Volume 4, No. 3, Art. 11 – September 2003

Problemlösefähigkeiten in der Anästhesie

Cornelius Buerschaper, Holger Harms, Gesine Hofinger & Marcus Rall

Zusammenfassung: Die Entwicklung von Humanressourcen wie Problemlösefähigkeit und Teamarbeit ist für Unternehmen in Hochrisikobranchen notwendig, da die hier arbeitenden Menschen im Stande sein müssen, seltene aber riskante Zwischenfälle zu bewältigen. Trainings sind domainspezifisch auf der Grundlage der Analyse von Fähigkeitsanforderungen zu entwickeln. Zur Entwicklung eines Trainings allgemeiner Problemlösefähigkeiten für Narkoseärzte wurden Anforderungen eruiert. Der Arbeitsplatz OP-Raum hat Merkmale eines komplexen Systems: hohe Dynamik, Intransparenz, Risiko. Problemlösen unter diesen Bedingungen beansprucht bestimmte kognitive und kommunikative Fähigkeiten. Der Beitrag geht der Frage nach, welche das sind und in welchem Ausmaß diese Fähigkeiten aus der Sicht von Narkoseärzten für professionelles Zwischenfallmanagement notwendig sind. Erforderliche Problemlösefähigkeiten wurden mit einem multimodalen Verfahren erhoben, bestehend aus Feldbeobachtung, Experteninterviews (N=3), Fragebogen (N=38) und einem Expertenhearing (N=5 Narkoseärzte mit Lehrfunktionen). Die Resultate zeigen, dass zur Bewältigung von Narkoseproblemen primär Fähigkeiten der Handlungsorganisation, der Teaminteraktion und der Einsatz von Heuristiken notwendig sind: Narkoseärzte schätzen Fähigkeiten für bedeutsam ein, mit denen man den Überblick über Probleme behält, zu einfachen, linearen Plänen gelangt und koordiniert im OP-Team vorgeht. Von den verwendeten Erhebungsmethoden eignen sich insbesondere qualitative und narrative Verfahren (Interview, offene Fragebogen-Items), um ein breites Spektrum von Problemlösefähigkeiten zu erfassen.

Keywords: Hochrisiko-Organisation, komplexes Problemlösen, nicht-technische Fähigkeiten, multimethodale Anforderungsanalyse, Expertenbefragung

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Tätigkeitssystem Anästhesie

3. Komplexes Problemlösen bei Zwischenfällen

4. Fragestellung

5. Methode

5.1 Datenerhebungsinstrumente und Einsatz der Methoden

5.2 Stichprobe

5.3 Auswertungsmethoden

6. Ergebnisse

6.1 Beobachtungen

6.2 Interviews

6.3 Ergebnisse des Befragungsbogens

6.3.1 Beurteilung der allgemeinen Fähigkeiten

6.3.2 Beurteilung der situativen Problemlösefähigkeiten

6.3.3 Ergebnis der kritischen Situationen

6.3.4 Ergebnis der Beanspruchung von Fähigkeiten in Narkosephasen

6.3.5 "Idealer Anästhesist"

7. Zusammenfassung und Diskussion

Literatur

Zu den Autoren und zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Unternehmen in Hochrisikobranchen wie z.B. Luftfahrt, Energiewirtschaft oder high-tech-Medizin sind zuverlässige und reliable Organisationen, in denen vor allem fachlich sehr qualifiziertes Personal tätig ist. Investitionen in Aus- und Weiterbildung erfolgen u.a. mit dem Ziel, das Potenzial von Human Factors für Sicherheits- und Qualitätsziele dieser Unternehmen zu mobilisieren. Mit dem Wissen um die katastrophalen Auswirkungen menschlicher Denk- und Handlungsfehler haben Hochrisikounternehmen in der Vergangenheit "Sicherheit" vorwiegend über Automatisierungskonzepte gewährleistet. Erst seit den 80er Jahren rücken verstärkt die humanen Ressourcen ergänzend zu Technikkonzepten ins Blickfeld (AMALBERTI & HOC, 1999; WEICK & SUTCLIFFE, 2001). Beispiele dieser Zuwendung zu Human Factors sind Crew Resource Management-Trainings in praktisch allen zivilen Luftfahrtunternehmen. Während die Fehlervermeidung an Hochrisikoarbeitsplätzen im Routinebetrieb durch Automatisierung weitgehend realisiert wird, ist der Mensch bei der Bewältigung von Zwischenfällen in solchen komplexen Organisationen unersetzbar – mitunter auch überfordert, weil für die seltenen Problemfälle die Humanressource "Lösungswissen" vergleichsweise unterentwickelt ist; das ist die Ironie der Automatisierung (BAINBRIDGE, 1987). In Hochrisikobranchen besteht daher eine personalwirtschaftliche Aufgabe darin, die Voraussetzungen erfolgreicher Krisenbewältigung auf individueller Ebene zu erhalten und zu entwickeln. Neben exzellentem Fachwissen sind die nicht-technischen Kompetenzen wie Problemlösungs- und Teamarbeitsfähigkeit gefragt. [1]

Im Bereich der Medizin gilt der moderne OP-Raum als high-risk-environment. Insbesondere auf der Seite der Anästhesie hat die intensive Auseinandersetzung mit Human Factors dazu geführt, dass man heute die Anästhesie als Modell für sicheres Handeln in der Medizin ansieht (GABA, 2000; KOHN, CORRIGAN & DONALDSON, 2000). Dabei spielen Fragen systematischer Qualifizierung und Personalentwicklung zunehmend eine Rolle. Ein wichtiges Instrument in der Anästhesie sind sogenannte full-scale-Patientensimulatoren, an denen u.a. das Zwischenfallmanagement intraoperativer Problemsituationen trainiert wird (WILKINS, DAVIES & MATHER, 1997). [2]

2. Tätigkeitssystem Anästhesie

Narkosetätigkeiten sind ärztliche Dienstleistungen, die zu den primären patientenbezogenen Leistungsprozessen in der Medizin gehören (BUSSE, 1998; TRILL, 1996). Der Erfolg einer Narkose wird von mehreren Faktoren beeinflusst: Patientenvariablen, Narkoseführung, eingesetzte Medizintechnik und die Art des operativen Eingriffs (z.B. Notfall oder geplanter Eingriff). Zwischen diesen Faktoren bestehen Interdependenzen, weshalb eine Narkose "ereignisabhängig und dynamisch, komplex und eng gekoppelt, unsicher und riskant" ist (GABA, FISH & HOWARD, 1998, S.8). [3]

