Volume 5, No. 3, Art. 27 – September 2004

"Die 'Oldstream'-Psychologie wird verschwinden wie die Dinosaurier!"

Kenneth Gergen im Gespräch mit Peter Mattes und Ernst Schraube

Zusammenfassung: Das Gespräch beleuchtet das Wissenschaftsverständnis des sozialen Konstruktionismus, Theorie – Methodik – Praxis, im Spannungsfeld zur traditionellen Psychologie. Der erste Teil handelt von Orten und Formen sozialkonstruktionistischen Denkens und es werden Grenzen des herkömmlichen psychologischen Wissenschaftsverständnisses erörtert. Danach geht es um die Frage einer spezifisch sozialkonstruktionistischen Methodologie und um die Bedeutung sozialer Beziehungen für ein angemessenes Verständnis des Menschen. Im abschließenden Teil wird der Zusammenhang von universitären Strukturen und wissenschaftlicher Erkenntnis, und mögliche, zukünftige Entwicklungen der akademischen Psychologie beleuchtet.

Keywords: Erkenntnis, Geist-Welt-Dualismus, Methodologie, performative Psychologie, Positivismus, Postmoderne, Selbst, soziale Beziehung, sozialer Konstruktionismus, theoretische Psychologie, traditionelle Psychologie, qualitative Methoden, Wissenschaftsverständnis der Psychologie

Inhaltsverzeichnis

Zum Interview

Zu Kenneth GERGEN

1. Orte und Formen sozialkonstruktionistischen Denkens

2. Konstruktionismus und seine Kritik an traditioneller Psychologie

3. Sozialkonstruktionistische Methodologie

4. Das Selbst in Beziehung

5. Die akademische Psychologie und ihre Zukunft

Galerie

Zu den Autoren

Zitation

 

Kommentar Ratner, FQS 5(1)

Kommentar Zielke, FQS 5(2)

Zum Interview

Das Gespräch wurde über E-mail im Herbst 2000 geführt. Es war Teil eines Sonderheftes des Journal für Psychologie zum Thema "Subjektivität, Technik und Politik", das gemeinsam von den Autoren herausgegeben wurde und im Journal für Psychologie, 2001, 9(1), 45-51 erschienen ist. Der Text wurde im Juni 2004 für die Veröffentlichung im FQS überarbeitet und mit Kenneth GERGEN abgestimmt. [1]

Zu Kenneth GERGEN

Kenneth J. GERGEN ist Professor für Psychologie am Swarthmore College. Er gilt als einer der Hauptvertreter des sozialen Konstruktionismus. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen die Aufsätze The Social Constructionist Movement in Modern Psychology (American Psychologist, 1985) und Die Konstruktion des Selbst im Zeitalter der Postmoderne (Psychologische Rundschau, 1990), und die Bücher Toward Transformation in Social Knowledge (London: Sage, 1994), Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen Leben (Heidelberg: Carl Auer, 1996), Realities and Relationships. Soundings in Social Construction (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1997), Relational Responsibility (Thousand Oaks, CA: Sage, 1999; gemeinsam mit Sheila McNAMEE), Social Construction in Context (London: Sage, 2001) und Konstruierte Wirklichkeiten (Kohlhammer, 2002). Weitere Informationen finden sich auf der Webseite von Kenneth GERGEN. [2]

1. Orte und Formen sozialkonstruktionistischen Denkens

MATTES/SCHRAUBE: Kenneth GERGEN, vor 15 Jahren erschien Ihr Aufsatz "The Social Constructionist Movement in Modern Psychology" im American Psychologist, vor bald zehn Jahren Ihr Buch "Das übersättigte Selbst" und neulich "Konstruierte Wirklichkeiten". Vom "Sozialen Konstruktionismus" ist inzwischen verbreitet auch in der deutschsprachigen Psychologie die Rede. Sie sprachen in Ihrem Aufsatz von einer Bewegung. Was damals vielleicht etwas zugespitzt formuliert war – ist es heute eine treffende Bezeichnung? [3]

GERGEN: Wenn man unter "Bewegung" eine organisierte Gruppe von Psychologinnen und Psychologen versteht, die systematisch entlang eines spezifischen Projektentwurfes arbeiten, dann würde ich die Frage mit "Nein" beantworten. [4]

