Volume 5, No. 3, Art. 29 – September 2004

Das Handlungsrepertoire von Gesellschaften erweitern

Hans-Georg Soeffner im Gespräch mit Jo Reichertz

Zusammenfassung: In dem Interview erläutert Hans-Georg SOEFFNER die Wurzeln der hermeneutischen Wissenssoziologie. Er unterstreicht, dass diese Art der Hermeneutik keine Methode im engen Sinne des Wortes ist, sondern vor allem eine Theorie und Methodologie. Die Gültigkeit der Deutungen wird gesichert durch das Verfahren der Sequenzanalyse und die Interpretation in Gruppen. Die hermeneutische Wissenssoziologie ist keine Lehnstuhlsoziologie, sondern ist eine analytische Soziologie, deren Ziel es ist, Optionen zu rekonstruieren oder zu konstruieren, mit denen das Handlungsrepertoire von Gesellschaften erweitert wird.

Keywords: Hermeneutische Wissenssoziologie, Aufgaben der Wissenssoziologie, Hermeneutik als Theorie und Methodologie, Gültigkeit interpretativer Verfahren

Inhaltsverzeichnis

Zum Interview

Zu Hans-Georg SOEFFNER

1. Die Wurzeln der hermeneutischen Wissenssoziologie

2. Die Bedeutung von SCHÜTZ und MEAD

3. Die hermeneutische Wissenssoziologie als Theorie und Methodologie

4. Die Hermeneutik und der Funktionalismus

5. Hermeneutik und das Verstehen des Nichtintendierten

6. Über die Gültigkeit hermeneutischer Interpretationen

7. Die Bedeutung der Hermeneutik im nichtdeutschsprachigen Kulturraum

8. Die Aufgaben einer wissenssoziologischen Hermeneutik

Galerie

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

Zum Interview

Das Interview fand am 26. Februar 2004 in der Bonner Wohnung von Hans-Georg SOEFFNER statt. Es dauerte etwa zwei Stunden und wurde mit Tonband aufgezeichnet. Die Transkription des Tonbandmitschnittes wurde später vom Interviewenden stilistisch überarbeitet: Inhaltliche Dopplungen wurden gestrichen, grammatikalische Ungereimtheiten beseitigt und eine Reihe von Fußnoten eingefügt, um implizite Verweise im Text verständlich zu machen. Der so bearbeitete Text ist von Hans-Georg SOEFFNER gegengelesen, an einigen Stellen korrigiert, ergänzt und ausdrücklich autorisiert worden. [1]

Zu Hans-Georg SOEFFNER

Geb. 1939, Dr. phil., Professor der Soziologie, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz. Studium an den Universitäten Tübingen, Köln, Bonn; Promotion 1971 (Universität Bonn); Habilitation 1976 (Universität Essen GHS); Professuren an der Universität Essen, der Fern-Universität in Hagen und an der Universität Potsdam; Gastprofessuren in den USA (University of California, San Francisco; University of California, Berkeley, Boston University), in Chile (Santiago de Chile), an den Universitäten Zürich und Wien. [2]

Hans-Georg SOEFFNER gilt als Begründer der "Hermeneutischen Wissenssoziologie". Diese ist ein (in der Entwicklung begriffenes) komplexes theoretisches, methodologisches und methodisches Konzept, das im Wesentlich das Ziel hat, die gesellschaftliche Bedeutung jeder Form von Interaktion und aller Arten von Interaktionsprodukten (Kunst, Religion, Unterhaltung etc.) zu rekonstruieren. Anfangs firmierte dieser Ansatz unter dem Namen "Sozialwissenschaftliche Hermeneutik". [3]

Die Hermeneutische Wissenssoziologie wird zur Zeit vor allem an deutschsprachigen Universitäten gelehrt und ausgeübt (u.a. in Konstanz, Berlin, Dortmund, Essen, Vechta, St. Gallen, Wien, Zürich). Als grundlegende Einführung in die hermeneutische Wissenssoziologie gelten SOEFFNER (1989) sowie SOEFFNER und HITZLER (1994). Zudem liegt mit SCHRÖER (1994) ein Band vor, in dem die Methodik dargestellt und diskutiert, während in HITZLER, REICHERTZ und SCHRÖER (1999) im wesentlichen die Theorie und Methodologie erörtert werden. Eine erste systematische Beschreibung der hermeneutischen Wissenssoziologie liefert SCHRÖER (1997), während mit REICHERTZ (1991) und KNOBLAUCH (1995) auch zwei methodologisch begründete Forschungsprogrammatiken vorgelegt wurden. Beispielhafte Fallanalysen finden sich in SOEFFNER (1992, 2000).

1. Die Wurzeln der hermeneutischen Wissenssoziologie

REICHERTZ: In den 70er Jahren hast Du angefangen, etwas zu entwickeln, das anfangs "Sozialwissenschaftliche Hermeneutik" hieß und mittlerweile auch häufig "Hermeneutische Wissenssoziologie" genannt wird. Was waren damals Deine Motive dafür, ein Verfahren zur Analyse von Texten zu entwickeln, das jenseits dessen lag, was man damals vorgefunden hat? [5]

SOEFFNER: Der äußere Anlass war meine Doktorarbeit über die Utopie (SOEFFNER 1974). Da tauchte das Problem auf, dass ich einerseits an die literaturwissenschaftlichen Texte literaturwissenschaftlich, auch methodisch, herangehen musste, aber andererseits wollte ich ja nicht zu einem literaturwissenschaftlichen Ergebnis kommen, also keine Gattungsanalyse betreiben und keine rein ästhetischen Fragen diskutieren, sondern eine sozialwissenschaftliche Fragestellung beantworten. Daraus entstand die Frage für mich: Lassen sich die hermeneutischen Verfahren, die ich ja aus meinem Studium der Literaturwissenschaft kannte, auf die Sozialwissenschaften anwenden? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich "ja", weil die Hermeneutik auch außerhalb der Literaturwissenschaft eine alte Tradition hat. DILTHEY hat das hermeneutische Verfahren zu seiner Zeit schon weit in Richtung sozialwissenschaftlicher Analyse vorangetrieben, auch in Richtung philosophischer Analysen, aber leider nicht in dem Sinne, wie ich es für mich als Soziologen benötigte. Auch an dem Institut, an dem ich damals arbeitete1), erprobte man zu der Zeit bei der Analyse "natürlich-sprachlicher" Texte bereits die Konversationsanalyse, die Ethnomethodologie (GARFINKEL, SCHEGLOFF) und auch psychoanalytische Verfahren. Aber diese Analysen sind sozialwissenschaftlich unbefriedigend, weil sie auf die Frage nach sozialen Deutungsmustern, Hintergrundthesen der Handelnden und auf die berühmte WEBERsche Frage nach dem "subjektiven Sinn" oder nach dem "sozialen Sinn" solcher Handlungsprotokolle keine Antwort geben. Mit regelbezogenen Analysen wie in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse kommt man da nicht sehr weit. Und mit einer literaturwissenschaftlich-ästhetischen Analyse ebenfalls nicht. Also kam es darauf an, etwas auszuarbeiten, was in der Lage war, die spezifisch soziologischen Fragen zu beantworten. Was man in dieser Hinsicht auf jeden Fall sagen muss, ist, dass an dem Institut von Gerold UNGEHEUER, UNGEHEUER selbst vor allen Dingen mit den klassischen Verfahren der Konversationsanalyse höchst unzufrieden war. Er hat schon damals von sich aus auch versucht, wenn auch ganz anders, als ich es dann gemacht habe, aus einer ähnlichen Zwickmühle herauszukommen. Das war für ihn auch äußerst unbefriedigend und – wie Du ja weißt – obwohl ich das damals noch nicht kannte, fing Ulrich OEVERMANN ebenfalls an, in diese Richtung zu arbeiten. Das war Anfang der 70er Jahre, da kannten wir uns noch nicht, wir haben uns erst 1978 kennen gelernt, auf dieser Tagung in Essen2). Da waren die Wege aber schon relativ nahe aneinander, wie man auch an unseren Beiträgen in dem Band (OEVERMANN, ALLERT, KONAU & KRAMBECK 1979, SOEFFNER 1979b) sehen kann. Zwar findet sich bei mir keine "Objektive Hermeneutik", weil ich nach wie vor die Suche nach latenten Sinnstrukturen für ein eher metaphysisches als für ein empirisches Problem halte, aber in der praktischen Arbeit waren wir relativ nah aneinander. Das, was Ulrich OEVERMANN dann als Sequenzanalyse entwickelt hat, ist ja auch das Verfahren der hermeneutischen Tradition gewesen. Das ist an sich nicht neu, nur die Umsetzung der hermeneutischen Verfahren in eine Handlungstheorie, das ist tatsächlich neu, also die – wenn man so will – Ergänzung der klassischen Hermeneutik um die Theorie des Handlungsbogens, wie sie sich bei DEWEY und MEAD findet, das ist etwas tatsächlich Neues. Vieles von dem, was dann erarbeitet wurde, hast Du selbst miterlebt, auch wie die sozialwissenschaftliche Hermeneutik weiterentwickelt und immer exakter formuliert wurde, wie schließlich versucht wurde, den handlungstheoretischen Ansatz empirisch so umzusetzen, dass man wirklich begründen kann, wie es zu einer, ich will nicht sagen "objektiven Lesart", aber zu einer objektiv begründeten und nachvollziehbaren Interpretation kommen kann, bei der es sehr schwer fällt nachzuweisen, dass noch andere alternative, in gleicher Weise objektive Interpretationsmöglichkeiten existieren. Dies deshalb, weil, wenn man sequenzanalytisch sehr genau vorgeht, im Grunde genommen die konkurrierenden Lesarten mit der Zeit ausschaltet werden, so dass am Ende zwar nicht eine einzige Lesart steht, aber doch ein objektiv-intersubjektiv formulierter interpretativer Horizont, von dem man annehmen kann und muss, dass er einigermaßen gesichert ist. Es sei denn Interpreten weisen auf der Wegstrecke zur strukturanalytischen Rekonstruktion eines bestimmten Falles nach, dass Fehler gemacht worden sind. Diese Falsifizierung kann man bei der Sequenzanalyse, Gott sei Dank, tatsächlich leisten, bei anderen Verfahren kann man es nicht. [6]

REICHERTZ: Lass mich noch einmal auf diese Motive von damals zu sprechen kommen. Du hast gesagt, die Arbeit am "geplanten Mythos" hat so eine gewisse Unzufriedenheit bei Dir ausgelöst, die bekannten literaturwissenschaftlichen Methoden zur Analyse von Texten lieferten eher eine ästhetische Interpretation und die damals angesagten sozialwissenschaftlichen Verfahren wie die der Ethnomethodologie und die Konversationsanalyse waren Dir zu wenig an einer Handlungstheorie dran. Was waren damals die Einflüsse, die dazu geführt haben, eine ganz eigene und eigenständige Variante der Hermeneutik zu bilden? Was waren die konkreten Einflüsse, die dazu geführt haben, die sozialwissenschaftliche Hermeneutik so auszurichten, wie sie dann später ausgerichtet wurde? [7]

