Volume 6, No. 2, Art. 17 – Mai 2005

Rezension:

Heiko Grunenberg

Jo Reichertz (2003). Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung (Reihe Qualitative Sozialforschung – Band 13). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 116 Seiten, ISBN 3-8100-3595-5, EUR 10,90

Zusammenfassung: Jo REICHERTZ bietet mit seinem Buch "Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung" einen umfangreichen Einblick in das Phänomen der Abduktion und geht dabei zum Teil über die der Publikationsreihe zugedachten Stellung als Grundlagenwerk hinaus. Er arbeitet den Begriff aus den Überlegungen Charles Sanders PEIRCE' heraus und unterzieht ihn einer ausgiebigen Prüfung. Schließlich leitet er daraus konkrete Implikationen für die Praxis qualitativer Sozialforschung ab. REICHERTZ bringt dabei zahlreiche Mythen und Hoffnungen ins Wanken, die nicht selten mit abduktivem Vorgehen hineingelegt worden sind. Dadurch ist das Buch ebenso aufschlussreich wie ernüchternd. Aus eben diesen Gründen ist die Lektüre zwar sehr empfehlenswert für alle, die an methodologisch gut untermauerter empirischer Forschung interessiert sind, denn es werden Anknüpfungspunkte für methodische Laien, wie auch für sehr fortgeschrittene Lesende geboten. Den Spielraum für abduktive Vorgehensweisen schränkt es allerdings in berechtigter Weise ein. Das Buch ist ein gelungenes Beispiel dafür, das die Auseinandersetzung mit oftmals knochentrockenen aufbereiteten methodologischen Themen auch auf eine heitere und Interesse weckende Art geschehen kann.

Keywords: Abduktion, Induktion, Deduktion, Methodologie, Forschungspraxis, logisches Schließen, Pragmatismus, Hypothesenbildung, Logik des Entdeckens

Inhaltsverzeichnis

1. Eine zu füllende Lücke

2. Ein wurmstichiger Pilz

3. Was bleibt und was nützt es?

4. Was tun und wie?

5. Gesamteinschätzung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Eine zu füllende Lücke

Unter Abduktion wird für gewöhnlich ein Verfahren des hypothetischen Schließens verstanden, das neben Deduktion und Induktion in die Logik einführt worden ist. Dabei bestehen einige Probleme hinsichtlich der Gesichertheit des geleisteten Schlusses, da nicht sicher ist, dass die durch Forschende aufgestellte Gesetzmäßigkeit, die meist am Ende des Verfahrens steht, die zutreffende ist. Unklar ist bisweilen sogar, ob die Abduktion formal gesehen überhaupt eine Form des hypothetischen Schließens darstellt. Diese beiden Fragen, werden später noch interessieren. [1]

Nun mag es zunächst ein wenig überraschen, einen eigenen Band in der bewährten Reihe "Qualitative Sozialforschung: Praktiken – Methodologien – Anwendungsfelder" herauszugeben, der sich einer derartig forschungslogisch-abstrakten und daher vertrackten Thematik wie der Abduktion zuwendet, zumal diese abseits des Lehrbuchkanons lange Zeit ein nur Spezialisten zugängliches Instrumentarium darstellte. Auf den zweiten Blick allerdings schwindet die Überraschung schnell, denn die aktuelle Stellung der Abduktion im Feld empirischer Sozialforschung erfüllt alle von den Herausgebern der Reihe zugedachten Kriterien, die eine Abhandlung innerhalb dieses Rahmens rechtfertigen: Das Erfordernis einer kompetenten Einführung in die Thematik, die wichtiges Grundlagen- und Praxiswissen über Verfahren, Methode und Anwendung zu vermitteln vermag. Ferner stillt es den Bedarf nach einem Nachschlagewerk zur Abduktion, das Forschenden in ihrer Forschungspraxis mit Rat und Tat zur Seite steht. Insbesondere im Falle der Abduktion kommt jeglicher Versuch des Bezugs auf Forschungspraxis in der Art jener Reihe nicht ohne eine akribische und dezidierte theoretische Vorleistung aus, deren Notwendigkeit aus einer immer noch nicht ausgeräumten Konfusion um die Abduktion bzw. der Art und Weise des Schließens herrührt. Jo REICHERTZ, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, stellt sich in seinem Band nicht nur diesen Schwierigkeiten, sondern auch den besonderen Vereinnahmungen, die eine Auseinandersetzung mit den schier unübersichtlichen Schriften von Charles Sanders PEIRCE, dem maßgeblichen Vater der Abduktion sowie seinen deutschen Übersetzungen, den Wissenschaftstreibenden für gewöhnlich abverlangt (vgl. PEIRCE 1982-2000). Das Ergebnis kann als ausgesprochene "Fleißarbeit" bezeichnet werden, die, soviel sei vorweggenommen, in vieler Hinsicht Klarheit schafft und für viele an Forschungstheorie, wie Praxis aufschlussreich ist. Nach Maßgabe des Veröffentlichungsrahmens verfolgt die Abhandlung dabei selbstverständlich nicht immer alle grundlegenden Konzeptionsstränge, z.B. der Philosophie, der Semiotik, der Psychologie, der Hermeneutik oder der Logik bis in deren tiefste Tiefen, ohne letztlich dennoch deren jeweiligen immanenten Implikationen zu vernachlässigen. [2]

