Volume 6, No. 1, Art. 36 – Januar 2005

"Inzwischen bin ich überzeugter 'Psychosomat'". Kasuistik einer jungen Erwachsenen mit Diabetes mellitus Typ 1 und ausgeprägter hyporektischer Ess-Störung

Barbara Bräutigam & Gerhard Danzer

Zusammenfassung: Wir berichten über eine 19-jährige Patientin mit Diabetes mellitus Typ 1 und einer ausgeprägten hyporektischen Ess-Störung, die wiederholt unter lebensbedrohlichen Blutzuckerentgleisungen litt. Anhand der Kasuistik soll exemplarisch gezeigt werden, inwieweit beide Krankheitsbilder ineinander greifen, sich gegenseitig beeinflussen und wie zwei in der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) beschriebene zentrale Konflikte in dieser Doppelerkrankung Ausdruck finden bzw. von den PatientInnen zur Konfliktbearbeitung funktionalisiert werden.

Bei der psychotherapeutischen Behandlung dieser in Kombination auftretenden Erkrankungen ist zu beachten, dass die TherapeutInnen die widersprüchlichen und ambivalenten Bedürfnisse der PatientInnen aushalten müssen und gleichzeitig nicht zu deren Spielball werden dürfen. Ein klares, abgegrenztes und mit den PatientInnen immer wieder zu besprechendes, aber nicht zu diskutierendes Behandlungsregime kombiniert mit einer auf Dialog, Fürsorge und Verständnis basierenden Psychotherapie ist notwendig, um mit diesen PatientInnen konstruktiv arbeiten zu können.

Keywords: Diabetes mellitus, Ess-Störungen, operationalisierte psychodynamische Diagnostik, Konfliktbewältigung, Einzelfallstudie

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Komorbidität von Ess-Störungen und Diabetes

3. Methode: Einzelfallstudie auf Grundlage der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

4. Kasuistik

4.1 Verlauf und Behandlung

4.2 Die therapeutische Beziehung

4.3 Diagnostische Einschätzung mit Hilfe der OPD

5. Diskussion

Literatur

Zur Autorin und zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Nachdem in einigen Studien ein signifikanter Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Ess-Störungen eher verneint wurde (ALLOWAY, TOTH & McCARGAR 2001, BRYDEN, NEIL, MAYOU, PEVELER, FAIRBURN & DUNGER 1999, ENGSTROM, KROON, ARVIDSSON, SEGNESTAM, SNELLMAN & AMAN 1999), weisen jüngste Untersuchungen darauf hin, dass Diabetes mellitus die einzige bekannte körperliche Erkrankung ist, die mit einem erhöhten Risiko für Ess-Störungen einhergeht (AFFENITO & ADAMS 2001, GOODWIN, HOVEN & SPITZER 2003, JONES, LAWSON, DANEMAN, OLMSTED. & RODIN 2000). Umgekehrt zählen Ess-Störungen zu der einzigen Form psychischer Erkrankungen, die erhöht bei DiabetikerInnen auftreten. In einer groß angelegten Untersuchung wurde darauf hingewiesen, dass Ess-Störungen bei jugendlichen Diabetikerinnen Typ 1 – eine im Jugendalter auftretende Diabetes-Erkrankung, die mit Insulinmangel infolge Zelluntergängen in der Bauchspeicheldrüse verbunden ist – sogar doppelt so oft wie in der Kontrollgruppe aufträten (JONES, LAWSON, DANEMAN, OLMSTED. & RODIN 2000). Eine andere qualitativ angelegte Studie fokussiert auf die subjektiv als beträchtlich empfundene Einschränkung der Lebensqualität unter Diabetes-PatientInnen Typ 1 ( KELLY, LAWRENCE & DODDS 2004). Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass im allgemeinen der psychische Störungsgrad bei Diabetes-PatientInnen Typ 2 – eine im Erwachsenenalter auftretende Diabetes-Erkrankung, die mit verminderter Insulinempfindlichkeit verbunden ist – höher liege als bei Typ 1 (HERPERTZ, ALBUS, LOHFF, MICHALSKI, MASROUR, LICHTBLAU, KÖHLE, MANN & SENF 2000, KRUSE, WÖLLER, SCHMITZ & POLLMANN). Wenn allerdings bei letzteren die Insulinzufuhr bewusst zwecks Gewichtsabnahme reduziert werde, sei dies in Anbetracht des damit verknüpften Risikos von diabetischen Spätschäden als sehr komplexes Störungsbild zu werten. Dies habe Aspekte einer Selbstschädigung, die als Hinweis auf eine gewichtige psychopathologische Störung verstanden werden müssen (ENDEPOHLS & HÜBNER 2002, HERPERTZ, ALBUS, LOHFF, MICHALSKI, MASROUR, LICHTBLAU, KÖHLE, MANN & SENF 2000). [1]

