Volume 26, No. 2, Art. 31 – Mai 2025
Visuelle Idiome. Bebilderungen des sozialen Lebens
Michael R. Müller
Zusammenfassung: Strukturmerkmale phrasenhafter Kommunikation finden sich nicht nur im Sprechen, sondern auch im Bilderzeigen und -machen. Solch phrasenhafte Formen des Bildgebrauchs – oder kurz: visuelle Idiome – stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes. Für die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung bedeuten phrasenhafte Formen des Bildgebrauchs zweierlei: Zum einen erlangen Bilder als eine Datenform Relevanz, durch die gesellschaftliche Repertoires bildsprachlichen Ausdrucks- und Darstellungsvermögens analytisch zugänglich werden. Zum anderen werden durch geeignete Analysen Einblicke in die Genese und die Strukturen intersubjektiv geteilter Bild- und Sehwelten möglich. Dies aber setzt 1. eine begrifflich-konzeptionelle Klärung der Struktureigenschaften visueller Idiome voraus sowie 2. methodologische Schlussfolgerungen als Voraussetzung für eine gegenstandsadäquate Analytik. Diesem Desiderat ist der vorliegende Aufsatz gewidmet. Das für die Argumentation instruktive Konzept des Idioms sowie Grundprinzipien für eine idiomatische Analyse von Bilddatenkorpora werden bei GOFFMAN (1981 [1971]; 1982 [1971]) aufgegriffen und in Hinblick auf zeitgenössische Formen technologisierter sozialer Kommunikation weiterentwickelt und exemplifiziert. Angestrebt wird eine Begriffsbildung, die Analysen der medialen Vielfalt, der sozialkommunikativen Gebrauchsbedeutung und der Genese unterschiedlicher visueller Idiome bzw. Idiomatiken erlaubt.
Keywords: visuelle Idiome; Bildsprache; Sehwelten; soziale Medien; Design; Bildanalyse; Korpusanalyse; visuelle Kommunikation; visuelle Soziologie; Mediensoziologie; Goffman; figurative Hermeneutik
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Rituelle Idiome
3. Visuelle Idiome
3.1 Fallbeispiel C: selbstdarstellerisches Heraustreten aus der Alltagsordnung (Idiomatik performativer Alltagstranszendenz)
3.2 Fallbeispiel D: Selbstdarstellung auf sozialen Plattformen (Idiomatik bildmedialer Origoverweise)
3.3 Fallbeispiel E: Designs nicht-trivialer Maschinen (Idiomatik sozialer Zurechenbarkeit)
3.4 Definition
4. Analytik
5. Schluss
Sozial- und kulturwissenschaftliche Bildanalysen erfolgen – wie jede andere wissenschaftliche Untersuchung auch – standortgebunden. In sie fließen das Erkenntnisinteresse und das kulturelle Wissen derjenigen ein, die sie konzipieren oder durchführen. Ihnen liegen Vorannahmen darüber zugrunde, wie die zu analysierenden Bilder aufgebaut sind, wie sie kommunikativ funktionieren und in welchem Sinn sie von lebensweltlicher Bedeutung sind. Wenn ein Kunsthistoriker wie Erwin PANOFSKY die "Kenntnis literarischer Quellen" (1997, S.41) als notwendige Voraussetzung für die Analyse und Interpretation von Renaissance-Gemälden erachtete, so folgte er offenkundig sehr spezifischen Annahmen über die Beschaffenheit solcher Bilder: über das, was diejenigen, die sie produzieren oder rezipieren, idealerweise wissen, und darüber, was Bildformen der fraglichen Art kommunikativ zu leisten vermögen. Nicht von ungefähr also stellte sich in den Kunst- oder Bildwissenschaften die Frage "Was ist ein Bild?" (BOEHM 1995 [1994]). Und nicht zufällig wurde (und wird) aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nach den sozialen "Gebrauchsweisen" von Bildern gefragt (BOURDIEU 2006 [1981]; vgl. auch BRECKNER, MÜLLER & SONNENMOSER 2025). Beide Fragen sind nicht trivial, weil Bilder und ihre Gebrauchsweisen soziohistorisch betrachtet höchst unterschiedlich beschaffen sind und weil sich diese Varietät und Variabilität unmittelbar auf die Art und Weise auswirkt, wie jeweilige Bilddaten gegenstandsadäquat analysiert werden können. Wenn Methoden immer auch ihrem Gegenstand anzupassen sind, so folgt hieraus, dass die "natürliche[n] Standards und Routinen" (SOEFFNER 2004 [1989], S.70) der Kommunikation mit Bildern "zunächst einmal gewußt und in ihrer Funktionsweise bekannt sein müssen, bevor die auf ihnen basierenden Daten kontrolliert interpretiert werden können" (a.a.O.; vgl. auch PRZYBORSKI & WOHLRAB-SAHR 2014 [2008], S.36-38). [1]
Aus dem überaus breiten Spektrum unterschiedlicher Bildformen und ihrer Gebrauchsweisen thematisiere ich im vorliegenden Aufsatz jenen begrenzten Teilausschnitt, der im Alltag bisweilen als Bereich des "Bildsprachlichen" umschrieben wird. Bilder der fraglichen Art – Bilder also, die aufgrund ihrer stereotypen Ausgestaltung oder ihres phrasenhaften Gebrauchs den Eindruck erwecken, einer relativ fest gefügten Bildsprache oder gar einer "lingua franca grafica" (BALEVA, REICHLE & SCHULTZ 2012, S.11) zuzugehören – finden sich sowohl in massenkommunikativen als auch in privaten Zusammenhängen. Nicht selten, wenn auch nicht notwendig, haben sie Grundsätzliches zum Gegenstand wie etwa die kategoriale Unterscheidung zwischen Geschlechtern, die Darstellung von sozialen Beziehungen und Zugehörigkeiten, die Verkörperung von Hierarchien oder den Ausdruck von Emotionen. Dreidimensionale Ausprägungen phrasenhafter Bildlichkeit finden sich unter anderem in den Bereichen der Körpergestaltung, der körperlichen "Verhaltensarrangements" (GOFFMAN 1982 [1971], S.301) und des Designs (siehe dazu ausführlicher die Abschnitte 3.1 und 3.3). [2]
Anders als metaphorisch dürfte der Begriff der Bildsprache (bzw. der Körper- oder Designsprache) indes kaum zu verstehen und zu gebrauchen sein. Denn Bilder (Körper, Designs) sind, gleichviel wie sie beschaffen sind, in keinem unmittelbaren Sinn "Sprache". Sie bestehen nicht aus Wörtern, die sich nach syntaktischen Regeln zu einer Ausdruckseinheit fügen würden, und sie stellen auch keine wortähnlichen Gebilde dar, aus denen sich Sätze bilden ließen. Susanne K. LANGER hat mit ihrer Unterscheidung zwischen "diskursiven" und "präsentativen Formen" (1962 [1942], S.86) auf diese Differenz hingewiesen und stellte zu Recht fest, dass die Rede "von den verschiedenen Medien nichtverbaler Darstellung als von bestimmten 'Sprachen' [...] eine unpräzise Ausdrucksweise" (S.103) ist. [3]
Wie jede Metapher hat aber auch die der Bildsprache ihren übertragenen Sinn: Sie verweist auf jene Phrasenhaftigkeit, die nicht nur sprachlichen Formulierungen zu eigen sein kann, sondern auch bestimmten Formen des alltäglichen Bildgebrauchs. Allgemeine Gebräuchlichkeit, Festigkeit der Form und bisweilen auch inhaltliche Unmotiviertheit finden sich als Strukturmerkmale phrasenhafter Kommunikation nicht nur im Sprechen (BURGER 2015 [1998]), sondern auch im Bilderzeigen und -machen. Solch phrasenhaften Formen des Bildgebrauchs – oder kurz: visuellen Idiomen – gilt das Interesse im Folgenden. [4]
Den Begriff des Idioms – bzw. das über den Bereich des Verbalsprachlichen hinausgehende Verständnis dieses Begriffs – entlehne ich der Alltagsethnografie Erving GOFFMANs. GOFFMAN (1981 [1971], 1982 [1971]) verwendete den Terminus in doppelt instruktiver Weise: Zum einen bezog er ihn auf nonverbale Darstellungsformen. Dies ist für den hier zu diskutierenden Problemzusammenhang insofern entscheidend, als solch ein Begriffsverständnis geeignet ist, jene Regelhaftigkeit visueller Kommunikation aufzuzeigen, die man im Sinn haben dürfte, wenn man hier oder dort eine regelrechte Bildsprache zu erkennen glaubt. Zum anderen galt GOFFMANs Aufmerksamkeit nicht nur der konventionalisierten Form entsprechender Darstellungen, sondern auch der Pragmatik ihres Gebrauchs. Dies ist für eine sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit visuellen Idiomen insofern von besonderem Interesse, als typische Formen und Konventionen des Bildgebrauchs nunmehr auch als Versuche der kommunikativen Bearbeitung sozialweltlicher Probleme thematisch werden. Wenn im Folgenden also von visuellen Idiomen die Rede ist, so geht es nicht nur um Bildtypen in einem formalen, auf visuelle Muster bezogenen Sinne, sondern darüber hinaus auch um einen besonderen Modus sozialweltlicher Problembearbeitung.1) [5]
