Volume 6, No. 2, Art. 5 – Mai 2005

Rezension:

Reinhard Kacianka

Mathias Spohr (2003). Das gemeinsame Maß. Ansätze zu einer allgemeinen Medientheorie. Salzburg: Mueller-Speiser, 324 Seiten, ISBN 3-85145-081-7, EUR 32,-

Zusammenfassung: Der Autor wagt sich – wie viele vor ihm – daran, eine "allgemeine Medientheorie" formulieren zu wollen und scheitert – wie ebenso viele vor ihm – an den grundlegenden Aporien der Moderne. Sein Versuch, oppositionelle wissenschaftstheoretische Ansätze wie Systemtheorie und Poststrukturalismus interdisziplinär zu versöhnen und fruchtbar zu machen, verläuft sich in außergewöhnlicher Präzision, die letztendlich aber zur Redundanz ausartet. Ein kritischer und strenger Lektor hätte diesem opus doctum sed non docendum wahrscheinlich gut getan ... Schade, die Ausgangsüberlegung von Mathias SPOHR nämlich besticht durch Originalität: Die "Per-version" der Maßstäbe des Messens von einem Divinum zu einem Humanum und letztendlich zum Digitalum begründe medial die Paradoxien der Moderne und per-vertiere den Menschen letztendlich vom homo universalis zum homo functionalis.

Keywords: Anthropologie, Kultur- und Medienwissenschaft, Differenz-/Indifferenz, Technik- und Zivilisationskritik

Inhaltsverzeichnis

1. Opus doctum, sed non docendum

2. Produrre-superare-sopravvivere: Das Sich-Messen als condition humaine

3. Und bist Du nicht willig, ...

Anmerkung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Opus doctum, sed non docendum

Nun bin ich klug so wie zuvor. Bin ich ein Tor? – Nachdem ich mich durch mehr als 300 Seiten intellektueller Assoziationen von Mathias SPOHR gearbeitet habe (gequält, wäre übertrieben), bin ich mir nur in einem Punkt sicher: Der sehr gelehrte Text hätte eines kompetenten und kritischen Lektors bedurft, um ihn tatsächlich auch lehrreich werden zu lassen. [1]

Mathias SPOHR unternimmt mit dem vorliegenden Text den Versuch, die wesentlichsten Aporien der Moderne damit zu begründen, "dass die westliche Zivilisation aus einer zwiespältigen Einstellung der christlichen Religion zum Messen entstanden ist" (Klappentext). Und dieses Messen ist für ihn das Medium schlechthin. Das Medium ist das Maß. Das Maß ist das Medium. [2]

Wort- und metaphernreich erläutert Mathias SPOHR seine "Ansätze zu einer allgemeinen Medientheorie". Er ist präzise in seinen Ausführungen. Manchmal nähert er sich in seinem Streben nach Präzision dem Duktus eines Niklas LUHMANN an. Wesentlich häufiger allerdings endet sein Hang zur Sprachgenauigkeit in der Redundanz. Seine erläuternden Beispiele wiederholen sich. [3]

Dabei verheißt ein Blick auf die Auswahlbibliografie kultur- und medienwissenschaftlich durchaus spannende Annäherungen. Von ADORNO über ANDERS bis zu SLOTERDIJK oder ZIELINSKI, von BAUDRILLARD über BENJAMIN bis zu VIRILIO oder WITTGENSTEIN; FOUCAULT darf natürlich genau so wenig fehlen wie GOFFMAN oder KITTLER. – Der Autor hat sich die bestimmt interessantesten Autoren zu einer medialen Anthropologie angelesen und erarbeitet. Allerdings: Im Sinne argumentativer Notwendigkeit huldigt SPOHR – der Verdacht hat sich bei mir eingeschlichen – damit postmoderner Bricolage. [4]

Ausgehend von der methodisch sauberen definitorischen Unterscheidung zwischen "technischem" und "sozialem Medium" setzt sich der Autor zunächst mit der "Messung" (S.13-92) auseinander. Er diskutiert in diesem Teil alt bekannte Probleme und Aporien der Beobachterperspektive, der Relativität von scheinbar objektiven Daten ("Der vereinheitlichte Blick erscheint als Objektivierung", S.51) kurzum: Ansätze konstruktivistischer Medientheorie, um die Grenze "zwischen Handeln und Funktionieren" (S.87) abzustecken. [5]

Im darauf folgenden Hauptkapitel über "Kausalität" (S.93-214) vermengt SPOHR unbekümmert Systemtheorie mit Konstruktivismus und Poststrukturalismus. Problematisch dabei ist vor allem, dass er seine Überlegungen um einen völlig unklaren Differenz-Begriff kreisen lässt. Dabei ist ihm zunächst die "Aufzeichnung [...] eine unüberwindliche Differenz" (S.129), deren Überwindung aber wenige Zeilen später dennoch "symbolisch geschehen" kann, "durch Imagination". Ob SPOHR hier auf LACAN anspielt oder KITTLER, oder ob er die Begriffe wie den Medien-Begriff selbst "vom alltäglichen, intuitiven Gebrauch des Wortes" (Klappentext) ableitet, wird nicht klar. Ähnliches ist ihm da auch beim Gebrauch des in der Medientheorie etwa von NOELLE-NEUMANN klar definierten und historisch etwa von HABERMAS eindrucksvoll geklärten "Öffentlichkeits"-Begriffs unterlaufen. [6]