Wie REICHERTZ im einleitenden Kapitel zu "Ansprüchen und Hoffnungen" beschreibt, liegt das Ziel dieses Buches darin, die Vielzahl an unterschiedlichen Konzepten der Abduktion in der qualitativen Sozialforschung zu beseitigen. Ex negativo gewendet soll demnach einmal verbindlich herausgearbeitet werden, was der Begriff nun repräsentiert und was nicht. Dies erscheint notwendig, da so genannte abduktive Vorgehensweisen in Forschungsberichten immer häufiger angeführt werden. Notwendig ist es zudem nicht zuletzt, weil sich im Dunstkreis der Abduktionsthematik zahlreiche Unerfreulichkeiten angesammelt haben. Daher stellt der Autor seinen begrifflichen und inhaltlichen Klärungsbemühungen zunächst eine Darstellung des Status Quo innerhalb der Forschungspraxis voran. Darin wird einerseits evident aufgezeigt, aus welchen Gründen dieser Begriff derzeit haussiert und andererseits darauf verwiesen, welche Funktionsüberladung damit einhergeht. [3]

Um Klärung herbeizuführen, widmet sich REICHERTZ fünf Fragekomplexen. Diese bilden gleichsam den Plot des Buches:

In Richtung der oben angeführten Ziele sind zwei Wege beschreitbar: Zum einen kann in den Aussagen des Nestors PEIRCE selbst nach eindeutigen Ausführungen mit verbindlichem Charakter gesucht werden, zum anderen stellt man sich "On the Shoulders of Giants", in Anlehnung an das Gleichnis des DIDACUS STELLA, wonach Pygmäen auf den Schultern von Riesen mehr sehen können als die Riesen selbst. Wir Kleinen also auf den Schultern des Giganten PEIRCE würden dann über dessen Sicht hinausgehen können. Zu diesem Zweck sollten dann der neueste Stand der benachbarten Disziplinen herangezogen werden und der Gegenstand detailliert umzingelt werden. REICHERTZ geht wohlwissentlich beide Wege, frei von jeglicher Autoritätenverehrung und sucht sein Glück nicht einzig in der Exegese. Freilich kann eine exegetische Analyse nur von geschichtlichem Wert sein, ohne an dieser Stelle auch nur im Ansatz die Leistungen des großen Pragmatisten schmälern zu wollen! Die meisten spannenden Erkenntnisse des vorliegenden Buches sind demnach an den vielen Stellen zu finden, an denen sich der Autor zugleich mit Respekt und Ketzerei, so zusagen auf den Schultern PEIRCE' stehend, an diesem abarbeitet. [5]

2. Ein wurmstichiger Pilz

Der kritischen Auseinandersetzung entsprechend ist erfreulicherweise das Kapitel, das den Nucleos der Arbeit bildet, nämlich die Besonderheiten der Abduktion, überschrieben mit "Peirce und darüber hinaus" (S.17). "Nützlich" für REICHERTZ' Betrachtungen solle dabei die Zugrundelegung der pragmatistischen Maxime, nämlich der praktischen Auswirkungen von Begriffszuschreibungen sein (vgl. S.21). Wobei die Bezeichnung "nützlich" hier sehr bedacht gewählt wurde, da eben diese Programmatik auf eine angenehm unaufdringliche Weise nicht durchgehend bestimmend ist. [6]