Einer an das Thema hinführenden Darstellung des Begriffs des "rituellen Idioms" (GOFFMAN 1982 [1971], S.301, 1981 [1971], S.118) in Abschnitt 2 folgen in Abschnitt 3 theoretische und exemplarische Diskussionen des Begriffs des "visuellen Idioms" (MÜLLER 2016, 2019) sowie eine explizite Begriffsdefinition in Unterabschnitt 3.4. In Abschnitt 4 werden sodann die methodischen Implikationen verhandelt, die sich aus den Strukturmerkmalen phrasenhafter visueller Kommunikation ergeben. Dieses Arbeitsprogramm rahme ich in seiner Gänze ausdrücklich als begrifflich-konzeptionellen Versuch im Sinne der Erkenntnistheorie Karl POPPERs (1998 [1972]): Der Begriffsvorschlag des visuellen Idioms verdankt sich weder (rein) empirischer Induktion noch (rein) theoretischer Deduktion, sondern ist das Resultat einer Reflexion gegenständlicher und methodischer Herausforderungen, die sich in der Auseinandersetzung mit entsprechenden Phänomenen phrasenhafter Kommunikation einstellen. Den Beginn machen daher, in den ersten Abschnitten, einige grundlegende Überlegungen zur Übertragbarkeit des theoretischen Konzepts ritueller Idiome auf den weiter gefassten Gegenstandsbereich visueller Idiome. Die in den Abschnitten 3.1-3.3 diskutierten Fallbeispiele dienen sodann der Exemplifizierung prägnanter kommunikativer Formen und Funktionen visueller Idiome sowie einer auf empirischen Beobachtungen basierenden Präzisierung des Konzepts insgesamt. Ich wähle sie einerseits nach Gesichtspunkten ihrer Verfügbarkeit aus – tatsächlich handelt es sich um bereits abgeschlossene und publizierte Studien, die in Hinblick auf die idiomatische Struktur der dort untersuchten Phänomene referiert werden. Andererseits greife ich auf diese Fallbeispiele unter der Maßgabe zurück, dass in ihnen diskussionswürdige Aspekte der Funktionsweise, des Gebrauchs oder der Genese visueller Idiome kenntlich werden.2) [6]
Der gesamte Prozess einer konzeptuellen Weiterentwicklung des Begriffs visueller Idiome ist – unabhängig davon, ob man ihn als hermeneutischen Zirkel oder als fortgesetzte Falsifikation theoretischer Setzungen bezeichnet (GRONDIN 1995) – weder forschungslogisch noch forschungspraktisch endgültig abschließbar, sondern muss sowohl für die Vielfalt unterschiedlicher Phänomene phrasenhafter visueller Kommunikation als auch für deren historische und zeitgenössische Veränderungen offenbleiben. Mitnichten also wird mit den folgenden Ausführungen beansprucht, den Phänomenbereich visueller Idiome und Idiomatiken zur Gänze und in allen theoretisch relevanten Aspekten zu erfassen. Angestrebt wird gleichwohl eine Begriffsbildung, die differenzierte Beobachtungen, Analysen und Beschreibungen auch anderer Ausprägungen visueller Idiome als den hier besprochenen erlaubt. [7]
Unter einem rituellen Idiom verstand GOFFMAN eine "Sammlung von Verhaltensarrangements, zu denen sowohl Handlungen gehören, die von einer Person herrühren, als auch [...] Konfigurationen von zwei oder mehr Personen. Als Ganzes gesehen konstituieren sie vielleicht kein System aber doch immerhin einen Fonds" (1982 [1971], S.301). Bestandteile des rituellen Idioms seiner Zeit, d.h. der amerikanischen Gesellschaft der 1970er Jahre, waren zum Beispiel die Verhaltensarrangements des Händchenhaltens und der Geschlechterdarstellung ("gender display") (1979 [1976], S.1). [8]
Kennzeichen solcher Verhaltensarrangements ist, dass sie hochgradig ritualisiert sind. Dass sich zwei Personen beispielsweise an die Hand nehmen, mag verschiedene praktische Gründe haben, das Motiv einer Hilfestellung etwa oder das Sich-im-Getümmel-nicht-verlieren-Wollen. Als ritualisiertes Verhalten aber ist das Händchenhalten aus dem Kontext solch primärer, auslösender Reize herausgenommen: Es ist formalisiert, es ist stereotyp übertrieben, es ist vereinfacht und stilisiert (KNOBLAUCH 1994, S.22). Es ist kein tatkräftiges Sich-an-der-Hand-Nehmen, sondern ein stilisiertes Händchenhalten, d.h. die Hervorbringung und Präsentation eines Verhaltensbildes. [9]
Dieses Maß an Ritualisiertheit und Stilisiertheit geht, wie GOFFMAN (1982 [1971]) herausarbeitete, mit einem entsprechenden Maß an Konventionalisiertheit und Unmissverständlichkeit einher: Wer mit wem zu welchem Anlass Händchen hält und wer nicht, dies war nicht nur in der amerikanischen Gesellschaft der 1970er Jahre sehr genau geregelt. Und wer sich in geeigneter, d.h. ritualisierter Form händchenhaltend zeigt, muss noch heute davon ausgehen, dass dies als Zeichen einer "potentiell sexuellen" Paarbeziehung verstanden wird (S.303). Spezifische Ausnahmen, z.B. in Bezug auf das Händchenhalten mit Kindern oder unter Trauer, sind nach GOFFMAN normativ konstitutive Bestandteile solcher Konventionalisierungen. [10]
Das Zusammenspiel von fest gefügter Form, konventionalisiertem Gebrauch und standardisierter Deutung mag die Vermutung rechtfertigen, man habe es im Fall idiomatischer Verhaltensarrangements mit sprachähnlichen Gefügen zu tun. Dem widersprach GOFFMAN indes vehement: Solchen Arrangements liegt nämlich, so sein bemerkenswertes Argument, "keine Grammatik" zugrunde, "aufgrund derer durch die Permutation einer relativen Anzahl von Elementen eine unendliche Anzahl verschiedener Sätze erzeugt werden könnte" (S.301). Zwar ist es durchaus möglich, dass durch das Abweichen von Konventionen bestehende Deutungsmuster gezielt irritiert und neue Deutungsmöglichkeiten generiert werden – in GOFFMANs amerikanischer Gesellschaft der 1970er Jahre nahm sich dies in Bezug auf konventionelle Gender Displays (vgl. Abb. 1a und 1b) beispielsweise wie in Abbildung 1c zu sehen aus. Allerdings hat man es auch bei solcherlei Abweichungen mit einem ikonischen (bildhaften) statt mit einem lexikalischen Modus der Bedeutungsproduktion zu tun.
Abbildungen 1a und b (links): werbefotografisch idealisierte Geschlechterdarstellungen (Gender Displays) gemäß GOFFMANs Analyse von 1976 (GOFFMAN 1979 [1976], S.38). Abbildung 1c (rechts): das vom stereotypen Idiom zeitgenössischer
Geschlechterdarstellungen abweichende Erscheinungsbild der Glam-Rocker Johnny THUNDERS und David JOHANSEN, aufgenommen Mitte
der 1970er Jahre in New York City (HILFIGER & DECURTIS 2000, S.77) [11]
Neben dem genannten hohen Maß an Ritualisiertheit und Konventionalisiertheit weisen die von GOFFMAN diskutierten rituellen Idiome eine zweite grundlegende Eigenschaft auf: Sie regulieren den Umgang von Individuen miteinander und den Austausch zwischen ihnen. In Akten des Händchenhaltens oder der Geschlechterdarstellung zeigen jeweilige Individuen an, wie sie gesehen, d.h. eingeschätzt und behandelt werden sollen. Solche Darstellungen legen "die Bedingungen des Kontakts, den Modus, den Stil oder die Formel fest für den Verkehr, der sich zwischen den Personen entwickeln soll" (GOFFMAN 1981 [1971], S.10). Rituelle Idiome haben m.a.W. eine pragmatische Grundfunktion: Sie reduzieren Unsicherheiten oder Ungewissheiten in der wechselseitigen sozialen Einschätzung, indem sie der Selbstdarstellung und Fremddeutung mehr oder minder eindeutige Formen und Schemata zur Verfügung stellen. [12]
Obgleich GOFFMAN in "Geschlecht und Werbung" die Rolle der Werbefotografie als Medium der Stilisierung und Konventionalisierung geschlechterstereotyper Verhaltensarrangements thematisierte, blieben seine Überlegungen konzeptionell doch auf den Bereich des unmittelbar körperlichen Ausdrucks- und Darstellungsgeschehens beschränkt. Gerade aber mit der Technisierung sozialer Kommunikation und der Entwicklung komplexer Grafismen erweitert sich das Spektrum idiomatischer Formen der Selbstdarstellung (SHULMAN 2022) und, dies kommt hinzu, auch der Darstellung von anderen Personen sowie von Sachverhalten, Gegenständen oder Vorstellungswelten jedweder Art. [13]
GOFFMAN selbst wies mit Bezug auf die von ihm thematisierten Geschlechterdarstellungen auf Praktiken der fotografischen Idealisierung ritueller Idiome hin (1981 [1971], S.113). Weit aber über die Möglichkeit solch idealisierender Abbildungen hinausgehend bieten technische Bildmedien gegebenenfalls auch Anlass für die Entwicklung relativ neuartiger, genuin bildmedialer oder bildmedienbezogener Idiome. Für die von Ulrike PILARCZYK (2021) beschriebenen Gemeinschaftsformen der europäischen Jugendbewegungen der 1920er und 30er Jahre beispielsweise gilt, dass diese nicht unabhängig von fraglichen Bildaufnahmen existieren (vgl. Abb. 2a und 2b). Sie, d.h. die jugendbewegten Gemeinschaftsformen,
"werden nicht lediglich abgebildet und dokumentiert, vielmehr bringt sie die fotografische Praxis überhaupt erst hervor. Mit anderen Worten, der Anlass des Fotos und die Atmosphäre der fotografischen Situation schaffen Formen von Vergemeinschaftung, die es ohne diese gar nicht geben würde" (S.85). [14]
Dasselbe gilt, um ein anderes Beispiel zu nennen, für die Idiomatik zeitgenössischer Selfies. Auch hier erstreckt sich die Konventionalisierung der Selbstdarstellung nicht nur auf den jeweils abgebildeten Körper(teil), sondern auch auf dessen Verhältnis zur Kamera, auf die Art und Weise der Bildaufnahme und auf die insgesamt resultierende Bild- bzw. "Selfie"-Ästhetik (vgl. Bildtafel Fallbeispiel D sowie Abschnitt 3.2, ferner TIIDENBERG [2018] und ZAPPAVIGNA [2016]). Idiomatisch wiederkehrende, gesellschaftlich mehr oder minder selbstverständlich gewordene Selbstdarstellungsformen wie diese gäbe es nicht ohne das Medium der Fotografie. Sie sind mit anderen Worten medial konstituiert.