Die Durchführung einer Narkose ist eine Steuerungs- und Überwachungsaufgabe eines komplexen Systems, wobei in seltenen Fällen Systemzustände auftreten, die Problemlösungen erfordern – man spricht von Zwischenfällen und Zwischenfallmanagement. Narkosen bestehen im "Normalfall" aus der Planung und Durchführung von Betäubungsverfahren, die primär den Zielen dienen, den Operationsschmerz eines Patienten auszuschalten, eine muskuläre Relaxierung zu erreichen, die Bewusstlosigkeit für die Dauer des operativen Eingriffs herbei zu führen und die Vitalfunktionen (Atmung, Kreislauf) aufrecht zu halten. Übergeordnete Ziele einer Narkose betreffen die Patientensicherheit, qualitative Aspekte wie Patientenzufriedenheit, aber auch ökonomische Variablen (z.B. kostengünstiger Ressourceneinsatz). Der Narkosezwischenfall erfordert eine Neubewertung der entstandenen Situation. Meist wird das Ziel "Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen" so wichtig, dass eine Umstrukturierung des geplanten Operations- und Narkoseablaufs erforderlich ist. In solchen Fällen spielen allgemeine Problemlösefähigkeiten und soziale Kompetenzen eine große Rolle. Mit anderen Worten: Das Überleben eines Patienten hängt bei Zwischenfällen vom fachlichen Können und den non-technical skills des Narkosearztes ab. [4]

Die Narkosedurchführung wurde in den zurückliegenden Jahren primär auf das Ziel Patientensicherheit mit Erfolg optimiert. Statistisch betrachtet sind Narkosen heute sicher und zuverlässig durchführbar: Das Eintreten eines Narkosezwischenfalls mit tödlichem Ausgang wurde Anfang der 80er Jahre noch mit 1:10.000 Anästhesien angegeben und beträgt heute etwa 1:250.000 (LIU, 1996; KOHN et al., 2000). Trotz erfolgreicher Strategien zur Gewährleistung sicherer Narkosen bleibt ein anästhesieimmanentes Risiko für die Entstehung von Zwischenfällen bestehen. Man kann vier Problemquellen ausmachen:

Die oben genannten Merkmale (Dynamik, Intransparenz, Teamarbeit, organisationaler Rahmen) gehen auch in anästhesiologische Modelle der Entwicklung von Narkosezwischenfällen ein (GABA et al., 1998). Zwischenfälle werden beschrieben als Probleme, die (1.) aus unterschiedlichen latenten Fehlerquellen herrühren (Technik, Patient, psychologische Prädispositionen der beteiligten Ärzte), (2.) durch auslösende Ereignisse getriggert werden, (3.) durch präventive Maßnahmen (z.B. Geräte-Check, präoperative Befunderhebung) verhindert oder (4.) durch korrektive Entscheidungen minimiert werden. Das Erkennen, Korrigieren und Bewältigen von Zwischenfällen zählt zu den allgemeinen Handlungsanforderungen an Narkoseärzte. Darüber hinaus ergibt sich aus Anforderungsanalysen an Narkosearbeitsplätzen, dass Narkoseärzte in der Lage sein müssen, simultan mehrere Aufgaben abzuarbeiten, schnell zwischen den aktuellen Aufgaben zu wechseln, Handlungssequenzen iterativ auszuführen, "schleichende" Veränderungen frühzeitig zu erfassen (XIAO, MILGRAM & DOYLE, 1992; BOTNEY & GABA, 1994; WEINGER et al., 1994). Typisch für Narkosen ist weiterhin die Zusammenarbeit im Team, sowohl auf anästhesiologischer Seite als auch im gesamten OP-Raum. Die Narkosedurchführung ist eine "kontinuierliche Überwachungsaufgabe mit ständiger Anpassung des Vorgehens", die eine Zusammenarbeit mehrerer Personen verlangt (GABA et al., 1998, S.23). Die spezifische Anforderungsproblematik der Narkoseführung, die ein flexibles, situativ variables Vorgehen verlangt, macht die Tätigkeit des Narkosearztes aus arbeitswissenschaftlicher und handlungspsychologischer Sicht zu einem interessanten Forschungsgegenstand, der unter Problemlöseaspekten bisher nicht untersucht wurde. [6]

3. Komplexes Problemlösen bei Zwischenfällen

Problemlösen bedeutet im Allgemeinen, dass für eine Ist-Soll-Differenz aktuell keine Lösungsmöglichkeit besteht; man spricht von einer "Barriere", die durch Denkprozesse aufgehoben wird. Zwischenfälle in der Anästhesie sind Ereignisse, bei denen eine Gefährdung für den Patienten besteht (RALL, MANSER, GUGGENBERGER, GABA & UNERTL, 2001). Aus der Perspektive des Narkosearztes ist der Zwischenfall eine "klassische" Barriere, so wie sie in der Problemlösepsychologie verstanden wird (DÖRNER, 1976). Für den eingetretenen Ist-Zustand hat der Narkosearzt im Moment keinen Lösungsweg zur Verfügung, um den angestrebten Soll-Zustand wieder herzustellen. Physiologisch toleriert der Organismus des Patienten in Narkose die notwendigen Denkprozesse zur Problemlösung nur für kurze Zeit. Daher ist Zeitdruck eine ubiquitäre Randbedingung des Problemlösens in der Anästhesiologie. Schwere Zwischenfälle erfordern nicht nur Denkprozesse zur Beseitigung der "Barriere", sondern gleichzeitig koordinierte Lösungsaktivitäten seitens des gesamten OP-Teams. Zwischenfälle sind daher für den Narkosearzt komplexe Problemsituationen, da er mehrere Ziele zugleich verfolgt, ein vernetztes und dynamisches System vor sich hat und mehrere Eingriffsmöglichkeiten bestehen (DÖRNER, 1989). [7]