2. Komorbidität von Ess-Störungen und Diabetes

Bei jungen Diabetikerinnen zwischen 12 und 20 Jahren liegt die Auftretensrate der Anorexie bei gut 3% (allgemein 1-3%) (VANDEREYCKEN & MEERMANN 2000, WAADT 2002). Dies bedeutet eine in vielen Fällen vital bedrohliche Doppelerkrankung. Ein diabetesspezifischer Versuch der Gewichtsreduktion besteht darin, durch gezielte Insulinunterdosierung ("Insulinpurging") Glukose über den Harn auszuscheiden und somit die Energieverwertung zu reduzieren. Dies führt zu massiven Stoffwechselschwankungen. Im Jugendalter auftretender Diabetes mellitus (Typ 1) gilt als besonderer Risikofaktor für Ess-Störungen. Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter, zu denen u.a. die Entwicklung eines Selbst- und Körperbildes und von Eigenständigkeit zählen, wird durch das Auftreten von einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus erheblich erschwert (BRÄUTIGAM, WAGNER & SCHNITKER 2003). [2]

Bei den Ess-Störungen gelten kritische life events, wie z. B. realer oder imaginierter Verlust (z.B. von körperlicher Unversehrtheit) oder Trennungserlebnisse als Auslöser (GERLINGHOFF & BACKMUND 2000, LIEDTKE 1996). Dabei wird der individuelle Krankheitsverlauf durch dysfunktionale familiäre Interaktionsmuster oftmals negativ beeinflusst, so dass familientherapeutische Gespräche vielfach notwendig erscheinen (HERPERTZ-DAHLMANN 2002). Die Qualität familiärer Beziehungen hat einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf von Ess-Störungen (REICH & BUSS 2002). Ess-Störungen gehen mit Ablösungsproblemen von der Familie und mit einem erhöhten (oftmals Pseudo)-Autonomieverlangen einher; als ein Kern der anorektischen Störung kann zumeist die Unsicherheit der Patientin verstanden werden, die Grenze zum Gegenüber aufrechterhalten zu können (DANZER & RATTNER 1999, REICH & BUSS 2002). [3]

Bei der Behandlung solcher Doppelerkrankungen soll zwar die Interaktion der Krankheitsbilder beachtet werden, jedoch sollen in erster Linie akute Stoffwechselentgleisungen vermieden werden (WAADT 2002). Von systemisch orientierten Diabetes-BeraterInnen und Therapeutinnen wird allerdings auch verstärkt darauf hingewiesen, dass die Betreuenden und Behandelnden die Fähigkeit und die Bereitschaft mitbringen müssen, eigene Unsicherheiten und Begrenztheiten anzuerkennen und zu thematisieren.

"Dies widerspricht klassischen Rollenanforderungen an den ärztlichen Berufszweig und an den medizinischen Routinealltag, und so bleibt die ständige Verführung, die von Betroffenenseite ausgesprochene Einladung anzunehmen, zu 'wissen', wie die 'Lösung' aussieht und dafür zuständig zu sein, in welche Richtung es geht ..." (THEILING & von SCHLIPPE 2003, S.167). [4]

3. Methode: Einzelfallstudie auf Grundlage der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

Eine psychodynamische Einzelfallstudie stellt weniger einen objektiven Behandlungsverlauf dar, sondern reflektiert und fokussiert auf den subjektiv erlebten Therapieverlauf (FROMMER & LANGENBACH 2001, GRAWE 1988). Sie zeichnet sich nicht durch Repräsentativität, sondern durch eine dichte Beschreibung der während des Behandlungsverlaufs dokumentierten Beobachtungen, Phantasien, Reflektionen über den therapeutischen Prozess aus. In der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) sollen beobachtungsnahe, psychodynamische Konstrukte in Ergänzung zur phänomenologischen Diagnostik erfasst werden (ARBEITSKREIS OPD 1998). In den rein deskriptiven Klassifikationssystemen fehlen psychodynamisch orientierten TherapeutInnen beispielsweise Aussagen über das subjektive Krankheitserleben oder über die intra- und interpsychisch erlebten Konflikte. Die OPD setzt sich aus fünf Achsen zusammen.