Methodologisch orientierte Lesende mit kleinem Zeitbudget sollten sich dieses zweite Kapitel vornehmen: Hier werden Ross und Reiter benannt bzw. wird zumindest benannt, wer Ross und Reiter nicht sind, nämlich eine Allround-Waffe gegen alle Probleme im Vorgang der Theorien-Generierung und der leuchtende Pfad der Erkenntnisgewinnung. Um letztlich zu einer Positivliste zu gelangen, agiert der Autor mit dem Gegenstand seines Buches in der Art eines Pilzsuchers, der ein schönes Exemplar erspäht, welches sich leider aus der Nähe als wurmstichig erweist. Wie alle Pilzsuchenden schneidet er Stück für Stück von außen nach innen den Wurmfraß aus. Im Falle unseres Pilzes sogar ziemlich großzügig und schneidet vehement in den Pilzkörper hinein, um dann ein kleines Stückchen des einstmals prunkenden Exemplars in den Sammelkorb zu legen. Für die Nicht-Pilzsammelnden sei angemerkt, dass diese Praxis oftmals Frust hervorruft und viele Sammelnde (die ich als Typus zu spezifizieren nicht in der Lage bin) dazu veranlassen kann, das verbleibende Etwas in der Hand in die Schonung zu schleudern, wenngleich es fraglos gut essbar gewesen wäre. Nicht so der Pilzsucher aus Essen, der sich vom vormaligen Zustand des Fundes nicht irritieren lässt, sondern akribisch und gewissenhaft weiter herausschneidet, um schlussendlich zufrieden ein kleines wohlschmeckendes Steinpilzfragment vorsichtig in seinen Korb zu legen. [7]

Bei alldem gilt es zunächst für REICHERTZ, eine begriffliche Schneise zu schlagen zwischen einigen sich nahe stehenden Begriffen. Um der Abduktion auf die Spur zu kommen, beginnt er mit einer Untersuchung der recht artgleichen Hypothesis. Im Zusammenhang mit Abwägungen zum Verhältnis von Erkenntnisprozessen und Syllogismen taucht dann auch das bekannte PEIRCEsche illustrierende Beispiel für drei logische Operationen, Deduktion, Induktion und Hypothesis auf, das gerne in Lehrbüchern verwendet wird, da es von einigem didaktischen Wert ist . Danach soll aus zwei bekannten Größen auf eine unbekannte Größe geschlossen werden. Der hier beschriebene Schlussfolgerungs-Modus ist folgender: Es besteht eine Regel, nämlich alle Bohnen aus einem Sack sind weiß; ein Resultat, eine Anzahl Bohnen auf dem Tisch sind ebenfalls weiß und schließlich die Unbekannte in Form einer neu konstruierten inhaltlichen Verbindung: Diese Bohnen sind aus diesem Sack. An diesem Beispiel tritt die Crux zu Tage: Wie gültig ist die Unbekannte? Mit welcher Berechtigung kann auf sie geschlossen werden? [8]

Mit viel Witz und anhand zahlreicher Fallbeispiele zeigt der Autor völlig richtig auf, dass am Ende nicht viel übrig bleibt von diesem Modus des hypothetischen Schließen außer der Induktion und der Deutung. Dennoch konstatiert er, von letzterem nicht weiter überrascht: es wird etwas Neues gefunden, nur beruht das Neue nicht auf einem syllogistischen Schluss. "Logisches Schließen vermehrt nicht die Erkenntnis, es macht das Bekannte nur deutlicher" (S.34). Ferner handele es sich um eine Unterordnung eines Falles unter eine Regel, nicht um eine Folgerung, die Neues oder Unbegriffenes auffände. [9]

Im Fortgang fällt auch von der Abduktion einiger Glanz ab, der von ihr und auch von PEIRCE indessen nie statuiert wurden. Zwar gibt es einen klaren Ablauf, der im "Beseitigen der Überraschung durch eine neue Regel" endet. REICHERTZ hält jedoch die Beschreibung der Abduktion mit den Begriffen der klassischen Logik für eine Verklärung zur logischen Operation. Denn die Entstehung der Regel bleibt unbestimmbar im Dunklen – sogar der Begriff "Raten" wird erwähnt. [10]