Nicht nur bei Problemen in der Anästhesie besteht die Schwierigkeit, dass man nicht "objektiv" definieren kann, welche Ist-Soll-Differenz im OP-Raum tatsächlich ein Problem ist. Es besteht eine Abhängigkeit der Problemdefinition von den Denk- und Handlungskompetenzen der Akteure. Erfahrene Narkoseärzte setzen bei Problemen bekannte Prozeduren ein, d.h. sie verfügen über bereichsspezifische Problemlösestrategien samt Handlungsoperatoren, so dass "Barrieren" umgehend aufgehoben werden können. Es kommt nicht zum "Zwischenfall" mit nachfolgender Schädigung oder Gefährdung des Patienten. Problemlösen findet bei erfahrenen Narkoseärzten allenfalls im Sinne der Neukombination bekannter Lösungsschritte oder -operatoren statt. Unerfahrene Narkoseärzte würden in einer identischen Situation umfangreichere Denkschritte zur Generierung einer Problemlösung benötigen. Sie würden sich beispielsweise fragen, was für ein Problem überhaupt vorliegt (Kategorisierung, Urteilsprozess), sie würden sich ferner fragen, welche Teilziele in welcher Reihenfolge abzuarbeiten sind (Planungs- und Priorisierungsprozess). Schließlich könnten unerfahrene Narkoseärzte darüber nachdenken, welche Maßnahmen unter den gegebenen Bedingungen möglich und erfolgreich sind (Konditionalanalyse für Operatoren). Bei der Betrachtung von Narkoseprozessen sind also erstens allgemeine Problemmerkmale relevant (Vernetztheit, Dynamik), zweitens sind situationsspezifische Bedingungen anzutreffen (z.B. hohe oder geringe Dynamik) und drittens sind nicht singuläre Ist-Soll-Differenzen (z.B. ein niedriger Blutdruck) maßgeblich für eine Problemdefinition, sondern Konstellationen verschiedener Parameter und Indikatoren. Welche Zustandsdifferenzen während einer Narkose tatsächlich als Zwischenfall bezeichnet werden, d.h. wann eine Konstellation von Parametern gegeben ist, die Problemlösen verlangt, hängt in hohem Maße von Merkmalen des Arbeitssystems OP-Raum und von den Denk- und Handlungskompetenzen eines Narkosearztes ab. [8]

Die Interdependenz von Arbeitssystemmerkmalen und Handlungskompetenz der Akteure ist im Modell der "Dynamischen Entscheidungsprozesse" bei der Narkoseführung berücksichtigt (dynamic decision making; GABA, 1989). Dieses Modell ordnet psychische Prozesse im Zwischenfallmanagement verschiedenen Handlungsausführungsebenen zu. Das Zwischenfallmanagement erfordert sensomotorische Koordination, den Einsatz von regelbasiertem Wissen und abstraktes Denken im Sinne des erfahrungsbasierten Problemlösens in neuartigen und unbestimmten Situationen. GABA et al. (1998) ergänzen diese Denkanforderungen noch um metakognitive und selbstreflexive Prozesse (supervisory control) und das Ressourcenmanagement. Dieser konzeptionelle Rahmen ist Ausgangspunkt für eine allgemeine Strategie der Handlungsorganisation bei Narkosen und Zwischenfällen. Diese Strategie (auch "zentraler Zyklus, Kontrollschleife", GABA et al., 1998, S.24) besteht aus Beobachtung, Entscheidung, Handlung und Re-Evaluierung. Zu jedem Teilschritt des Handlungszyklus führen die Autoren theoretische Aspekte aus Kognitions- und Sozialpsychologie an; von großem praktischen Nutzen für Narkoseärzte sind sicher die genannten Heuristiken, Substrategien, Ratschläge und eine Reihe von konkret anwendbaren Operatoren. Das Modell von GABA et al. (1998) lässt aber zwischen der allgemein formulierten Strategie der Handlungsorganisation und konkreten Handlungsoperatoren offen, über welche Problemlösefähigkeiten Narkoseärzte verfügen (müssen), um mit den verschiedenen Konstellationen eines Narkoseprozesses adäquat umzugehen. [9]

Forschungsarbeiten zur Erfassung und Operationalisierung von Fähigkeiten, die zur Bewältigung von Zwischenfallanforderungen in der Anästhesie notwendig sind, liegen erst seit wenigen Jahren vor (GREAVES & GRANT, 2000; FLETCHER, McGEORGE, FLIN, GLAVIN & MARAN, 2002). Dabei spielen personalwirtschaftliche Überlegungen eine Rolle: Man möchte u.a. Informationen über die Bedeutung von Problemlöse- und Teamarbeitsfähigkeiten erfassen, um Instrumente der Personalentwicklung gezielt einzusetzen bzw. anästhesiespezifisch zu entwickeln (z.B. thematische Trainings zum Airway-Management). In der Ausbildungspraxis, die stark durch "learning on the job" bestimmt wird, sind eher Personalassessment-Fragen von Bedeutung: Woran erkennt ein Ausbilder, dass ein angehender Narkosearzt über die notwendigen Fähigkeiten für bestimmte Schwierigkeitsgrade von OP und Narkose in ausreichendem Maße verfügt (GREAVES & GRANT, 2000)? Für solche Fragestellungen gibt es momentan keine strukturierten Instrumente, die für eine "Fähigkeitsdiagnostik" im OP-Ausbildungsalltag eingesetzt werden könnten. FLETCHER et al. (2002) stellen fest, dass es zwar viele Fähigkeitskonstrukte gibt, aber ein konsistenter, theoretisch begründeter Zugang fehlt; man versteht die funktionalen Zusammenhänge einzelner non-technical skills nicht. [10]

Im Rahmen eines Trainingsforschungsprojekts der Autoren (BMBF-Projekt gefördert unter Nummer: 212-20704W1121) bestand Bedarf an der Erfassung von Problemlösefähigkeiten. Die Erfassung von Qualifikationsbedarf – hier speziell Problemlösefähigkeiten – ist notwendige Vorarbeit jeder Trainingskonzeption, wobei der Auflösungsgrad einer Trainingsbedarfsermittlung von der Fragestellung im jeweiligen Untersuchungs- und Auftragskontext abhängt (BERGMANN, 1999; SCHAPER, 1995; SONNTAG, 1992). Für das o.g. Trainingsprojekt sollte die Erfassung von Fähigkeiten nicht nur auf das Problemlösen bei intraoperativen Zwischenfällen beschränkt sein, sondern alle Problemsituationen, die im Zusammenhang mit Narkosetätigkeiten auftreten können zum Gegenstand machen. Dabei interessierten sowohl beanspruchte Fähigkeiten bei narkosebezogenen Tätigkeiten als auch subjektiv erlebte Belastungen, d.h. Problemlösesituationen, bei denen die vorhandenen Fähigkeiten zur Lösung nicht ausreichend zur Verfügung stehen. In Hinblick auf eine Evaluation der Trainingsmaßnahmen sollte auch eine Operationalisierung von Fähigkeitskonstrukten geleistet werden, so dass verhaltensnah formulierte Evaluations- und Assessmentkriterien vorliegen. [11]