SOEFFNER: Das ist im Nachhinein schwer zu rekonstruieren. Aber wie Du weißt, stammt ein großer Teil meiner Ausbildung aus der Philosophie – neben der Literaturwissenschaft. Und da ist es insbesondere einer meiner Lehrer gewesen, der das Interpretationsproblem auf seine Weise zu lösen versucht hat, indem er einerseits so etwas wie die philosophiegeschichtliche Zuordnung eines Denkers vorgenommen hat, wie man das auch bei DILTHEY findet: die Einbettung einer Person in einen ganz bestimmten Kontext. Gleichzeitig hat er es geschafft, den Kerngedanken oder die zentralen Denkfiguren eines Denkers am Text zu rekonstruieren. Das war Walter SCHULZ3). Der hat das besonders einleuchtend, für mich jedenfalls zu dieser Zeit, am Beispiel KIERKEGAARDs exemplifiziert (vgl. SCHULZ 1972, 1979). Nicht nur in seinen großen Vorlesungen, sondern vor allem in seinen Seminaren versuchte er immer an ausgewählten Textpassagen – heute würden wir sagen "Schlüsselszenen" – diese Doppelleistung zu erbringen: Zuordnung der Person zu einer Denktradition, also etwa die Auseinandersetzung KIERKEGAARDs mit HEGEL auf der einen Seite, und dann die Spezifik eines Denksystems herauszuarbeiten, indem er einerseits die Werkgeschichte, also das Gesamtwerk durchaus auch in der Abfolge beschrieben hat, aber dann gleichzeitig auch wieder zu zeigen, dass es so etwas gibt wie eine Art Kernmotiv oder eine Kernstruktur bei einem Denker, die es herauszuarbeiten gilt. Es ist mir erst viel später klar geworden, wie groß der Einfluss von Walter SCHULZ war, denn als ich – viel später eben – an dieser Utopie-Geschichte saß, stand ich vor ähnlichen Problemen. Das Aufgreifen der Denkweise von Walter Schulz ist sicher ein Motiv gewesen, etwas zu wagen, was diesem Denken vergleichbar war. Etwas anderes, was mich in meiner Arbeit sehr beeinflusst hat, das war die ungeheure Akribie und auch die manchmal bis zum Ärgerlichen gehende pingelige Form des Umgangs mit Theorien, wie ich sie von Gerold UNGEHEUER gelernt hatte. Er war sicher jemand, der dazu beigetragen hat mich zu disziplinieren, das heißt, dafür gesorgt hat, dass ich auf gar keinen Fall irgendwelche Interpretationen aus der Hosentasche zauberte oder gar mit reinen Plausibilitätsargumenten hantierte. Er hat damals, als ich in seinem Institut arbeite, oft abends noch angerufen. Ich bin dann zu ihm hochgefahren und wir haben manchmal die Nacht durch uns über drei, vier Textstellen, Zeichentheorien oder was auch immer, herumgestritten. Da ging es nicht "um die Welt", sondern um die präzise Frage: Was steht in diesem Text eigentlich drin, wie lässt sich das einem Problem zuordnen und was ist eigentlich der Kerngedanke? So etwas diszipliniert sehr, zumal wenn man gleichzeitig einen kollegialen, dann aber auch seiner Autorität durchaus bewussten Chef hat, wie er das auf seine Weise war, das ist gar keine Frage. Man muss vielleicht noch etwas hinzufügen, wenn es darum geht, die Frage der Anwendbarkeit von hermeneutischer Perspektive und hermeneutischen Verfahren auf sozialwissenschaftliche Probleme zu diskutieren. Ich sagte vorhin schon, wenn man natürlich-sprachliche Texte hat, stellt sich ein Problem, was man so in der Literaturwissenschaft nicht hat, in besonderer Weise, die Frage nämlich: Ist die alltägliche Rede, wenn man sequenzanalytisch und hermeneutisch an sie herangeht, ist sie etwas, das eine Art eigenes rekonstruierbares Regelsystem enthält? Insofern war es natürlich wichtig, dass man damals die Ethnomethodologie und die Konversationsanalyse einsetzte, die ja auch heute noch angewandt werden, und durch die man den Nachweis solcher Regelsysteme führen kann bis hin zu den gattungsanalytischen Überlegungen, dass es solche Regelsysteme in einem noch viel weiteren Sinne gibt und dass gerade bei den Korrekturphänomenen in der alltäglichen Rede diese Regelsysteme erkennbar werden. Wir würden unsere Rede nicht korrigieren, wenn es diese Regelsysteme nicht gäbe. Nur das, was die Konversationsanalytiker aus dieser Einsicht gemacht haben, ist aus meiner Sicht beschämend wenig gewesen. Denn die Herausarbeitung von Regelsystemen gibt keine Antwort auf die Motive von Handelnden und auf die Frage nach dem – was wir vorhin schon hatten – vom Handelnden subjektiv gemeinten Sinn. Es gibt vor allen Dingen keine Antwort auf die zentrale Frage: Welches Problem wollen die Sprecher hier eigentlich lösen? Worum geht es denen? Die Frage: Was ist hier eigentlich los?, also die berühmte GOFFMANsche Frage, das ist eine ungeheuer spannende, viel weitergehende Frage im Bereich der Rekonstruktion von Regelsystemen alltäglicher Interaktion und Kommunikation. Wen solche Fragen nicht begleiten, der wird auf die andere GOFFMANschen Frage eingeholt: Welches Problem wollen oder müssen die Akteure hier eigentlich lösen, um erfolgreich eine Situation zu bestehe? ebenfalls keine Antwort finden. Ein letzter Grund für meine damalige Akzentuierung der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik waren praktische Forschungszwänge. Wir haben ja am IKP [Institut für Kommunikationsforschung und Phonetik] für Geld gearbeitet, d.h. wir hatten Projekte, die mussten bearbeitet werden, und das mussten wir mit Hilfe von Methoden machen, die sowohl valide waren als auch zu neuen und überraschenden Einsichten verhalfen. [8]

REICHERTZ: Du hast jetzt zwei Personen besonders hervorgehoben, nämlich Walter SCHULZ und Gerold UNGEHEUER, die in unterschiedlicher Weise Deine intellektuelle Entwicklung beeinflusst haben. Wenn man jetzt einmal von den Dir persönlich bekannten Lehrern absieht, gibt es intellektuelle Einflüsse, die für Dich besonders wichtig gewesen sind? Der Name Max WEBER ist ja schon gefallen, der Name George Herbert MEAD ist auch gefallen, Alfred SCHÜTZ habe ich noch vermisst. [9]

SOEFFNER: Was Alfred SCHÜTZ angeht, so war ich damals ein regelrechter Autodidakt. Der schon genannte Gerold UNGEHEUER hatte in den 70ern SCHÜTZ für sich entdeckt, und hatte auch im Institut mehrfach auf SCHÜTZ hingewiesen. So kam ich auf SCHÜTZ. Es war ja damals nicht viel von SCHÜTZ verfügbar: halt vor allem die drei Bände "Collected Papers" (SCHÜTZ 1971a) und der "Der sinnhafte Aufbau der Welt" (SCHÜTZ 1974).4) Das waren aber Texte, die ich mir mehr oder weniger im Selbststudium erschlossen habe und aus der damaligen Sicht, das kann ich noch einigermaßen rekonstruieren, war es so, dass mir SCHÜTZ eine notwendige und wichtige zeichentheoretische und sprachtheoretische Ergänzung zu Max WEBER zu sein schien – auch wenn mir seine Typenlehre nicht so sehr einleuchtete wie die WEBERsche Idealtypen-Lehre. Aber für mich als Angehörigen eines Instituts für Kommunikationswissenschaft war es natürlich ganz entscheidend, dass hier jemand war, der als Sozialtheoretiker über Symboltheorien und Zeichentheorien arbeitete und der dem WEBERschen handlungs-, herrschafts- und Institutionenorientierten Denken eine Art sprachtheoretischen Unterbau lieferte. Das war für mich wirklich eine ganz entscheidende Ergänzung. Wenn man heute die Sachen liest, die ich damals geschrieben habe, dann kann man mein Autodidaktentum gut erkennen. Denn was ich im Philosophiestudium über Edmund HUSSERL gelernt hatte, das habe ich zunächst gar nicht auf SCHÜTZ übertragen. Merkwürdigerweise bin ich dazu erst sehr viel später gekommen, da bin ich dann von SCHÜTZ wieder zurück zu HUSSERL gegangen. Damals habe ich zunächst ganz einfach gedacht: "Gut, das ist wunderbar, hier wird HUSSERL sozialwissenschaftlich gewendet." Und dabei habe ich es erstmal bewenden lassen. Der spätere Anstoß, mich gründlicher mit der Phänomenologie als solcher auseinanderzusetzen, kam durch die Bekanntschaft mit Thomas LUCKMANN zustande. [10]

REICHERTZ: Wann war das ungefähr? [11]

SOEFFNER: Thomas LUCKMANN habe ich 1978 kennen gelernt, auf der gleichen Tagung in Essen. Und LUCKMANN war damals der Verantwortliche für die Gründung der Sektion "Interaktion, Wissen, Sprache", die später in "Sprachsoziologie" umgetauft wurde5). LUCKMANN hatte damals auch eingeladen zu einer Tagung nach Gottlieben, an der auch Anselm STRAUSS teilnahm. Und da musste nun ein Sprecher gewählt werden. Thomas LUCKMANN, wie wir alle wissen, übernimmt solche Funktionen sehr ungern, und mit dem Gründungsantrag hatte sich – wie er meinte – sein Amt eigentlich erledigt. Jetzt sollte ein anderer weitermachen. Er kannte mich damals kaum, eigentlich nur von der Essener Tagung und von zwei, drei kürzeren Unterhaltungen, schlug dann aber aus blauem Himmel vor, ich möge doch der Sprecher sein. Prompt bin ich damals gewählt worden. Dadurch entstand der Beginn einer Zusammenarbeit mit LUCKMANN, die immer enger wurde. Ja, und dann war da inzwischen auch die Bekanntschaft mit und auch Freundschaft zu Ulrich OEVERMANN. 1978/80 haben wir viel zusammen gearbeitet. Es gab regelmäßige jährliche Treffen, die immer in Konstanz stattfanden. Die LUCKMANNsche Gruppe, das waren Walter SPRONDEL, damals war auch noch Peter GROSS dabei und Jörg BERGMANN. Die OEVERMANNsche Gruppe, das war Ulrich OEVERMANN, Constans SEYFARTH, Tillmann ALLERT und Ulf MATTHIESEN. Außerdem war noch Hansfried KELLNER meistens dabei. So entstand eine über Jahre kontinuierliche Zusammenarbeit. Zu erwähnen ist vor allem, dass Ende der 70er Jahre, Anfang der 80er, Anselm STRAUSS für mich eine immer stärkere Rolle zu spielen begann. Denn er war derjenige, der mich aus der reinen textanalytischen Ecke herausgeholte und zwar aufgrund seiner Forschungspraxis, die mich sehr faszinierte. Er hat ja durchgehend und intensiv Feldstudien betrieben, und hat dort mit sehr unterschiedlichem Datenmaterialien gearbeitet: mit Interviews, Texten, Zeitungsartikeln und natürlich mit Beobachtungen. Wir in Deutschland dagegen arbeiteten letzten Endes an Texten, wenn auch an solchen, die in so genannten alltäglichen Situationen produziert und erhoben worden waren. Was Anselm STRAUSS machte, war von Schwerpunkt her etwas anderes, es war die Analyse sozialer Welten, ganz bestimmter Milieus und Handlungszusammenhängen. Das hieß, zu dem, was wir bis dahin betrieben hatten, nämlich Textanalyse, kam Feldarbeit, Beobachtung und die Analyse von Beobachtungen und Beobachtungsdaten hinzu. Das hat mich von jeher fasziniert. Zum Teil arbeiteten wir ja schon im Institut von Gerold UNGEHEUER an ähnlichen Problemen. Wir bekamen kleine Aufgaben gestellt, die wir ethnographisch zu lösen hatten. Aber STRAUSS hat Empirie von vornherein anders bewertet: Sie war ihm Grundlage jeder validen soziologischen Theorie: Es war ein großes Projekt, Soziologie in den vielfältigen sozialen Welten zu situieren, soziologische Theorie und Alltagstheorien aufeinander zu beziehen. Den Einfluss von Anselm STRAUSS auf mich kann ich kaum genug betonen, da nur auf diese Weise erklärbar ist, wie schnell wir uns auch schon in Hagen6) von der reinen Textinterpretation wegbewegt haben, als wir uns überlegten: Was ist denn die notwendige Ergänzung und Alternative zu Textanalysen? Was geht verloren, wenn wir nur Texte interpretieren? [12]

2. Die Bedeutung von SCHÜTZ und MEAD

REICHERTZ: Ich will noch auf den intellektuellen Einfluss von George Herbert MEAD ansprechen. MEAD ist ja in der UNGEHEUERschen Tradition sehr wenig aufgegriffen worden, während er ja in der Objektiven Hermeneutik eine ganz wesentliche Rolle spielt. Du selbst – ich erinnere mich noch an Seminare in den 70er Jahren – hast ja damals sehr viel MEAD gelesen. MEAD und SCHÜTZ stehen nun aber in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. [13]

Ja, das ist richtig. Dieses Spannungsverhältnis sehe ich nur nicht so massiv, wie das viele andere tun. Der konstitutionsanalytische Zugang, den SCHÜTZ (beeinflusst durch HUSSERL) zu sozialen Phänomenen wählt, der sei, so heißt es, und das ist auch der HABERMAS-Vorwurf (siehe HABERMAS 1981) – rein bewusstseinstheoretisch organisiert. Und aus dieser Einschätzung leitet HABERMAS und leiten viele andere immer den Vorwurf ab, eine solche Perspektive habe mit Soziologie nichts zu tun und ginge an den tatsächlichen sozialen Phänomenen vorbei. Phänomenologische Sozialtheorie sei bestenfalls eine nach innen gewandte und damit realitätsferne Sozialtheorie. So etwas kann man eigentlich nur behaupten, wenn man die Arbeiten von Alfred SCHÜTZ nicht genau gelesen hat. Denn die SCHÜTZsche MEAD-Rezeption zeigt sehr deutlich, dass SCHÜTZ eine ganze Reihe von MEADschen Anregungen aufgegriffen hat. Aber Anregungen kamen nicht nur von MEAD, sondern auch von DEWEY und JAMES. Von JAMES angeleitet ist z.B. ist die Theorie der "Subuniversa" (SCHÜTZ 1971a, Band 1, S.392-401), und von MEAD beeinflusst sind die "Reziprozitätsthese", aber auch wichtige Teile der Zeichentheorie, so z.B. die Analyse der Wirkung und Interpretation von Zeichen nicht ausschließlich auf der sprachtheoretischen Ebene. SCHÜTZ ging es wie MEAD darum, Zeichensysteme zu interpretieren als auf einander abgestimmte soziale Reaktionssysteme. Was die Frage der Austauschbarkeit der Standpunkte angeht, also die Reziprozitätsthese, so ist SCHÜTZ eher ein MEADianer. Das gilt für alles, was nach dem "Sinnhaften Aufbau" geschrieben wurde, also für die gesamte Intersubjektivitätstheorie, die sehr stark durch den Amerikanischen Pragmatismus beeinflusst ist. Deshalb ist also die Differenz zwischen MEAD und SCHÜTZ weniger groß als behauptet wird. Was SCHÜTZ allerdings vernachlässigt, und das ist auch das, was mich immer irritiert hat, das ist eine stärkere Betonung des handlungstheoretischen Aspektes, so wie wir das vom Pragmatismus kennen. Ohne diesen Aspekt ist auch die Sequenzanalyse gar nicht denkbar. Was bei SCHÜTZ als "Um-zu-" und "Weil-Motive" herausgearbeitet wird, ist zwar eine handlungstheoretische Perspektive: Ich entwerfe etwas in die Zukunft hin, das ich mir in der Zukunft schon als abgeschlossen vorstellen muss, als bereits ausgeführte Handlung, an der ich mein jetziges Handeln orientiere. Auch die Unterscheidung, die LUCKMANN später betont hat, nämlich eine klare Unterscheidung zwischen Handeln und Handlung enthält den handlungstheoretischen Aspekt. Aber die Brücke, die zur Begründung einer Sequenzierung von Handeln und damit zu einer Sequenzanalyse erforderlich ist, fehlt. Unklar bleibt damit, wie das Handeln selbst als sequenziertes interpretiert werden kann. Zu dieser Frage findet sich bei SCHÜTZ wenig, bei MEAD dagegen sehr viel. [14]