Abbildung 2a und b: Gemeinschaftsdarstellungen aus dem Kontext lebensreformerischer Jugendbewegungen (hier der Jugendbund
"Brit Haolim", 1927 bzw. 1930). Die bildmediale Idiomatik umfasst unterschiedliche Formen der Reihen- und Haufendarstellung
(PILARCZYK 2021, S.84-85). [15]
Aber nicht nur das Spektrum idiomatischer Selbstdarstellungen, auch die Möglichkeiten der Fremdbebilderung verändern und erweitern sich durch technische Grafismen: Idiome der Diversität, wie sie sich in zeitgenössischen Werbedarstellungen finden, oder Darstellungen von flüchtenden Menschen als eine sich wie auch immer formierende "Masse" (vgl. KRACAUER 1977 [1963]) mögen hier als Beispiele dienen. Medien idiomatischer Darstellungen können nicht zuletzt moderne Technologien selbst werden, wie dies beispielsweise im Interface- oder Roboterdesign zu beobachten ist (vgl. Bildtafel Fallbeispiel E sowie Abschnitt 3.3). [16]
Während die von GOFFMAN diskutierten Idiome an die Präsenz einer oder mehrerer Selbstdarsteller*innen gebunden bleiben, die die jeweiligen idiomatischen Formen sozial anschaulich realisieren, ermöglichen geeignete Medientechniken idiomatische Darstellungen, die sich prinzipiell von der körperlichen Präsenz etwaiger Selbstdarsteller*innen und gegebenenfalls auch vom thematischen Kern der Darstellung eines Selbst lösen und somit veränderte Formen oder neue Phänomene visueller Phrasenbildung wahrscheinlich werden lassen. Neben rituelle Idiome wie die des Händchenhaltens oder des Gender Displays treten dann Idiome beispielsweise der bildmedialen Personen-, Essens- oder Gefühlsdarstellung (Selfies, Food Porn, Emoticons), der Bebilderung kollektiven Daseins (Gruppenporträts, Darstellungen und Menschenmengen) oder des Designs von Produktverpackungen und Technologieschnittstellen (Bio- oder Nachhaltigkeitsästhetiken, menschenähnliche Gerätedesigns etc.). [17]
Der Vorschlag, GOFFMANs Terminologie zu erweitern und statt von rituellen Idiomen im engeren Sinne von visuellen Idiomen im weiteren Sinne zu sprechen, impliziert, dass die von GOFFMAN genannten Verhaltensarrangements als Teilklasse visueller Idiome zu betrachten sind. Konzeptionell möglich und, wie ich meine, analytisch notwendig wird solch eine Erweiterung angesichts der Vielfalt und der voranschreitenden Technisierung empirisch vorfindbarer Ausprägungen visueller Sozialkommunikation. Adressiert wird das menschliche Auge bekanntlich nicht nur durch die von GOFFMAN beschriebenen Verhaltensarrangements (BRECKNER 2010, S.145-177) oder durch Gesten (CORBALLIS 1999; TOMASELLO 2010) und Kleidung (BENEDICT 1931), sondern auch durch unterschiedlichste medientechnische Projektionen (SOEFFNER 2014; SONNENMOSER 2018): durch Grafismen, Artefakte, Architekturen, Tafelbilder, Bildcluster oder virtuelle Seheindrücke.3) [18]
Michael EMMISON, Philip SMITH und Margery MAYALL (2012) haben in diesem Sinne fünf Modi visueller Kommunikation bzw. der Adressierung des Sehsinns unterschieden, die sich, vom sozialwissenschaftlich-methodischen Standpunkt aus gesehen, in fünf unterschiedlichen Arten visueller Daten ("visual data") (S.62, 105, 152, 183, 216) manifestieren (vgl. Tabelle 1). GOFFMANs Verhaltensarrangements (siehe oben Abschnitt 2) sind hier auf Ebene (4), d.h. auf der Ebene "lebender Formen visueller Daten" zu verorten:
|
Datenart nach EMMISON et al. (2012) |
Gestaltungen, durch die das Erinnerungs- und Unterscheidungsvermögen des Sehsinnes adressiert wird |
(1) |
"Two-dimensional visual data" (S.62) |
Bilder im herkömmlichen Sinne wie Fotografien oder Gemälde, aber auch Karten, Pläne etc. |
(2) |
"Three-dimensional visual data" (S.105) |
Gegenstände, Werkzeuge, Plastiken und andere dreidimensionale Artefakte. Solche Artefakte sind keine Bilder im alltäglichen Wortsinn, wohl aber wichtige Bestandteile der visuellen Kommunikation bzw. Modi der Adressierung des Sehsinns. Als solche haben sie ebenfalls einen ikonischen Anschauungswert (BOEHM 2017). |
(3) |
"Lived visual data" (S.152) |
Architekturen (z.B. Fußballstadien), Navigationssysteme (z.B. Ampeln) und symbolische Orte (z.B. Gedenkstätten) sowie die Muster der Anordnung und der Bewegung menschlicher Individuen, die durch bauliche Strukturen, Zeichensysteme und symbolische Markierungen entstehen (KRACAUER 1977). |
(4) |
"Living forms of visual data" (S.183) |
Bildhafte Ausdruckswerte, die körperlich durch Gestik, Mimik, Schmuck, Kleidung oder Verhaltensweisen erzeugen werden (BELTING 2001). |
(5) |
"Virtual visual data" (S.216) |
Digitale, d.h. in Echtzeit reproduzierbare, simultan an verschiedenen Orten projizierbare und nicht zuletzt hypermedial verknüpfbare Bilder bzw. Imagescapes. |
Tabelle 1: Modi visueller Kommunikation bzw. Arten "visueller Daten" [19]
Eine nominelle, strukturell aber sinngleiche Variation dieser Systematisierung ergibt sich, wenn man mit André LEROI-GOURHAN (2000 [1987]) und Michael TOMASELLO (2010) zwischen der körperlichen Performanz bildhafter Anschauungswerte und verschiedenen medientechnischen Grafismen unterscheidet (vgl. Tabelle 2). GOFFMANs rituelles Idiom (siehe oben Abschnitt 2) wäre hier in etwa in den Bereichen der körperlichen Darbietungen sowie der körperbezogenen bzw. körpernahen Grafismen (Schmuck, Kleidung) zu verorten:
|
Bildhafte Darstellung von Dingen, Situationen, Beziehungen, Vorstellungen etc. |
Körperliche Performanz |
... durch "ikonische Gesten" (TOMASELLO 2010, S.77) |
|
... durch körperliche Darbietungen ("Pantomimen") (S.77) |
Grafismen |
... durch körperbezogene oder körpernahe Grafismen |
|
... durch Artefakte, Architekturen |
|
... durch Tafelbilder, Einzelbilder |
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… durch "hyperimages", "Bildcluster" (MÜLLER 2016; THÜRLEMANN 2013) |
|
... durch Raumbilder |
Tabelle 2: ikonische Ausdrucks- und Darstellungsformen, differenziert nach der Art und Weise ihrer Realisierung [20]
Eine Erweiterung des Konzepts ritueller Idiome um die von GOFFMAN nicht erfassten Modi visueller Kommunikation muss sich, auf dem Gesagten aufbauend, Klarheit über die kommunikativen Repertoires und Funktionsweisen auch solcher Ausprägungen idiomatischer Formen verschaffen, die den Bereich unmittelbar körperlichen Ausdrucks- und Darstellungsgeschehens überschreiten. Zu fragen ist beispielsweise nach der Genese und der Beschaffenheit idiomatischer Formen der Selbstdarstellung auf sozialen Medien oder des Artefakt-Designs sowie nach den spezifischen Sinnzusammenhängen bzw. Problembezügen des Gebrauchs jeweiliger Idiome. [21]
In diesem Sinne – im Sinne also einer "verfeinerten Herausarbeitung" (WEBER 1988 [1922], S.5) des Begriffs visueller Idiome – werde ich im Folgenden sowohl Forschungsarbeiten GOFFMANs zurate ziehen als auch eigene Untersuchungen (vgl. Tabelle 3). Die Fälle A "Händchenhalten" und B "Geschlechterdarstellung" sind bereits diskutiert worden. Hinzu kommen nunmehr die Fälle C "Demonstratives Heraustreten aus der Alltagsordnung" (Abschnitt 3.1), D "Selbstdarstellung auf sozialen Plattformen" (Abschnitt 3.2) und E "Design von Robotern und autonomen Fahrzeugen" (Abschnitt 3.3) als Beispiele für Idiomatiken, die partiell oder zur Gänze in technisierten sozialen Umgebungen entwickelt oder verwendet werden. Ich diskutiere und nutze diese Fallbeispiele als Möglichkeit für eine maximal kontrastive Erweiterung des von GOFFMAN erarbeiteten Wissens über idiomatische Formen.4)
Fallbeispiel |
Darstellungsrelevante Idiomatik |
Bezugsstudie |
A Händchenhalten (Abschnitt 2) |
Idiomatik der Kundgabe potenziell sexueller egalitärer Paarbeziehungen |
(GOFFMAN 1982, S.301-317) |
B Geschlechterdarstellung (Abschnitt 2) |
Idiomatik der Geschlechterdifferenzierung |
(GOFFMAN 1982) |
C Demonstratives Heraustreten aus der Alltagsordnung (rites de passage, Eskapismen, Selbstanpassungen an virtuelle Bildentwürfe u.Ä.) (Abschnitt 3.1) |
Idiomatik performativer Alltagstranszendenz |
(MÜLLER 2009; MÜLLER & SONNENMOSER 2024a) |
D Selbstdarstellung auf sozialen Plattformen (Abschnitt 3.2) |
Idiomatik bildmedialer Origoverweise |
(MÜLLER 2018) |
E Design von Robotern und autonomen Fahrzeugen (Abschnitt 3.3) |
Idiomatik sozial zurechenbarer Maschinen |
(MÜLLER 2024b) |
Tabelle 3: Übersicht über die Fallbeispiele [22]
3.1 Fallbeispiel C: selbstdarstellerisches Heraustreten aus der Alltagsordnung (Idiomatik performativer Alltagstranszendenz)
Sich von den Strukturen des Alltagslebens sowie den dort geltenden Normen bzw. den dort gegebenen Verhaltensmöglichkeiten zu distanzieren oder aus diesen Strukturen für eine bestimmte Zeit herauszutreten, dies kann man aus den verschiedensten Gründen und in unterschiedlichster Weise tun. Gleichwohl verfügen wohl alle historischen Gesellschaften über idiomatische Formen, deren Funktion es ist, solche Grenzüberschreitungen in konventionalisierte Bahnen zu lenken, d.h. zu ermöglichen wie zugleich auch zu regulieren. [23]
Solche Formen der Alltagstranszendenz werden insbesondere im Rahmen von Passageriten genutzt und wurden in der ethnologischen Literatur ausführlich beschrieben (VAN GENNEP 1986 [1909]; TURNER 2000 [1969]): Das weiße Gewand, rituelle Nacktheit, demonstrative Einfachheit – all diese Selbstdarstellungsformen dienen der Dissimulation und damit der vorübergehenden Außerkraftsetzung alltäglicher sozialer Strukturen und Kategorien. Eine vergleichbare Funktion erfüllen hyperbolische Formen der Selbstdarstellung (MÜLLER 2002, S.99), wenngleich es in Zusammenhängen ihrer Nutzung nicht mehr nur um die Vermeidung alltäglich geltender Kategorien geht, sondern auch darum, diese gezielt außer Kraft zu setzen: Identifikationsmuster wie Mensch, Tier, Frau, Mann, alt, jung etc. werden dann durch Übertreibung, Überidentifikation oder gezielte Missinterpretation parodiert und in ihrer Wirksamkeit negiert. Verwendung finden diese hyperbolischen Selbstdarstellungsformen beispielsweise in der frühen Discokultur, auf Pride Parades oder im Rahmen einschlägiger Conventions (vgl. Bildtafel Fallbeispiel C, Abb. 3.1-5). Nicht jede in solchen Zusammenhängen anzutreffende Übertreibung oder Überidentifikation ist notwendig idiomatischer Natur, gleichwohl bilden sich regelmäßig idiomatisch wiederkehrende Formen aus wie z.B. die Übertreibung oder Multiplizierung von Geschlechtsmerkmalen (Abb. 3.1-3), Hundedarbietungen (Abb. 3.4) oder die hyperbolische Zitation und Umkodierung von Berufs- und Funktionskleidung (Abb. 3.5). [24]