4. Fragestellung

Um für das Trainingsprojekt Ziele und Inhalte an den Bedarf der Zielgruppe anzupassen, war die Beantwortung folgender Fragen nötig: Wie beurteilten Narkoseärzten den Stellenwert allgemeiner und spezieller Fähigkeitskonstrukte, die erwartungsgemäß bei komplexen und dynamischen Steuerungs- und Überwachungsanforderungen von Bedeutung sind? Welche Problemlösefähigkeiten werden in welchem Ausmaß beansprucht, um komplexe Problemkonstellationen bei Narkosetätigkeiten zu bewältigen? Welche Problemlösefähigkeiten setzen Narkoseärzte bei "kritischen Situationen" ein und welche Fähigkeiten sollten durch ein Problemlösetraining weiter entwickelt werden? Aufgrund der Neuheit dieses Forschungsfeldes wurde ein explorativer Ansatz mit breitem Methodenspektrum gewählt. [12]

5. Methode

Die Erhebung von Problemlösefähigkeiten zielt ab auf die Gestaltung eines Problemlösetrainings. Daher ist ein breit angelegtes, exploratives Vorgehen angezeigt, bei dem Methoden der Befragung von Stelleninhabern (schriftlich und mündlich) und Urteilsmethoden kombiniert werden, um einen möglichst vollständigen Überblick über Fähigkeiten zu erhalten. Das gesamte Vorgehen gliedert sich in vier Phasen mit entsprechenden Methoden der Datenerhebung:

5.1 Datenerhebungsinstrumente und Einsatz der Methoden

Für die Feldbeobachtungen wurden keine standardisierten Beobachtungsinstrumente entwickelt und eingesetzt, sondern Problemlöse-Episoden im OP notiert und später ausgewertet. Diese Phase diente vorrangig dazu, das Feld kennen zu lernen und typische Problemsituationen in der Anästhesie zu identifizieren. Insgesamt wurden ca. 70 Stunden OP-Beobachtung durchgeführt, wobei entweder die "Zielpersonen" begleitet wurden oder mehrstündige Narkosen mit wechselndem Personal in einem OP-Raum verfolgt wurden. Dabei bestand mehrfach die Gelegenheit, in Gesprächen mit den beobachteten Narkoseärzten nach Problemlöseepisoden und den eingesetzten Fähigkeiten zu fragen. [14]

Mit der Ausbildung befasste Ober- und Chefärzte der Anästhesie wurden in einem themenzentrierten, halbstrukturierten Experteninterview befragt. Es verfolgte explorative und systematisierende Ziele (vgl. MEUSER & NAGEL, 1991). Der Leitfaden enthielt zu den erfragten Themengebieten Startfragen und mögliche Nachfragen. Schwerpunkte waren die in der Anästhesie benötigten sozial-kommunikativen und Problemlösefähigkeiten, Möglichkeiten der Diagnostik dieser Fähigkeiten und die Operationalisierung der genannten Fähigkeitskonstrukte. Der Interviewer, der mit der Thematik der Anforderungsanalyse vertraut war, musste situativ entscheiden, welche von den Interviewten angesprochenen Themen er intensiver verfolgte (vgl. "befragtenzentriertes Interview", HOFF, 1989). Aufgrund des Status der Befragten (Ober- und Chefärzte), die ein persönliches Gespräch erwarteten, ist ein geringerer Standardisierungsgrad des Interviews angezeigt. [15]

Für die schriftliche Befragung wurde ein Befragungsbogen entwickelt und eingesetzt. Er gliedert sich in sechs Abschnitte: (1) Beurteilung der Bedeutsamkeit allgemeiner Fähigkeitskonstrukte für Anästhesietätigkeiten (13 Items), (2) Beurteilung der situativen Nützlichkeit spezieller Problemlösefähigkeiten (27 Items), (3) schriftliche Darstellung eines Narkosezwischenfalls und der daraus abgeleiteten Konsequenzen für Problemlösefähigkeiten, (4) beanspruchte Problemlösefähigkeiten über acht vorgegebene Phasen einer Narkose, (5) Verhaltensweisen eines "idealen Anästhesisten" in drei vorgegebenen Problemkonstellationen sowie abschließend (6) eine quantitative Beurteilung von Themen und Modalitäten, die für ein Problemlösetraining in Frage kommen. Der Befragungsbogen enthält skalierte sowie offene Items. [16]

Das durchgeführte Expertenhearing wurde in Form einer moderierten Gruppendiskussion mit N=5 Narkoseärzten abgehalten. Mit den Teilnehmern wurden Fähigkeitskonstrukte im Anästhesiekontext durch Verhaltensbeispiele beschrieben, heuristische Prinzipien diskutiert und Trainingsziele für ein Problemlösetraining präzisiert. [17]

5.2 Stichprobe

Die Feldbeobachtungen wurden von drei Beobachtern (Diplompsychologen) an drei Krankenhäusern durchgeführt und beliefen sich auf ca. 70 Stunden OP-Zeit. Für das Experteninterview wurden N=3 Narkoseärzte aus zwei Klinken interviewt. Die Interviewpartner waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung leitende Oberärzte bzw. als Chefarzt tätig. Die Expertise begründen wir mit der Berufserfahrung (> 15 Jahre) und der Ausbildungsfunktion, die alle drei Interviewpartner innehatten. Die Interviewdauer betrug zwischen 35 und 90 Minuten. Der Befragungsbogen wurde im Jahr 2000 an zehn deutsche Kliniken verschickt (Rücklauf N=19; entspricht 20%) und am Rande eines Anästhesie-Kongresses verteilt (N=19). Insgesamt liegen N=38 bearbeitete Befragungsbögen vor. Einige Angaben zu den Personen, die den Fragebogen bearbeitet haben: Im Arbeitskontext Universitätsklinikum waren N=21 tätig, eine Person war Niedergelassener Arzt, der Rest arbeitete an anderen Krankenhäusern (N=16), wobei N=4 an Häusern mit mehr als 300 Betten und N=12 an Häusern mit weniger als 300 Betten angestellt sind. Von der Qualifikation her waren N=14 Facharzt und N=24 Weiterbildungsassistenzarzt. Insgesamt nahmen N=25 Narkoseärzte Ausbildungsfunktionen wahr, N=10 bildeten nicht aus, und drei Personen machten keine Angaben zu dieser Frage. Der Teilnehmerkreis des Expertenhearings (N=5) stammte aus einer Universitätsklinik und wurde von zwei Fachärzten in Ausbildung, zwei Oberärzten und einem Chefarzt gebildet. Die Moderation erfolgte durch die Autoren. [18]