Die nachfolgende Kasuistik wurde von uns zum einen aufgrund der außergewöhnlichen Schwere und Länge des Krankheitsverlaufs ausgewählt. Zum anderen kulminierten bei der Patientin anstehende Entwicklungsaufgaben und vital bedrohliche Krankheitssymptome zu einer existentiellen Lebenskrise, deren Bewältigung durch die Patientin die Therapeutin – zugleich Autorin dieses Textes – berührt und beeindruckt hat. [6]

Die viereinhalbmonatige Behandlung der Patientin erfolgte im stationären Setting einer Universitätsklinik, in der die PatientInnen im Durchschnitt drei Wochen bleiben. Das vorwiegend tiefenpsychologisch orientierte Behandlungsangebot setzt sich neben der rein medizinischen Versorgung aus ein bis zwei wöchentlichen Einzelgesprächen, mehreren gruppentherapeutischen Angeboten (Gesprächs-, Musik- und Kunsttherapie) sowie Physio- und sporttherapeutischen Angeboten zusammen. Daneben fließen auch verhaltenstherapeutische Elemente (die Stufen- und Verstärkerpläne bei den PatientInnen mit Ess-Störungen) sowie systemische Elemente (Angebot von Paar- und Familiengesprächen) in die Behandlung mit ein. Die Autorin und der Autor sind tiefenpsychologisch bzw. systemisch ausgebildete PsychotherapeutInnen und fühlen sich einer psychodynamischen Denkweise verbunden. [7]

Die beschriebene Kasuistik basiert im wesentlichen auf der von der behandelnden Therapeutin und dem Stationsarzt geführten Patientenakte und umfasst die Dokumentation von Einzel-, Familien- und Gruppengesprächen, die psychologische Diagnostik sowie den gesamten medizinischen Verlauf. [8]

4. Kasuistik

Frau M. wurde als einziges Kind geboren und wuchs in einer größeren Stadt auf. Als Frau M. sechs Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern. Der Vater war nach den Erzählungen von Frau M's Mutter Alkoholiker gewesen und habe sich generell nur sehr wenig für seine Tochter interessiert. Die nächsten acht Jahre nach der Trennung habe Frau M mit ihrer Mutter allein gelebt. Besonders schöne und lebhafte Erinnerungen habe sie an die Urlaube mit der Mutter. [9]

Die Mutter sei eine Frau gewesen, die für sich in Anspruch genommen habe, alles allein zu schaffen und auf keine Hilfe angewiesen zu sein. Sie habe nicht viel Zeit für die Tochter gehabt. [10]

In der Schule sei Frau M. stark und leistungsfähig gewesen und habe nach der Grundschule das Gymnasium besucht. In ihrem Freundeskreis habe sie sich wohl gefühlt. Frau M's Mutter schildert, dass ihre Tochter bereits als Zehnjährige einen "seltsamen" Umgang mit Lebensmitteln an den Tag gelegt habe. So habe sie beispielsweise Essen gehortet und an allen möglichen Stellen der Wohnung versteckt. Im Alter von zwölf Jahren sei bei Frau M. der Diabetes mellitus Typ I diagnostiziert worden. Nach Aussagen ihrer Mutter habe das Diabetes-Management anfangs reibungslos funktioniert. [11]