Eine dritte, dezidiert bildmedienbezogene Form der Alltagstranszendenz läuft, anders als die ersten beiden Formen, nicht darauf hinaus, den Alltag durch Vermeidung oder Verkehrung seiner eigenen Darstellungsmittel zu negieren, sondern alltägliche Ausdrucksrepertoires um virtuelle Bildentwürfe eines anderen Daseins in anderen sozialen Strukturen oder anderen existenziellen Lagen als den alltäglich gegebenen zu erweitern. Das Idiomatische begegnet einem hier nicht in Form einzelner konventionalisierter Gesten ("Händchenhalten"), Körperhaltungen ("weibliche Berührung") oder Kleidungsweisen ("weiße Gewänder"), sondern in Gestalt bildmedial relativ festgefügter Charaktere, Szenen oder Stimmungen (Bildtafel C, Abb. 4.1-3 und 5.1-5). Anhänger*innen des Cosplays beispielsweise oder des Parkour übernehmen ihre idiomatisch wiederkehrenden Charaktere, Szenen oder Stimmungen aus Animes, Mangas (vgl. Abb. 4.1-2), Computerspielen (vgl. Abb. 4.3) oder Spielfilmen und integrieren diese – in körperlicher und medialer Mimikry – in ihre persönlichen Selbstdarstellungen (MÜLLER & SONNENMOSER 2024a). [25]
Selbstdarstellerisch umsetzen lassen sich solche Charaktere, Szenen oder Stimmungen indes nicht nur vestimentär und habituell, sondern auch bildmedientechnisch durch die Produktion und Präsentation foto- und videografischer Selbstporträts (Bildtafel C, Abb. 5.1-5). Solch piktoralistische Selbstdarstellungen haben eine nicht nur indexikalische, d.h. einen Wirklichkeitsausschnitt (z.B. eine körperliche Aufführung) abbildende, sondern auch eine generative, d.h. bestimmte Stimmungen, Situationen oder Lebenshaltungen mit grafischen Mitteln (Kadrierungen, Filtern etc.) herstellende oder stilisierende Funktion (SONNENMOSER 2025). Die von GOFFMAN (1981 [1971], S.18) beschriebene "Hyper-Ritualisierung" findet hier ihre Entsprechung auf der Prozessebene einer von Roswitha BRECKNER (2025) so bezeichneten Hypermedialisierung: Eben jene Stilisierungshandlungen, aus denen jeweilige Idiome sozialkommunikativ hervorgehen, erweitern und verschieben sich vom Körperlichen ins Mediale und verfestigen sich dort zu eigenen idiomatischen "Bild- und Sehwelten" (SOEFFNER 2020). [26]
Strukturell sichtbar wird in Praktiken der Selbstdarstellung wie diesen eine Idiomatik der Alltagstranszendenz, die unmittelbar körperliche Ausdrucksformen ebenso umfasst wie bildmediale Präsentationstechniken. Während von dissimulativen und hyperbolischen Praktiken Bildaufnahmen angefertigt werden können, von denen diese Praktiken selbst aber nicht abhängig sind, sind digitale Bildmedientechniken für piktoralistische Selbstdarstellungsformen konstitutiv: Erzeugt und sozial präsentiert werden entsprechende Images der eigenen Person mithilfe idiomatischer Zitationen außeralltäglicher Stimmungen, Situationen oder Charaktere, die allesamt eine körperliche Performanz jeweiliger Selbstdarsteller*innen nicht überflüssig werden lassen, die gleichwohl aber nicht ohne den Gebrauch digitaler Grafismen und Präsentationstechniken zu realisieren sind. Vergleicht man die Idiomatik solcher Alltagstranszendenz mit den von GOFFMAN (1981 [1971], 1982 [1971]) beschriebenen Idiomatiken egalitärer Paarbeziehungen (Fallbeispiel A, Händchenhalten) und der Geschlechterdifferenzierung (Fallbeispiel B, Geschlechterdarstellung), so fällt auf, dass hier, im Fall der Idiomatik selbstdarstellerischer Alltagstranszendenz, neben idiomatischen Formen des "Verhaltensarrangements" (GOFFMAN 1982 [1971], S.301) auch solche der intermedialen Übertragung und der Mediengestaltung Verwendung finden (siehe auch Tabelle 4). Was all diese (technisch unterschiedlichen) idiomatischen Formen und Strategien als Elemente einer Idiomatik der Alltagstranszendenz verbindet, ist ihr Gebrauch in Sinnzusammenhängen eines demonstrativen Heraustretens aus der Ordnung alltäglicher Sozialbeziehungen und Rollenmuster. [27]
Bildtafel Fallbeispiel C (Idiomatik selbstdarstellerischer Alltagstranszendenz)
Abbildungen 3.1-5: Parodie kategorialer Identifikationsmuster (Abb. 3.1, 3.2, 3.4, 3.5: Studio 54, New York, o.J. [MÜLLER
2009, S.64-66]; Abb. 3.3: Cosplay [MÜLLER & SONNENMOSER 2024a, S.133])
Abbildungen 4.1-3: Mimikry virtueller Charaktere oder Szenen (Abb. 4.1 und 2: Cosplay; Abb. 4.3: Parkour [a.a.O., S.134])
Abbildungen 5.1-5: digitaler Piktoralismus (Abb.5.1 und 2: Parkour; Abb.5.3-5: Cosplay [a.a.O., S.136]) [28]
3.2 Fallbeispiel D: Selbstdarstellung auf sozialen Plattformen (Idiomatik bildmedialer Origoverweise)
Die nächste hier zu diskutierende Idiomatik, die Idiomatik bildmedialer Origoverweise, findet in Zusammenhängen personaler Selbstdarstellung auf sozialen Plattformen Verwendung. Unabhängig davon, ob man die Vielzahl der dort geposteten Fotografien als "Bilderflut" auffassen mag oder nicht, das Repertoire der verwendeten Bildtypen ist keineswegs grenzenlos oder strukturlos. Insbesondere ein Bildtypus, der in verschiedenen Ausprägungen immer wieder verwendet wird, ist dem sogenannten Selfie nicht unähnlich (gleichwohl aber nicht mit diesem deckungsgleich) und erfüllt eine für die alltägliche Bildkommunikation in sozialen Medien strukturbildende Funktion. Die auf Bildtafel Fallbeispiel D, Abbildung 6.1 anonymisiert wiedergegebene Fotografie hat in Bezug auf diesen Bildtypus exemplarischen Charakter: Sie stammt aus der Facebookseite eines siebzehnjährigen Schülers und ist durch eine leichte, sogenannte tonnenförmige Verzeichnung gekennzeichnet, die gemeinhin auch als Fischaugenoptik bezeichnet wird (MÜLLER 2018, S.99-102). Der spezifische Seheindruck dieser Verzeichnung lässt sich, besser als durch Worte, durch vergleichbare Beispiele verdeutlichen: Auf Bildtafel D dienen als Vergleichsmaterialien ein kunsthistorisches Bildbeispiel (Abb. 6.2) sowie eine zeitgenössische Social-Media-Fotografie (Abb. 6.3). [29]
Ein weiteres Kennzeichen der auf Abbildung 6.1 wiedergegebenen Fotografie ist die Anordnung der dargestellten Körper im Bildraum. Zum einen rückt die vordere Person sehr nahe an den Beobachter*innenstandpunkt heran. Zum anderen unterschreitet ihr rechter Arm die Distanz zur Bildbeobachter*in, indem er – perspektivisch – aus dem Bildraum herausgreift bzw. die Position der Beobachter*in in den Bildraum gleichsam hineinzieht. Die Abbildungen 6.4 und 6.5 der Bildtafel D weisen ebenfalls dieses Merkmal der Distanzunterschreitung auf (und verdeutlichen diesen Seheindruck durch Wiederholung desselben). [30]
Verzeichnungen und Distanzunterschreitungen dieser Art haben eine bemerkenswerte metakommunikative Funktion: Sie halten das optische Medium der Bilderzeugung (also etwa die Kamera oder den Spiegel) im Akt der Bildwahrnehmung assoziativ gegenwärtig. Es ist, als ob man selbst durch die Kamera schaute (oder in den Spiegel sähe). D.h., das darstellerische Thema solcher Aufnahmen ist nicht nur ein bestimmter, bildmedial erfasster Wirklichkeitsausschnitt, sondern auch das mediale Distanzverhältnis, das zwischen einer oder mehreren porträtierten Personen und mir als Bildbetrachter*in besteht und das durch die Fotografie zugleich wieder partiell aufgehoben wird ("er/sie ist dort, ich bin hier, und zwischen uns vermittelnd das Medium der Fotografie"). Das Gestaltungsprinzip solcher Bilder ist, dass sie in ihrer Ästhetik jeweiligen Betrachter*innen verdeutlichen, dass diese es nicht mit beliebigen (anonym bleibenden) Bilddarstellungen zu tun haben, sondern mit Bildern, die demonstrativ auf eine oder mehrere Personen zurückverweisen – auf eine personale Origo. Die idiomatischen, d.h. phrasenartig immer wieder verwendeten Formen der Fischaugenoptik und der Distanzunterschreitung vermitteln mit anderen Worten eine interpersonale Situation, wo andernfalls keine wäre. [31]
Realisieren lässt sich solch eine mediatisierende Ästhetik auch auf andere Weise. Vergleichbare Darstellungseffekte zeitigen etwa blitzlichtbedingt ungleichmäßige Bildausleuchtungen (exemplarisch Bildtafel D, Abb. 6.6), direkte Mitabbildungen von Bildaufnahmegeräten (Abb. 6.7) sowie unterschiedliche Gesten oder Mimiken der Bildverweigerung (Haltungen der Kameraabwehr, herausgestreckte Zungen, Grimassen; exemplarisch Abb. 6.8). Die Idiomatik des Origoverweises umfasst mit anderen Worten ein nicht unbeträchtliches Repertoire unterschiedlicher Darstellungsästhetiken: die Fischaugenoptik, die Distanzunterschreitung, die Blitzlichtausleuchtung, die Mitaufnahme von Kameras und die gestische Bildverweigerung (vgl. ausführlicher MÜLLER 2018). [32]
Verwendung finden diese Darstellungsästhetiken in der Regel an kommunikativen Schlüsselstellen jeweiliger Bildzusammenstellungen oder Bildfolgen – insbesondere Profilbilder sind häufig in einer dieser Ästhetiken gestaltet. Aber auch innerhalb der Bildfolgen entsprechender Accounts finden sich Idiome der genannten Art: In Kombination mit fotografischen oder postfotografischen Darstellungen, die in ihrer Anmutung dem Perfektionsverständnis von Modefotografien, Zeitschriftendarstellungen, Werbegrafiken, Filmstills oder Plakaten entsprechen, oder zwischen Bilddarstellungen platziert, die aus anderen Quellen in eigene Accounts übernommen werden, entfalten sie ihre besondere metakommunikative Funktion. Was sich, für sich besehen, als schiere Kunst-, Mode-, Werbe- oder Pressefotografie ohne jeden weiteren persönlichen oder gruppenspezifischen Bezug darstellen würde, wird nunmehr, kraft bildästhetischer Origoverweise, zum Bestandteil personen- oder gruppenbezogener Selbstdarstellungen. [33]
Strukturell sichtbar wird in den diskutierten Darstellungsästhetiken eine Idiomatik bildmedialer Origoverweise, die sich aus einem Repertoire verschiedener idiomatischer Formen zusammensetzt (vgl. zusammenfassend auch Tabelle 4). Einige dieser Formen (die Distanzunterschreitung, die Mitaufnahme von Kameras, die gestische Bildverweigerung) setzen eine spezifische körperliche Performanz jeweiliger Selbstdarsteller*innen voraus, andere (die tonnenförmige Verzeichnung und die Blitzlichtausleuchtung) sind genuin bildmedienästhetischer Natur. Gemeinsam ist all diesen idiomatischen Formen, dass sie – wenn sie entsprechend realisiert werden – als Verweise auf eine personale Origo fungieren. In dieser Verweisfunktion liegt denn auch ihre pragmatische Bedeutung begründet: Sie kennzeichnen Bilddarstellungen als personenbezogene Darstellungen bzw. als Bestandteile einer solchen Darstellung. [34]
Bildtafel Fallbeispiel D (Idiomatik bildmedialer Origoverweise)
Abbildungen 6.1-3: tonnenförmige Verzeichnungen (Abb. 6.1 und 6.3: Social-Media-Fotografien; Abb. 6.2: Parmigianino, Selbstporträt 1523 [MÜLLER 2018, S.89])
Abbildungen 6.1, 6.4 und 6.5: perspektivische Distanzunterschreitungen (Abb. 6.4: William Klein, Bikini 1969; Abb. 6.5: Social Media Fotografie [a.a.O.])