5.3 Auswertungsmethoden

Die Feldbeobachtungen im Operationssaal wurden soweit möglich mitgeschrieben. Einzelne Situationen, die uns als kritisch oder anforderungsreich aufgefallen waren, wurden im Beobachterteam besprochen und analysiert. Die in den Situationen beobachteten Handlungen wurden aus psychologischer Sicht beschrieben und mit dem beteiligten Anästhesisten diskutiert. Diese Beobachtungen sind nicht vollständig in dem Sinne, dass sie alle möglichen Problemsituationen der Anästhesie erfasst hätten. Dies ist schon dadurch unmöglich, dass wir nur Ausschnitte der jeweiligen OPs beobachten konnten ("Mitlaufen" mit einzelnen Anästhesisten; keine Erlaubnis, im Saal zu sein). Die Beobachtungen hatten für uns hohen heuristischen Wert für die Erstellung der Interviewleitfäden und die Konstruktion des Befragungsbogens. Zudem liefert sie "Miniaturen" von Problemlöseprozessen im realen Tätigkeitssystem des OP-Raums. Da Einzelfallanalysen solcher Situationen viel Platz brauchen, werden in 6.1 nur zwei Beispiele dargestellt, aus denen die Art der Analyse der Feldbeobachtungen ersichtlich ist. [19]

Die Interviews wurden transkribiert, wobei auf alle paraverbalen Äußerungen, Pausen und sonstigen Bemerkungen verzichtet wurde, da nicht der Denk- und Sprachstil des Interviewpartners von Interesse waren, sondern ausschließlich inhaltliche Angaben. Die transkribierten Protokolle wurden von zwei Auswertern einer Inhaltsanalyse unterzogen; sie folgt den von MAYRING (1990, 2000) postulierten Gütekriterien qualitativer Forschung. Die Auswertung erfolgte in zwei Schritten: Identifikation relevanter Aussagen sowie Kategorisierung. Die Identifikation relevanter Aussagen erfolgte nach der Methode der Schlüsselsätze (HOFINGER, 2001, S.113f): Zunächst wurden von zwei Auswertern im Text alle Stellen identifiziert und im Transkript markiert, die sich auf geforderte Fähigkeiten und auf Problemlösen im Narkoseverlauf bezogen. Diese "Schlüsselsätze" wurden im zweiten Auswertungsschritt den einzelnen Narkosephasen zugeordnet (vgl. Abschnitt 6.2) und inhaltlich zusammengefasst. Unterschiede der Bewertung wurden bis zur Einigung diskutiert (intersubjektive Validierung, vgl. HOFF et al., 1995; HOFINGER, 2001). Aufgrund der kleinen Anzahl der Befragten wurde auf statistische Auswertung verzichtet. In der Ergebnisdarstellung werden neben der zusammenfassenden Darstellung auch Einzelmeinungen dargestellt. Das Interview mit einem Chefarzt einer anästhesiologischen Universitätsklinik legt im ersten Teil den Fokus auf die generelle Frage, welche Anforderungen die Komplexität des Narkosearbeitsplatzes an Denken und Handeln stellt. Im zweiten Teil gehen wir konkreten Fragen zu Fähigkeiten insbesondere zur Bewältigung intransparenter, dynamischer Problemsituationen nach. Aufbauend auf diesen Interviewergebnissen ist mit den beiden Oberärzten das Interview thematisch auf den Bereich der Fähigkeiten zentriert. [20]

Für die skalierten Items des Befragungsbogens wurden als Kenngrößen für Messwerte auf Ordinalniveau Rangreihen, Mediane und Quartilabstände berechnet. Die Eintragungen zu den offenen Items (kritische Situation, "idealer Anästhesist") wurden wiederum von zwei Beobachtern kategorisiert. Die kritischen Situationen wurden zunächst inhaltlich verschiedenen operativen Problemen zugeordnet, um einen Abgleich mit der Literatur zu Zwischenfällen zu ermöglichen. Die psychologische Auswertung erfolgte auf zwei Fragestellungen hin (vgl. Abschnitte 6.3.3 und 6.3.5): in den freien Schilderungen benannte Problemlösedefizite sowie formulierte Lehren, Konsequenzen und Problemlöseheurismen. Auch hier wurden zunächst von zwei Beobachtern alle relevanten Stellen als Schlüsselsätze (s.o.) in den Schilderungen identifiziert. Der so gewonnene Datenpool wurde aus dem Material heraus kategorisiert, angelehnt an die Methode der Grounded Theorie (STRAUSS & CORBIN, 1994). Allerdings bestimmte der Fokus auf Problemlösen im sozialen Kontext die Suchrichtung der Kategorisierung. Für Problemlösedefizite wurden vier Kategorien gebildet, denen alle Schlüsselsätze zugeordnet werden konnten (Informationsmanagement, Planen, Kommunikation und Kooperation, Teamarbeit). Aufgrund der geringen Fallzahl werden bei den Ergebnissen (Abschnitt 6.3.3) alle benannten Defizite dargestellt. Für Lehren, persönliche Konsequenzen und ableitbare Heurismen des Problemlösens wurden die Kategorien aus dem Material gebildet, wobei der Leitgedanke die Frage nach dem Handlungsbezug und der Individualität der gezogenen Konsequenzen war. Es wurden fünf Kategorien gebildet (Einstellungen und Werthaltungen, persönliche Handlungsstandards, spezifische fachliche Heurismen, allgemeinere fachliche Heurismen, teambezogene Heurismen), denen wiederum alle Schlüsselsätze zugeordnet werden konnten. In den Ergebnissen (Abschnitt 6.3.4) werden jeweils Beispiele dargestellt. Für das Fragebogenitem "idealer Anästhesist" wollten wir die Ideen und Bilder von "Idealpersonen" aus der Sicht der Befragten möglichst vollständig erhalten. Es wurden hier je vorgegebener Problemsituation (z.B. "Zeitdruck", vgl. Abschnitt 6.3.5) inhaltlich gleiche oder ähnliche Äußerungen zusammengefasst, aber nicht weiter kategorisiert. Auf diese Art werden aus den Häufigkeiten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Befragten bei der Konstruktion einer "Idealperson" deutlich. [21]