Als Frau M. 14 war, habe ihre Mutter einen neuen Lebenspartner kennen gelernt. Für Frau M. sei nach ihren Angaben dadurch eine Welt zusammengebrochen. Zum einen habe sie die Mutter plötzlich nicht mehr als eigenständig und mächtig, sondern als bedürftig und Hilfe suchend erlebt. Zum anderen habe sie das Gefühl gehabt, plötzlich gegen den neuen Mann ausgetauscht zu werden und ihre Mutter zu verlieren. Dafür habe sie dem Lebenspartner der Mutter die Schuld gegeben. Bereits ein Jahr später hätten sie auf Grund der beruflichen Situation des Lebenspartners ihre Heimatstadt verlassen müssen und seien in eine andere Region gezogen. Zu diesem Zeitpunkt hat nach Einschätzung von Frau M. die Krise begonnen. Sie habe begonnen, unregelmäßig Insulin zu spritzen und sei dadurch mehrmals in lebensbedrohliche Stoffwechsellagen gekommen. Leistungsmäßig sei sie in der Schule abgefallen, so dass sie vom Gymnasium auf die Realschule habe wechseln müssen. Dabei sei es ihr nicht gelungen, neue Sozialkontakte aufzubauen und sie habe sich sehr einsam gefühlt. Wenig später habe sie Essattacken entwickelt und ihr Gewicht im Gegenzug durch zu niedrige Insulingaben wieder versucht zu reduzieren (der Insulinmangel verhindert die Energieaufnahme des Körpers, was jedoch mit erheblichen akuten und langfristigen Risiken verbunden ist). [12]

Mit 17 habe sie einen "Suizidversuch" unternommen, indem sie sich Schnittverletzungen an den Handgelenken beigebracht habe; von ihrer Umgebung sei dieser allerdings nichts als solcher gewertet worden. Ihre Mutter habe sie zwar wenig später in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz vorgestellt; Frau M. sei – so die Mutter – zu diesem Zeitpunkt aber nicht bereit gewesen, sich behandeln zu lassen. [13]

Nach dem Realschulabschluss habe Frau M. eine Ausbildung begonnen, aber das Probehalbjahr nicht bestanden. Danach habe sie auf einem Reiterhof gearbeitet, bevor sie ein freiwilliges soziales Jahr begonnen habe. Im Umgang mit Pferden habe Frau M. Trost und inneren Halt gefunden; einen besonderen Kontakt habe sie zu ihrem Pflegepferd aufgebaut, das am selben Tag wie sie Geburtstag gehabt habe. Ihre Ess-Störung habe sich allerdings mehr und mehr zu einer anorektischen entwickelt; innerhalb eines Jahres habe sie 10 kg abgenommen. [14]

Kurz vor ihrem 19. Geburtstag habe sich zum einen ihr Freund nach einer halbjährigen Beziehung per SMS von ihr getrennt, zum anderen habe der Reitstallbesitzer ihr Pflegepferd erschießen lassen, ohne sie vorher darüber zu informieren. Wenige Tage später wurde sie unter dem Bild eines lebensbedrohlichen hyperglykämischen Komas auf die Intensivstation des nächsten Krankenhauses gebracht und dann zur Weiterbehandlung in unser Haus verlegt. [15]

4.1 Verlauf und Behandlung

Nach vier Wochen intensivmedizinischer Behandlung wurde Frau M. auf unsere Station für Psychosomatik und Psychotherapie aufgenommen. Im Erstkontakt wirkte Frau M. freundlich, kooperativ und zugewandt. Sie fiel durch eine schlaffe Körperhaltung und eine extrem verhauchte Stimme auf und machte insgesamt einen sehr erschöpften Eindruck. Sie war im Denken verlangsamt und affektiv nur eingeschränkt schwingungsfähig. Von der Stimmung her präsentierte sie sich mit einer müden Heiterkeit und einem galligen Humor; letzterer ermöglichte immer wieder die Verständigung zwischen Therapeutin und Patientin insbesondere in den vielfältigen krisenhaften Momenten der Behandlung. Bei der Therapeutin löste die Patientin im Ersteindruck Mitleid- und Fürsorgegefühle sowie staunenden Respekt hinsichtlich ihrer vitalen Zähigkeit aus – schließlich war sie gerade unter extrem kritischen Bedingungen "dem Tod von der Schippe gesprungen." [16]

In den ersten Wochen der stationären Behandlung verlor Frau M. deutlich an Gewicht und musste wegen zahlreicher gravierender körperlicher Befunde (Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Nierenfunktionsstörungen) vielen diagnostischen Prozeduren unterzogen werden. Dieses hatte zur Folge, dass Frau M. zunächst nur sehr vereinzelt an Gruppentherapien teilnehmen konnte und auch in den Einzelsitzungen nur wenig psychische Energie aufbrachte, um sich mit ihrer Ess-Störung und einem erfolgreichen Diabetes-Management auseinanderzusetzen. [17]