Für Viele mag es ernüchternd klingen, wenn der Autor zitierend resümiert: "Abduktion ist ein einzigartiges Durcheinander, gekennzeichnet durch ihre Allgegenwart, ihre Zuverlässigkeit und ihre Unbegründbarkeit" (S.56). All deren Hoffnung in wissenschaftstheoretische Ausführungen und auf forschungspraktische Handhabbarkeit müssten demnach stark gedämpft werden. Für andere dürfte sich von Neuem zeigen, dass kein anderes als das am Positivismus orientierte Weltbild wissenschaftliche Kriterien an die Hand gibt, die hier nicht erfüllt sind und somit an dieser Stelle das Buch wiederum dem Wertstoffkreislauf zuführen. Wieder andere, zahlenmäßig wenige, zu denen auch der Essener Kommunikationswissenschaftler gehört, dürften von der anscheinenden Degradierung wenig irritiert sein und sich nicht genötigt sehen, die Abduktion zu entsorgen. Freilich kommt es dennoch einer Gradwanderung gleich, zu postulieren, dass das Verfahren letztlich nicht den Gesetzen des logischen Schließens unterworfen ist. Aber schließlich ist zum Problem der Entdeckung von Neuem in der Wissenschaft bzw. den Kriterien von Wissenschaftlichkeit und den damit verbundenen Implikationen in den vergangenen Jahrzehnten das Nötigste gesagt worden. Dem gemäß spricht REICHERTZ nicht durch die Blume und macht niemandem falsche Hoffnung, da Abduktion allgemein bezeichnet wird als "die Gesamtheit aller geistigen und gehirnphysiologischen Prozesse, die zum Entstehen einer neuen Überzeugung führen" (S.57). Insbesondere hier liegt die Crux, die dazu führt, dass der Ansatz von den einen ad acta gelegt wird und von den anderen trotz scheinbarer Unwissenschaftlichkeit eine Daseinsberechtigung zugeschrieben bekommt: Abduktionen ereigneten sich, kämen unerwartet wie ein Blitz und ließen sich nicht willentlich herbeizwingen. Weiter verdankten sie ihre Zuverlässigkeit weder der Logik noch der Magie, sondern der Phylogenese der Menschheit. (ebd.) [11]

3. Was bleibt und was nützt es?

Was REICHERTZ damit nach einer lesenswerten Herleitung übrig lässt, hat nicht mehr das Zeug zum Mythos. Abduktion wird von einer sozialwissenschaftlichen Methode in eine bestimmte Form des Denkaktes gewendet (S.60). "Abduktion ist nicht die Anwendung eines Codes, einer Regel, sondern Abduktion ist die Erfindung eines Codes, einer Regel" (S.62). Die für gewöhnlich dafür gelieferte Letztbegründung, die Verlagerung in die Gattungsgeschichte, ist zunächst wenig aufschlussreich aber auch konsequent und ehrlich. Weiterführend dürfte hier sicherlich eine Auseinandersetzung mit Jean PIAGETs struktur-genetischer Erkenntnistheorie sein (z.B. PIAGET 1984, 1988), die die Absicht verfolgt, Phylogenese und Ontogenese miteinander in einer Theorie der Erkenntnis zu verbinden. [12]

Insgesamt aber kann über diese Schwelle hinaus die Methodenliteratur kaum noch weiterhelfen – dennoch belässt es der Autor nicht hierbei und versucht, in seinem dritten Kapitel "Über die Quellen der Zuverlässigkeit von Abduktionen: Instinkt, Intuition, Logik oder Erfahrung" (S.67ff) ebenjene Black-Box zu öffnen, als welche Phylogenese zunächst konstatiert wurde. Eben hier liegt eine der wenigen Schwachstellen des Buches, denn die Argumentation stützt sich nahezu ausschließlich auf PEIRCEsche Gedankengänge, die zwar wissenschaftsgeschichtlich von großer Bedeutung sind, die aber kaum die anthropologische Basis für Sozialforschung des 21. Jahrhunderts darstellen können. Hier ist eine Chance vertan worden, aufschlussreichere aktuellere Ansätze hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die sozialwissenschaftliche Empirie einzubeziehen anstatt sich einzig auf humanphysiologisch völlig überholte Gedankengänge zu stützen. Nochmals sei hier auf die Arbeiten PIAGETs und ihre Rezeption verwiesen, in denen genaue Antworten auf Konstruktionsprinzipien in Phylogenese und Ontogenese gegeben werden. [13]

