weise les- und kontrollierbar mache. Im Sinne einer empirischen Doppelperspektive (BOSANČIĆ 2019) entstünden dadurch, so MEISTER und SLUNECKO, auf der einen Seite des Bildschirms gesellschaftlich normierte Wahrnehmungsschemata und Subjektpositionen. Auf der anderen Seite stünden Nutzer:innen, die sich diese aneigneten, sie umdeuteten oder auch abwehrten. Auf Basis dieser Analyse ergebe sich ein ambivalentes Bild digital gestützter Selbstreflexion: Diese eröffne sowohl Räume, in denen Identität und Authentizität neu konstituiert werden könnten, berge aber zugleich potenzielle Enttäuschung und Selbstentfremdung (MEISTER, PRITZ, PRZYBORSKI & SLUNECKO 2025). Im Kern stellen sich die Vortragenden hier die Frage, ob es sich bei der Beziehung zwischen dem Selbst und dem technologisch vermittelten Daten-Selbst um eine Form von Selbstfürsorge handele oder ob diese Fürsorge nicht vielmehr einem externalisierten Ideal des Selbst gelte, das dem Subjekt in einer uneinholbaren Weise gegenübertrete. Eine derartige Beziehung wurde im späteren Verlauf der Tagung im Kontext der Analyse einer narzisstischen Gesellschaft bei Isolde CHARIM diskutiert (siehe Abschnitt 3.4). [31]
Ähnlich wie seine beiden Vorredner beschrieb auch Gabriel MALLI das Subjektivierungspotenzial von Social-Media-Plattformen. Er beschäftigte sich mit der Frage, welche Rolle Affekte bei der Subjektwerdung im digitalen Raum spielten und untersuchte dazu Strategien affektiver Integration von muslimischen Influencer:innen auf Youtube. Diese dienten der emotionalen Bindung an die von den Creator:innen hervorgebrachten Subjektpositionen – also bestimmten Rollen, Identitätsangeboten oder Lebensentwürfen, die sie in ihren Inhalten verkörperten. Subjektivierung finde demnach nicht lediglich auf einer diskursiv-kognitiven Ebene statt, sondern werde von affektiven Qualitäten mitgetragen. Die Worte und Inhalte – in diesem Fall religiöse Aussagen oder moralische Botschaften – seien durch Musik, Tonfall, Blicke, Gestik oder Videobearbeitung in ganz bestimmte Atmosphären eingebettet, durch die gezielt Emotionen hervorgerufen werden sollten. Die Anrufung an das Subjekt werde auf diese Weise emotional erlebbar gemacht und könne dadurch wirksam in die eigene Selbstwerdung und -wahrnehmung einfließen, so MALLIs These. [32]
Im bisherigen Verlauf der Tagung schien Subjektivierung zwar als ein reziproker Prozess gedacht zu werden, der im Sinne einer Anrufung aber von außen auf das Subjekt einwirkt und von diesem eine Reaktion verlangt: nämlich seine Einfügung bzw. Positionierung innerhalb einer bestimmten symbolischen Ordnung. Boris TRAUE brachte hingegen mit seinem Vorschlag einer reparativen Subjektivierungsforschung ein aktives, handlungsfähiges Subjekt ins Spiel, das sich in einer lebendigen Beziehung mit jener Ordnung befinde und somit ebenso viel Wirkung auf diese habe wie umgekehrt. TRAUE fragte also nach den materiellen, sozialen sowie psychischen und affektiven Bedingungen, die für kritische Subjektleistungen und damit für eine (Wieder-)Herstellung und Aufrechterhaltung von modernen Institutionen notwendig sind. [33]
Den Abschluss der Vortragsreihe bildete Linda MAACK mit der Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Robotik im Kontext gegenwärtiger soziotechnischer Transformationsprozesse. Eine neomaterialistische Perspektive erlaubte es ihr dabei, Apparate wie jene, die in der sozial-emotionalen Robotik in der Altenpflege eingesetzt werden, nicht lediglich als neutrale Werkzeuge, sondern als aktive Akteure zu verstehen, die in der Interaktion mit Menschen soziale Wirklichkeit mitgestalteten. Bei dieser Begriffsdefinition griff sie auf den agentiellen Realismus bei Karen BARAD (2012 [2007]) zurück, wonach Apparate zudem grenzziehend wirken, indem sie diskursive Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Nicht-Mensch, Natur und Kultur (mit-)bestimmten. Wie zuvor TRAUE betonte auch MAACK den relationalen und reziproken Charakter dieser Dynamik: Mensch und Robotik sprächen einander an, reagierten aufeinander, adressierten einander und positionierten sich dabei wechselseitig als Subjekte. [34]