Abbildungen 6.6-8: blitzlichtbedingt ungleichmäßige Ausleuchtung, Mitabbildung von Bildaufnahmegerät, Geste der Bildverweigerung
(Social Media Fotografien [a.a.O.]) [35]
3.3 Fallbeispiel E: Designs nicht-trivialer Maschinen (Idiomatik sozialer Zurechenbarkeit)
Die Idiomatik sozial zurechenbarer Maschinen findet in Zusammenhängen des Designs von Robotern, autonomen Fahrzeugen und vergleichbaren Geräten Verwendung. Das strukturelle Problem, auf das Entwickler*innen und Gestalter*innen durch den Gebrauch idiomatischer Designformen reagieren, besteht darin, dass es sich bei Maschinen der genannten Art um opake, d.h. alltagspraktisch undurchsichtige technische Systeme handelt: Roboter, autonome Fahrzeuge und vergleichbare Geräte sind in der Regel komplex programmierte, an Dateninfrastrukturen angeschlossene und nicht selten auch ferngesteuerte, d.h. "nicht-triviale Maschinen" (VON FOERSTER 2019 [1993], S.248). Deren Verhalten ist für diejenigen, die mit solchen Maschinen im Alltag zu tun haben, nicht ohne Weiteres steuerbar und in seinem konkreten Verlauf vorhersehbar. [36]
Im Design solch nicht-trivialer Maschinen sind (mindestens) vier unterschiedliche idiomatische Formen gebräuchlich, die in spezifischer Weise auf dieses Problem der Zurechenbarkeit reagieren (MÜLLER 2024b; MÜLLER & SONNENMOSER 2024b). Eine erste idiomatische Form ist die Applikation eines Gesichtsfeldes auf solche Maschinen (Bildtafel Fallbeispiel E, Abb. 7.1-5). Aus der Perspektive eines menschlichen Gegenübers sind solche Gesichtsfelddarstellungen als Anzeichen oder Zeichen lesbar, durch die jeweilige Maschine (in welcher Form auch immer) zur Kenntnis genommen zu werden und mit dieser in einen (wie auch immer gearteten) kommunikativen Austausch treten zu können. Solche Darstellungen sind Affordanzen, die die Zuschreibung einer gewissen Responsivität jeweiliger Maschinen ermöglichen. Über die technische Arbeitsweise jeweiliger Maschinen geben solche Darstellungen indes keine Auskunft, ebenso wenig lassen sie das konkrete Maschinenverhalten eindeutig vorhersagbar werden. Gleichwohl erlauben es Gesichtsfelddarstellungen dem menschlichen Gegenüber, das eigene Verhalten auf die entsprechenden Maschinen hin zu orientieren: nicht auf deren technische Funktion hin, sondern auf deren (so in Aussicht gestellte) Responsivität. Das menschliche Gegenüber kann (bis auf Weiteres) davon ausgehen, dass die Maschine ihn oder sie (in welchem Umfang auch immer) zur Kenntnis nimmt und dass man ihr, der Maschine, etwas mitteilen kann. Eine solche Darstellung und Deutung einer Maschine ist das, was GOFFMAN eine soziale Rahmung nannte: Was geschehen wird oder was bereits der Fall ist, wird nicht – wie in natürlichen Rahmungen – auf einen prinzipiell einsichtigen und prinzipiell beherrschbaren "Determinismus" zurückgeführt, sondern einer "agency" (1986 [1974], S.22) zugerechnet, die steuernd eingreifen und auf die ggf. entsprechend Einfluss genommen werden kann. [37]
Bildtafel Fallbeispiel E (Idiomatik sozial zurechenbarer Maschinen)
Abbildungen 7.1-5: Gesichtsfelddarstellungen, Verkörperung von Responsivität (MÜLLER 2024b, S.12)
Abbildungen 8.1-6: Butler-Ästhetik, Verkörperung von Servilität (a.a.O.)
Abbildungen 9.1-3: Kindchenschemata/Niedlichkeit, Verkörperung von Juvenilität (a.a.O.)
Abbildungen 10.1-4: Darstellung und Verkörperung von Autonomie (a.a.O.) [38]
Eine zweite, der ersten diametral entgegengesetzte idiomatische Form ist die auf den Abbildungen 10.1-4 der Bildtafel E exemplifizierte Gestalt des autonomen Fahrzeugs. Autonomie meint hier das offensichtliche, bisweilen sogar gestalterisch demonstrierte Fehlen eines Menschen dort, wo für gewöhnlich ein Mensch ist und steuert. Auch solche Darstellungen geben über die konkrete Arbeitsweise jeweiliger Maschinen keine Auskunft, und auch sie lassen das Maschinenverhalten nicht eindeutig vorhersagbar werden. Wird die Maschine mich zur Kenntnis nehmen? Wird sie anhalten? Ist sie ferngesteuert? Fährt sie mittels geeigneter Sensorik auf digitalen Schienen? Oder bewegt sie sich frei im Raum? All dies bleibt im Unklaren. Gleichwohl weisen Autonomiedarstellungen einen sozialen Orientierungswert auf. Denn bis auf Weiteres kann das menschliche Gegenüber davon ausgehen, dass eine Maschine dieser Art ihn oder sie eben nicht in der Art und Weise zur Kenntnis nehmen wird, wie dies menschliche Fahrer*innen täten, und dass man ihr, der Maschine, kaum etwas zu verstehen geben könnte, wie dies bei menschlichen Fahrer*innen möglich wäre. Gerade aber auf den Solipsismus solch eines demonstrativ unsozialen Maschinenwesens kann man sich sozial orientieren. [39]
Zwei weitere idiomatische Formen sind die Designfiguren der Servilität bzw. der Juvenilität. Servilität (dienende Unterordnung) wird mittels eines Ausdrucksrepertoires zur Darstellung gebracht, das idiomatisch der Ästhetik des Butlers oder des Kellners entlehnt ist (vgl. Bildtafel E, Abb. 8.1-7). Juvenilität hingegen lässt sich durch eine vergleichsweise geringe Körpergröße darstellen, durch Kindchenschemata und durch Verhaltensformen der Niedlichkeit (vgl. Bildtafel E, Abb. 9.1-3). Die Kontingenz des Maschinenverhaltens wird durch das Idiom der Servilität in dem Sinne handhabbar gemacht, dass das menschliche Gegenüber in eine Position der Weisungsbefugnis versetzt wird. Was auch immer die Maschine tut, die Oberhoheit über wesentliche Prozesse wird dem Menschen zugewiesen. Juvenilitäts-Darstellungen hingegen haben eine die Maschine entlastende Funktion. Sie entschuldigen Mängel und Unvermögen a priori und kennzeichnen die jeweilige Maschine als noch unfertiges, unausgereiftes Maschinenwesen. [40]
Strukturell sichtbar wird in Designs, wie den diskutierten, eine Idiomatik sozial zurechenbarer Maschinen. Diese umfasst 1. ein Repertoire verschiedener soziomorpher Designfiguren (Idiome). "Soziomorph" meint, dass in diesen Figuren eine jeweils basale soziale Form (wie die der Responsivität oder Servilität) darstellerisch realisiert ist (MÜLLER 2024b; siehe auch SCHULZ-SCHAEFFER 2007; SEIBT, VESTERGAARD & DAMHOLDT 2020). Diese Designfiguren haben 2. gemeinsam, dass sie einen jeweiligen Modus der sozialen Orientierung veranschaulichen, in dem man – als Mensch – solch nicht-trivialen Maschinen begegnen soll. Darin besteht auch die pragmatische Funktion dieser Idiomatik: Sie veranschaulicht, wie man Maschinen begegnen soll, in deren technische Prozessabläufe im Alltag nicht mehr ohne Weiteres steuernd eingegriffen werden kann. Bemerkenswert ist schließlich 3., dass diese Idiomatik nicht durch eine direkte Stilisierung oder Hyperritualisierung einer Praxis zustande kommt, sondern durch die metaphorische Übertragung von "Urbildern" aus anderen Lebensbereichen.
Idiomatik |
(1) Kommunikative Repertoires (Idiome) |
(2) Problembezug |
(3) Genese |
(A) Idiomatik potenziell sexueller egalitärer Paarbeziehungen |
Situative Arrangements des Händehaltens |
Kundgabe von Paarbeziehungen |
Ritualisierung/ Stilisierung praktischen Verhaltens |
(B) Idiomatik der Geschlechter-differenzierung |
Verhaltensarrangements: Inszenierung relativer Größe Stilisierte "weibliche Berührung" Funktionale Rangordnung Demonstrative Unterordnung, Ausweichverhalten usw. |
Kundgabe oder Bestätigung spezifischer Formen von Geschlechtszugehörigkeit |
Ritualisierung/ Stilisierung Sekundäre Idiomatisierungen |
(C) Idiomatik performativer Alltagstranszendenz |
Verhaltensarrangements: Dissimulation kategorialer Identifikationsmuster Hyperbolik Intermediale Übertragungen: Mimikry virtueller Charaktere, Szenen oder Stimmungen Mediengestaltungen: Digitaler Piktoralismus |
Heraustreten aus der Ordnung alltäglicher Sozialbeziehungen bzw. dem Möglichkeitsbereich alltäglicher Typenrepertoires |
Ritualisierung/ Stilisierung "Hypermediali-sierung" (BRECKNER 2025) |
(D) Idiomatik bildmedialer Origoverweise |
Verhaltensarrangements: Distanzunterschreitung Gestische Bildverweigerung Mitaufnahme von Kameras Mediengestaltungen: Tonnenförmige Verzeichnung Blitzlichtausleuchtung |
Kenntlichmachung bzw. Realisierung einer Darstellung als Selbstdarstellung |
Stilisierung von Merkmalen ehemals nicht-professioneller Fotografie |
(E) Idiomatik sozial zurechenbarer Maschinen |
Intermediale Übertragungen: Gesichtsschemata Butler-Ästhetik Kindchenschemata Autonomiedarstellungen |
Kenntlichmachung bzw. Realisierung der Zurechenbarkeit einer nicht-trivialen Maschine |
Metaphorische Übertragungen |
Tabelle 4: zusammenfassende Darstellung exemplarischer Idiomatiken [41]
Auf der Grundlage der vorausgehenden theoretischen Überlegungen sowie der diskutierten Fallbeispiele schlage ich folgende Begriffsdefinition vor: Visuelle Idiome sind 1. bildhaft auf den Sehsinn hin ausgerichtete Darstellungsformen, deren konventionell verständliche Bedeutung 2. durch ihren Gebrauch als kommunikative Lösungen (oder als Lösungsversuche) wiederkehrender sozialweltlicher Lebensprobleme geprägt ist und die 3. nur in Bezug auf solche Probleme als Idiome bezeichnet werden können. [42]
Das erste definitorische Element – Visuelle Idiome sind bildhaft auf den Sehsinn hin ausgerichtete Darstellungsformen – erfüllt eine doppelte Funktion: Mit ihm werden der Idiomatik visueller Formen unterschiedliche Modi visueller Sozialkommunikation zugeordnet, und zwar im gesamten Spektrum von leiblich-körperlichen bis hin zu technisierten Ausdrucks- und Darstellungsformen. Nicht nur Bilder im engeren Sinne grafischer "Flachware", auch dreidimensionale Gestaltungen oder Bewegungssequenzen sind dementsprechend als potenzielle Träger visueller Idiome zu betrachten. Zugleich werden visuelle Idiome als ikonisch-präsentative ("bildhafte") Darstellungsformen gekennzeichnet und von sprachlich-diskursiven Formen abgegrenzt. Eine solche Kennzeichnung und Abgrenzung ist insofern notwendig, als sich der kommunikative Gebrauchswert ikonisch-präsentativer Darstellungsformen – und damit auch von visuellen Idiomen im hier definierten Sinne – daraus ergibt, dass sie anstelle des begrifflichen Abstraktionsvermögens das bildanschauliche Differenzierungsvermögen von Beobachter*innen adressieren und auf diese Weise Bedeutung generieren.5) [43]
Das zweite definitorische Element – Visuelle Idiome sind Darstellungsformen, deren konventionell verständliche Bedeutung durch ihren Gebrauch als kommunikative Lösungen oder als Lösungsversuche wiederkehrender sozialweltlicher Lebensprobleme geprägt ist – ist im Kern pragmatistischer Natur. Es besagt, dass die Bedeutung idiomatischer Formen nicht notwendig aus diesen Formen selbst bzw. ihrer inneren Struktur resultiert, sondern zuvorderst aus ihrem Gebrauch als kommunikativen Problemlösungen. Einige Beispiele:
Das idiomatisch geprägte Verständnis bestimmter habitueller Formen der Berührung von Gegenständen als Ausdruck von "Weiblichkeit" (siehe Tabelle 4, Fallbeispiel B) ergibt sich weder aus der Natur solcher Berührungen noch aus ihrer stilisierten Ausführung. Vielmehr resultiert es aus dem Gebrauch entsprechend stilisierter Berührungsformen als Mittel der Darstellung einer spezifischen Weiblichkeitsauffassung (GOFFMAN 1979 [1976], S.28-42).