4. Was tun und wie?

Vom allerletzten Kapitel zur Metaphysik der Abduktion einmal abgesehen, das eine Art zusätzlichen Digestif nach dem Pilz-Gericht darstellt, findet das Werk sein eigentliches Ende mit den beiden für die Forschungspraxis relevantesten Kapiteln vier und fünf, die über die Verwendung von Abduktionen aufklären sollen. Der oben bereits erwähnten Leserschaft mit angespanntem Zeitkonto, die etwas für die eigene konkrete Forschungsarbeit in Erfahrung bringen möchte, seien diese Abschnitte ans Herz gelegt. [14]

"Sollte Zufall etwas mit Erkenntnis zu tun haben, dann kann man dem Zufall eine Chance geben oder sie ihm verweigern." (S.80) Ergo legt REICHERTZ hier dar, welche "Vorkehrungen, Einstellungen und Umgangsweisen" (a.a.O.) getroffen werden können, die abduktive Prozesse begünstigen. Darin besteht die zu lernende Lektion. Seine Ideen gehen daher allesamt in die Richtung, im Forschungsprozess eine abduktive Grundhaltung zu schaffen, einen Habitus des informierten Ratens (S.88). Dies betreffe sowohl die Datenerhebung als auch die Datenauswertung, so biete sich eine nicht allzu standardisierte Vorgehensweise und eine Vermeidung früher Festlegungen auf bestimmte Denkrichtungen an. Möglichst lang sollten die eigenen Wissensbestände ins Straucheln gebracht werden und die Forschenden sich in einen Zustand des Grübelns begeben. Letztlich würde alles in eine zu statuierende Hypothese münden, die anderswo überprüft werden kann oder sollte. [15]

Sehr viel weitreichender gehen die Vorschläge des Autors nicht; vielmehr noch, sie können (!) rein denklogisch kaum weiter gehen, wenn die Abduktion in der vorliegenden Art gefasst wird. Eine Enttäuschung oder Ernüchterung darüber dürfte sich aber lediglich bei Personen einstellen, die zuvor das Phänomen der Abduktion überschätzt haben. Durchgängig wird eine nüchterne und von abduktiver Haltung geprägte Sicht auf die Abduktion beibehalten. Nichtsdestotrotz dürfte das, was an Vorschlägen für die Forschungspraxis durch REICHERTZ herausgearbeitet wird, in der konkreten Anwendung nicht leicht zu erfüllen sein, wenngleich auch, und das ist das Interessante, jene im Buch beschriebene abduktive Grundhaltung, die Forschende einzunehmen haben sofern sie sich für Abduktion entscheiden, nicht nur spezifische Kohärenzen mit der Abduktion aufweist, sondern gar gut und gerne in einem Grundkurs zum wissenschaftlichen Arbeiten als Grundvoraussetzung für gelungenes Forschungshandeln dargestellt werden könnte. Folglich könnten von der abduktiven Haltung sich Viele etwas abschauen. [16]

5. Gesamteinschätzung

Der Entschluss der Herausgeber der Reihe "Qualitative Sozialforschung", einen Band der Abduktion zu widmen, ist überaus begrüßenswert. Jo REICHERTZ mit dieser Abfassung zu betrauen, lässt zunächst aufhorchen, zumal der Autor einem relativ spezifischen methodischen und methodologischen Hintergrund zuzuordnen ist, nämlich einer der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik verpflichteten Rahmung. Es hat sich aber aufs Neue gezeigt, dass dies weder zu überkommenen dogmatisch-methodischen Blickverengungen oder inhaltlichen Einseitigkeiten führen muss. Im Gegenteil sind die Ausführungen geprägt von erfrischender Distanz zum Gegenstand und tendenziell infragestellender Ergebnisoffenheit, abwägend und unaufdringlich, ganz im Stile der eigenen abduktiven Maßgaben. Die Herleitungen erfolgen unverkrampft und ungestelzt sowie anhand von zahlreichen Beispielen, wie es von einem solchen Band zu erwarten ist. [17]