3.4 Die Regentschaft des Ichs – aber welches Ich?
Die finale Keynote wurde von Isolde CHARIM gehalten, die die psychoanalytischen Grundlagen narzisstischer Selbstverhältnisse auf gegenwärtige gesellschaftliche Dynamiken übertrug. Das Selbstbild forme sich demnach nicht autonom, sondern im Verhältnis zu einem Ideal – einem Bild also, dem Menschen nicht entsprechen, aber entsprechen wollen. [35]
Dieses Ideal stehe in Spannung zum "ozeanischen" Sein (FREUD 2012 [1930], S. 32) des Kleinkinds, jenem Zustand der symbiotischen Allmacht und ungetrennten Einheit mit der Welt. Das narzisstische Verlangen im Erwachsenenalter speist sich nach CHARIM genau aus dem Verlust dieses kindlichen Allmachtsgefühls. Narzisst:innen als soziale Figur seien nicht frei, sondern ordneten sich freiwillig eben jenem Ideal unter. Diese Unterwerfung erfolge nicht durch äußeren Zwang, sondern über die Verinnerlichung gesellschaftlicher Ideale. Im Streben nach Eigenwert und Einzigartigkeit – dem spätmodernen Echo des ozeanischen Seins – würden neoliberaler Individualismus und narzisstische Selbstverliebtheit zu einer gesellschaftlich verwertbaren Identitätsform verschmelzen. Narzissmus erscheine dabei weniger als Pathologie denn als Strukturprinzip eines gesellschaftlichen Selbstverhältnisses, das auf Selbstoptimierung, Einzigartigkeit und Vergleichsfreiheit beruhe (RECKWITZ 2017) und so paradoxerweise doch wieder in eine Form von Kontrolle und Normativität münde. [36]
So war bei CHARIM zu sehen, was Inhalt und Verbindungsstück der Tagung beschreibt: Die Psyche der Einzelnen kann nicht ohne die Ordnung des Ganzen, und die Struktur des Ganzen nicht ohne die innersten Bedürfnisse der Einzelnen verstanden werden. Theaterstücke, Apps, Roboter, künstlerische Räume und menschliche Körper sind materialisierte Bühnen dieser reziproken und dynamischen Beziehung zwischen Psychoanalyse, Subjekt, Materialität und Gesellschaft. Isolde CHARIMs Vortrag stellte einen Höhepunkt der Tagung dar, zeigte er doch, dass durch die Subjektivierungsforschung eine breite Debatte gespeist wird, in der gesellschaftliche Entwicklungen und Bruchlinien analysier- und somit fassbar werden. [37]
Im Verlauf der Tagung wurde versucht, zwei Schwerpunkte aufzugreifen, die in Wien eine lange Tradition im Zusammenhang von Subjekttheorien haben: Materialität und Psychoanalyse. Im Rückgriff auf verschiedene Perspektiven und Disziplinen konnte gezeigt werden, dass materielle Umgebungen, von Architektur über Alltagsobjekte bis hin zu Digitalem, weit mehr als bloße Kulisse sind. Sie strukturieren Erfahrungen, prägen Zugehörigkeiten, ordnen Körper, vermitteln Affekte und entscheiden damit maßgeblich über Inklusion und Exklusion mit. Psychoanalytische Ansätze eröffneten dabei nuancierte Einblicke in die unbewussten Dimensionen dieser Prozesse – in Formen der Internalisierung und Abwehr, aber auch in Momente des Bruchs, des Widerstands und der Transformation dieser Anrufungen. [38]