Wenn man jedoch den sozialen Konstruktionismus als eine Summe von Dialogen versteht, welche die Natur- und die Sozialwissenschaften umfassen, und die sich insbesondere mit der sozialen Konstituierung von Bedeutung, der historischen und kulturellen Einbettung der Wissenschaften, und der ethischen und politischen Dimensionen der Erzeugung und Verbreitung von Erkenntnis befassen, dann würde ich sagen, dass sich doch ein enormer Wandel an Sensibilität herausgebildet hat. [5]

Wenn man sich innerhalb der Psychologie das breite Spektrum an Zeitschriftenartikeln, Büchern und Konferenzen zum sozialen Konstruktionismus vergegenwärtigt, zusammen mit der bemerkenswerten Verbreitung der Diskursanalyse, der Ausbreitung qualitativer Methoden, das schnelle Wachsen narrativer Therapie, das aktive Interesse an Theorie und Metatheorie (das sich etwa auch in der Entstehung der International Society for Theoretical Psychology und dem Journal Theory & Psychology widerspiegelt), das wachsende psychologische Interesse an Kulturkritik, die Verbreitung der feministischen Wissenschaftskritik, die Verbindung des Konstruktionismus mit Bewegungen des Konstruktivismus und der sozialen Repräsentation, und die neu sprießenden Diskussionen postmoderner Psychologie, dialogischer Psychologie, Hermeneutik und Kulturpsychologie – alles Ansätze, die von sozialkonstruktionistischen Dialogen beeinflusst sind –, dann kann man ruhig sagen, dass diese "Bewegung" auch in der Psychologie eine bedeutende Rolle einnimmt. [6]

MATTES/SCHRAUBE: Wo entwickelten sich wichtige Zentren sozialkonstruktionistischen Denkens? Was wären wichtige psychologische Theorieströmungen, die vom sozialen Konstruktionismus beeinflusst sind und diesen Zugang in der Psychologie produktiv werden lassen? [7]

GERGEN: Ich denke es wäre zu früh bereits von Zentren des sozialen Konstruktionismus im Sinne von geographischen Orten zu sprechen. In unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern wie etwa den Literaturwissenschaften, der Anthropologie, den Cultural Studies, der Wissenssoziologie, oder der Frauenforschung trägt konstruktionistisches Denken schlicht zum theoretischen Hintergrund der Forschung bei. Man studiert nicht den sozialen Konstruktionismus oder verteidigt ihn, vielmehr stellt er einem ein konzeptionelles Fundament für die jeweilige Forschung zur Verfügung (ähnlich dem Empirizismus in vielen Bereichen der traditionellen Wissenschaften). Die Psychologie war aus verschiedenen Gründen sehr viel resistenter gegenüber konstruktionistischem Denken als die anderen Sozialwissenschaften, und daher findet man wenige "Zentren" sozialkonstruktionistischer Forschung (ein Ausnahme wäre die Sozialpsychologie in England, die heute in erster Linie konstruktionistisch ausgerichtet ist). Es gibt jedoch ein enorm aktives Netz von Psychologinnen und Psychologen die – um es etwas allgemeiner zu formulieren – mit der Erforschung von Dialogen und deren Implikationen beschäftigt sind. Bislang arbeiten sie vor allem auf dem Gebiet der theoretischen und historischen Psychologie, der Sozialpsychologie (z.B. Diskursanalyse), der Klinischen Psychologie (z.B. narrative Therapie), der Methoden (z.B. qualitative Methodologie), der Entwicklungspsychologie (z.B. im Anschluss an WYGOTSKI), der Kulturpsychologie (z.B. Jerome BRUNER), der Sex- und Genderforschung (z.B. postmoderne feministische Psychologie) und der Gesellschafts- und Ideologiekritik (z.B. Edward SAMPSON). [8]

2. Konstruktionismus und seine Kritik an traditioneller Psychologie

MATTES/SCHRAUBE: Wir würden gerne etwas ausführlicher über das wissenschaftliche Selbstverständnis der Psychologie sprechen. In der Psychologie dominiert ja immer noch ein im weiteren Sinne positivistisches Wissenschaftsverständnis demgegenüber der soziale Konstruktionismus sich als eine Alternative versteht. Was sind die wesentlichen Mängel und Widersprüche der traditionellen Herangehensweise? Was steht Ihrer Meinung nach zur Veränderung an? [9]