Das idiomatisch geprägte Verständnis von Gesichtsschemata als Anzeichen der Responsivität von Geräten resultiert nicht aus der Denotation ":-)" = "Gesicht", sondern aus dem metaphorischen Gebrauch von Gesichtsschemata als Mitteln der Darstellung bestimmter kommunikativer Geräteeigenschaften.
Das idiomatisch geprägte Verständnis von Kamera-Mitabbildungen als personaler Origoverweis ergibt sich nicht schon aus der Mitabbildung einer Kamera, sondern erst aus dem Gebrauch solcher Bildaufnahmen in Kontexten der Selbstdarstellung. [44]
Auf die Relevanz des Aspektes von "Gebrauchsbedeutungen" für die Prägung sprachlicher Idiome hat Helmuth FEILKE (1996, S.205) hingewiesen (dessen linguistische Analysen gleichwohl auch für das Verständnis visueller Idiome instruktiv sind): Mit Blick auf Idiome wie z.B. Das ist kalter Kaffee oder Jemandem einen Korb geben stellt FEILKE fest, dass für deren Verständlichkeit nicht ihre innere, semantisch-syntaktische Struktur entscheidend ist, sondern die Kenntnis der Gebrauchszusammenhänge, in welchen eben jene praktischen Bedeutungen geprägt werden, die sich aus der wörtlichen Bedeutung jeweiliger Formulierungen selbst nicht erschließen. Aber auch semantisch motivierte Ausdrücke können, so FEILKE, durch spezifische Gebrauchsweisen eine idiomatische Prägung erlangen, beispielsweise dann, wenn der Satz Wo Rauch ist, da ist auch Feuer nicht als quasi naturwissenschaftlicher "Merksatz für den Brandfall" (S.204), sondern als sprachliche Reaktion auf soziale Beobachtungen genutzt wird. Instruktiv sind FEILKEs pragmatistische Ausführungen insofern, als durch sie die vermeintliche Dichotomie zwischen sprachlichen und visuellen Idiomen überbrückt wird. Was beiden nämlich, den sprachlichen wie den visuellen Idiomen, gemeinsam ist – und dies ist auch das Begriffsverständnis, dem GOFFMAN (1981 [1971], 1982 [1971]) folgte –, ist das Primat ihrer pragmatischen Prägung vor ihrer inhaltlichen Struktur. Der linguistischen Diskussion um unterschiedliche Grade der Motiviertheit bzw. Unmotiviertheit sprachlicher Idiome entspräche in diesem Sinne eine – noch weiter auszuführende – Diskussion der soziokulturellen Genese visueller Idiome. Die oben diskutierten Beispiele jedenfalls weisen darauf hin, dass sich visuelle Idiome in materialer Hinsicht in unterschiedlicher Weise herausbilden können:
Das von GOFFMAN beschriebene Idiom des Händchenhaltens zum Beispiel stellt, wie er konstatierte, eine Ritualisierung und Stilisierung ehemals praktisch motivierten Handelns dar. Dasselbe gilt für die Idiome der "weiblichen Berührung" und – im Bereich der Social-Media-Fotografie – der perspektivischen Distanzunterschreitung. Letztere geht auf ein Merkmal laienhafter Fotografie zurück, stellt in ihrer ritualisierten und stilisierten Form aber keinen ästhetischen Makel mehr dar, sondern wird in eben dieser ritualisierten und stilisierten Form für Selfies idiomatisch.
Einer anders gelagerten Genese begegnet man indes im Fall des geschlechterstereotypen Idioms der "Schräghaltung des Kopfes" (GOFFMAN 1981 [1971], S.188). Als Verkörperung von Weiblichkeit stellt die Schräghaltung des Kopfes eine idiomatische Übertragung dar: Sie geht auf die Schräghaltung des Kopfes als konventionelle Kundgabe von Unterordnung zurück, erfährt nunmehr aber, als Verkörperung von Weiblichkeit, eine sekundäre Idiomatisierung.
Eine wiederum anders gelagerte Form der Übertragung findet sich im Bereich der Idiomatik sozial zurechenbarer Maschinen: Die Idiome des Gesichtsschemas, der Butler-Ästhetik und der Niedlichkeit/Kindlichkeit gehen auf keine Ritualisierung und Stilisierung praktischen Handelns zurück, sondern verdanken sich einer metaphorisch zu verstehenden intermedialen Übertragung bereits existierender Formen, Figuren oder Klischees auf entsprechende Maschinen: Unschwer erkennt man in Gesichtsschemata wie den genannten und in den Figuren der Niedlichkeit/Kindlichkeit oder des Butlers Zitationen aus den Ausdrucks- und Darstellungsrepertoires von Emoticons, Comics, Kinderdarstellungen oder einschlägigen Kleiderordnungen.
Neben Prozessen der Hyperritualisierung (d.h. der Ablösung darstellerischen Handelns von ehemals praktischen Handlungsmotiven) ist schließlich auch mit Prozessen einer Hypermedialisierung (BRECKNER 2025) zu rechnen, d.h. mit dem Gebrauch bildmedialer Darstellungen nicht als Abbildungen von etwas, sondern als relativ eigenständiger bzw. inferenzieller Möglichkeit der Selbststilisierung. [45]
Die genannten Mechanismen der Ritualisierung und Stilisierung, der sekundären Idiomatisierung, der metaphorisch-intermedialen Übertragung und der Hypermedialisierung begründen noch keine umfassende Systematik der Genese visueller Idiome – zunächst einmal verweisen sie auf ein Forschungsdesiderat: Eben weil sich linguistische Erkenntnisse nicht oder nur partiell auf Phänomene visueller Kommunikation übertragen lassen, bedarf es gesonderter Systematisierungen, was die Genese visueller Idiome anbelangt, ihre sozialkommunikativen Funktionen und die Vielfalt ihrer medialen Ausprägungen. [46]
In die obige Definition ist drittens die ergänzende Bestimmung eingearbeitet, dass gemeinhin gebräuchliche Formen oder Figuren der visuellen Sozialkommunikation nur in Bezug auf wiederkehrende sozialweltliche Lebensprobleme als Idiome bezeichnet werden können. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine Schlussfolgerung aus dem bereits Gesagten, die nicht zuletzt forschungspraktisch von Relevanz ist. Schnell nämlich lassen sich in der empirischen Arbeit gemeinhin gebräuchliche Bild-, Verhaltens- oder Designtypen identifizieren. Und nicht unplausibel mag es sein, im einen oder anderen Fall das Vorliegen einer idiomatischen Form oder Figur zu vermuten. Gleichwohl, die Kennzeichnung gemeinhin gebräuchlicher Bildformen, Verhaltensweisen oder Designs als visuelle Idiome setzt – über eine Identifikation entsprechender Typen hinausgehend – eine Analyse der inhärenten Problembezüge ihres Gebrauchs voraus. So bedeutend die Identifikation typischer Bilder, Verhaltensarrangements und Designs als Arbeitsschritt auch ist, eine Analyse visueller Idiome geht über jedwede Bildtypen-Identifikation notwendig hinaus. [47]
Definitorisch voneinander abzugrenzen sind an dieser Stelle schließlich noch die Begriffe des Idioms und der Idiomatik, die in der Literatur uneinheitlich verwendet werden. GOFFMAN bezeichnete mit dem Begriff des Idioms eine jeweilige "Sammlung von Verhaltensarrangements" (1982 [1971], S.301), d.h. eine Mehrzahl darstellerischer Formen und Figuren. In der Linguistik wird der Begriff hingegen zur Kennzeichnung einzelner Phrasen bzw. darstellerischer Formen verwendet (BURGER 2015). Beide Gebrauchsweisen haben ihren guten Sinn. Um gleichwohl Eindeutigkeit zu gewährleisten, wird der Begriff des Idioms im vorliegenden Text – mit Ausnahme der GOFFMAN-Zitate oben – zur Bezeichnung einzelner idiomatischer Darstellungsformen verwendet, während der Begriff der Idiomatik der Kennzeichnung der Gesamtheit eines kommunikativen Repertoires idiomatischer Formen dient. Die Zugehörigkeit einzelner Formen zu einem Repertoire ergibt sich hierbei aus der Sinnstruktur ihres Verwendungszusammenhanges, daraus also, dass sie als homologe oder einander ergänzende Lösungsversuche ein und desselben sozialweltlichen Lebensproblems interpretiert werden können. Der Begriff der Idiomatik bezeichnet in diesem Sinne eine Klasse homologer oder einander ergänzender idiomatischer Formen. [48]