Leider verlangt das ausführliche Kernkapitel, bei aller Validität, den Lesenden eine unverhältnismäßig große Konzentrationsleistung ab. Hier ist es REICHERTZ nur partiell gelungen, Ordnung in das PEIRCEsche Begriffs-Tohuwabohu zu bringen. Viel Seitenblätterei oder Exzerption ist nötig, um die Menge sich nahe stehender Begriffe erfassen zu können. Wer dies auf sich nimmt, gewinnt jedoch einen Überblick über den Gegenstand "Abduktion" in Theorie und Praxis und kann die Ausführungen und Erkenntnisse sicherlich in der eigenen Arbeit gewinnbringend nutzen. Das Nutzbringende ist hier das Ehrliche des Autors: Stück für Stück entzaubert er einen Mythos und versucht, für die qualitativer Sozialforschung Relevantes aus dem verbleibenden Rest herauszuholen. Da die Abduktion einiges an Substanz verliert, ist letzteres nicht grade umfänglich und mag enttäuschend anmuten – dennoch ist dies nichts anderes als aufrichtig, schließlich ist die Funktionsüberladung des Begriffs, die sich angesammelt hat, und die hier beseitigt wird, nicht REICHERTZ anzulasten. [18]

Summa summarum lautet das Urteil: Daumen hoch! Ein wichtiges Buch am richtigen Ort, angesichts des zu beklagenden Umgangs mit der Abduktion, die nämlich in der Praxis weit verbreitet ist, ohne dass eine merkliche methodologische Auseinandersetzung jener Praxis vorausging. Selbst bereits vorhandene methodologische Bearbeitungen klammern Praxisrelevanz fast gänzlich aus, sodass deren Nachhall bis dato merkwürdig hermetisch bleibt. Exakt hier setzt das Buch an und liefert über den Duktus eines Lehrbuches hinausgehend wertvolle Facts für Theorie und Praxis. Die Lesenden, denen der Luxus zusteht, sich ausgiebig Zeit nehmen zu dürfen, können viel gewinnen, den Übrigen droht dagegen unter Umständen Verwirrung. Hier verhält es sich abermals wie beim Sammeln von Pilzen, auch dort ist es erforderlich, Ausdauer beim Suchen mitzubringen, sich einige Kenntnis der verschiedenen Arten anzueignen und gegebenenfalls einen Bogen um minderwertige Pilze zu machen. REICHERTZ' Pilzmahlzeit schmeckt gut, nicht zuletzt weil bei der Zubereitung viel weggeschnitten und der kleine aber feine brauchbare Rest anregend serviert wurde. [19]

Literatur

Peirce, Charles Sanders (1982-2000). Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition. Hrsg. von dem Peirce Edition Project, Bloomington. (Bislang 6 Bände).

Piaget, Jean (1984) Psychologie der Intelligenz (8. Auflage). Stuttgart: Klett Cotta. (Orig. 1947: La psychologie de l'intelligence. Paris: Armand Colin).

Piaget, Jean (1988). Einführung in die genetische Erkenntnistheorie (4. Auflage). Frankfurt/M.: Suhrkamp. (Orig. 1970: Genetic Epistemology. New York: Columbia University Press).

Zum Autor

Heiko GRUNENBERG ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Er hat bisher in verschiedenen qualitativen und quantitativen empirischen sozialwissenschaftlichen Projekten gearbeitet. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden und ihre Methodologie, insbesondere die Computer-Aided-Qualitative-Data-Analysis; der strukturgenetische Ansatz in der Soziologie sowie Umweltsoziologie.

Kontakt:

Heiko Grunenberg

Philipps-Universität Marburg
Institut für Erziehungswissenschaft
Wilhelm-Röpke-Straße 6B
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E-Mail: grunenberg@mfg.li
URL: http://www.empirische-paedagogik.de/

Zitation

Grunenberg, Heiko (2005). Rezension zu: Jo Reichertz (2003). Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 17, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0502170.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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