GERGEN: Die Probleme der herkömmlichen, positivistisch ausgerichteten Psychologie sind so vielfältig und tiefgehend, dass ich im Rahmen eines Interviews nicht angemessen auf sie eingehen kann. Über einige der Unzulänglichkeiten habe ich in früheren Arbeiten ausführlich geschrieben, etwa in Toward Transformation in Social Knowledge, in Realities and Relationships, und es gibt zwei neuere Bände, Social Construction in Context und Konstruierte Wirklichkeiten. Im Sage-Verlag kam nun auch ein Reader Social Construction heraus. Eines der Grundprobleme einer Psychologie, die innerhalb des positivistischen Programms verbleibt, sehe ich in ihrem Mangel an kritischer Reflexivität. Positivistische Psychologie ist nicht von Natur aus schlecht, sondern einfach begrenzt. Und an diese Grenzen – wie grundsätzlich sie auch sein mögen – wird innerhalb des Faches einfach nicht gedacht. Praktisch alle Dialoge verbleiben "innerhalb des Paradigmas". Daher gibt es zum Beispiel kaum ein Bewusstsein über die intellektuellen Schwächen, die ideologischen und ethischen Vorurteile, die kulturellen und historischen Abhängigkeiten, die theoretische Blindheit usw., und so gut wie keine Versuche über diese Probleme mit denen zu sprechen, die sie ernst nehmen und an ihrer Überwindung arbeiten. Mein Anliegen ist nicht das positivistische Programm zu beseitigen, beseitigen möchte ich die Dominanz, die es für sich beansprucht. Wenn wir die positivistische Psychologie als unsere einzige Psychologie zulassen würden, dann wären Tür und Tor geöffnet für Unterdrückung, Totalitarismus und intellektuelle und kulturelle Verarmung. [10]

MATTES/SCHRAUBE: Wie unterscheidet sich das sozialkonstruktionistische Wissenschaftsverständnis von traditionell psychologischen Herangehensweisen? [11]

GERGEN: Das ist eine weitreichende Frage, und ich muss wieder auf die Arbeiten, die ich vorher erwähnte, verweisen (und auf die umfangreiche Literatur, die dort vorgestellt wird). Es ist jedoch wichtig sich klarzumachen, dass das positivistische (empirizistische) Wissenschaftsverständnis, dem die Psychologie weitgehend verpflichtet ist, auf einem metaphysischen Dualismus gründet. Einerseits wird hier eine reale, objektive, materielle Welt angenommen, irgendwo "da draußen", und andererseits eine Welt des Psychischen und des Agens der Erfahrung "hier drinnen". Man gelangt im Grunde zu Wissen und Erkenntnis, indem der individuelle Geist die Komplexität der materiellen Welt meistert. Und dieses Wissen wird dann üblicherweise zum Zweck des Kommunizierens auf Theorien und Beschreibungen als propositionale Aussagesysteme reduziert. [12]

Im sozialen Konstruktionismus ist der Akt des Kommunizieren nicht etwas Nachgestelltes, etwas, was man tut, wenn man "weiß", sondern es wird als der hervorbringende Prozess aufgefasst, für all das, was wir für intellektuell erfassbar und verstehbar erachten. Durch die Koordination menschlicher Handlungen entsteht Sprache, und gerade durch die Sprache können wir vereinbaren "was ist" und warum etwas "gut" oder "schlecht" ist. Solche Vereinbarungen dienen als notwendige Grundstrukturen um wissenschaftliche Arbeit ausführen zu können – in der Psychologie wie auch in den anderen Wissenschaften. Mit Thomas KUHN könnten solche Vereinbarungen, zusammen mit den Institutionen und Handlungen, in die sie eingebettet sind, als "Paradigma" bezeichnet werden. Nun entspringt gerade aus solchen sozialen Zusammenhängen die Idee des Geist-Welt-Dualismus. Dieser Dualismus ist daher nicht etwas universell Gegebenes, sondern einfach eine Sichtweise unter vielen. [13]

Entsprechend sollte auch der soziale Konstruktionismus nicht als eine universelle Wahrheit betrachtet werden. Auch er stellt eine Sichtweise dar, die aus sozialen Prozessen heraus entsteht. Der Konstruktionismus zielt daher nicht auf "Wahrheit" als dem Resultat der wissenschaftlichen Tätigkeit, oder zumindest nicht auf Wahrheit im Sinne von universellen oder transzendenten propositionalen Systemen. Es mag lokale Wahrheiten geben, die in verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten, in Religionen, oder in den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften etabliert sind, und diese müssen aus der Tradition dieser Gemeinschaften heraus sicherlich respektiert werden. Das zukünftige Wohlergehen der Weltgemeinschaft erfordert jedoch ein Erleichtern der Dialoge zwischen den lokalen Traditionen. Wahrheitsbestimmungen jenseits der Traditionen sind in diesem Sinne ein Schritt in Richtung Tyrannei und führen letztlich zum Ende des Kommunizierens. [14]