REICHERTZ: Bei MEAD findet sich natürlich auch der Vorrang der Gesellschaft, der Dominanz der Handlungsnorm. Bedeutung konstituiert sich demnach in der gesellschaftlichen Interaktion im gesellschaftlichen Handeln. Und die Bedeutung eines Symbols ist die gesellschaftliche Reaktion auf dieses Symbol und die wird nach innen genommen. Das sieht SCHÜTZ doch deutlich anders. [15]

SOEFFNER: An dieser Frage ist SCHÜTZ nicht so sehr interessiert gewesen, LUCKMANN dagegen hat für diese Frage immer sehr viel mehr Interesse aufgebracht, weil er (anders als SCHÜTZ) sehr stark anthropologisch argumentiert und weil er (ähnlich wie MEAD) evolutionstheoretisch denkt. Schon bei der "Gesellschaftlichen Konstruktion" (BERGER & LUCKMANN 1977) kann man sehr deutlich erkennen, dass hier anthropologische Aspekte auftauchen, die bei SCHÜTZ fehlen. Auch in den "Strukturen der Lebenswelt" (SCHÜTZ & LUCKMANN 1979) kann man deutlich die Stellen erkennen, an denen LUCKMANN SCHÜTZ anthropologisch auffüllt. Bei der Darstellung der "Um-zu-" und "Weil-Motive" insbesondere, wenn es um das "Pragma" geht, sieht man, wie sich LUCKMANN auch hier viel stärker auf MEAD und die Anthropologie bezieht als SCHÜTZ. Ohne diese Auffüllung, glaube ich, ist die LUCKMANNsche Soziologie überhaupt nicht zu verstehen: Weder das Identitätskonzept, das er evolutionär entwickelt und sehr stark an MEAD orientiert, noch die spätere Gattungsanalyse, bei der ja immer vorausgesetzt wird, dass Gesellschaften bestimmte Probleme zu lösen haben, als Gesellschaften – Probleme also, die auch nur gesellschaftlich, d.h. intersubjektiv zu lösen sind. Eine individuelle Problemlösung, die nicht dadurch abgesichert wird, dass andere Individuen sie mit mir teilen, bleibt eben als individueller Lösungsversuch im Labor der Evolution höchstwahrscheinlich auf der Strecke, wenn es nicht eine Art Sozialisierung dieser Problemlösung gibt. Dass SCHÜTZ eine andere Bedeutungstheorie entwickelt hat als MEAD, da hast Du recht. [16]

REICHERTZ: Nun gibt es natürlich schon Stellen, wo SCHÜTZ sich sehr deutlich gegen MEAD wendet und sagt, MEAD habe falsche Prioritäten gesetzt7). [17]

SOEFFNER: Man kann sich auch sofort vorstellen, warum das so ist. MEAD ist ja, wenn man so will, gegenüber einem introspektiven Denker, der SCHÜTZ geblieben ist – konstitutionsanalytisch musste er das als ein Denker, der seinen sicheren Boden in der Konstitutionsanalyse und in der Bewusstseintheorie sucht, auch sein – dem gegenüber ein Außenbeobachter. Diese beiden Positionen lassen sich sehr schlecht zusammenbringen, ausgenommen an jenen Stellen, an denen Prozesse des interaktiven Austausches in ein Individuum hereingeholt werden. SCHÜTZ würde vermutlich zu Recht dazu sagen, dass vieles an der MEADschen Konzeption als Gedankengebäude sehr interessant ist, aber weder konstitutionsanalytisch noch empirisch hinreichend abgesichert ist. [18]

REICHERTZ: Diese Differenz zwischen der SCHÜTZschen und MEADschen Fundierung der Verstehensprozesse hat sich dann später auch zu verschiedenen Ausprägungen der Hermeneutik in den Sozialwissenschaften ihren Ausdruck gefunden. [19]

SOEFFNER: Unbedingt. [20]

REICHERTZ: Die Objektiven Hermeneuten haben sehr viel mehr MEAD zu ihrem Kronzeugen erkoren, während sie zugleich ganz massive Bedenken gegen die SCHÜTZsche Position vortragen. In der Wissenssoziologischen Hermeneutik versucht man dagegen SCHÜTZ mit MEAD zu vereinen. Inwieweit das gelingt, da bin ich mir nicht immer sicher. [21]

SOEFFNER: Ja, es ist auch schwer zu vereinen. Jeder von uns geht so vor, dass er in bestimmten Bereichen dazu tendiert, MEAD handlungstheoretisch zu nutzen, in anderen Bereichen jedoch dazu neigt, mit SCHÜTZ zu arbeiten, vor allem dann, wenn es um Symbole und Sprache, um Zeichen und Relevanzsysteme geht. Aber die eigentliche Crux des Ganzen ist die, dass zwar sowohl SCHÜTZ als auch MEAD eine Art theoretische Fundamente für die Wissenssoziologie bieten, aber beide letzten Endes etwas vermissen lassen, auf das die Wissenssoziologie nicht verzichten kann: beide arbeiteten nicht historisch. Das wiederum hat WEBER gemacht. Und hier liegt ein entscheidender wissenssoziologischer Schwerpunkt, der historische Ansatz der Wissenssoziologie macht sie für die Soziologie so zentral: Das, was wir bei WEBER gelernt haben, dass nämlich soziologische Analysen grundsätzlich historische Analysen sind und sein müssen. Bei SCHÜTZ und MEAD dagegen befinden wir uns, um mit LUCKMANN zu sprechen, insofern im Bereich der Protosoziologie. Aber wissenssoziologisch wäre es demgegenüber zum Beispiel sehr wichtig zu untersuchen (was JOAS ja zum Teil gemacht hat [JOAS 1980, S.21-66 und 1992, S.23-65]), inwiefern das MEADsche Denken von der Situation Amerikas zu seiner Zeit beeinflusst war. Amerika war Einwanderungsland, eine plural-organisierte Gesellschaft mit unterschiedlichen Signifikanten Anderen. Unter diesem Eindruck hat MEAD sein damaliges optimistisches Gesellschaftskonzept entwickelt, von dem er heute – so vermute ich – unter dem Druck nicht gelingender Pluralität abrücken würde. So etwas wie die historische Bedingtheit von Theoriebildung und die historische Bedingtheit der Dokumente, die wir analysieren, das ist weder bei MEAD noch bei SCHÜTZ wirklich mit gedacht, auch dann, wenn es bei SCHÜTZ konkret um den Fremden und den Heimkehrer geht (SCHÜTZ 1972, S.53-69 und 70-84). Was SCHÜTZ dort letzten Endes analysiert, sind protosoziologische Strukturen. Er betreibt keine historischen Analysen, also das, was man von der Soziologie und von der Wissenssoziologie verlangen muss. [22]

REICHERTZ: Nachdem nun die persönlichen wie die theoretischen Einflüsse genannt sind; ist es an der Zeit, das Ziel einer Sozialwissenschaftlichen bzw. Wissenssoziologischen Hermeneutik anzugeben. Was soll sie leisten, oder anders: Auf welche Frage soll sie eine Antwort geben? [23]

SOEFFNER: Um das zu erläutern, muss man bei WEBER ansetzen. Jede Soziologie kommt, was die Analyse von Daten angeht, insofern zu spät, als selbst die Gegenwart, die sie analysiert, beim Einsetzen der Analyse immer schon wieder Vergangenheit geworden ist. Damit steht jede Soziologie vor der letztlich nicht vollständig zu lösenden Aufgabe, anhand einer Auswahl von Daten, einer Auswahl, die man treffen muss, verallgemeinerungsfähige Aussagen zu erarbeiten, die über den Datenausschnitt hinaus Bestand haben können. Das WEBERsche Verfahren der Typenkonstruktion und Typenrekonstruktion und der Analyse geschichtlicher Abläufe hat das Ziel, diese Probleme fallspezifisch zu lösen und dabei einerseits zu einer historisch-genetischen Idealtypenkonstruktion zu kommen, auf der anderen Seite aber auch so etwas wie eine bedingte Prognostik leisten zu können. WEBER interessiert, warum etwas geworden ist, wie es geworden ist, um zu zeigen, welche Tendenzen sich aus den Wahlen und Entscheidungen ergeben haben, die von den Akteuren bis dahin getroffen wurden. Also, die Wissenssoziologie – kurz gesagt – muss historisch rekonstruktiv arbeiten, aber nicht mit dem Ziel, die Historie zu ergründen, sondern mit dem ausschließlichen Ziel, die Wahlmechanismen herauszuarbeiten, die Handelnde entwickeln, um bestimmte Ziele zu verwirklichen, und anhand dieser Wahlmechanismen so etwas wie eine Art Gegenwartsdiagnose mit bedingter Prognostik zu entwickeln. [24]

3. Die hermeneutische Wissenssoziologie als Theorie und Methodologie

REICHERTZ: Wenn man die Wissenssoziologische Hermeneutik einordnen will in das mittlerweile fast schon unübersichtlich gewordene Feld qualitativer Methoden, welche Position und welcher Stellenwert kommen der Wissenssoziologischen Hermeneutik dann zu? [25]

SOEFFNER: Die Hermeneutische Wissenssoziologie ist keine Methode im engeren Sinne. Sie ist eine Theorie und eine Methodologie, aber keine Methode. Die Wissenssoziologie als solche ist in der Auswahl ihrer Methoden verhältnismäßig offen. Es ist je nach Analysefeld oder Datenqualität fast immer so, dass man mit einer Mischung von Verfahren arbeitet. Vor allem in den großen Analysen, die auf großen Datenmengen basieren, wenn wir z.B. Milieuanalysen gemacht haben, und das gilt ja auch für Deine eigenen Arbeiten, etwa bei der Polizei, in Gerichten, im Gesundheitssystem oder für das, was ich mit STRAUSS gemacht habe, also im Feld "AIDS-Prävention". Wenn ich mit unterschiedlichen Daten arbeite, dann ist ganz klar: Ich werde bei den textlich gebundenen Daten an den zentralen Stellen sequenzanalytisch vorgehen. Ich werde bei der Frage der Auswahl der Fälle, der kontrastierenden Auswahl der Fälle, höchstwahrscheinlich weitgehend mit dem Verfahren der "Grounded Theory" arbeiten. Ich werde bei der Frage der Analyse bestimmter Regelsysteme im Kommunikationsablauf mit ethnomethodologischen Verfahren arbeiten. Das hängt immer davon ab: Was will ich eigentlich wissen? Will ich z.B. wissen, welche Regeln beherzigen die Kommunizierenden? Die Wissenssoziologie und ihre Methodologie zielen im Grunde genommen darauf, eine allgemeine sozialwissenschaftliche Theorie zu konstituieren. Wissenssoziologie ist also keine Bindestrich-Soziologie. Das, was BERGER und LUCKMANN entworfen haben und was sie Wissenssoziologie genannt haben, hat der Wissenssoziologie nach MANNHEIM zu einer neuen Position verholfen, nämlich historische Analyse plus Absicherung einer methodologischen Grundlage zu sein. Damit haben sie der Soziologie insgesamt eine bestimmte Richtung gewiesen, soweit Soziologie historische Analyse, Gegenwartsdiagnose und dies beides mit dem Ziel einer bedingten Prognose leisten will. Soziologie als Rekonstruktion der Problemlösungen, die Gesellschaften für sich finden, und die sie, aus welchen Gründen auch immer, manchmal beibehalten, manchmal wieder beiseite legen. Insofern ist – um auf Deine Frage zurückzukommen – die Hermeneutische Wissenssoziologie keine Methodenlehre. Denn es gibt nicht die eine, allein selig machende Methode, und auch die qualitativen Verfahren, auf die sich die hermeneutische Wissenssoziologie stützt, weisen eine ungeheure Bandbreite auf. Deshalb muss ich mir darüber klar sein, welche Methode was bis wohin eigentlich leisten kann; denn fast alle Verfahren sind in ihrer Leistungsfähigkeit begrenzt. Die Auswahl der Methoden muss getroffen werden anhand der Fragestellung, die ich bearbeiten will. Die basale Methode wird allerdings die Sequenzanalyse bleiben. Aber nicht ausschließlich bezogen auf Sprache, sondern eben auch auf Bildabfolgen, auf Handlungsanalysen, auf die Analyse von Fotografien und zwar nicht in der Weise, dass ich alles wie Texte behandle oder Texte über Fotografien analysiere oder den textbasierten Umweg wähle, dass ich Biographien von Menschen, die gefilmt, gemalt, fotografiert haben, analysiere, sondern, dass die Daten in ihrer spezifischen Qualität sequenzanalytisch, soweit das geht, analysiert werden. Insofern bleibt die Sequenzanalyse auch bei nichtsprachlichen Daten, die sequenzanalytische Feinanalyse, die zentrale Methode. Bei größeren Datenbeständen sieht das anders aus. Das ist klar. [26]