Vollends diffus und immer öfter redundant werden die Ausführungen dann im dritten Hauptkapitel über "Zeremonielles" (S.215-319). SPOHR operiert hier mit kaum geklärten Vorstellungen von "entfernter" und "aktueller Welt", bringt plötzlich (S.268) "das Subjekt" wieder ins Spiel, das in all den von ihm bevorzugten wissenschaftstheoretischen Paradigmen längst verabschiedet worden ist oder er "beugt" Zivilisationstheoretiker wie ELIAS oder FOUCAULT im Sinne seiner Interpretationsnotwendigkeiten. Er wandelt symbolische in physische und wenig später physische in symbolische Differenzen/Ausgrenzungen (S.272f) und streift dabei zeitweise auch ein wenig an LACAN an. [7]

2. Produrre-superare-sopravvivere: Das Sich-Messen als condition humaine

Einem "Klassiker der Zivilisationskritik", nämlich Elias CANETTI, scheint sich Mathias SPOHR allerdings konsequent verweigert zu haben. Denn der Begriff des "Überlebenden" (CANETTI 1983, S.249-311) beleuchtet bereits die zwiespältige Einstellung der Menschen zum Messen, die SPOHR als historischen Hintergrund einer "traditionellen Verwechslung von Wirklichkeit und Aufzeichnung" (Klappentext) darzulegen versucht. [8]

CANETTIs "Überlebender" beherrscht das – von Massimo CACCIARI als "produrre-superare-sopravvivere" dargestellte – Dreieck der menschlichen Existenz, in dem das Sich-Messen eine condition humaine schlechthin ist. Indem der Mensch (sich/Verhältnismäßigkeit/etc.) pro-duziert,1) kann er besser sein als (der/die) Andere und sich nur deswegen des Überlebens versichern. [9]

Und bereits vor CANETTI hat Simone WEIL (1984) darauf hingewiesen, dass das Sich-Messen mit der Natur um zu überleben in den frühen Phasen der Gesellschaftlichkeit in weiterer Folge zum Sich-Messen mit den Anderen wird: dass Hierarchien, Machtstrukturen und menschliche Gewalt pervertierte Formen menschlicher Überlebensstrategien im Kampf um den Bestand der Spezies sind. Das Messen, das Sich-Messen als specificum humanum ist also so neu nun auch wieder nicht, wie Mathias SPOHR es darzustellen versucht. [10]

Und das Messen als Medium etablieren zu wollen, übersieht die Tatsache, dass die im Messen festgestellte Differenz erst dann bedeutend wird, wenn sie benannt werden kann. Das ist der Unterschied zwischen Information und Kommunikation. Das Maß ist ausschließlich sprachlich – und das heißt: medial-kommunizierbar. Dass der Mensch überhaupt auf den Plan der Schöpfung getreten ist, ist daher ein wesentlich mediales, nämlich: sprachliches Geschehen. Denn erst durch die Sprache, erst im Erwerb der Sprachfähigkeit scheidet sich der Mensch aus der Unmittelbarkeit der Schöpfung. Das Gleichnis von Adam und Eva etwa gewinnt in der Erläuterung des MAIMONIDES (1972, S.30-36) erhellende Bedeutung, der den Sündenfall als Erkenntnis der Differenz bestimmt: "und so erlangte er die Fähigkeit, die Wertdinge zu begreifen, und ergab sich der Ausübung der häßlichen oder schönen Handlungen" (a.a.O., S.33). [11]

Medientheoretisch ist das – anders als bei SPOHR – durchaus nachvollziehbar. Denn ein Zeichen wird erst dadurch Bedeutungsträger, wenn es arbiträr codiert und seine Negation impliziert ist. Oder systemtheoretisch gedacht: erst eine Differenz bewirkt einen kommunikativen Akt. Das heißt also nichts anderes als: der Mensch kann sich nur aussagen im Angesicht und Bewusstsein des Anderen, des von ihm Geschiedenen, Differenten. [12]

Erst die Erfahrung der HEIDEGGERschen "Unheimlichkeit des Daseins", der Widerständigkeit und der Bedrohlichkeit der Schöpfung, macht aus "Adam und Eva" jenes zoon symbolicon, das als "Adam und Eva" auch socialis wird. In dieser Erfahrung wird der paradiesische Zustand der Unmittelbarkeit, der Im-media-lität des Daseins, erschüttert durch die Antifolie der Todeserfahrung. Durch die Sprache als System der Kommunikation erfährt der Mensch seine Vergänglichkeit und seine gesellschaftliche Bedingtheit und: er kann seine Erfahrung mit-teilen. Renatus SCHENKEL nennt dieses Datum der Anthropogenese "Dominanzwechsel zum gesellschaftlich-historischen Prozeß" (1988, S.54). Das gemeinsame Maß ist also nicht das Messen, auch nicht die gemessene Differenz, sondern: die medial aussagbare Differenz. [13]