MATTES/SCHRAUBE: Im Gegensatz zu anderen Disziplinen in den Sozial- und Humanwissenschaften, wie etwa Anthropologie, Soziologie, Ökonomie oder auch interdisziplinären Zugängen wie Science and Technology Studies, beharrt die Mainstream-Psychologie hartnäckig auf einer an den Naturwissenschaften orientierten Theoriesprache und experimentell-statistischen Verfahren "objektiver" Erkenntnisgewinnung. Aufgrund der damit einhergehenden Erkenntnisbeschränkungen hat sie sich, auch aus der Sicht der Nachbardisziplinen, intellektuell ins Abseits bewegt. Warum verharrt die akademische Psychologie des 20. Jahrhunderts so sehr in ihrem traditionellen Wissenschaftsverständnis? Woran liegt die anhaltende Selbstfestschreibung dieser Psychologie auf positivistische Paradigmen? [15]

GERGEN: Das ist eine interessante Frage, aber sie ist nicht einfach zu beantworten. Eine Weise, wie ich mir diese zähe Selbstbezogenheit der akademischen Psychologie erkläre wäre, dass, als die Psychologie sich zu Beginn dieses Jahrhunderts von der Philosophie zu lösen versuchte, sie sich mit einer Legitimationskrise konfrontiert sah. Daher wurde in der Psychologie das naturwissenschaftliche Modell, so wie es zu Beginn des Jahrhunderts verstanden wurde, als die zentrale wissenschaftlich-rationale Herangehensweise übernommen, einerseits um der entstehenden Disziplin nach innen ein wissenschaftliches Selbstverständnis zu geben, andererseits um nach außen, gegenüber dem Universitätssystem, Legitimität beanspruchen zu können. Als dann Macht- und Prestigehierarchien etabliert waren, wurde das Veröffentlichen in den naturwissenschaftlich ausgerichteten Zeitschriften zum Schlüssel für Karrieren. Und als dann noch reichlich Gelder aus der staatlichen Forschungsförderung in das Unternehmen flossen, wurde das Ganze schließlich zu einem Selbstläufer. Viele der heutigen jungen Psychologinnen und Psychologen, die ich kenne, kümmern sich nicht weiter um die Probleme des Positivismus. Sie wollen einfach in den Strukturen vorankommen, und fast der einzige Weg dahin führt noch immer über die alten engen Pfade: experimentelle Arbeiten veröffentlichen oder untergehen. Wer das Wissenschaftsverständnis des Faches in Frage stellt und andere Denk- und Forschungsweisen entdecken möchte, gefährdet sein berufliches Weiterkommen Daher sollten wir übrigens unbedingt neue und andersartige Zeitschriften in unserem Bereich fördern. Wir brauchen Veröffentlichungsmöglichkeiten die kritischen und kreativen Stimmen Gehör verschaffen. [16]

3. Sozialkonstruktionistische Methodologie

MATTES/SCHRAUBE: Gibt es so etwas wie eine sozialkonstruktionistische Methodologie? [17]

GERGEN: Meiner Ansicht nach nicht. Wie gesagt, ich verstehe den Konstruktionismus in erster Linie als eine besondere Erkenntnisweise. Wenn wir die Erkenntnisgewinnung als ein kulturelles Erzeugnis verstehen – eingebunden in lokale und historisch situierte Verhältnisse –, dann beginnen wir neue Fragen zu stellen und entwickeln neue Sensibilitäten. Das bedeutet natürlich nicht, alle bisherigen Denk- und Forschungsweisen über Bord zu werfen. Aber es bedeutet eine gesteigerte Reflexivität über das Wie und Warum unseres wissenschaftlichen Herangehens, und es wirft Fragen nach möglichen Alternativen auf. Im Rahmen des Konstruktionismus werden die traditionellen empirischen Methoden nicht grundsätzlich aufgegeben, aber aufgrund ihrer zahlreichen fundamentalen Grenzen befinden wir uns hier auf der offenen Suche nach alternativen Methodologien. [18]