REICHERTZ: Aber wenn man das Spezifikum der Hermeneutischen Wissenssoziologie herausarbeiten will, also das, was die Hermeneutische Wissenssoziologie zum Beispiel von der Objektiven Hermeneutik, von der Narrationsanalyse, von der Diskursanalyse oder von der Konversationsanalyse unterscheidet, was wäre das aus Deiner Sicht? Wo man sagt, daran erkennt man, das ist das und das gehört, wenn es das nicht mehr macht, nicht mehr dazu. [27]

SOEFFNER: Wie das Wort sagt: Der Gegenstand der Wissenssoziologie ist das gesellschaftliche Wissen. Das gesellschaftliche Wissen, soweit es von Subjekten geäußert wird und rekonstruierbar ist, – das ist der Kern, das ist der Gegenstand, um den es geht. Die weitere Annahme ist, und das macht die Wissenssoziologie zu mehr als einer Bindestrich-Soziologie, dass das gesellschaftliche Wissen grundsätzlich zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen eingesetzt wird. Gesellschaftliches Wissen, so wie wir es speichern, wie wir es abrufen, wie wir es umorganisieren, hängt ab von gesellschaftlichen Problemlagen und Situationen, die mit Hilfe von Wissen bewältigt werden sollen. Dementsprechend geht es der Wissenssoziologie um die Analyse des Wissens im Bezug auf gesellschaftliche Probleme. Das unterscheidet beispielsweise den wissenssoziologischen Zugang, der – wie gesagt – per se ein historischer ist, von der konversationsanalytischen Methode. Aber das unterscheidet die Wissenssoziologie auch von den biographieanalytischen Verfahren. Biographieanalyse, so wichtig sie ist, bezieht sich ja immer nur auf subjektiv-perspektivische Ausschnitte historischer Situationen. Die FOUCAULTsche Diskursanalyse verfügt zwar über eine historische Dimension, aber was die methodische Absicherung dieser Analysen angeht, so ist sie eben außerordentlich schwach bestückt: die konkreten Dateninterpretationen sind längst nicht so valide, wie die Wissenssoziologie das von ihren Interpretationen verlangt. Ich denke, damit ist das Besondere der Hermeneutischen Wissenssoziologie deutlich geworden. Und insofern ist die Frage der Abhebung der hermeneutischen Wissenssoziologie von anderen qualitativen Ansätzen verhältnismäßig einfach. Der Horizont ist sehr viel weiter. Was die Objektive Hermeneutik angeht, so geht es hier um eine ganz andere Frage. Bei der Objektiven Hermeneutik ist es so, dass auch OEVERMANN beides leisten will. Er will ebenso eine historische Analyse und zugleich auch entsprechend der WEBERschen Tradition eine bedingte Prognostik leisten, darüber hinaus will er etwas über die objektiven sozialen Strukturgegebenheiten aussagen, und in Methodologie und Strukturanalyse so etwas wie eine soziologische Grundlagentheorie erarbeiten. Pointiert ausgedrückt: was SCHÜTZ bewusstseinsanalytisch leisten wollte, versucht OEVERMANN strukturanalytisch zu leisten – und letztlich ist, wenn man genau hinsieht, die Theorie der latenten Sinnstrukturen keine eigentlich soziologische Theorie, sondern eine Protosoziologie im Sinne LUCKMANNs. Aber die Objektive Hermeneutik ist, was ihren Erklärungsanspruch und ihre Reichweite angeht, ähnlich organisiert wie die Hermeneutische Wissenssoziologie. Auch sie ist keine Methode. Sie ist eine Methodologie mit einem hohen theoretischen Anspruch und zwar mit einem soziologischen, grundlagentheoretischen Anspruch. Wenn man die Objektive Hermeneutik nur als Methode behandelt, was ja leider häufiger vorkommt, dann halte ich das für einen fahrlässigen Umgang mit dem, was OEVERMANN entwickelt hat. Faktisch ist das, was die Leute meinen, wenn sie sagen, sie lehren Objektive Hermeneutik, dass sie lehren in begrenzten Umfang, die Sequenzanalyse anzuwenden. Aber das ist natürlich nicht der Kern der Objektiven Hermeneutik. [28]

4. Die Hermeneutik und der Funktionalismus

REICHERTZ: Der Kern der Hermeneutik lässt sich also mit den Worten von Odo MARQUARDT auf den Punkt bringen, nach denen Hermeneutik immer die Suche nach der Frage ist, auf die eine Handlungspraxis die Antwort ist (MARQUARDT 1981, S.117-146). Wir finden eine Handlungspraxis vor, und diese Handlungspraxis, die wir vorfinden, ist die Lösung eines Problems. [29]

SOEFFNER: Das haben wir schon mehrfach erwähnt, ja. [30]

REICHERTZ: Wenn das die Grundfigur der Hermeneutik ist, dann gerät man leicht in Schwierigkeiten. GIDDENS z.B. hat ja Alfred SCHÜTZ an genau dieser Stelle kritisiert, wenn er schreibt, diese Hermeneutik ist nichts anderes als verkappter Funktionalismus (GIDDENS 1996, S.78-111 und 1984, S.158-200). Im Prinzip gehe diese Hermeneutik nämlich davon aus, dass es eine Ordnung gibt, dass sich die Ordnung immer wieder herstellt, dass sie sich immer wieder ausbalanciert. Es gibt Probleme in einer Gesellschaft, und das Handeln der Personen stellt diese Ordnung, diese Balance wieder her. Das ist nach GIDDENS durchaus eine Variante des Funktionalismus. Aber auch wenn man GIDDENS nicht folgt, fragt sich, ob diese Hermeneutik nicht von einer tiefen, im Christentum verankerten Grundhoffnung getragen wird, dass nämlich Ordnung in der Welt ist. Ist diese Hermeneutik, wenn man sie so begreift, nicht gespeist von einem schon fast unheimlichen Optimismus? [31]

SOEFFNER: Das sehe ich überhaupt nicht so. Also zunächst mal, glaube ich, ist der Ordnungsbegriff in der Soziologie entweder überbelichtet oder unterbelichtet. Überbelichtet ist er z.B. in der Systemtheorie, in er man davon ausgeht, es gäbe diese Ordnung grundsätzlich schon immer, wenn schon nicht als strukturell vorliegende, so doch wenigstens in den Prozessabläufen, die als mehr oder weniger geregelt gelten. Solche Annahmen halte ich für eine Überbelichtung, und dass diese Überbetonung der Ordnung empirisch nicht zu legitimieren ist, das lässt sich sehr schnell nachweisen. Unterbelichtet ist diese Problematik immer dann, wenn man sich der Ordnungsproblematik erst gar nicht stellt, sondern einfach sagt: "Wir wollen nur ermitteln, welche Ordnung hier vorliegt." Das Dumme bei dieser Unterbelichtung ist die undiskutierte Prämisse, dass Ordnung per se vorliegt. Wie z.B. in der Konversationsanalyse8): Ordnung ist immer schon da, sie wird immer wieder in Varianten hergestellt. Das sehe ich überhaupt nicht so. Im Gegenteil: Die Menschen haben durchgehend ein grundsätzliches Problem. Sie müssen Ordnung herstellen. Zwar finden sie in aller Regel in Teilbereichen Ordnungen vor, an die sie sich in einer gewissen Weise auch halten – so z.B. in der von HUSSERL und SCHÜTZ herausgearbeiteten Strukturen der lebensweltlichen Ordnung. Dennoch gilt es herauszufinden, welche Ordnung. Daneben findet sich bei SCHÜTZ , wenn man ihn gründlich liest – und GIDDENS sollte das vielleicht einmal tun – eine Art tiefen Misstrauens gegenüber der durchgehenden Gültigkeit "mundaner Lösungen" (wie SCHÜTZ das nennt). Er schreibt an mehreren Stellen, dass ja gerade die große Sorge, die uns zu Ordnungsleistungen bringt, die sei, dass es zu einem Zusammenbruch des Mundanen kommen könne, dass Ordnung weder selbstverständlich noch überall wirksam sei. Der SCHÜTZsche Verdacht – der übrigens auch meiner ist – ist der, dass Ordnungen vor dem Hintergrund von Krisen aufgebaut werden und oft nicht funktionieren. Durch diese Bedrohung sind wir gehalten, Ordnung zu stiften. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Fast alle Gesellschaftssysteme weisen eine Störstelle auf, durch die sie sich gründlich bedroht fühlen. Und das ist das Individuum als struktureller Abweichler. Da wo individuelle Abweichung vorliegt, und das ist tendenziell überall der Fall, fühlen sich die gesellschaftlichen Institutionen, die Ordnungswächter bedroht und reagieren – oft prophylaktisch – mit Sanktionen. Dass also Ordnung "at all points" gegeben sein soll, davon kann überhaupt keine Rede sein. [32]

REICHERTZ: GIDDENS (1995, S.172ff.) verwendet in seiner Kritik des globalen Kapitalismus die Metapher des Dschagannath-Wagens – dieser Wagen, der einmal losgebrochen über alles und alle hinwegrollt. Das ist ja sein Beispiel dafür, dass Handlungen massive unbeabsichtigte Handlungsfolgen haben können, dass also das, was wir als gesellschaftliche Praxis vorfinden, gerade nicht eine sinnvolle Problemlösung ist. Möglicherweise haben die Subjekte in ihrem Handeln das als sinnhafte Lösung begriffen, aber es ist keinesfalls so etwas wie Herstellung von Ordnung, sondern das kann auch etwas ganz Fürchterliches sein. [33]

SOEFFNER: Sicher, natürlich. Das ist ganz sicher der Fall, das wissen wir ja schon seit WEBER, seit der Protestantismusanalyse, generell der Religionssoziologie, dass die Motive derer, die handeln, ganz andere sind, als die objektiven Folgen dieser Handlungen. So hat niemand von den Calvinisten oder Lutheranern abschätzen können, dass aus religiöser Selbstrechtfertigung und darauf aufbauender systematischer Lebensführung ein Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus entstehen könnte (WEBER 1972). Eine solche Einsicht ist ja keine Entdeckung von GIDDENS, das haben sowohl WEBER als auch andere soziologische Klassiker schon gezeigt. Wir haben auch an vielen anderen Beispielen gezeigt bekommen, so bei WEBER , aber eben auch bei SIMMEL, dass Individuen oder auch Gruppen und manchmal auch Nationen bestimmte Problemlösungen für sich finden, die sie für sinnhaft halten. Ob solche Lösungen jetzt tatsächlich so etwas herstellen wie die objektiv adäquatesten Ordnungen, daran hat keiner der Klassiker geglaubt; vielleicht noch am ehesten TÖNNIES. Aber das anzunehmen, halte ich für eine hochgradige Naivität. Was das Auseinanderklaffen von intendierten und dann tatsächlich eingetretenen Handlungsfolgen betrifft, so wussten auch die Klassiker natürlich schon davon. Was GIDDENS beschreibt, dass es zu Katastrophen kommen kann und historisch auch gekommen ist aus der Summierung von Handlungen, die Einzelne oder Gruppen für sinnhaft gehalten haben, dass also die unvorhersehbare Akkumulation von Handlungen zu Katastrophen geführt haben, ist auch keine so furchtbar neue Erkenntnis. Nur worauf ich Wert lege, ist: Wissenssoziologie rekonstruiert den Prozess der uns aufgezwungenen Ordnungskonstruktionen, für Konstruktionen, die aber nur für gesellschaftliche Ausschnitte und immer nur bis auf weiteres Bestand haben. Als Wissenssoziologen sind wir interessiert an der Prozessstruktur und auch an der Begrenztheit von Ordnungskonstruktionen, sonst könnten wir wissenssoziologische Kritik an der gesellschaftlichen Wertschätzung bestimmter Ordnungsentwürfe in einem tiefen Sinn ja auch gar nicht äußern. [34]