Hinsichtlich ihrer Gewichtsabnahme fiel es Frau M. über lange Zeit schwer, eigene Anteile zu erkennen; sie fühlte sich diesbezüglich als Opfer und reagierte sehr empfindlich auf Appelle, die auf ihre Selbstverantwortung abzielten. Auf eine der ersten Konfrontationen mit ihrer kontinuierlichen Gewichtsabnahme reagierte Frau M. mit Tränen und signalisierte deutliche Überforderung; ihr einziger Wunsch sei, von ihrer Mutter in den Arm genommen zu werden. [18]

Im Rahmen der Einzelgespräche wurde mit Frau M. nahezu von Beginn der Behandlung an über ihre Zukunftsperspektiven und weitere Lebensplanung gesprochen. Es gelang mit Einverständnis von Frau M. eine Einrichtung zu finden, die Mädchen und junge Frauen in psychosozialer und medizinischer Hinsicht über eine längere Zeitspanne umfassend betreut und die auch anbot, bei der Berufsfindung unterstützend tätig zu sein. Nach Bewilligung der Finanzierung seitens des Jugendamtes musste Frau M. kurz darauf mit lebensbedrohlichen Blutzuckerwerten und deutlicher Bewusstseinseintrübung kurzfristig auf die Intensivstation unseres Hauses verlegt werden. In einem kurz darauf folgenden Familiengespräch brach Frau M. auch psychisch ein, indem sie äußerte, dass sie eigentlich am liebsten zu ihrer Mutter nach Hause zurückziehen und bei ihr wie ein kleines Kind versorgt werden wolle; sie wolle nicht in die "Verselbständigung". [19]

Die auf dieses Familiengespräch folgenden beiden Einzelsitzungen stellten – auch in der retrospektiven Einschätzung der Patientin – einen entscheidenden Wendepunkt im Therapie- und Behandlungsverlauf dar. Frau M. zeigte sich zunächst versteckt und zunehmend offener ärgerlich und zornig darüber, dass ihr in ihrer labilen physischen und psychischen Verfassung ein solches Familiengespräch zugemutet worden war. Deutlich wurde die Scham über die der Mutter gezeigte "Schwäche" und Anhänglichkeit und ebenso die Wut und die Beschämung, als Reaktion von der Mutter in erster Linie Ablehnung und Überforderung erfahren zu haben. Daraus entwickelte sich ein Gespräch über die selbst- und fremdbestrafende Funktion der Symptomatik. Indem Frau M. sich nachhaltig körperlich schädigte, bestrafte sie zum einen sich selbst und zum anderen ihre nächsten Bezugspersonen. Frau M. schien bereits am Rollenbild ihrer Mutter früh gelernt zu haben, emotionale Bedürftigkeit als etwas überwiegend Negatives wahrzunehmen und bereits in Ansätzen zu bekämpfen. Dabei konnte sie offenbar nur wenig konstruktive Strategien entwickeln, vorhandene Versorgungsbedürfnisse und regressive Wünsche für sich in angemessener Weise zu registrieren und zu befriedigen. Stattdessen entstanden auf dem Boden einer chronischen emotionalen Unterversorgung übersteigerte Versorgungswünsche. Zum anderen stellte sie auf dem Boden dieser Symptome wiederholt an sich und ihre Umgebung die Frage nach ihrer Existenzberechtigung. Darf und kann man mit soviel Bedürftigkeit leben? Wer ist dafür verantwortlich zu machen, wenn diese größtenteils uneingestandenen und mit viel Scham besetzten Wünsche nicht erfüllt werden? Lohnt es und ist es möglich mit weniger Erfüllung zu leben? Eine wichtige Beziehungsbotschaft von Frau M. lautete: Ich bin nicht bedürftig, aber auch nicht lebensfähig. Wenn ich leben soll, sorge Du für die Erfüllung meiner Bedürfnisse. [20]