Deswegen steht derzeit, um ein Beispiel zu nennen, die qualitative Methodik so in voller Blüte – und es wird Partizipation, Narrativität, Vielstimmigkeit, Diskursivität, Performanz, soziales Handeln usw. betont. Das sind an sich nicht konstruktionistische Methoden, sondern einfach Methoden, die, aufgrund der Einsicht in die soziale Konstruktion von Erkenntnis, nun attraktiv geworden sind. Traditionelle Zeitschriften zögern bislang noch derartige Studien zu veröffentlichen, aber es entstehen neue und aufregende Zeitschriften. Qualitative Inquiry ist eine hervorragende Quelle für innovative Methodologie, Discourse and Society wird wieder wichtiger. Und auch die elektronischen Zeitschriften Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research und The Qualitative Report bieten aufregende Möglichkeiten. [19]

4. Das Selbst in Beziehung

MATTES/SCHRAUBE: In Ihren Arbeiten zum Verständnis des Selbst sehen Sie dieses nicht als Wesen mit autonomen Ursprung an, welches in eine persönliche Geschichte mündet, sondern als andauerndes Herstellungs- und Umwandlungsgeschehen, das sich unter Menschen in konkreten Umständen vollzieht, wo ständig Beziehungen geknüpft, geflochten und gelöst werden. So konstruiert sich erst und immer wieder das, was wir Individuum und Selbst nennen oder als solches an uns erfahren. In Ihren Schriften jedoch werden Menschen, die sich aufeinander beziehen, vorausgesetzt. Ein Widerspruch oder gar ein verbliebener Substanzialismus? [20]

GERGEN: Ich denke man muss sich dazu zuerst einmal klarmachen, dass meine Arbeiten über das Selbst vor allem inhaltliche Art sein sollen, d.h. dass sie keinen direkten Beitrag zu einer konstruktionistischen Metatheorie darstellen, sondern einen "Beitrag zur Erkenntnis" – eben ein Beitrag zum wissenschaftlichen und kulturellen Dialog über Probleme unserer Zeit. Wer nun schreibt, bevorzugt notgedrungen bestimmte Begriffe und Redewendungen, und diese beanspruchen natürlich einen Bezug zur Realität. Das mag als ein "verbliebener Substanzialismus" erscheinen. Wenn man jedoch einmal die Welt durch die Linse des Konstruktionismus sieht, wird einem deutlich, dass alle Propositionen Gegenstand der Dekonstruktion werden können. Und man nimmt dann das durch Momente kritischen Nachdenkens unterbrochene Gespräch wieder auf. [21]

Mit meinen Arbeiten über das Selbst versuche ich eine Sensibilität für die Wirklichkeit von Beziehungen zu entwickeln. Mein Anliegen ist, die in der westlichen Tradition so selbstverständliche Annahme eines individuellen und privaten Selbst, in Frage zu stellen. Mir erscheint diese traditionelle Anschauungsweise ideologisch verheerend, weil sie ein Weltbild entwirft, in dem wir fundamental entfremdet sind – einsam, isoliert und selbstbezogen. Wir sind gefordert eine alternative Wirklichkeit zu schaffen, eine die uns miteinander verbindet und uns unzertrennlich macht. Eine Schwierigkeit, die sich mir bei der Entwicklung eines solchen Bildes immer wieder stellt, ist, dass unsere Sprache über Beziehungen eng mit dieser individualistischen Tradition verknüpft ist. Wir verstehen Beziehung als "zwischen zwei oder mehreren unabhängigen Wesen". Als theoretischer Dichter stellt mich diese Tradition vor echte Probleme, aber sie ermöglicht auch Wege, das Selbst als ein immer schon in ein Beziehungsgefüge eingebettetes Phänomen zu konzeptualisieren. [22]

MATTES/SCHRAUBE: Im Zentrum sozialkonstruktionistischen Denkens stehen die alltäglichen Verhältnisse, in denen wir uns sozial als Individuen hervorbringen. Welche Umstände sehen Sie heute für die Bezogenheit der Menschen untereinander für besonders wichtig an? [23]