REICHERTZ: Aber wenn das Spezifikum der Hermeneutischen Wissenssoziologie ist, dass vorgefundenes Handeln immer unter der Perspektive untersucht wird, das Handeln als die Lösung eines Problems begriffen wird, dann ist natürlich immer die Frage: Wie haben die Akteure dieses Problem wahrgenommen, ist das ihr privates Problem bzw. lösen sie ein gesellschaftliches Problem. Eben hast Du auch gesagt, Subjekte lösen immer auch gesellschaftliche Probleme mit dem, was sie tun. Nehmen sie die wahr als gesellschaftliche Probleme? Oder lösen sie Probleme, die gesellschaftliche sind, die aber als subjektive, also die in der Intentionalität gar nicht als solche wahrgenommen werden? Dann wären wir ganz schnell am Funktionalismus dran. [35]

SOEFFNER: Nein, inwieweit ein Subjekt wahrnimmt, dass es in einer bestimmten Situation ein allgemeines, gesellschaftliches Problem löst, das lässt sich schwer rekonstruieren. Dass aber das Subjekt in seinem Handeln und seiner Handlungsorientierung so etwas wie, ich würde da lieber bei der WEBERschen Formulierung bleiben, eine Art sozialen Sinn herzustellen gezwungen ist, das liegt auf der Hand. Ob es den Problemhorizont als ganzen, gesellschaftlichen begriffen hat oder nicht, spielt dabei keine so große Rolle. Ich bin mir jetzt nur nicht ganz sicher, ob das Deine Frage trifft. [36]

REICHERTZ: Die Frage ist immer noch: SCHÜTZ oder MEAD? Oder anders: Was ist der Bezugspunkt für hermeneutische Rekonstruktionen von Sinn? Man kann einerseits das praktische Tun eines Akteurs aufgrund seiner subjektiven, durchaus gewussten, Relevanzen verstehen. Ich nenne das erst einmal, wenn auch ein bisschen überspitzt, die SCHÜTZsche Perspektive. Und man kann natürlich auch das Handeln begreifen als die Lösung gesellschaftlicher Probleme, die der Akteur möglicherweise gar nicht als solche realisiert, aber er hat genau dieses Problem und er muss es bearbeiten. Das sind natürlich unterschiedliche Perspektiven für die hermeneutische Rekonstruktion: die eine Perspektive bezieht sich auf die Handlungsprobleme des Subjekts und die andere bezieht sich auf die Strukturprobleme einer Großgruppe. [37]

SOEFFNER: Ja, die Frage, die WEBER und SCHÜTZ, aber vor allem WEBER sich stellt: Gehe ich aus von der Perspektive, die mir zur Verfügung steht, nämlich von der subjektiven, d.h. auch wissenschaftstheoretisch von der egologischen Perspektive oder ist es mir möglich, eine Beobachterposition anzunehmen, die vorweg definiert, welches die gesellschaftlich zu lösenden Probleme sind, um dann zu sehen, wie die Individuen diese Probleme bearbeiten? WEBER – und ich selbst auch – wir gehen davon aus, dass man die so genannten objektiven Probleme innerhalb einer Gesellschaft nur über die Interpretation der tatsächlich stattfindenden subjektiven, also immer aus zwar sozialorientierter, aber letztlich egologischer Handlungsperspektive analysieren kann. Wir wissen nicht von vornherein, was die objektiven Probleme der Gesellschaft sind oder waren. Mag sein, dass wir das nach vielen hundert Jahren historischer Arbeit wissen. Aber wenn ich mir ansehe, wie schwer sich z.B. die Mediävistik bei der Bewertung des Mittelalters tut, dann haben wir in den letzten fünfzehn Jahren, also ich will nicht zu hoch greifen, zehn verschiedene Mittelalter gehabt, d.h. die Vergangenheit ändert sich durch die Interpretationsarbeit der jeweiligen Gegenwart unentwegt. Und wenn das bei dem Mittelalter so ist – und das müssten wir ja nun objektiv sehen können –, dann weiß ich nicht, welchen Grund wir haben sollten, so optimistisch zu sein, anzunehmen, wir wüssten, welche Strukturprobleme heute objektiv, also aus der Sicht eines allwissenden Erzählers, vorliegen und dementsprechend von den Individuen zu lösen sind. Die Welt und ihre Wirklichkeit werden konstruiert von Menschen, und die definieren auf der Grundlage ihrer subjektiven Wahrnehmung, was ihre Probleme sind. Die später hinzukommenden Historiker definieren diese Probleme auch immer mal wieder neu. SCHÜTZ oder MEAD? Die Antwort heißt: WEBER. Das Individuum und seine Perspektive, das ist das, was uns zur Verfügung steht, und alles andere, was sich über dem Individuum ausbaut, Gruppe, Gesellschaft, Nation, Verband, Gemeinwesen, sind bereits gesellschaftliche Konstrukte in ihrer jeweiligen historischen Ausformung. Und eines darf man nicht übersehen, darüber haben wir noch nicht gesprochen. Es gibt jenen großen Bereich, den LUCKMANN das "Soziohistorische Apriori" (LUCKMANN 1980, S.127; siehe auch SOEFFNER 1989, S.12ff) nennt, das Ordnungs- und Sinnsystem, in das wir hineingeboren werden und das wir erlernt haben d.h. wir übernehmen weitgehend unbewusst Problemlösungen, die wir als solche gar nicht erkennen. In bestimmten routinisierten Handlungen oder in Erziehungssystemen übernehmen wir einfach uns auferlegte, alte Lösungen, ohne dass uns bewusst ist, was durch die von uns übernommenen institutionalisierten Ordnungen einmal gelöst worden ist. Solche Ordnungen bilden eine Art Sicherungssystem, das wir solange benutzen, wie wir das Gefühl haben, dass es uns nicht allzu viel Denken oder Unsicherheit abnötigt, so dass wir in weiten Bereichen unseres Lebens einigermaßen gut über die Runden kommen. Man kann das auch mit GEHLEN (1986) sehen: Wenn eine Institution sich von einer ursprünglichen Problemlösung über eine Verhaltensgewohnheit bis zu einem Rechts- oder Wirtschaftssystem herausgebildet hat, kommt es analytisch darauf an herauszufinden, wann ist die Institution entstanden, worauf war sie damals eine Problemlösung. Es kann gut sein, dass diese Institution damals ein Problem gelöst hat, das heute in dieser Form gar nicht mehr besteht. Dass die Institution dennoch weiter existiert, weist aber daraufhin, dass wir heute mit ihr ein anderes Problem lösen. Institutionen – wie GEHLEN das treffend beschrieben hat – ersetzen auf ihre spezifische Weise die relativ unterentwickelte menschliche Instinktausstattung. Sie sind das, was wir uns als die zu uns passende Umwelt geschaffen haben: eine Art Welt, die um uns herum geordnet ist wie ein Bücherschrank. Diese Welt bleibt bis auf weiteres bestehen, bis ein Feuer ausbricht oder Diebe einbrechen. Es ist eine Umwelt, in der wir unsere Reiz-Reaktion-Schemata einigermaßen gesichert ablaufen lassen können, indem wir uns künstlich unsere eigenen Reize schaffen. So entsteht, um mit PLESSNER zu sprechen, aus unserer "natürlichen Künstlichkeit" unsere zweite Natur: Kultur. [38]

5. Hermeneutik und das Verstehen des Nichtintendierten

REICHERTZ: Jetzt hast Du noch etwas anderes ins Spiel gebracht, zunehmend mit dem Soziohistorischen Apriori, aber auch mit GEHLEN und den Institutionen, etwas, was der Hermeneutik oft zum Vorwurf gemacht wird; nämlich dass sie zu kognitivistisch argumentiere. Verstehen heißt – so der Vorwurf – immer sinnhaftes Handeln, und damit sei unterstellt, dass unser Handeln weitgehend bestimmt sei durch bewusstes Setzen, bewusstes Entscheiden. Nun hast Du eben selbst darauf hingewiesen, dass eine Fülle unserer Handlungen eben nicht durch kognitive, bewusste Entscheidungstätigkeit gewählt werden, sondern sich durch Übernehmen von Routinen oder sich durch den Anschluss an Institutionen ergeben. Wie kann man solche Handlungen nun hermeneutisch interpretieren? [39]

SOEFFNER: Für solche Interpretationen gibt es ja Beispiele. Wenn WEBER sich einen bestimmten Verband, eine bestimmte Religion, eine bestimmte Wirtschaftsform angesehen hat, dann hat er sie als in bestimmter Weise gegeben zunächst einmal vorgefunden. Die Frage hieß dann: Welches Problem wurde aus der Sicht der Akteure wahrgenommen und durch die daran anschließenden gesellschaftlichen Konstruktionen bewältigt, also welche Motive verbanden die Handelnden mit ihrer Selbstzuordnung zu einer Institution, zu einem Verband, zu einer bestimmten Wahrheit? So war z.B. das Zunftsystem ein System hochgradig geregelter Sozialverhaltens-Schemata. Hier ging es nicht darum zu rekonstruieren, wie das individuelle Handeln darauf zu reagieren hatte, sondern hier ging es um die Frage, was löst eine solche Institution wie die Zunft für die in ihr organisierten und arbeitenden Individuen. Was würde sofort in sich zusammenbrechen, wenn dieses Regelsystem nicht mehr existierte? Welche Unsicherheitsstellen kämen zwangsläufig? Aber es ging auch um die Frage: Wenn ein solches System entsteht, wie sehen dann das normativ sinnhafte Handeln eines Handwerkers und damit auch sein Wertsystem aus, wenn ganz bestimmte Regeln vorgegeben sind, an die er sich weitgehend halten muss? Wie groß ist das Abweichungspotential? Das Interessante ist, dass solche Fragestellungen, wenn auch mit einer anderen Perspektivik –wenn man so will: mit kleinerer Münze, auch bei GOFFMAN auftauchen. Auch GOFFMAN ist ja ein hochgradiger Pessimist, was die ständige Bewusstseinsfähigkeit unseres Handelns angeht, auch beim ihm geht es immer darum, dass sich Individuen zwar immer auf Routinen stützen, zugleich aber in konkreten Situationen herausfinden müssen, was hier eigentlich los ist (vgl. hierzu HITZLER 1992). Solange sie Routinen haben, auf die sie sich stützen können und an die sich auch alle anderen halten, sind die Individuen eigentlich erst einmal ganz glücklich. Selbst wenn diese Routinen verheerend und manchmal auch außerordentlich gefährlich sein können. Was leistet hier die Wissenssoziologie? Sie ist gut dazu geeignet, solche gesellschaftlichen Illusionsbildungen verhältnismäßig genau aufdecken zu können. Eben weil sie es vermag, aus egologischer Perspektive die jeweiligen möglichen Motivrekonstruktionen vorzunehmen und auch zu zeigen, wieso Routinen das Individuum beruhigen und ihm Sicherheit an die Hand geben, aber auch nachzuweisen , dass bestimmte Routinen letzten Endes etwas ganz anderes bewirken können, als sich das Individuum dies vorgestellt hat. Das, denke ich, ist der Vorteil der hermeneutisch wissenssoziologischen Perspektive. Würde ich die Außenbeobachtung als Ansatz wählen, also einen so genannten nicht-kognitivistischen, dann käme ich in Teufelsküche. Denn als Philosoph müsste ich sagen: der Außenbeobachter ist natürlich auch ein Kognitivist. Er versucht nur, ein Beobachtungsproblem, das er selbst haben müsste, auszuklammern, nämlich das der immer mitlaufenden Selbstbeobachtung. Eine solche perspektivische Verkürzung ist ein riskantes Unternehmen. Wir sind nun mal, welche Methoden wir auch immer anwenden, keine wandelnden Messinstrumente ohne Leiblichkeit und ohne ein emotionales und kognitives "Innenleben". [40]

REICHERTZ: Also müsste man die Hermeneutische Wissenssoziologie begreifen als eine Methodologie und eine Theorie, die ihren Ausgangspunkt von empirischen Daten nimmt, die eine empirisch vorfindbare Praxis repräsentieren. Diese Daten werden dann je nach Fragestellung mit dazu passenden Verfahren ausgedeutet – und zwar kann man einerseits den Akteur als Bezugspunkt nehmen, andererseits auch die Gesellschaft oder verschiedene soziale Verbände, Gruppen usw. Entscheidend ist allein, dass alles Deuten von der Handlungspraxis der beteiligten Akteure ihren Ausgang nehmen muss. Also der Ansatz ist nicht: Ich schaue mir vorher die Gesellschaft an und mache eine Theorie darüber, sondern die Praxis ist der Ort, an dem sich Gesellschaft, Strukturen etc. zeigen und an dem sie sichtbar gemacht werden können. [41]