Frau M. sagte einige Wochen später im Rahmen des Entlassungsgesprächs, dass sie an jenem Punkt registriert habe, dass sie sich ständig "auf einer Kippe zwischen Leben und Tod" bewege und dass sie trotz allen Schmerzes und aller Frustration auf der Seite des Lebens stehen wolle. In einem der letzten Gespräche erwähnte sie ein Gespräch, dass sie mit einem Mitpatienten geführt habe, der neu auf die Station gekommen sei. Dieser habe der ganzen Behandlung skeptisch gegenüber gestanden und sie habe versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Schließlich sei sie, meinte sie irgendwann augenzwinkernd, "inzwischen überzeugter Psychosomat". [21]

4.2 Die therapeutische Beziehung

Frau M. begegnete der Therapeutin zunächst mit einer Mischung aus verhaltener Sympathie und deutlicher Skepsis. Sie präsentierte sich zu Beginn von einer sehr erwachsenen und gleichzeitig fassadären Seite. Nach einigen Sitzungen begann sie sehr deutlich ihre Frustration über ihre nur sehr langsam voranschreitende und immer wieder von Rückschritten begleitete Gesundung zu zeigen, wobei sie eindeutige Schuldzuweisungen machte – ihr würde zuviel zugemutet, man glaube ihr nicht etc. – und die Therapeutin überwiegend als streng, autoritär und fordernd wahrgenommen wurde. Bei der Therapeutin wechselten sich zunächst Fürsorgegefühle und Ärger auf Grund der ihr zugewiesenen Vorwürfe ab, dennoch blieben eine grundsätzliche Sympathie und Respekt vor der Patientin durchweg erhalten. Dieses wurde auch dadurch erleichtert, dass sich Frau M. bei allen Vorwürfen niemals im Selbstmitleid verlor und sich eine gewisse Selbstachtung durch alle Krisen bewahrte. [22]

Im Verlaufe der Behandlung gelang es, die therapeutische Beziehung facettenreicher zu gestalten. Eine gute Grundlage stellte wie bereits oben erwähnt der Rückgriff auf einen spröden Humor verbunden mit einem gewissen "kratzbürstigen" Umgang miteinander dar. Dadurch war es möglich, die Nähe-Distanz-Beziehung besser und angstfreier zu regulieren. Frau M. gelang es nach und nach auch in der therapeutischen Beziehung Aspekte von Fürsorge wahrzunehmen, wodurch nicht nur Abgrenzung von sondern auch eine positive Identifikation mit der Therapeutin möglich wurde. [23]

4.3 Diagnostische Einschätzung mit Hilfe der OPD

Das Instrument der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) erhebt den Anspruch, auf systematische und für andere tiefenpsychologisch geschulte KlinikerInnen nachvollziehbare Weise das Beziehungsmuster, das Strukturniveau (im Sinne der Ich-Psychologie) und die Konfliktlage eines/einer PatientIn sowie die Behandlungsvoraussetzungen geordnet zu beschreiben und diagnostisch zu fassen (ARBEITSKREIS OPD 1998). [24]

Die OPD soll darüber hinaus beobachtungsnahe psychodynamische Konstrukte in Ergänzung zur phänomenologischen Diagnostik der ICD-10 erfassen; sie grenzt sich demnach nicht von der symptomatologisch-deskriptiv orientierten ICD-10 Klassifikation psychischer Störungen ab, sondern möchte diese vielmehr um psychodynamische Dimensionen erweitern. [25]

Dieses Diagnoseinstrument wurde von uns für die vorliegende Kasuistik für nützlich befunden, da die komplexe und z. T. autoaggressive Symptomatik der Patientin u. E. nur auf dem Hintergrund einer differenzierten diagnostischen Einschätzung ihrer Beziehungs- und Konfliktmuster sukzessive verstanden und im therapeutischen Dialog behandelt werden konnten. Die folgenden Einschätzungen auf den fünf oben genannten Achsen wurden von der behandelnden Therapeutin vorgenommen, vom zuständigen Oberarzt supervidiert und im Rahmen einer externen Supervision diskutiert.