An eine Rekonstruktion visueller Idiome sind, methodologisch betrachtet, Anforderungen zu stellen, die über das hinausgehen, was klassische Einzelbildanalysen zu leisten vermögen: Um das kommunikative Repertoire sozialweltlicher Idiomatiken und die Stellung einzelner Idiome innerhalb solcher Repertoires zu untersuchen, sind korpusbasierte Verfahren der Analyse visueller Daten vonnöten.6) Ein differenziertes Verständnis der Gebrauchsbedeutung visueller Idiome hingegen bedarf einzelfallanalytischer Forschungsstrategien. Fragen der Gebräuchlichkeit bestimmter Idiome dürften sich nur auf dem Abstraktionsniveau quantifizierender Verfahren objektiv klären lassen. [49]
GOFFMANs Ausführungen zum Begriff und zur Analyse nicht-sprachlicher Idiome sind bruchstückhaft über sein Werk verstreut und kaum systematisiert. An einer Stelle deutete er aber zumindest an, wie eine Analyse vonstattengehen kann: Eine Strategie besteht darin, so GOFFMAN,
"daß man mit der Untersuchung einer speziellen Praxis beginnt [...] und von da zur Betrachtung einer Klasse von Praktiken übergeht, für die der untersuchte Fall bloß ein einzelnes Beispiel war – einer Klasse, die zum Beispiel durch ihre Funktion oder Rolle definiert ist und der der Status eines Konzeptes zugesprochen werden kann" (1982 [1971], S.302). [50]
Was GOFFMAN hier beschreibt, ist der begriffslogische Aufbau eines Konzeptes: Den Anfang einer Analyse mache, so GOFFMAN, die "Untersuchung einer speziellen Praxis", d.h. eines einzelnen Idioms (im in Abschnitt 3.4 definierten Wortsinn). Hierauf folge die "Betrachtung einer Klasse von Praktiken", d.h. mehrerer Idiome, die durch ihre funktionale Homologie eine Klasse bilden. Zielstellung der gesamten Forschungsstrategie ist sodann die abschließende Formulierung eines Konzeptes bzw. die theoretische Beschreibung einer Idiomatik. [51]
Der tatsächliche Erkenntnis- und Forschungsprozess, wie ihn nicht zuletzt auch GOFFMAN in "Geschlecht und Werbung" praktizierte (1981 [1971], S.104-317), ist indes erheblich komplexer, als sich dies in seinen Ausführungen zum begriffslogischen Aufbau von Konzepten darstellt. Woher weiß man etwa, welche Praktiken zu einer bestimmten Klasse (Idiomatik) gehören bzw. für welche Klasse eine bestimmte Praktik ein Beispiel ist? Auf welcher Grundlage sind also fragliche Klassen bestimmbar? Nicht zufällig beschrieb Anselm STRAUSS (1998 [1987]) – ähnlich wie Hans-Georg GADAMER (1986 [1959]) und Karl R. POPPER (1998 [1972]) – Forschungsprozesse dieser Art nicht als lineare Progression, sondern als fortwährenden Wechsel zwischen sich Schritt für Schritt präzisierenden generativen Fragen und empirischen Beobachtungen. [52]
Den Anfang macht also vielleicht tatsächlich ein konkretes, Aufmerksamkeit erweckendes Beispiel. Dies wird früher oder später aber 1. mit einem expliziten, d.h. begrifflich-reflexiv nutzbaren Forschungsinteresse in Zusammenhang gebracht werden müssen sowie 2. mit anderen, sich zunächst unscharf abgrenzenden Beispielen. GOFFMAN beispielsweise nutzte in "Geschlecht und Werbung" (1981 [1971]) 507 Beispiele, der Robotik-Analyse oben (siehe Abschnitt 3.3) liegen 82 Designbeispiele zugrunde. Einzelne Beispiele werden sich im Laufe des Forschungsprozesses sodann als Beispiele für mehrere Sachverhalte herausstellen: Die Fotografie Abb. 6.1 (Bildtafel D) etwa ist, wie diskutiert, ein Beispiel sowohl für eine tonnenförmige Verzeichnung als auch für eine perspektivische Distanzunterschreitung. Diesbezüglich weist sie wiederum Ähnlichkeit mit anderen Bildern auf, die ebenfalls entweder durch solche Verzeichnungen oder durch Distanzunterschreitungen gekennzeichnet sind: Die einzelnen Daten werden im Vergleich miteinander überhaupt erst als Beispiele einer speziellen Praxis identifiziert und differenziert. Diese Beispiele sind nicht einfach da, sondern müssen vor dem Hintergrund eines Forschungsinteresses als solche erst erkannt, d.h. in ihrer Typik beschrieben und – sofern von der materialen Struktur des jeweiligen Phänomens her möglich – als je spezifische Lösungsversuche des forschungsrelevanten Lebensproblems (hier also etwa des Problems einer körper- bzw. leibfernen Selbstdarstellung auf bildbasierten Plattformen bzw. der Kennzeichnung medial präsentierter Bilder als Selbstdarstellung) interpretativ kenntlich gemacht werden.7) [53]
Die Analytik, die hier, d.h. in der vergleichenden Reflexion unterschiedlicher Formen und Möglichkeiten des Handelns bzw. des Gestaltens und Kommunizierens, zum Tragen kommt, ist der interpretative Vergleich (BOHNSACK 2003 [1991]; MÜLLER 2012, 2025; SOEFFNER 2004 [1989]; STRAUSS 1998 [1987]): Als Vergleichshinsicht fungiert ein spezifisches, im jeweiligen Forschungsinteresse liegendes lebenspraktisches Problem (MAUZ & VON SASS 2011). Wenn im Sinnzusammenhang dieser Problemstellung einzelne Vergleichsgegenstände (also Darstellungsformen) als Lösungen oder Lösungsversuche des jeweiligen Lebensproblems verständlich gemacht, d.h. interpretiert werden können, so erfahren hierin nicht nur die fraglichen Darstellungsformen, sondern auch die vorausgesetzte Problemstellung eine tiefergehende Erklärung bzw. eine theoretische Präzisierung. Dies schließt ausdrücklich die Möglichkeit ein, dass sich eine vorausgesetzte Problemstellung im Rahmen einer Analyse als nicht tragfähig bzw. relevant erweist und falsifiziert werden muss. [54]
Wie jedes sozialwissenschaftliche Konzept sind also auch Konzepte bezüglich spezifischer Idiomatiken nicht einfach Abbildungen oder induktiv gewonnene Begriffe von Wirklichem, sondern von Sozialwissenschaftler*innen erarbeitete Theoreme: "Konstruktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld, deren Verhalten der Sozialwissenschaftler beobachten und erklären muß" (SCHÜTZ 1971 [1964], S.68). In diese fließen das Forschungsinteresse und die Problemannahmen der beteiligten Wissenschaftler*innen ebenso ein wie die widerständige materiale Struktur des Forschungsgegenstandes und die methodisch gezielte und kontrollierte Relationierung beider Momente. Eine empirische Analyse visueller Idiome wird ohne ein theoretisches Forschungsinteresse und ohne entsprechende Problemannahmen ebenso wenig zu haben sein wie eine Falsifikation und Präzisierung theoretischer Vorannahmen ohne empirische Analysen. [55]
Neben der Identifikation unterschiedlicher idiomatischer Formen, die zusammen eine Idiomatik bilden, wies GOFFMAN noch auf eine zweite analytische Strategie hin. Diese besteht darin, "daß man versucht, alle Kontexte zusammenzustellen, in denen eine bestimmte Praxis vorkommt, und dann herauszuarbeiten, was diesen verschiedenen Kontexten gemeinsam ist" (1982 [1971], S.302). Korpusanalytische Ergebnisse werden gemäß dieser Strategie also durch einzelfallanalytische Betrachtungen jeweiliger Phänomene vervollständigt:
Ein Vergleich beispielsweise des Gebrauchs idiomatischer Gesichtsschemata in der Robotik verdeutlicht, dass Gesichtsfelder nicht nur mimetisch, d.h. in Imitation biologischer Körper, ausgeführt werden können. Um dysfunktionale oder missverständliche Menschenähnlichkeit zu vermeiden, werden Gesichtsschemata gegebenenfalls auch in abstrakter Form als piktographische Projektion realisiert.