GERGEN: Über Ihre Fragen könnte man ganze Bücher schreiben, aber ich möchte hier nur einen Aspekt betonen. Wenn Menschen Wirklichkeiten und moralische Prinzipien gemeinsam erzeugen, wenn sie dann Institutionen und Traditionen um diese Konstruktionen herum erschaffen, dann ist die Bühne eröffnet für Konflikte. Was sich außerhalb der jeweils bevorzugten Konstruktionen befindet, erscheint fremd und potentiell bedrohend. So können wir, als Resultat eines schlichten Zusammenlebens das uns als ein respektvolles Miteinander erscheint, gerade auch zu dem beitragen, was andere als feindliche Welt erleben. Mit der zunehmenden Globalisierung radikalisiert sich diese Situation. Hier sind die Sozialwissenschaften herausgefordert Mittel zu entwickeln, mit denen konflikthafte und wechselseitig destruktive Wirklichkeiten miteinander versöhnt werden können. Damit ist nicht gemeint, dass immer Harmonie oder Klärung zwischen konflikthaften Realitäten angestrebt werden müsste, sondern wir müssen uns derartigen Problemen stellen und sie durchdenken, und uns um bessere, integrierende Praktiken bemühen, die auch einer globalen Gesellschaft angemessen sind. [24]

MATTES/SCHRAUBE: Welche Rolle spielen dabei neue Technologien? [25]

GERGEN: Wie Sie wissen, habe ich ein Buch über Technik und die Veränderungen des kulturellen Lebens geschrieben: Das übersättigte Selbst (im Original als The Saturated Self). Die Bedeutung der Technologien in unserem Leben kann nicht überschätzt werden. Eine dieser Auswirkungen ist direkt mit dem Problem der sozialen Konflikte verknüpft. Ich denke die Kommunikations- und Transporttechnologien des 20. Jahrhunderts ermöglichen es Gruppen immer mehr, ihre je besondere Weltsicht zu entwickeln, auszufeilen und aufrechtzuerhalten. Im Grunde kann jede noch so kleine Gruppe ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln – ein Gefühl davon, was "wir für wahr und richtig halten". Ein kurzer Blick auf das politische und religiöse Spektrum im World Wide Web lässt einen das Ausmaß derartiger Organisierungen erahnen. Aber, wie gesagt, jeder Schritt in Richtung Organisierung erhöht die Möglichkeit von Konflikten (es ist z.B. ziemlich ernüchternd, sich die Webseiten verschiedener radikaler politischer Gruppen anzusehen). Bislang haben wir wenig Mittel, um diese Technologien zum Zweck der "Grenzüberschreitung" und der Befruchtung des Dialoges zwischen gegensätzlichen Gruppen zu nutzen. Hier liegt eine weitere Herausforderung für die Zukunft. [26]

MATTES/SCHRAUBE: Als sozialer Konstruktionist werden Sie sich nicht als abstrakten Repräsentanten einer Idee sehen wollen, sondern in Beziehungen und Auseinandersetzungen sozialisiert, zu dem geworden, der Sie sind. Wollen Sie von sich erzählen? [27]

GERGEN: Zunächst: das Konzept, nach dem Menschen "Produkte" ihrer Sozialisation sein sollen, schätze ich nicht besonders. Für mich ist der soziale Konstruktionismus kein sozialer Determinismus. Die Zusammenhänge, aus denen heraus Bedeutungen geschaffen werden, sind keine mechanischen Ursache-Wirkungs-Beziehungen, sondern solche teilhabender Koordination. [28]

Nun zu mir, und zur vielleicht schwierigsten Frage. Denn was soll ich jetzt anderes tun als mich selbst zu konstruieren, und natürlich kann ich kein präzises Bild von mir geben. Es widerstrebt mir auch, über mich als ein singuläres und unabhängiges Wesen zu sprechen. Meine Frau Mary und ich wurden einmal von einem über Narrationen forschenden Psychologen gebeten, kurze Autobiographien zu schreiben. Wir entschlossen uns jedoch, stattdessen eine "Duographie" zu schreiben, eine Erzählung mit unserer Beziehung als Gegenstand. Das hat Spaß gemacht, und war für uns sehr aufschlussreich. [29]

Angesichts der westlichen Konvention des "Sprechens über sich" könnte ich aber auch von mir als einem dezentrierten Wesen sprechen – meine Jugend verbrachte ich in den südlichen Vereinigten Staaten, meine Schulzeit in Neu-England, meine Berufstätigkeit in der Mitte der Ostküste, und von Swarthmore aus bin ich immer wieder aufgebrochen, um in Deutschland, Italien, Japan, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz zu leben und zu arbeiten. Ich scheine Spuren von sehr unterschiedlichen Beziehungen in mir herumzutragen, und ich fühle mich, als gebe es wenig Kohärenz zwischen ihnen. Im schlimmsten Fall fühle ich mich manchmal wie Woody ALLENs Zelig. Aber gleichzeitig denke ich, dass persönliche Kohärenz auch fast wie ein Dogma wirken kann, nicht "mit der Welt" sondern gegen sie. [30]