5. Diskussion

Bei der Behandlung von Diabetes mellitus steht nach neueren Erkenntnissen das Thema der Diabetes-Akzeptanz im Vordergrund (DLUGOSCH, NORD-RÜDIGER & TOST 2002). Die PatientInnen müssen verstehen und akzeptieren lernen, dass Diabetes keine heilbare, sondern allenfalls eine kompensierbare Krankheit ist und dass eine konstante Behandlungsbedürftigkeit besteht, die in weiten Teilen Selbstbehandlung bedeutet. Die Akzeptanz des Diabetes beinhaltet eine Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortung, d.h. dass ein Mensch die körperlichen und psychischen Belastungen des Diabetes sowie dessen psychosoziale Auswirkungen in das eigene Leben integriert und aktiv nach Ressourcen und Problemlösungen sucht. Umgekehrt bedeuten Probleme bei der Diabetes-Akzeptanz in Form von manipulativen autodestruktiven Handlungen beim Diabetes-Management eine Verweigerung der Verantwortungsübernahme bei gleichzeitiger Bestrebung, den Diabetes zu ignorieren und sich von ihm unabhängig zu machen. Auch bei Ess-Störungen kennen viele PatientInnen nur einen einzigen Weg, und zwar den des Hungerns und der Verweigerung, der sie zur ersehnten Autonomie bringen soll (DANZER & RATTNER 1999, RATTNER & DANZER 2000). Beide Erkrankungen sind also dazu geeignet, den Kampf auf dem inneren Konfliktfeld zwischen Versorgungs- und Beziehungbedürfnissen auf der einen Seite und Unabhängigkeits- und Autarkiewünschen auf der anderen Seite zu externalisieren, um ihn auf diese Weise erträglicher zu machen. Bei der Psychotherapie beider Erkrankungen und insbesondere in der Kombination der Symptome ist es vorrangig die Aufgabe der Behandelnden, im Dialog mit den PatientInnen zwischen Verständnis und Fürsorge und der Setzung eines transparenten, grenzsetzenden Behandlungssettings zu balancieren (LEIBL, FUMI & NAAB 2001). Weiterhin erscheint es uns zentral, uns mit den PatientInnen gemeinsam wiederholt zu erarbeiten, dass ihr Weg über die Krankheit, so destruktiv er auch erscheinen mag, immer auch den Charakter von Fortschritt, Entwicklung und Hoffnung in sich trägt. Bereits einer der Väter der Psychosomatik, Georg GRODDECK, erkannte zu Beginn des Jahrhunderts jede Krankheit auch als eine Art Leistung der PatientInnen an.

"Wenngleich der Preis bisweilen hoch ist, den ein Patient in Form von Schwäche oder Schmerz, Angst und Erschütterung bei seiner jeweiligen Erkrankung zu bezahlen hat – immer ist nach Groddeck das Es (als 'Krankheitsverursacher') am Weiterbestehen des Gesamt-Organismus interessiert, selbst wenn dabei einzelne Organe geopfert oder Funktionseinbußen in Kauf genommen werden müssen" (RATTNER & DANZER 2000, S.143). [31]

Literatur

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Zur Autorin und zum Autor

Dr. phil. Barbara BRÄUTIGAM, Dipl. psych., geb. 1969 in Berlin, systemische Familientherapeutin, psychologische Psychotherapeutin, integrative Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und promovierte Erziehungswissenschaftlerin.

Kontakt:

Dr. Barbara Bräutigam

An den Bleichen 3
D-18435 Stralsund

E-Mail: barbara.braeutigam@t-online.de

 

Prof. Dr. med, Dr. phil. Gerhard DANZER, geb. 1956 in Passau, Professor für Psychosomatik und medizinische Anthropologie, Internist, Diplompsychologe und Psychotherapeut, Oberarzt an der Abteilung für Psychosomatische Medizin an der Berliner Charité und Leiter des Bereiches für Psychosomatik und Psychotherapie der Ruppiner Kliniken GmbH.

Kontakt:

Prof. Dr. Gerhard Danzer

Ruppiner Kliniken GmbH
Fehrbelliner Str. 38
D-16816 Neuruppin

E-Mail: gerhard.danzer@charite.de

Zitation

Bräutigam, Barbara & Danzer, Gerhard (2005). "Inzwischen bin ich überzeugter 'Psychosomat'". Kasuistik einer jungen Erwachsenen mit Diabetes mellitus Typ 1 und ausgeprägter hyporektischer Ess-Störung [31 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(1), Art. 36, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0501366.

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