Im Expertenhearing wurden die hier vorgestellten Daten mit den Teilnehmern diskutiert. Die Ergebnisse wurden an dieser Stichprobe validiert und auf Vollständigkeit überprüft. Im weiteren Verlauf wurden die trainingsrelevanten Fähigkeiten durch die Experten operationalisiert, wobei keine vollständige Beschreibung des Konstrukts durch Verhaltensitems angestrebt werden konnte, jedoch auf typische Verhaltensmarker geachtet wurde. Diese Expertenrunde formulierte auch Trainingsziele für ein entsprechendes Problemlösetraining (BUERSCHAPER, HOFINGER & HARMS, im Druck). Da keine zusätzlichen Fähigkeiten benannt wurden, wird auf das Hearing im Weiteren nicht mehr eingegangen. [22]

6. Ergebnisse

6.1 Beobachtungen

Problemlöseepisoden bei Tätigkeiten im Narkosevorbereitungs- und OP-Raum fallen ständig an. Sie sind in der Regel "markiert" durch ein beobachtbares Innehalten, eine kurze Orientierungsphase des Anästhesisten oder durch explizite verbale Äußerungen. So sind z.B. Fragen, die der Anästhesist sich selbst oder anderen Personen stellt, ein Hinweis auf einen anlaufenden Problemlöseprozess. Problemlösen ist gefordert, wenn die aktuell verfügbare Handlungskompetenz des Anästhesisten überfordert ist. Für die im Beobachtungszeitraum angefallenen Problemlöseepisoden war dies jeweils nur für kurze Zeit der Fall. Lösungen wurden unmittelbar durch Einsatz personaler Fähigkeiten erzeugt oder durch die Funktionsteilung im Anästhesieteam ermöglicht. Dabei kamen einfache, aufwandsarme Strategien des Problemlösens zum Einsatz. Aber auch das Gegenteil kooperativen Problemlösens war beobachtbar (siehe Beispiel 2). Ressourcen von anderen Teammitgliedern im OP-Raum wurden selten zur Lösungsfindung aktiv einbezogen. Viele Beobachtungen zeigen den grundsätzlich kooperativen Charakter von Arbeits- und Problemlösetätigkeiten in der Anästhesie und ein Defizit im Bereich kooperativer Problemlösestrategien. [23]

Beispiel 1: Während einer bereits 6 Stunden laufenden kardiochirurgischen Operation sind die beiden Anästhesisten (eine Assistentin, ein Arzt im Praktikum [AiP]) im Saal seit 5 Minuten mit der Dateneingabe in das komplizierte Benutzermenü eines Computers befasst. Diese Tätigkeit absorbiert die gesamte Aufmerksamkeit der beiden Anästhesisten. Der aufsichtführende Oberarzt betritt den OP-Raum und geht um den OP-Tisch herum. Er bemerkt, dass der rechts von den beiden Anästhesisten platzierte Blutrückgewinnungsapparat (der sogenannte cell saver), der das Blut aus dem Operationsgebiet absaugt und dem Kreislauf wieder zuführt, leer gelaufen ist. Der Oberarzt meldet diesen nicht korrekten Zustand des cell savers an die beiden narkoseführenden Anästhesisten. Durch diese Information über eine relevante Sollwertabweichung eines technischen Systems beginnt ein kurzer Problemlöseprozess. Die beiden Anästhesisten brechen die Dateneingabe ab, kontrollieren den cell saver und die Zulaufschläuche, sprechen mit dem Operateur und verlegen einen neuen Zulauf. Der cell saver arbeitet nach ca. 3 Minuten wieder korrekt. Für das Chirurgenteam bedeutet diese Aktivität eine OP-Unterbrechung. Gegenüber dem Oberarzt wird von beiden Anästhesisten erklärt, sie hätten durch die Dateneingabetätigkeit "einen Moment lang die Übersicht verloren". Faktisch blieben für ca. 5 Minuten alle laufenden Prozesse im OP-Raum vollständig unbeobachtet. Diese Episode indiziert die Verschränkung von Problemlöseprozessen auf mehreren Ebenen. Wir identifizieren auf der Makroebene der gesamten Narkoseorganisation ein Defizit an Denkprozessen, die die Mehrfachanforderungen regulieren. Hier im Beispiel müsste die Gesamtkontrolle parallel zum Dateneingabeproblem bearbeitet werden. Dieses Defizit trägt zur Problementstehung "cell saver" bei. Auf der Mikroebene findet Problemlösen statt; die komplizierte Dateneingabe ist ein solcher kooperativ bearbeiteter Problemlöseprozess. Er führt zu einem Fixierungsfehler, der ein typischer psychologischer Vorläufer für weitere Probleme ist (cell saver leer). Die Konsequenzen der Fixierung auf die Lösung eines Problems (Dateneingabe) werden von den betreffenden Anästhesisten nicht reflektiert. Niemand beauftragt eine der beiden Pflegekräfte mit der Ausübung der Überwachungsfunktion, während die verantwortlichen Anästhesisten eine Tätigkeit mit hoher Aufmerksamkeitsbindung ausführen. Diese schlechte Ressourcenallokation führt zum Verlust an Kontrolle und Überblick. Die Lösung des cell-saver-Problems ist wiederum ein Mikroprozess, der durch wenige kooperative Handlungen zur Problemlösung führt. Diese Episode verdeutlicht, wie wichtig die kontinuierliche Hintergrundkontrolle des gesamten OP-Geschehens ist. Das ist eine Anforderung, die häufig in Konflikt gerät mit aktuellen Problemlöseaktivitäten. Bei funktional differenzierten Anästhesieteams wird der Konflikt zwischen Kontrolle und Problemlösen auf der Mikroebene hinreichend gut kompensiert. Verlässt jedoch ein Funktionsträger wie im Beispiel oben die Saalaufsicht den OP-Raum, entsteht ein Bedarf an Kommunikation zur Funktionsübergabe. Die mangelnde Teamkommunikation spielt auch in dieser Episode eine große Rolle für die Problementstehung; andererseits ist es wiederum die Teamarbeit, die zu einer raschen Lösung entstandener Probleme beiträgt. [24]