SOEFFNER: Man muss immer wieder daran erinnern, dass das Denken WEBERs sehr viel mit dem KANTischen zu tun hatte, und der Zugang zur Wirklichkeit, den auch KANT immer wieder wählt, ist der über ein erkennendes Subjekt. Jede andere Zugangsart, das versucht KANT ja zu zeigen, ist selbst in den naturwissenschaftlichen Theorien deswegen schwächer, weil, mit dem KANTschen Argument, das Subjekt der primäre Ort jeder Erfahrung und Erkenntnis ist. Auch KANT sah das Auseinanderklaffen von subjektiven Motiven oder Intentionen auf der einen und objektiven Folgen auf der anderen Seite. WEBER übernimmt von KANT, das, was man dann egologische Perspektive genannt hat, die transzendental-philosophische Ausgangslage. Wir haben zunächst nichts anderes zur Verfügung als subjektive Erkenntnis. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Das gilt auch im Fall eines epistemischen Subjekts, also eines ideal gedachten Subjekts. Bei einer Außenperspektive, die diese theoretische Basis verlässt, sehe ich nur Fallstricke und Illusionsbildungen, die zu kontrollieren unglaublich schwer fällt. Was ein Außenbeobachter als Problem hat, ist, dass er von vornherein einer Theorie traut, von der eigentlich nicht angegeben werden kann, worauf sie sich stützt, außer den empiriefernen, theorieimmanenten Kriterien der Geschlossenheit, Wohlgeformtheit und Widerspruchsfreiheit. Solche Kriterien sagen etwas über die Theorie aus und nicht über die Wirklichkeit, die wir untersuchen wollen. Letztere ist nun mal nicht widerspruchsfrei. Soweit wir wissen. [42]

6. Über die Gültigkeit hermeneutischer Interpretationen

REICHERTZ: Ein besonderer Pfiff dieser Art der Hermeneutik ist ja auch, das hast Du ja schon sehr früh formuliert, dass der Hermeneut nicht nur über die Welt, die betrachtete Welt, etwas erfährt, sondern auch über seine Art des Interpretierens (SOEFFNER 1989, S.66-97). Insofern ist diese Art der Hermeneutik stets selbstreflexiv. Dennoch: Die Hermeneutik muss sich immer wieder mit dem Vorwurf auseinandersetzen, ihre Ergebnisse seien nicht objektiv und könnten nicht intersubjektiv überprüft werden. Die entscheidende Frage lautet also: Wie brauchbar ist die Hermeneutik für die Wissenschaft, wie valide sind die hermeneutisch gewonnenen Erkenntnisse? [43]

SOEFFNER: Wir haben ja vorhin schon, als wir über die Sequenzanalyse gesprochen haben, gesagt, dann, wenn eine Methode methodologisch und theoretisch so untermauert wird, dass wir sagen können: "Die Sequenzanalyse ist die methodologische Konsequenz einer empirisch fundierten Handlungstheorie". Sie rekonstruiert vor dem Hintergrund eines immer wieder zu exemplifizierenden intersubjektiv gültigen Bedeutungspotentials von Sinneinheiten die objektiv möglichen Schritte des Handelns in Bezug auf ein bestimmtes Handlungsziel hin und auf die damit verbundenen Selektionsprozesse. Wenn wir also so vorgehen, können wir behaupten: wir verfügen über einen relativ hohen Objektivitätsstandard. Konkret heißt dies, wenn wir sequenzanalytisch argumentieren, müssen wir in der Interpretation nachweisen, dass jeder vernunftbegabte, kompetente und sprachfähige Handelnde die Begründung seiner Handlung in eben in dieser Form geben würde. Hier wird also das konkrete interpretierende Subjekt eingebunden in den Schiedsspruch der Intersubjektivität. So entsteht ein hermeneutisch-epistemisches Subjekt, also ein Subjekt, das eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllen muss: Vernünftigkeit, Bewusstheit, Reflexivität und natürlich sprachliche Kompetenz. Das heißt, dieses epistemische Interpretationssubjekt ist, und das macht es möglicherweise angreifbar, so etwas wie die wissenschaftliche Objektivierung einer egologischen Perspektive. Aber zu sagen, je nach Interpret kann man ein Handlungsprotokoll mal so und mal so verstehen, das kann man beim besten Willen nicht sagen. Eben deshalb ist es wichtig zu betonen, dass Sequenzanalysen am sinnvollsten in Gruppen vorgenommen werden. Warum? Weil die empirischen Subjekte, die eine Interpretationsgruppe bilden, gehalten sind, nach Maßgabe dieses idealiter gedachten, kompetenten Handelnden und auch Analysierenden ihre Entwürfe als konkret-empirische einbringen, Deutungen als allgemein, legitimierbar und als die eines vernünftigen Menschen verständlich machen können. Das heißt, die Kontrolle, sowohl durch die Individuen, durch empirische Subjekte der Interpretationsgruppe als auch durch nachfolgende Interpreten besteht nicht nur im einfachen Nachvollzug einer Deutung, sondern auch dadurch, dass mit jedem Individuum das Lesartenrepertoire sich erweitern kann. Und das heißt: Der Gewinn eines hermeneutischen, sowohl rekonstruktiven als auch prospektiven Verfahrens besteht in der Reichhaltigkeit der durch dieses Verfahren zustande kommenden Interpretationshorizonte. Diese sind im Material erheblich reicher, als all das, was wir durch andere Verfahren kennen können. Gleichzeitig liegt mit der Sequenzanalyse fast ein Falsifikationsinstrument vor. Nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinne, aber in einem historischen Sinne. Hier kann man durchaus mit der POPPERschen Denkfigur des historischen Verstehens arbeiten. Hermeneutisch rekonstruktiv-prospektiv Sequenzanalysen sind also sind also sicherer, valider und material gesättigter als die meisten quantitativen Verfahren. Bei diesen sind zwar die Rechenarten gesichert und erprobt, der Bezug zur analysierten Wirklichkeit jedoch nicht. [44]

REICHERTZ: Das könnte man aber als eigenwillige Verbindung der Konsensustheorie von Wahrheit mit der Widerspiegelungstheorie von Wahrheit deuten. Denn die Berufung auf die Gruppe bezieht sich ein bisschen auf Konsensus und die Berufung auf das epistemische Subjekt, also darauf, dass jeder Vernunftbegabte dem zustimmen können muss, das ist ja kein empirisches Argument mehr, das geht ja darüber hinaus. Das klingt so wie: Rufen wir die Vernunft unserer Gesellschaft in den Zeugenstand, dann muss die auch dieser Interpretation zustimmen. Und damit ist man schon über dem konkreten Einzelnen. Und dann ist natürlich die Frage: Wo ist man da? Ist man da in der objektiven Rekonstruktion des Objektiven oder ist man immer noch in einer perspektivengebundenen Interpretation des Objektiven? [45]

SOEFFNER: Also zunächst einmal: Die Gruppe, die auf eine Konsensfiktion hin interpretiert, wird, wenn es eine starke Meinungsführerschaft innerhalb der Gruppe gibt, tatsächlich in eine spezifische Richtung oder die Unterwerfung unter eine Autorität gedrängt werden können. Keine Frage. Das für die Sequenzanalyse verpflichtende Regelsystem verlangt aber: Finde auch die unmögliche oder die unwahrscheinlichste, aber dennoch theoretisch mögliche Lesart. Das heißt, die Gruppe wird im Grunde genommen aufgefordert – das ist das Regelsystem – gerade auf Konsens hin, sondern auf Dissens hinzuarbeiten. Deine weitere Frage, ob der Hermeneut eine allgemeine menschliche Vernunft anruft, aufrufen, die Interpretation zu tolerieren oder anzuerkennen, zu akzeptieren oder zu verwerfen, hat schon GADAMER mit dem Hinweis auf den immer wieder neuen Schiedsspruch der Geschichte beantwortet. Mit GADAMER, aber vor allem mit NIETZSCHE, von dem ich wahrscheinlich mehr beeinflusst bin, als es zunächst aussieht – würde ich sagen, die Interpretationen, die zustande kommen, gelten solange, bis sie durch einen Anderen begründet widerlegt werden können. Und höchstwahrscheinlich sind alle Interpretationen historisch derartig gebunden, dass historisch mir nachfolgende Interpreten mir anhand meiner Interpretation zeigen können, aufgrund welcher historischen Gebundenheit meine Interpretation so wurde, wie sie ist. Jeder Interpret steht für bestimmte Perspektiviken, weil auch er für sich bestimmte historische Probleme zu lösen hat, die für den Nachfolger möglicherweise in dieser Form gar nicht mehr existieren. Der schon erwähnte GADAMERsche Satz gilt hier, dass letzten Endes über die Richtigkeit oder die Falschheit einer Interpretation der Schiedsspruch nicht der Vernunft, sondern der Geschichte entscheidet (GADAMER 1975). Und das heißt – ganz in der Tradition von NIETZSCHE –, dass die historisch Nachfolgenden, wenn sie historisch andere Probleme zu lösen haben auch die Geschichte der Interpretationen neu schreiben. Das heißt, der jeweilige Standort der Interpreten wird gerade in den Interpretationen für die nachfolgenden Interpreten deutlich. Insofern gibt es für die Geistes- und Sozialwissenschaften gar kein allgemeines, überzeitliches Verifikationskriterium. Auf der Ebene der Protosoziologie, bei der Frage nach Funktion und der Struktur von Bedeutung, mag es so etwas geben. Aber auch im Hinblick auf allgemeine Konstruktionsprinzipien für Theorien wird man fragen können, wieso zu bestimmten Zeiten diese und zu anderen jene Formen einer theoretischen Erklärung gewählt wurden. Auch hier gibt es historische Einflüsse. Für die historischen Interpretationen gibt es kein sicheres Refugium wie POPPERS Welt Drei, das kann es auch gar nicht geben. Und die ewige Jugend der Soziologie, ihre ewige Jugendlichkeit, liegt ja auch gerade darin begründet - nicht nur auf der Ebene der fortschreitenden historischen Entwicklung, sondern eben auch auf der Ebene der fortschreitenden Interpretation und der permanenten Korrekturen von Interpretationen. [46]

7. Die Bedeutung der Hermeneutik im nichtdeutschsprachigen Kulturraum

REICHERTZ: Ein anderes Thema: Die Hermeneutik als qualitatives Verfahren in den Sozialwissenschaften ist in Deutschland durchaus wichtig geworden, sie hat sich gut etabliert. International ist die Hermeneutik jedoch ein noch kleines Pflänzchen. Weshalb ist das so? [47]

SOEFFNER: Zunächst einmal glaube ich, dass die Hermeneutik in den angelsächsischen Bereichen, vor allem in dem amerikanischen Bereich, außerhalb der Literaturwissenschaften keine zentrale Bedeutung hat. Aber große Teile des Vorgehens von Anselm STRAUSS in der Grounded Theory kann man ohne Skrupel als – zumindest teilweise – hermeneutisch bezeichnen. Auch in Japan finden sich Bezüge zur Hermeneutik. Das ist auch wegen der HEIDEGGER-Rezeption in Japan kein Wunder. Und dass sie die philosophische Hermeneutik, auch GADAMER, für wichtig halten, liegt daran, dass ein großer Teil der traditionellen Textauslegung in Japan sehr nah an hermeneutischen Traditionen liegt, ohne dass das Wort Hermeneutik ausdrücklich fällt. Aber ob der Ausdruck Hermeneutik fällt oder nicht, das ist nicht die zentrale Frage. Die wäre vielmehr, wie jene Theorien konzipiert sind in deren Zentrum Probleme des Verstehens stehen, und das ist eine ganze Reihe von Theorien. Ansonsten kommt es nicht darauf an, ob der Begriff Hermeneutik fällt oder nicht. Die europäische Rezeption der Antike und insbesondere haben hier eine besondere philosophische Tradition und die geht nun wirklich weit zurück. Da ist vieles zusammengekommen: die idealistische Philosophie, SCHLEIERMACHERs an PLATO geschulte Textauslegung, der DILTHEYsche und NIETZSCHEanische Versuch, HUSSERL, HEIDEGGER und die philosophische Anthropologie; das ist eine historisch gewachsene und in ihrer Weise auch einmalige Konstellation. Die hat dazu geführt, dass in Deutschland etwas entstanden ist, das es so woanders nicht gibt. Bis hin, so würde ich sagen, zur GADAMERschen Philosophie. Geändert und erweitert hat sich diese Denkfigur aber in den 60er, 70er Jahren mit der Rezeption des Amerikanischen Pragmatismus und der Rückkehr der Emigranten. Mit der Wiederentdeckung von Alfred SCHÜTZ und der MEADschen Handlungstheorie hat die Hermeneutik, die klassische Ausprägung der Hermeneutik, einen enormen Bruch erfahren. Die Hermeneutik – so hatten wir ja schon vorhin festgestellt – wies zunächst keinen handlungstheoretischen Aspekt auf. Auch die Anthropologie spielte in ihr keine zentrale Rolle. PLESSNERs KIERKEGAARD zitierende Formulierung, dass der Mensch ein Verhältnis sei, das sich zu sich selbst verhalten, und dass er damit ein Wesen sei, das zwangsläufig sich selbst auslegen müsse, nicht weil Theorien dies nahe legen oder Hermeneuten das wollen, sondern weil der Mensch so angelegt sei, wies hier in eine neue Richtung . Der Mensch als ein Wesen, das nicht in sich zentriert ist, keinen Wesenskern hat, durch eine exzentrische Positionalität charakterisiert ist und sich daher ständig vergewissern muss, wer es ist, was es tun soll und worauf es sich überhaupt verlassen kann ist per se auf Auslegung und Selbstauslegung angelegt. Und das ist, wenn man so will, eine anthropologisch erweiterte klassische Tradition. Wir nehmen zu dieser Tradition SCHÜTZ und MEAD dazu, dann bekommt diese Konzeption als anthropologische und hermeneutische Theorie ein neues methodologisches Fundament. Der an die europäische und deutsche Tradition erinnernde Begriff Hermeneutik ist insofern, denke ich, von außen gesehen irreführend, als er die amerikanischen Anteile, die wir spätestens seit den 70er Jahren aufgenommen haben, verkennt. Wir haben die Hermeneutik nicht einfach weiter geschrieben, sondern ergänzt und in wesentlichen Teilen umgeformt. [48]