Für andere wird dieses multiple Selbst vielleicht am deutlichsten durch das, was meine Frau Mary und ich "performative Psychologie" nennen. Wir versuchen die beschränkten, langweiligen, arroganten und entfremdenden Schreibtraditionen der Psychologie zu überwinden und neue Ausdrucksweisen zu entwickeln. Die Formen, in der wir unsere Ideen und Forschungsergebnisse ausdrücken, sind praktisch selbst wieder Beziehung, und sie tragen zu den Modellen unserer gemeinsamen Welt wiederum auch bei. Warum also nicht Alternativen zu den traditionellen Ausdrucksweisen anbieten? Wir versuchen das immer wieder bei öffentlichen Auftritten zu tun. Zum Beispiel nehmen wir die Beziehungstheorie und, anstatt dann ihre Grundannahmen zu formulieren, zeigen wir sie in kleinen Skizzen – manchmal witzig, manchmal dramatisch usw. Und innerhalb einer halben Stunde bekommen die Zuhörerinnen und Zuhörer dann vielleicht ein Gespür vom Ausmaß der verborgenen Selbste, die wir in uns herumtragen, und wir hoffen Einblicke in die Beziehungsmöglichkeiten zu sich selbst und zu anderen zu geben. [31]

Es gäbe noch eine Menge dazu zu sagen, aber ich rede jetzt schon so lange. Mehr über mich wäre auch auf meiner Webseite zu finden. [32]

5. Die akademische Psychologie und ihre Zukunft

MATTES/SCHRAUBE: Das Wissenschaftssystem und die universitären Strukturen stehen ja in einem engen Zusammenhang zum wissenschaftlichen Denken und zu Erkenntnisweisen, die sie ermöglichen oder auch behindern. Was für Unterschiede sehen Sie zwischen dem deutschen und US-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb? [33]

GERGEN: Ich habe einige Semester in Heidelberg und Marburg verbracht und bin einigermaßen vertraut mit dem akademischen System in Deutschland. Trotzdem fällt es mir schwer, umfassendere Verallgemeinerungen zu machen. Es hängt so viel von der besonderen Gruppenzusammensetzung, den örtlichen Geschichten usw. ab. Zur Diskussion stellen möchte ich, dass der "wissensgenerierende Apparat" in Deutschland viel hierarchischer strukturiert ist als in USA. Jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bleiben länger in lokale Rangordnungen eingespannt. Und es liegt vielleicht an der Konkurrenz sowohl in wie zwischen den Hierarchien, dass die Haltung negativer Kritik das deutsche akademische System durchdringt. Man muss immer damit rechnen von Kollegen angegriffen zu werden, es werden wenig anerkennende oder ermutigende Worte gesprochen. Ich sage dies natürlich als Amerikaner und ich bin mir bewusst, dass wir eher Schwierigkeiten umgekehrter Art haben. Amerika ist ein Riesenland und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind über weite Räume verteilt. Es gibt zwar weniger Hierarchie, dafür aber auch weniger anspornende Dialoge. Wir können eher respektvoll miteinander umgehen, aber vielleicht auch, weil die Arbeiten anderer eher unbedeutend für unsere eigenen sind. [34]

Sicherlich würde ich den sozialen Konstruktionismus hier gerne als ausgleichende Kraft sehen. Einerseits lädt er zu kooperativer und vielstimmiger Orientierung in der Forschung ein. Es gibt auch weniger Bedarf für Hierarchien, für starre Positionen, um zwischen gut und schlecht zu unterscheiden, und die Trennlinie zwischen In- und Outgroup wird dünner und mehr ein Thema, über das offen diskutiert wird. Zudem werden hier kommunikative Wechselbeziehungen viel ernster genommen – das Bewusstsein, dass wir Bedeutung durch Beziehung gewinnen und dass wir untergehen, wenn wir nicht in Beziehungen eingebettet sind. Daher müssen wir uns für die Entwicklung und Entfaltung sozialer Beziehungen verantwortlich fühlen (an dieser Stelle würde ich gerne auf das Buch Relational Responsibility hinweisen, das ich 1999 zusammen mit Sheila McNAMEE veröffentlicht habe). [35]