Beispiel 2: Ein Anästhesist erhält den Auftrag, den operierten Patienten mit einem mobilen Beatmungsgerät zu versorgen, das eine spezifische Funktionalität bietet für die Regulierung des Beatmungsdrucks. Der erhöhte Beatmungsdruck dient der Sicherheit auf dem Transport zur Intensivstation, wohin der Patient nach OP-Ende verlegt werden soll. Ziel und Mittel der Handlungen sind klar vorgegeben: Die Beatmung des Patienten soll mittels dieser Beatmungsgerät-Funktion für den Transport sichergestellt werden. Das mobile Beatmungsgerät wird von einer Pflegekraft gebracht und dem Narkosearzt übergeben. Er kennt zwar die Klasse der mobilen Beatmungsgeräte, ist jedoch mit diesem Typ nicht vertraut. Jetzt beginnt ein Problemlöseprozess. Der Arzt sucht kurz nach dem erforderlichen Funktionsschalter, findet diesen aber nicht auf dem Bedienungspaneel des Geräts. Zuerst wird eine Alternative zum Beatmungsgerät gesucht: Der erhöhte Beatmungsdruck für den Transport kann alternativ auch durch ein Reduzierventil erreicht werden, welches man zwischen Beatmungsschlauch und Tubus einsetzt. Die Problemlöseanforderung lässt sich allgemein als Interpolationsproblem (DÖRNER, 1976) charakterisieren, denn zwischen einem bekannten Ausgangszustand und einem bekannten Endzustand muss ein neuer Weg aus prinzipiell bekannten "Teilstücken" gefunden werden. Der Anästhesist bittet eine Pflegekraft, ein steril verpacktes Reduzierventil zu bringen. Gemeinsam probieren sie, wie sich das Ventil zwischen Schlauch und Tubus einpassen lässt. Hier geht der Anästhesist nach der einfachen Versuch-Irrtum-Methode vor und steckt die verschiedenen Einzelteile probehalber in verschiedenen Varianten zusammen. Die Pflegekraft äußert Bedenken, die nicht direkt lösungsrelevant sind: "Dieses Reduzierventil sehen wir nie wieder, wenn es erst einmal auf der Intensivstation angelangt ist. Wie die Küvette gestern". Der Anästhesist unterbricht die Lösungssuche und telefoniert wegen der Rückgabe mit der Intensivstation. Das fortgesetzte Probieren einer Schlauch-Ventil-Tubus-Kombination erbringt keine befriedigende Lösung. Der Interpolationsversuch mit dem zentralen Operator "Reduzierventil" wird aufgegeben. Der Anästhesist wendet sich wieder dem Bedienungspaneel des Geräts zu. Die zweite, erfahrene Pflegekraft, die bisher mit anderen Aufgaben beschäftigt war, aber im OP-Raum die Problemlösungsversuche verfolgt hat, stellt sich jetzt ebenfalls an das Gerät, schiebt einen Schlauch beiseite und sagt: "Hier ist übrigens der gesuchte Schalter, Herr Doktor". [25]

Diese beobachtete Handlungs- und Interaktionssequenz zeigt, dass für auftretende Probleme zunächst nach einfachen Lösungen gesucht wird, wobei eine entsprechend aufwandsarme Strategie zum Einsatz kam: Versuch-Irrtum mit bekannten Teilstücken. Für eine effiziente Lösung hätte jedoch eine andere Heuristik eingesetzt werden müssen. Die offene Frage an die Mitarbeiter, wer sich mit dem Gerät auskennt, wäre in diesem Fall ein zeit- und kostensparender Zugang gewesen. Der Anästhesist bezieht die Problemlöseressource "Wissen der Mitarbeiter" nicht in seine Überlegungen ein. Die Beziehungsdynamik des Teams, insbesondere der Konflikt zwischen formaler hierarchischer Ordnung und informeller Führerschaft durch eine erfahrene, ältere Pflegekraft, wirken massiv auf die Qualität von Problemlösungen ein. Das gilt in beiden Richtungen: Der Anästhesist bezieht die Mitarbeiter nicht in die Problemdefinition und Lösungssuche mit ein und vice versa bringt sich die Pflegekraft erst in den Lösungsprozess ein, nachdem das Scheitern der Versuch-Irrtum-Phase offensichtlich und ein klar auf den Anästhesisten attribuierbarer Misserfolg sichtbar geworden ist. [26]

6.2 Interviews

Der Narkosearbeitsplatz als komplexes System wird von Interviewpartner 1 (Chefarzt) folgendermaßen charakterisiert:

"Es ist im Endeffekt eine Kombination aus Vorgängen, die in einem hohen Grad vorhersehbar sind auf Grund der physiologischen und pharmakologischen Gesetzmäßigkeiten. Eine bestimmte Dosis eines Medikaments führt zu einer bestimmten Konzentration im Blut und damit zu einer kalkulierbaren Wirkung." [27]

Die Frage der Vorhersehbarkeit wird im Interview problematisiert. Der Interviewpartner 1 antwortet:

"Um so multifunktioneller der Patient erkrankt, desto schwieriger wird es, Dinge vorauszusehen. In der Anästhesie sind 50% der Ereignisse prädiktiv erfassbar, die anderen 50% sind überraschende Ereignisse ... Bei einem jungen, unkomplizierten Patienten, dem man die Mandeln rausnimmt ..., da läuft alles – aus physiologischer und pharmakologischer Sicht vollkommen glatt ab. Bei einem 95 Jahre alten Patienten, der wegen eines Unfalls mit Darmlähmung ins Krankenhaus kommt, wird es sich zu 20 bis 30% so entwickeln, wie wir das kennen, aber die restlichen 70 bis 80% sind nicht vorhersehbar." [28]

Weitere Einflussfaktoren des komplexen Systems Narkose werden vertieft, neben der Variabilität des Patienten spielt die Variable des Operateurs eine Rolle.

"Er ist es, der letztendlich den Patienten aufschneidet, d.h. der in der Lage ist, durch aggressive Maßnahmen den Patienten zu schädigen, wenn diese Maßnahmen nicht mit entsprechender ärztlicher Erfahrung durchgeführt werden. Damit trifft natürlich auf den weitgehend vorhersehbaren deterministischen Vorgang ein schlecht vorherkalkulierbarer stochastischer Vorgang." [29]

An die Beschreibung der Anforderungsseite der Anästhesie schließen sich im zweiten Teil des Interviews Denk- und Problemlösefähigkeiten an, über die ein Anästhesist verfügen sollte. Interviewpartner 1 führt dazu aus.