REICHERTZ: Wenn man sich ansieht, wie deutsche Soziologie in England, in Frankreich und in Amerika aufgenommen wird, dann muss man feststellen, dass die Kritische Theorie durchaus immer noch rezipiert wird und auch der französische Poststrukturalismus. Aber das, was die Hermeneutik im deutschsprachigen Europa entwickelt hat, wird fast gänzlich übersehen. Gibt es dafür Gründe? [49]

SOEFFNER: Es gibt wohl vordergründig eine Erklärung, die aber nicht so weit trägt: das Sprachproblem, dass die Angelsachsen schlicht und ergreifend die deutschen Texte nicht lesen. Die französischen lesen sie allerdings auch nicht. Und es gibt natürlich Übersetzungen. Max WEBER ist nicht immer zufrieden stellend ins Englische übersetzt, und ich finde es nach wie vor außerordentlich bedauerlich, dass angebliche WEBER-Kenner bei den amerikanischen Kollegen nicht im Stande sind, deutsch zu lesen und die Übersetzungen zu prüfen. Wenn sie es könnten, sähen viele WEBER-Interpretationen vollständig anders aus. Aber hier legt das Werk eines Denker zumindest übersetzt vor, für große Teile des Werkes von SIMMEL gilt das auch. Der "gesellschaftliche Konstruktion" von BERGER und LUCKMANN kommt eine besondere Stellung zu: es ist in den Grundzügen ein durchaus zweisprachiges Buch: Es ist zwar in englischer Sprache erschienen, aber, meiner Ansicht nach sind die beiden Autoren damals, als sie es geschrieben haben, der deutschen Sprache näher gewesen als der amerikanischen. Das merkt man dem Buch auch an. Aber es gibt darüber hinaus ein Problem und dafür sind die deutschen hermeneutischen Wissenssoziologen selbst verantwortlich. Die Poststrukturalisten, die Franzosen, auch die so genannte Kritische Theorie bis hin zu Ulrich BECK haben zeitdiagnostisch gearbeitet. Das heißt, sie haben – gleich wie man zu diesen Theorien steht – das Risiko auf sich genommen, Phänomene der Gesellschaft analytisch, programmatisch oder wie immer man das nennen will, anzugehen. Aber sie haben sich diesen Phänomen gestellt, und sie haben ihre Arbeiten in einen allgemeinen Diskussionszusammenhang gestellt. Das hat die deutsche Wissenssoziologie nach dem Krieg in dieser Form kaum getan. Wir finden zwar auch – das gilt ja für mich selbst auch – eine ganze Reihe von historisch und zeitanalytischen von Aufsätzen, und es gibt eine große Vielfalt von Fallstudien, Einzelbeobachtungen, sehr sorgfältigen und zum Teil auch faszinierenden Einzelanalysen. Aber die sind nicht zusammengebunden worden zu einer Art übergreifender Gesellschaftsanalyse, die es fertig gebracht hätte, die Öffentlichkeit zu erreichen, theoretisch und thematisch zu erreichen. Stattdessen hat die deutsche Wissenssoziologie, und zumal die Hermeneutische, aber das gilt auch für die Objektive Hermeneutik, sich über Jahre in Methoden- und Methodologiedebatten aufgerieben, wo es stattdessen nötig gewesen wäre, etwas anderes zu machen, als sich auf sich selbst zu konzentrieren. Eines der wirklich großen wissenssoziologischen Werke ist allerdings tatsächlich – obwohl es vom Umfang her sehr dünn ist – weltweit zur Kenntnis genommen worden. Es ist LUCKMANNs "Unsichtbare Religion" (1991). Aber wenn ich überlege, was denn da sonst noch entstanden und international diskutiert worden ist, aus der Sicht der Wissenssoziologie – da fällt einem nicht mehr so furchtbar viel ein. Und das ist natürlich außerordentlich bedauerlich. [50]

REICHERTZ: Aber könnte man nicht auch mit guten Gründen in die andere Richtung fragen. Bräuchten zum Beispiel nicht einige der aktuellen Zeitdiagnostiker aus Harvard etwas mehr Hermeneutik. [51]

SOEFFNER: Natürlich könnten einige die Hermeneutik brauchen. Das kann man schon daran erkennen, dass diese Zeitdiagnostiken eine unglaublich geringe Halbwertzeit haben. Meist gelten sie gerade für ein Jahr oder ein halbes Jahr. Und fast immer sind sie eigentlich nur gehobenes Feuilleton, das sich letzten Endes in einer Medienschleife bewegt. Die Autoren greifen aktuelle Themen aus den Medien auf, analysieren die, relativ kurzfristig, gehen – sich selbst promotend – in die Medien rein und bleiben auf diese Weise in einem Aufmerksamkeitszyklus. Da bleibt nicht viel Zeit zu einer sorgfältigen Analyse. Was wirklich wichtig wäre, das ist eine tiefgründige Analyse bestimmter zentraler überdauernder Phänomene, von denen man sagen kann, dass sie schon eine ganze Weile existieren und dass sie uns auch weiterhin bewegen werden. Als LUCKMANN die "Unsichtbare Religion" schrieb, gab es die Säkularisierungsdebatte. Ist Säkularisierung nun ein moderner Mythos oder findet Säkularisierung tatsächlich statt, und wenn ja, wo? Eine ähnlich tiefgehende Untersuchung, etwa zur Globalisierungsproblematik, gibt es bisher nicht. Noch – im wahren Sinne des Wortes – komischer wird die Sache bei der so genannten Wissensgesellschaft. Viele der Leute, die über den Bereich Wissensgesellschaft arbeiten, bezeichnen sich als Wissenssoziologen, aber sie sind es nicht. Gesellschaftliches Wissen ist zwar ihr Gegenstand, aber sie bearbeiten diesen weder wissenssoziologisch noch im Hinblick auf seine historische Herkunft und seine aktuelle Besonderheit. [52]

8. Die Aufgaben einer wissenssoziologischen Hermeneutik

REICHERTZ: Noch einmal: Braucht die Welt die Hermeneutik oder ist die Hermeneutik noch zeitgemäß? Die Hermeneutik ist ja selbst Kind einer historischen Entwicklung, der Erfindung der Tiefe, also der Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe: Die Oberfläche ist das Eine, aber unter der Oberfläche gibt es das Wichtige. Deshalb reicht es nicht, die Oberfläche allein anzusehen, sondern in den Blick genommen werden muss das Innere, das Tieferliegende. Und ist diese Grundfigur von Oberfläche und Untergrund, ist das überhaupt noch eine zeitgemäße Art, Gesellschaft zu analysieren und widerspricht das nicht dem amerikanischen Harvard-Science-Pragmatismus, der immer sagt: "What you see is what you get". [53]

SOEFFNER: Ja nun, diese von Dir genannte "Oberfläche-Hintergrund-Figur", das wäre die Wissenssoziologie der Frankfurter Schule. Es gibt, so die Prämisse, bestimmte Phänomene und dahinter verbergen sich bestimmte Mechanismen. Die "Oberfläche" können wir analysieren und auch das, was darunter ist. Aber das ist nicht die Wissenssoziologie, über die wir bisher gesprochen haben. Auch die WEBERsche argumentiert nicht so. Es gibt keine bloß vordergründige Welt und eine Mechanik dahinter, sondern die Wissenssoziologie verlangt historische Prozessanalysen. Zwar hat auch WEBER sich nicht gescheut, so etwas wie allgemeine soziale Problemlagen anzunehmen. Das würde auch ich tun. Aber immer gelten die HUSSERLsche Devisen: "Zu den Dingen, ad res" und: "Wer mehr sieht, hat mehr recht" und diese Devise bezieht sich auf die Phänomene. Die Antwort auf die Frage, ob die Welt die Hermeneutik braucht, ist eine beinahe katholische: Die Hermeneutik ist relativ alt und hat sich sehr bewährt, über die Zeiten hinweg, mit großen Variationen, man hat sie historisch immer wieder verändert, sie ist von den religiösen Texten ausgegangen, bis hin zu Alltagstexten und Alltagsphänomenen. Sie ist also bewährter und in dieser Weise auch ausgearbeiteter und verlässlicher als viele der Verfahren, die nach ihr gekommen sind und die wir zum Teil ja schon wieder weggeworfen haben. Man muss sich im Hinblick auf die Hermeneutik auf jeden Fall in Erinnerung rufen, dass schon Generationen über Jahrhunderte an der Ausmerzung bestimmter Fehler gearbeitet haben. Was die Gegenwart selbst angeht: ich wüsste gar nicht, welches Vorgehen der Gesellschaft in der Zeitdiagnose mehr bieten könnte als eine Form der um eine härtere Empirie angereicherten WEBERschen Wissenssoziologie. Eine solche Hermeneutik kann eine soziologische Antwort auf die Frage geben, woher kommt diese Gesellschaft beziehungsweise auf das, was wir heute gesellschaftlich wissen und was wir warum wissen wollen. Wie strukturieren sich Gegenwartsgesellschaften vor dem Hintergrund welcher Problemen und wohin werden sich diese Gesellschaften höchstwahrscheinlich entwickeln. Ich kenne keine Theorie, die solche Fragen in ähnlicher Weise auch methodisch unterfüttert, gegenwärtig besser in Angriff nehmen können. Die Harvard-Gegenwartsdiagnosen haben ja, was ihre methodischen Fundamente angeht, fast gar nichts zu bieten. Und was die Frage, woher wir kommen, angeht, liefern sie oft nur sehr rudimentäre Geschichten, oder wenn ich an HUNTINGTON (1998) denke, Mythen und Legenden statt Kulturanalysen, die von jedem genauen Geschichtsatlas widerlegt werden. Sie fesseln zwar für eine Weile die Aufmerksamkeit, sind aber theoretisch dürftig und methodisch zweifelhaft. [54]

REICHERTZ: Das meine ich mit der Zweiteilung der Welt. Die Hermeneutik geht von einer Zweiteilung der Welt aus: Das, was man sieht, ist nicht alles, sondern der Interpret muss an dem, was er sieht, arbeiten und dahinter etwas entdecken. Um das zu finden, muss er sich einer gewissen Askese unterwerfen, auch methodisch, denn das Wesentliche ist ja nicht offensichtlich. Dieses Entbergen anhand dessen, was man vorfindet, ist das nicht eine Figur, die sehr europäisch ist, und ist es nicht so, dass die Amerikaner für diese Figur wenig Sympathie empfinden? [55]

SOEFFNER: Die in der Presse diskutierten Amerikaner vielleicht nicht, die Asiaten jedoch sehr wohl, da sie immer in dem Bewusstsein konkurrierender Wirklichkeiten und Welten leben und denken. Aber allein dieses Bewusstsein wäre nicht das Fundament meiner Wissenssoziologie. Dagegen würde ich mit SCHÜTZ und sogar mit MEAD sagen: Hinter den Phänomenen und konkurrierenden Wirklichkeitskonstruktionen ist nicht eigentlich etwas verborgen, sondern die Analyse oder Rekonstruktion dessen, was wir sehen und was wir als soziales Phänomen verarbeiten, ergibt eine Konstruktion zweiter Ordnung: eine, die nicht darauf abzielt, schlauer zu sein als die Handelnden und den jeweils Handelnden nachzuweisen, wie verblendet, kurzsichtig, unfähig und sonst was sie sind, sondern darauf zu zeigen, vor welchen Problemen die Handelnden standen, auf welche spezifische Weise sie ihre Probleme lösten, welche Alternativen sie warum nicht sehen konnten. Das ist etwas anderes als hinter einem vorgeblichen, von dunklen Mächten fabrizierten Verblendungszusammenhang von Phänomenen eine geheime Mechanik der Macht zu entdecken. Das ist gerade das Verdienst BERGER und LUCKMANNs in der "gesellschaftlichen Konstruktion". Die Grundlagen solcher vorgeblich ideologiekritischen Verschwörungstheorien haben sie ja gerade aufgelöst. Es gibt letztlich aus hermeneutisch wissenssoziologischer Sicht keine größere Differenz als die zwischen der Wissenssoziologie der Frankfurter Schule (mit Teilen auch von MANNHEIM) und der Wissenssoziologie nach der "gesellschaftlichen Konstruktion". BERGER und LUCKMANN kam es ja gerade darauf an, die Verblendungstheorie und die damit verbundene Zweiweltentheorie aufzulösen. Schon die KANTsche Philosophie bezweifelt solche Zweiweltentheorien. Das, was KANT beschreibt, sind die transzendentalen Bedingungen des Denkens und die Fundierung unserer Erkenntnis in der Erfahrung. Da bleibt weder Raum für die Zweiweltentheorien der Gottesbeweise noch für die ihrer säkularen Nachfahren und deren innerweltlicher Allwissenheit. [56]