MATTES/SCHRAUBE: Was wird aus der akademischen Psychologie im 21. Jahrhundert? Sehen Sie irgendwelche Zeichen für Veränderungen hin zu einer Wende in der Mainstream-Psychologie? [36]

GERGEN: Wie Sie sich, nach dem was ich gesagt habe, vorstellen können, bin ich relativ optimistisch, dass sich die, wie ich sie jetzt nenne, "Oldstream"-Psychologie fundamental verändern wird. Teilweise deshalb, weil die intellektuelle Welt außerhalb der Psychologie bereits in Bewegung geraten ist, und ich kann mir kaum vorstellen, dass die Isolierung der Psychologie aufrechterhalten werden kann. Es gibt derzeit aber auch, wie gesagt, starke bewegende Kräfte innerhalb der Psychologie, und eine Menge Enthusiasmus in diesen Bewegungen. Die Studierenden fühlen sich davon zunehmend angezogen, weil in diesen neuen Strömungen eben auch Veränderungen der kulturellen Sensibilität zum Ausdruck kommen. In erster Linie werden jedoch jene sozial-technologischen Veränderungen der menschlichen Lebenszusammenhänge die Disziplin mit der Tatsache der Differenz konfrontieren – der kulturellen, ethnischen, ideologischen usw. Unter diesen Umständen klingt der traditionelle Anspruch auf eine überlegenere Sichtweise provinziell und kolonialistisch. Die Psychologie wird in irgendeiner Form Platz machen müssen für konstruktionistische Vielstimmigkeit oder sie wird verschwinden wie die Dinosaurier. [37]

Es gibt allerdings auch ernstzunehmende Gründe zum Pessimismus. Die institutionellen und ökonomischen Zwänge gegen Veränderung sind enorm. Im Bereich psychischer Erkrankungen etwa sind die Investitionen der pharmazeutischen Industrie zur Entwicklung und Verbreitung pharmakologischer "Beruhigungsmittel" für die Probleme, die sich in unserer Gesellschaft stellen, ungeheuer. Auf Psychiatriekongressen ist es nichts Ungewöhnliches, dass auf jeden vierten Psychiater ein Vertreter der pharmazeutischen Industrie kommt. Angesichts von Gesundheits-Management und Versicherungsfirmen, die diese Quick-fix-Methoden unterstützen, können klinische Psychologinnen und Psychologen kaum mehr als mitmachen. Zudem unterstützt auch die derzeit in der Psychologie vorherrschende neuro-/kognitive/evolutionäre Bewegung diese Allianz. Als Resultat könnte die konstruktionistische Kritik der "Verdrogung" der Kultur konsequenzenlos bleiben. Und die "Realität psychischer Krankheit" – die heute bereits mehr als zehn Prozent der Bevölkerung das Gefühl gibt, eine "Behandlung" zu benötigen – könnte den konstruktionistischen Versuch eines offenen Dialoges einfach zunichte machen. [38]

Zu den Autoren

Hans Peter MATTES, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Kritische Psychologie an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Psychologie, postmoderne und narrative Ansätze.

Kontakt:

Dr. Peter Mattes

Freie Universität Berlin
Institut für Kritische Psychologie
Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie
Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin

E-Mail: hpmattes@zedat.fu-berlin.de

 

Ernst SCHRAUBE, Dr. phil., Assistenzprofessor an der Universität Roskilde. Forschungsschwerpunkte: psychologische und soziopolitische Implikationen moderner Technik, Geschichte und Theorie der Psychologie, Wissenschafts- und Technikforschung. Von Ernst SCHRAUBE findet sich in dieser FQS Ausgabe eines weiteres Interview – mit Ian PARKER –, das er gemeinsam mit Dimitris PAPADOPOLOUS geführt hat.

Kontakt:

Dr. Ernst Schraube

Roskilde University
Department of Psychology
Philosophy and Science Studies
Postbox 260
DK-4000 Roskilde

E-Mail: schraube@ruc.dk
URL: http://www.ruc.dk/~schraube/

Zitation

Mattes, Peter & Schraube, Ernst (2004). "Die 'Oldstream'-Psychologie wird verschwinden wie die Dinosaurier!" Kenneth Gergen im Gespräch mit Peter Mattes und Ernst Schraube [38 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(3), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0403275.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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