Durch einen Vergleich unterschiedlicher Kontexte und Konstellationen des Händchenhaltens (in Krisensituationen, zwischen Erwachsenen und Kindern, in Paarbeziehungen etc.) gelang es GOFFMAN, sowohl Normierungen des Händchenhaltens zu systematisieren als auch unkonventionelle Gebrauchsweisen zu erfassen, durch die konventionelle Verhaltenserwartungen demonstrativ infrage gestellt werden. [56]
In Ergänzung korpusanalytischer Vergleiche erlauben einzelfallanalytische Kontrastierungen die Identifikation spezifischer Regeln der Verwendung idiomatischer Formen sowie Möglichkeiten der Abweichung, darüber hinaus aber auch die Identifikation von bis dahin nicht beachteten Aspekten jeweils zugrundeliegender Lebensprobleme. [57]
Keine Forschungsarbeiten liegen meines Wissens bislang zur quantifizierenden Analyse der Gebräuchlichkeit bestimmter visueller Idiome vor. Solche Fragen des "Beweises" (GOFFMAN 1981 [1971], S.107) werden dann relevant, wenn es darum geht, die Gebräuchlichkeit bestimmter Idiome in spezifischen Institutionen, Medien oder Milieus zu ermitteln oder einander gegenüberzustellen oder aber um den Wandel bestimmter Idiomatiken historisch nachzuzeichnen. Mitnichten also würden quantifizierende Analysen und kontrastierende Einzelfallanalysen bzw. interpretative Korpusanalysen "paradigmatische" Gegensätze darstellen. Vielmehr müssen diese – im Sinne unterschiedlicher "Abstraktionsniveaus" (KLEINING 1986, S.726) wissenschaftlicher Methoden – einander ergänzen: Während sich fall- und korpusanalytische Verfahren wie die genannten durch ein hohes Maß an Offenheit und Sensibilität gegenüber Unterschieden in sozialweltlichen Praktiken des Handelns, Gestaltens und Kommunizierens auszeichnen (und insofern auch als "qualitativ" bezeichnet werden), wird bei standardisierten bzw. quantifizierenden Verfahren von solcherlei Offenheit und Sensibilität zugunsten von Auswertungen großer Datenmengen abgesehen (wie sie z.B. zur Klärung von Fragen der Gebräuchlichkeit notwendig sind). Gleichwohl, während Fragen nach der Gebräuchlichkeit erst dann bearbeitet werden können, wenn diejenigen kommunikativen Repertoires, deren Gebräuchlichkeit bestimmt werden soll, bereits ermittelt sind, setzen Analysen des kommunikativen Repertoires einer Idiomatik forschungslogisch keine Untersuchungen ihrer nominellen Gebräuchlichkeit voraus. [58]
Der hier unterbreitete Vorschlag, GOFFMANs Terminologie zu erweitern und statt von rituellen Idiomen im engeren Sinne von visuellen Idiomen in einem weiteren Sinne zu sprechen, ist durch das Anliegen motiviert, solch phrasenhafte Formen der visuellen Sozialkommunikation grundbegrifflich zu erfassen und damit einen auch methodologischen Beitrag zu deren Analyse zu leisten. GOFFMAN selbst hat mit seinen Arbeiten über konventionalisierte Formen der Selbstdarstellung bereits Grundlegendes herausgearbeitet. Gleichwohl verändern sich mit gegenwärtigen Technisierungsprozessen die Strukturen und Möglichkeiten visueller Sozialkommunikation signifikant (siehe exemplarisch AIELLO & PARRY 2020; BRECKNER & MAYER 2022; FROSH 2018). Zum einen überschreiten digitale Formen und Medien die Welt in potenzieller körperlicher Reichweite, so dass sich zwischen körperlicher und medialer Selbstdarstellung komplexe Wechsel- und Ergänzungsverhältnisse ausbilden, die in der Literatur bisweilen auch als "Self-Representation" (THUMIM 2012) beschrieben werden. Zum anderen stellen sich mit der Alltagsverfügbarkeit (post-)fotografischer digitaler Verfahren und Plattformen neue Möglichkeiten und Formen nicht nur der Selbstdarstellung ein, sondern auch der Fremddarstellung und des intersubjektiven Austauschs von bildhaften Darstellungsformen. Und mehr noch, wenn medial verfügbare Bilder relativ einfach für Darstellungen aller Art unmittelbar umnutzbar werden, so bedeutet dies auch, dass jedes neue Bild, sofern es medial zugänglich wird, eine potenzielle Ressource auch für andere Selbst-, Fremd- oder Weltdarstellungen ist, d.h. für direkte mediale Weiterverarbeitungen in Form von Posts, Clustern, Memes etc. Die Bilddaten, mit denen es Sozialwissenschaftler*innen in ihrer Forschungsarbeit zu tun haben, sind dann nicht mehr nur oder vornehmlich indexikalische Manifestationen eines fotografischen "Es-ist-so-gewesen" (BARTHES 2016 [1989], S.87) oder Resultate gestalterischer Originalität, sondern potenziell immer auch Daten intersubjektiv geteilter und in ihrer Verwendungsweise konventionalisierter Formen des Austauschs zwischen Individuen oder zwischen Individuen und gesellschaftlichen Gruppierungen. [59]
Dass zwei Personen das Gleiche erkennen, wenn sie dasselbe Bild sehen, mag dem Zufall geschuldet sein, dem darstellerischen Geschick jeweiliger Bildproduzent*innen oder aber – und dies ist der wahrscheinlichste Fall – dem erwartbaren Rückgriff auf eine in einem bestimmten Kontext gebräuchliche Darstellungsform. Der letztgenannte Fall ist im Rahmen einer Analyse visueller Idiome von Interesse. Mit dem Vorschlag, GOFFMANs Terminologie zu erweitern und, über ihn hinausgehend, auch medientechnisch erzeugte und reproduzierte visuelle Idiome zu fokussieren, ist dieses Forschungsfeld indes noch nicht zur Gänze erschlossen. Im Gegenteil, eben jene Aspekte, die eine Erweiterung der Terminologie motivieren, verweisen zugleich auch auf neue Forschungsfragen. Diese betreffen unter anderem die Vielfalt (technisierter) idiomatischer Formen und ihrer Gebrauchsbedeutungen, die mediale und soziale Komplexität ihrer Genese und nicht zuletzt die Möglichkeiten ihrer Systematisierung. Der Begriff des visuellen Idioms ist hierbei nicht Selbstzweck, sondern dient – als konzeptueller Begriff – der Analyse, dem Verständnis und letztlich der Formulierung einer Theorie der sozialen und kommunikativen Konstruktion intersubjektiv geteilter Bild- und Sehwelten. [60]
Mein Dank gilt den beiden Gutachter*innen dieses Beitrages, deren zahlreichen weiterführenden Hinweisen ich hier nur zum Teil nachgehen konnte, ferner Winfried THIELMANN für seine Hinweise auf die Arbeiten Helmuth FEILKEs und nicht zuletzt Roswitha BRECKNER und Anne SONNENMOSER, deren Kritik ich sehr viel verdanke.
1) Die analytische Fokussierung auf den pragmatischen Gebrauch konventionalisierter Artikulationsformen (LUCKMANN 1980, 2017) ist für das hier dargestellte Konzept visueller Idiome zentral. In diesem Aspekt unterscheidet sich ein sozialwissenschaftlich-analytisches Begriffsverständnis auch von (wenn ich recht sehe: eher seltenen) kunstwissenschaftlichen Gebrauchsweisen des Terminus. Folgt man GOFFMANs Konzeption – und mit ihm der analogen wissenssoziologischen Auffassung, dass soziale Kommunikation vor allem auch in Bezug auf jene "nicht eigentlich kommunikativen Lebens-Probleme" (LUCKMANN 1980, S.163) von Interesse ist, die kommunikativ verhandelt und bearbeitet werden – so sind es diese lebensweltlichen Problembezüge, die systematische Analysen visueller Idiome soziologisch motivieren. <zurück>
2) In methodischer Hinsicht wende ich das aus den Arbeiten GOFFMANs im Sinne einer Analogiebildung (LENZ 2008) abgeleitete Konzept des visuellen Idioms auf konkrete Fallbeispiele an und nutze die so gewonnenen Einsichten zum Zwecke einer begrifflichen Präzisierung eben dieses Konzeptes. Es geht mir also um das, was Max WEBER eine "verfeinerte Herausarbeitung von Begriffen" (1988 [1922], S.5) nannte, d.h. um die Weiterentwicklung eines Konzeptes auf der Grundlage fallanalytischer Einsichten. Zur Verwendung oder Durchführung von Fallanalysen als Instrumente der Begriffs- bzw. Theoriebildung vgl. auch HARRISON, BRINKS und MILLS (2017), KRAIMER (2000, S.201-237) und MAYNTZ (2002). <zurück>
3) Vom Standpunkt hypothetischer Möglichkeiten aus mag man an dieser Stelle die weiterführende Frage stellen, ob der Begriff des visuellen Idioms nicht auch über die Sprache-Bild-Differenz hinaus auf medientechnisch komplexere kommunikative Formen (etwa im Bereich von Text-Bild-Ton-Sequenzen) erweitert werden kann. Abgesehen davon, dass solch komplexere kommunikative Formen bzw. Institutionen bereits im sozialtheoretischen Phänomenbereich "mediale[r] Gattungen" (AYASS 2011) liegen dürften, scheint es mir in jedem Fall zweckdienlich und auch erforderlich, die Struktureigenschaften visueller Idiome gesondert zu thematisieren: dies zum einen in Hinblick auf die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Phänomenen der visuellen Sozialkommunikation und auf aktuelle Herausforderungen der Analyse komplexer Bilddaten und Bilddatenbestände, zum anderen aber auch insofern, als der Sprache-Bild-Differenzierung – so kritikwürdig sie in manch anderer Hinsicht auch sein mag – kommunikationssoziologisch signifikante und nicht zuletzt auch methodisch zu berücksichtigende Unterschiede bezüglich der Produktion kommunikativer Bedeutung zu Grunde liegen (BRECKNER 2010; GOFFMAN 1979 [1976]; LANGER 1962 [1942]). Zu den besonderen Struktureigenschaften figurativen Gestaltungswissens und der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen sequenzanalytischen und figurativ operierenden hermeneutischen Verfahrensweisen vgl. ausführlicher MÜLLER (2022, 2025). <zurück>
4) Alle drei Idiomatiken wurden in den Arbeitszusammenhängen eigener Forschungsprojekte rekonstruiert und werden hier explorativ genutzt. Sie sind m.a.W. kein Bestandteil eines eigens zu diesem Zwecke erstellten Stichprobenplanes. Ein solcher setzte jenes Vorwissen voraus, das im Rahmen offen-explorativer Arbeiten wie der vorliegenden erst erarbeitet werden muss (KELLE & KLUGE 2010 [1991], S.50-55.) Bei den genannten Arbeitszusammenhängen handelt es sich um die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekte Das Selbstbild in der Bilderwelt. Zur Soziologie der Person und ihrer Figuration in bildmedialen Beobachtungs- und Bewährungsanordnungen, Stile des Lebens 2.0 – Zur Genese und Struktur querläufiger Vergesellschaftung und Social Displays. On the Accountability of Embodied Digital Technologies in Everyday Life (SFB 4010/Teilprojekt D04). <zurück>
5) Erklärungen der darstellerischen Funktionsweise bzw. der Genese bildhafter Formen als Gestaltungen, durch die das anschauliche Differenzierungsvermögen adressiert wird, finden sich bei BOEHM (2017 [2007]), GOFFMAN (1979 [1976]), JONAS (1961), MÜLLER (2019) und SOEFFNER (2014). <zurück>
6) GOFFMAN hat ein solches Verfahren in "Geschlecht und Werbung" zumindest skizziert (MÜLLER 2022). Im Ansatz geeignete Prinzipien sind aber auch durch Verfahrensweisen der seriell-ikonografischen Bildanalyse (PILARCZYK & MIETZNER 2005), der figurativen Hermeneutik (MÜLLER 2012), der visuellen Grounded-Theory-Methodologie (MEY & DIETRICH 2016) und der Social Semiotics (AIELLO & PARRY 2020) formuliert worden. <zurück>
7) GOFFMAN stellte die Ergebnisse seiner Untersuchung dementsprechend in Form von Bildtafeln dar, um jeweils besondere Aspekte der untersuchten Ausdrucks- und Darstellungsformen sowohl bildanschaulich als auch durch kurze, begleitende Kommentare kenntlich werden zu lassen. Methodisch gesehen haben diese Bildtafeln – in "Geschlecht und Werbung" sind es 62 – eine doppelte Funktion. Einerseits sind sie diejenige Organisationsform, in der sich die empirische Vergleichsarbeit vollzieht und kontrastiv ausdifferenziert. Andererseits dokumentieren sie diese Arbeit und sind Teil der Belegstruktur seiner Untersuchung. Mit seinen Bildtafeln (und den diesen zugrundeliegenden Unterteilungs- und Kommentarprinzipien) fand GOFFMAN einen Modus Operandi der Auswertung von Bilddaten, der den Präzisions- und Abstraktionsanforderungen wissenschaftlicher Aussagesysteme und Argumentationsketten Genüge leisten kann. Zur Weiterentwicklung solch analytischer Bildtafeln vgl. MÜLLER (2025). <zurück>
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Michael R. MÜLLER ist Professor für Visuelle Kommunikation und Mediensoziologie der Technischen Universität Chemnitz und Geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Medienforschung. Er ist Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und derzeitiger Sprecher der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. MÜLLER leitete mehrere Forschungsprojekte im Bereich der visuellen Soziologie und entwickelte die "Figurative Hermeneutik" sowie die "Bildclusteranalyse" als methodologische Zugänge zur hermeneutischen Interpretation komplexer Bilddaten. Zuletzt lagen seine Arbeitsschwerpunkte auf der Analyse alltäglicher Gebrauchsweisen digitaler Bildmedien, der Technisierung von Wissen und der soziologischen Ästhetik.
Kontakt:
Prof. Dr. Michael R. Müller
TU Chemnitz
Philosophische Fakultät
Institut für Medienforschung
Thüringer Weg 11, 09111 Chemnitz
E-Mail: michael-rudolf.mueller@phil.tu-chemnitz.de
URL: https://www.tu-chemnitz.de/phil/imf/viskom/leitung.php
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