REICHERTZ: Aber ist der Unterschied zwischen einer Wissenssoziologie à la Frankfurt und Wissenssoziologie à la BERGER und LUCKMANN nicht vor allem der Punkt, dass die Hermeneutische Wissenssoziologie darauf verzichtet, es besser zu wissen? Anstatt zu sagen: "Ich weiß es besser", sagt sie: "Ich kenne noch andere Möglichkeiten". [57]

SOEFFNER: Auf jeden Fall entwickelt die hermeneutische Wissenssoziologie mehr Lesarten, sie benennt sowohl die valideste Interpretation als auch deren Alternativen. Denn wenn ich sequenzanalytisch vorgehe, decke ich ja auch jene Handlungsalternativen auf, die den Handelnden in Vollzug ihres Handelns nicht klar werden konnten. Man sieht also mehr, man erkennt mit den Alternativen auch die Illusionsbildungen der Handelnden, nicht im Sinne von Verblendungen, sondern jene Illusionsbildungen, die manchmal fast zwangsläufig situativ unter Handlungsdruck zustande kommen. Und dieses Alternativenpotential, man könnte mit POPPER sagen: Die Konstruktion von Irrtümern, aber auch die Konstruktion von Alternativen, das ist natürlich etwas, was man nur reflexiv ex post ableiten kann. Viele dieser Alternativen können den Handelnden im Vollzug des Handelns, – wie es bei SCHÜTZ heißt – in hellwacher Einstellung gegenüber bestimmten Problemen, die sie jetzt – d.h. unter Zeit- und Handlungsdruck – zu lösen haben, nicht in den Blick kommen. Da sieht unsere Art von Wissenssoziologie natürlich ex post reflexiv erheblich mehr. Sie sieht, indem sie Alternativen mit dem vergleicht, was faktisch stattgefunden hat, ein gesellschaftliches Potential, das sie aufdecken kann – vielleicht besser als jede andere Methodologie es könnte: die Konstruktion und Rekonstruktion von Alternativen, auch jenen historisch möglichen, die von den Handelnden gedacht, aber nicht ausgeführt worden sind. Das ist schon etwas. Ich wüsste nicht, wo das sonst in dieser Form valide entwickelt werden könnte. Und noch mal, da gilt eben mit HUSSERL: "Wer mehr sieht, hat mehr recht." [58]

REICHERTZ: Wer mehr sieht, wird auch unsicherer, einfach weil er die Vielzahl der Optionen wahrnimmt. Insofern wäre eine Wissenssoziologische Hermeneutik ein gutes Gegengift, wie es einmal von Dir formuliert wurde, gegen das Grundsätzliche. [59]

SOEFFNER: So ist es. [60]

REICHERTZ: Und eine gute Voraussetzung für ein gewisses Verständnis gesellschaftlicher Praxis, die sich nun einmal immer wieder neu entfalten und auch erfinden muss. [61]

SOEFFNER: Ja, "Ein Gegengift gegen das Grundsätzliche" zu schaffen, ohne dem Relativismus zu verfallen, daran würde ich nach wie vor festhalten. Aber das ist ja nur eine Negativbestimmung des Interpretationszieles. Die Position ist, dass die Hermeneutische Wissenssoziologie, eben indem sie Alternativen zu dem rekonstruiert, was faktisch stattgefunden hat, zugleich rekonstruiert, was noch möglich gewesen wäre, was zwar auch in den Blick der handelnden Individuen gekommen, aber nicht ausgeführt worden ist. Die hermeneutische Wissenssoziologie ist also, weil sie rekonstruktiv-prospektiv arbeitet, im Stande, eine Art Denklabor von Alternativen aufzubauen. Es ist ein Labor, das eben nicht von Versuchsanordnungen lebt, sondern das, wie die Evolutionstheorie auch, die Geschichte der Veränderungen und der jeweiligen Umwelten von Handelnden als eine Geschichte der Entstehung neuer Repertoires begreift. Und um diese Repertoireanalyse geht es, um die Rekonstruktion dessen, was Gesellschaften zur Verfügung steht, stand, stehen könnte. Sicherheit gibt es dabei nicht, denn die Historie ist etwas, von dem wir wissen, dass es sich erst einmal nicht wiederholt. Auch von den meisten Konstellationen, die wir gegenwärtig als bewährt erfahren, wissen wir, dass die sich ändern können, und damit ist die Sicherheit, die man so gern als endgültig hätte, weg. Auch hier kann ich wieder POPPER zitieren: Wenn ich Irrtümer oder Alternativen auf Vorrat konstruiere, kann ich mir ein größeres Maß an Handlungspotential vor Augen stellen. Wenn ich dann konkret in jene Situationen komme, für die ich schon Alternativen konstruiert habe, dann kann ich damit anders umgehen, als wenn ich blind und unvorbereitet da rein gerate. Die Repertoirekonstruktion und Konstruktion hat etwas DARWINistisches. Es ist so etwas wie das Betrachten der Handelnden und ihrer sich verändernden Umwelten z.B. in einer Kultur, einer Nation, einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Familie, ein Herausarbeiten von Möglichkeiten, sich auf Situationen neu einzustellen, die noch nicht da gewesen sind. Dazu muss man Alternativen – eben auch phantasievoll – entwerfen und neue Situationen hochrechnen können, beziehungsweise sich auch Situationen vorstellen können, die bisher noch nicht eingetreten sind oder die historisch schon einmal da waren, und wiederkommen könnten oder jenen, die zwar noch nicht konkret aufgetreten sind, aber von denen man prognostisch annehmen könnte, dass sie wenn bestimmte Tendenzen anhalten, eintreten könnten. So hat man zwar keine Sicherheit, aber mehr Alternativen. [62]

REICHERTZ: Es gibt eine frühe Formulierung von Dir, nach der Hermeneutik rückwärtsgewandte Prophetie sei. Prophezeiungen zeitigen nun oft dadurch, dass sie ausgesprochen werden, Folgen. Das Bild, das Du jetzt gerade gezeichnet hast, ist ein Bild, auf dem der Wissenschaftler durchaus aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnimmt und mit seinen Analysen der Gesellschaft Optionen für Mögliches übereignet, jedoch darauf verzichtet, ihr einen guten Rat mit auf den Weg zu geben. [63]

SOEFFNER: Den können wir ja nicht geben. Hier verhalten wir uns als Wissenschaftler, wie WEBER es in "Politik als Beruf" und "Wissenschaft als Beruf" analysiert hat. Wir können so den Handelnden die Optionen zeigen. Aber in dem Moment, in dem wir selbst als politische Menschen handeln, also nicht mehr als Wissenschaftler, dann müssen wir auf reflexive Distanz verzichten. Dann setzen wir uns dem gleichen Handlungsdruck aus, wie er für die aktuell Handelnden besteht. Aber das mit der rückwärtsgewandten Prophetie, was ich früher zitiert habe, das stammt ja nicht von mir, sondern von KIERKEGAARD. Der wirft im ähnlichen Zusammenhang einigen historischen Denkern – insbesondere HEGEL – vor, sie seien, was die Interpretation der Geschichte angehe, immer unglaublich schlau, sie wüssten im Nachhinein immer ganz genau, warum etwas so gekommen sei, wie es angeblich kommen musste, hätten aber das Alternativenpotential, das daneben historisch ebenfalls schon bestanden hätte, analytisch nicht benennen können. Sie bauten Scheinkausalitäten auf ohne uns zu zeigen, wie denn die Alternativen gewesen wären. Aber gerade dies, die Konstruktion von Alternativen, denke ich, ist der Weg, den man gehen muss. Rückwärtsgewandte Propheten sind auch wir – allerdings insofern, als wir, um es mit WEBER zu sagen, rekonstruieren müssen, warum und wie etwas historisch realisiert worden ist. Die nächste Frage ist dann aber, und das ist die entscheidende, wie sähe eine bedingte Prognostik für die weitere Entwicklung aus. Das ist keine Lehnstuhlsoziologie, sonst müssten wir ja die Empirie nicht so ernst nehmen, ganz im Gegenteil, das ist eine analytische Soziologie, der daran gelegen sein muss, solche Optionen klarzustellen, zu rekonstruieren oder zu konstruieren, mit denen das Handlungsrepertoire von Gesellschaften erweitert wird. [64]

REICHERTZ: Hans-Georg, ich danke Dir für dieses Gespräch! [65]

Anmerkungen

1) Institut für Kommunikationsforschung und Phonetik (IKP) an der Universität Bonn. Geleitet wurde das Institut in der Zeit von 1967-1982 von Gerold UNGEHEUER, der in den 1970er Jahren im Anschluss an die Arbeiten von Alfred SCHÜTZ eine sozialwissenschaftlich fundierte und im Wesentlichen intentionalistisch ausgerichtete Kommunikationstheorie entwickelte (vgl. hierzu UNGEHEUER 1987). Hans-Georg SOEFFNER war von 1967 bis 1974 Mitarbeiter am IKP. <zurück>

2) Gemeint ist hier die von Hans-Georg SOEFFNER organisierte Tagung "Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften", die vom 9. bis 11. November 1977 an der Universität Essen stattfand. Hier wurden zum ersten Mal fast alle damals relevanten Verfahren qualitativer Sozialforschung von ihren Hauptvertretern vorgestellt und diskutiert (z.B. Konrad EHLICH und Jochen REHBEIN, Michael GIESECKE, Peter GROSS, Ernest HESS-LÜTTICH, Bruno HILDENBRAND, Ulrich OEVERMANN, Melvin POLLNER, Fritz SCHÜTZE, Ruth WODAK-LEODOLTER etc.). 1979 sind die Beiträge in dem von Hans Georg SOEFFNER herausgegebenen Sammelband "Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften" (SOEFFNER 1979a) veröffentlicht worden. Die Bedeutung dieses Bandes für die Etablierung der qualitativen Sozialforschung in Deutschland ist unstrittig. <zurück>

3) SOEFFNER studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Soziologie und Kunstgeschichte u.a. bei den Professoren W. SCHULZ, E. BLOCH, R. DAHRENDORF, K. BRINKMANN, K. WAIS in Tübingen. <zurück>

4) Verfügbar war zu dieser Zeit auch schon: SCHÜTZ (1971b). <zurück>

5) Hans-Georg SOEFFNER war von 1979 bis 1984 Sprecher der Sektion "Sprachsoziologie". Die Sektion "Sprachsoziologie" wurde dann später, nämlich 2000, in "Wissenssoziologie" umbenannt. Siehe hierzu KNOBLAUCH, HITZLER, HONER, REICHERTZ & SCHNEIDER (2001). Zur Geschichte der Sektion siehe: KNOBLAUCH (2000). <zurück>

6) Hans-Georg SOEFFNER hatte von 1980 bis 1994 eine Professur für Soziologie an der Fernuniversität Hagen inne. <zurück>

7) So nennt SCHÜTZ den Versuch von MEAD, Identität auf einen sozialen Ursprung zurückzuführen "unvollständig" und "unschlüssig". Deshalb sei sein Standpunkt mit dem von MEAD "nicht verträglich". Alle Zitate aus SCHÜTZ (1971a, Band 1, S.248 [Text und Fußnote]). <zurück>

8) Vgl. zur Prämisse der Konversationsanalyse "Order at all points" z.B. EBERLE (1997). <zurück>

Literatur

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Zum Autor

Jo REICHERTZ, Jahrgang 1949, Studium der Germanistik, Mathematik, Soziologie und Kommunikationswissenschaft. Dissertation zur Entwicklung der "Objektiven Hermeneutik". Habilitation mit einer soziologischen Feldstudie zur Arbeit der Kriminalpolizei. Von 1980 bis 1992 in unterschiedlichen Forschungsprojekten und unterschiedlichen Positionen Mitarbeiter von Hans-Georg SOEFFNER. Seit 1993 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen – zuständig für die Bereiche "Strategische Kommunikation", "Qualitative Methoden", "Kommunikation in Institutionen", und "Neue und alte Medien". Mehrere Gastprofessuren an der Universität Wien und dem Institute for Advanced Studies, Wien. Lehraufträge in Dortmund, Hagen, Witten/Herdecke, St. Gallen und Wien. Mehrere Jahre im Vorstand und auch Sprecher der Sektion "Sprachsoziologie" in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zur Zeit Vorstandsmitglied der Sektion "Wissenssoziologie" in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Arbeitsschwerpunkte: qualitative Text- und Bildhermeneutik, Kultursoziologie, Religionssoziologie, Medienanalyse, Mediennutzung, empirische Polizeiforschung, Werbe- und Unternehmenskommunikation

Neuere Publikationen:

Kontakt:

Prof. Dr. Jo Reichertz

Universität Essen
FB 3 – Kommunikationswissenschaft
D-45117 Essen

Tel.: 0201 183 2810 / 2808

E-Mail: jo.reichertz@uni-essen.de

Zitation

Reichertz, Jo (2004). Das Handlungsrepertoire von Gesellschaften erweitern. Hans-Georg Soeffner im Gespräch mit Jo Reichertz [65 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(3), Art. 29, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0403297.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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