Die Tagung war nicht nur durch theoretische Tiefe ausgezeichnet, sondern auch durch ein spürbares gemeinsames Interesse daran, Subjektivierungsprozesse neu zu denken, empirisch fassbar zu machen, disziplinäre Grenzen zu sprengen und im Sinne eines aktiven und handlungsfähigen Subjekts Fragen nach politischer Gestaltbarkeit zu stellen. Die damit eingenommene Perspektive, Subjektivierungsprozesse vor dem Hintergrund konkreter psychischer oder sozialer Aneignungen von Adressierungen oder Fremdpositionierungen zu verstehen, entspricht dem methodologisch-methodischen Selbstverständnis in der neueren empirischen Subjektivierungsforschung (BOSANČIĆ et al. 2022; GEIMER et al. 2019). Die Tagung hat gezeigt, dass eine solche Forschungshaltung – unabhängig davon, ob sie biografisch, interpretativ, rekonstruktiv, ethnografisch oder psychoanalytisch ausgerichtet ist – breite Resonanz findet. [39]
Einer der wohl größten Gemeinsamkeiten sowohl in den Vorträgen als auch in den Diskussionen war der machtkritische Zugang zu den jeweiligen Forschungsfeldern. Psychoanalytisch definierte Störungen im Selbstverhältnis können so nicht ohne die das Subjekt umgebenden sozioökonomischen und machtpolitischen Strukturen verstanden werden, während jene gesamtgesellschaftlichen Strukturen wiederum nicht ohne die innersten Begierden der Einzelnen zur Gänze erfasst werden können – das zeigte sich besonders deutlich in Isolde CHARIMs Analyse, nach der sich Neoliberalismus mit narzisstischem Begehren verschränkt. [40]
Hilfsmittelverzeichnis
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Zu den Autorinnen und zum Autor
Agnes KIRCHNER, Bakk.phil., ist MSc-Studentin der Sozioökonomie. Im Rahmen ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit Fragen des inklusiven Arbeitsmarkts und dessen Subjekten im Hinblick auf eine sozialgerechte und nachhaltige Transformation.
Kontakt:
Agnes Kirchner
Wirtschaftsuniversität Wien
Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden
Welthandelsplatz 1 1020 Wien
E-Mail: agnes.kirchner@s.wu.ac.at
Markus TRIMMEL, M.A., arbeitet als Soziologe am Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden an der Wirtschaftsuniversität Wien. Außerdem lehrt und promoviert er an der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der interpretativen und rekonstruktiven Sozialforschung, der empirischen Subjektivierungsforschung sowie in den Themen nachhaltige Energietransformation, dem Subjekt der Klimakrise und Wissenschaftsskepsis.
Kontakt:
Markus Trimmel
Wirtschaftsuniversität Wien
Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden
Welthandelsplatz 1 1020 Wien
E-Mail: markus.trimmel@wu.ac.at
Katharina MIKO-SCHEFZIG, Univ.-Doz., Dr.in phil., leitet das Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind qualitative Forschungsmethoden, interpretative Theorie, transformatorische Sozialforschung, Sicherheits- und Polizeiforschung, visuelle Soziologie und sozialwissenschaftlicher Film. Sie arbeitet augenblicklich zu Wissenschafts- und Institutionenskepsis sowie zur Subjektivierungsforschung.
Kontakt:
Katharina Miko-Schefzig
Wirtschaftsuniversität Wien
Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden
Welthandelsplatz 1 1020 Wien
E-Mail: kmiko@wu.ac.at
URL: https://research.wu.ac.at/de/persons/katharina-miko-schefzig-4/publications/
Kirchner, Agnes; Trimmel, Markus & Miko-Schefzig, Katharina (2025). Tagungsbericht: "Materialität. Psychoanalyse. Subjekt" [40 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 26(2), Art. 21, https://doi.org/10.17169/fqs-26.2.4433.