Dass natürlich im "Medial Turn" (MedienJournal Nr. 1/1999) die Differenz zusehender In-Differenz weicht und dass der Mensch sich vom visionierten homo universalis immer stärker zum homo functionalis degradieren lässt, hat aber im Gegensatz zu SPOHRs Ansicht weniger damit zu tun, dass das Maß das Medium ist, sondern damit, dass genau dieses Messen von einer göttlichen Instanz hin zur Maschine verlagert wird. Bereits BAUDRILLARD verweist mit seinem Konzept des "Simulakrum" auf jene Referenzlosigkeit, auf jene Indifferenz des Bildes und damit: des Begriffs in der e-quality des Cyberspace. [14]

3. Und bist Du nicht willig, ...

Zwar gesteht die postmoderne Wissenschaftstheorie dem Essay – beinahe – jede Freiheit zu, für meinen Geschmack aber geht Mathias SPOHR zu beliebig mit wissenstheoretisch oppositionellen Positionen um. So nach dem Motto "Bist Du nicht willig" versöhnt er Systemtheorie mit Poststrukturalismus oder (neo-) konservative Ansätze mit kulturpessimistischer Kritik. [15]

So beginnt er seine Ausführungen ganz im Stile systemtheoretischer Definitionsversuche von "Medium", um in weiterer Folge seinem Medienbegriff zugunsten argumentativer Notwendigkeiten verwaschen zu lassen. Eigentlich bleibt er es letztendlich schuldig, "Medium" auch nur annähernd definiert zu haben. Seine kulturwissenschaftlich und -historisch spannenden Beispiele aus seinem Fachgebiet verbindet er unter argumentativen Zugzwang allzu häufig mit medienwissenschaftlichen Erörterungen. [16]

Diese assoziativen Verbindungen erweisen sich nicht immer – und im Fortlaufen der essayistischen Annäherungen immer seltener – als der Analyse wirklich zuträglich. Mir hat sich eigentlich von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel immer stärker der Eindruck ausgeprägt, dass Mathias SPOHR seine Vorbereitungen zu einer sicher sehr spannenden Vorlesung mehr oder weniger unlekturiert in ein Manuskript gegossen hat. Doch die – für eine Vorlesung unbestreitbar wichtigen – Wiederholungen ersticken in Summe die intellektuell anregenden Überlegungen für eine "allgemeine Medientheorie" mit einer Überfülle an kulturwissenschaftlichen Querverweisen. [17]

Nun mag Medientheorie (oder -wissenschaft) noch keine allzu große Tradition haben, kulturwissenschaftliche Beliebigkeit herrscht aber auch in der "jungen" Medienwissenschaft nicht vor. Tatsächlich gibt es eine große Zahl unterschiedlichster und zum Teil einander konkurrenzierender theoretischer Ansätze wie sie etwa Stefan WEBER (2003) beispielhaft übersichtlich darstellt, eine "allgemeine Medientheorie" wie sie Mathias SPOHR zu entwickeln versucht, wird aber der Komplexität des Medial Turn und seiner gesellschaftlichen Auswirkungen und Zusammenhänge niemals gerecht. [18]

Eigentlich wirkt es vermessen, eine "allgemeine Medientheorie" formulieren zu wollen. Die Gefahr sich in "Allgemein"-plätzen zu verlieren, ist eindeutig zu groß. [19]

Anmerkung

1) Die Schreibweise verweist darauf, dass der Begriff in seinem etymologischen Ursprungssinn aufgefasst wird. <zurück>

Literatur

Canetti, Elias (1983 [1980]. Masse und Macht. Frankfurt/M.: Fischer.

Maimon, Mose Ben (1972). Führer der Unschlüssigen (Band I, Erstes Buch). Hamburg: Felix Meiner-Verlag.

MEDIENJOURNAL. Zeitschrift für Kommunikationskultur (1999). Medial Turn. Die Medialisierung der Welt, 1/1999.

Schenkel, Renatus (1988). Kommunikation und Wirkung. Gesellschaftliche und psychische Voraussetzungen medialer Kommunikation. Frankfurt/M.: Campus.

Weber, Stefan (Hrsg.) (2003). Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. Konstanz: UVK.

Weil, Simone (1984). Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und der sozialen Unterdrückung. In Gerd Bergfleth (Hrsg.), Zur Kritik der palavernden Aufklärung (S.34-123). München: Matthes & Seitz.

Zum Autor

Reinhard KACIANKA (Jg. 1957) ist Medien- und Kulturwissenschafter an der Universität Klagenfurt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Bereiche Medien- und Kulturwissenschaft; insbes. im Sinne von Medienästhetik und -ontologie.

Kontakt:

Reinhard Kacianka

Universität Klagenfurt
A-9020 Klagenfurt

E-Mail: reinhard.kacianka@uni-klu.ac.at

Zitation

Kacianka, Reinhard (2005). Rezension zu: Mathias Spohr (2003). Das gemeinsame Maß. Ansätze zu einer allgemeinen Medientheorie [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 5, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs050250.

Revised 2/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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