"Die Leistung des Anästhesisten liegt in der frühen Erfassung von Entwicklungen, die in eine andere Richtung laufen als man vorhergesagt hätte, zum Beispiel im physiologischen Zustand des Patienten oder weil der Operateur einen Fehler macht oder weil er auf Schwierigkeiten stößt, die von der Anatomie gegeben sind und für den Anästhesisten sehr schlecht im Blick sind." [30]

Daraus leitet der Interviewpartner 1 im Folgenden ab, dass "die Fähigkeit, sehr schnell Denkprozesse abzuarbeiten, d.h. frühes Erkennen von Entwicklungen und die Analyse" die zentralen Denkfähigkeiten sind. "Das Problem ist, sehr frühzeitig zu realisieren, dass etwas getan werden muss, um die Situation weiterhin kalkulierbar zu halten." In Bezug auf Problemlöseanforderungen und problemlösendes Denken stellt der Interviewpartner 1 heraus, dass moderne Narkoseverfahren aus sehr vielen Steuergrößen bestehen, dass ein umfangreiches Informationsangebot über den Patientenzustand zur Verfügung steht und fasst zusammen: "Anästhesisten stehen unter dem Druck dieser unvorhersehbaren unmittelbaren Zukunft des Patienten und der ewigen Frage, werde ich darauf richtig reagieren in einer Situation, die gekennzeichnet ist von der Möglichkeit, dass der Patient im ungünstigsten Fall stirbt." Die sichere Diagnosestellung wird als "Kardinalproblem" charakterisiert.

"Der Anästhesist fängt an zu überlegen und hat eine Problemlösung parat, die natürlich abhängig ist von dem richtigen Erkennen einer Situation. Jetzt setzt der [Problemlöse-] Prozess ein. Eine bestimmte Maßnahme kann zu einer Verbesserung führen. Aber was ist, wenn eine falsche Konklusion über zugrunde liegende Mechanismen gemacht wurde? Eine Therapie kann auch viel Schaden anrichten. ... Mit zunehmender Erfahrung oder Training sollte Souveränität im Umgang mit solchen komplexen Situationen erzeugt werden." [31]

Diesbezüglich richten sich die Hoffnungen des Interviewpartners 1 auf eine Verbesserung der Ausbildung von Anästhesisten in und mit Patientensimulatoren. Der letzte Schwerpunkt des Interviews ist der Thematik Teamarbeit und Kommunikation gewidmet. Die zentrale Anforderung ist durch das Spannungsfeld "Anästhesist als Individualtherapeut – hoher Zeit- und Entscheidungsdruck - Notsituationen beim Operateur" umschrieben. Die Teamfähigkeit eines Anästhesisten wird durch diese Rahmenbedingungen präzisiert, so zumindest nach der Darstellung des Interviewpartners 1.

"Kommunikative Fähigkeit ist auch gefordert, wenn das, was der Anästhesist macht, um eine komplexe, schwierige Problemsituation zu überwinden, nicht sofort erfolgreich ist, und der Patient weiterhin in einer kritischen Situation ist. Dann muss die Kommunikation zwischen dem Anästhesisten und den anderen am Prozess beteiligten Personen gut sein, ansonsten können durch die fehlende Transparenz bei den anderen [Personen] Aggravierungen der Situation herbeigeführt werden. Der Operateur kann nicht mehr konzentriert operieren, wenn der Anästhesist wenig kommunikativ sich in einer schwierigen Situation verhält, wenn er nicht weiß, stirbt jetzt der Patient oder nicht. ... Kommunikation ist notwendig, weil sie eine Informationslage erstellt, die es ermöglicht, dass das ganze Team in der gleichen Richtung für den Patienten arbeiten kann." [32]

Die nachfolgend durchgeführten Einzelinterviews mit zwei Oberärzten eines anderen Universitätsklinikums haben nur noch Problemlösefähigkeiten zum Gegenstand, weil hier weiterer Präzisierungsbedarf bestand. Die Aussagen der Interviewpartner 2 und 3 beziehen sich sowohl auf Schwerpunkte in verschiedenen Narkosephasen als auch generell für Problemsituationen bei Narkosetätigkeiten. [33]

In der Narkosevorbereitung kommt es auf Fähigkeiten des Informationsaustauschs mit anderen Personen und auf Planungsfähigkeiten an. Informationen sind vor allem von den Operateuren einzuholen, während der Narkosearzt in seinem Team Informationen zu den vergebenen Aufträgen weiterleitet, sagt Interviewpartner 2. Beide Aspekte des "Informationsmanagements" stehen in Zusammenhang mit Planungsfähigkeiten. Hier wurde auf die Notwendigkeit einfacher, mehr oder weniger linearer Pläne verwiesen, so dass entlang der gebildeten Zwischenziele ein schrittweises Abarbeiten des Narkoseplans möglich ist. Planen in dieser Phase benötigt auch Antizipationsfähigkeit für Komplikationen. Die Oberärzte betonen die Fähigkeit der Antizipation von Komplikationen im konkreten Narkoseprozess; jeder Anästhesist ist gefordert, permanent während der Ausführung von Narkosetätigkeiten an unerwünschte Fern- und Nebenwirkungen seines Handelns zu denken. Im Interview mit dem Chefarzt wurde bereits die Frage der Unvorhersehbarkeit von Komplikationen thematisiert. Um Komplikationen zu vermeiden, müsse man sich an Standards, Verfahrensvorschriften, bewährte Techniken und erprobte Narkosemittel halten, die Verfahren genau kennen und solides Fachwissen über physiologische Prozesse haben. Medizinisches Grundlagenwissen wird hier in einer Entlastungsfunktion des Denkens gesehen, so dass in kritischen Narkosesituationen Kapazität für höhere kognitive Prozesse z.B. des Problemlösens frei bleibt, betont Interviewpartner 3. Die Aussage von Interviewpartner 3 unterstreicht das: "Man braucht eine naturwissenschaftliche Denkweise, solides physiologisches Wissen, speziell über physiologische Funktionsabläufe, um nicht auf Einzelheiten achten zu müssen." [34]

In der Intubationsphase ist eine andere Teilfähigkeit des Planens gefragt, weil Anwendungsbedingungen für den Einsatz von Geräten und Verfahren gründlich und vollständig zu prüfen sind. Gerade wegen der Anwendung von bekannten Maßnahmen ist das Risiko für dekonditionales Planen und entsprechende Ausführungsfehler hoch. Insbesondere wenn der Patient in qualitativ andere Zustände gelangt (z.B. von Spontanatmung auf maschinelle Beatmung; Aufwachphase) oder bei "schwierigen" Atemwegen des Patienten müssen die Voraussetzungen für die Anwendung von Narkoseverfahren und Technikeinsatz geprüft und entsprechende Handlungsalternativen in Betracht gezogen werden. Alle drei Interviewpartner heben hervor, dass diese Fähigkeiten gerade bei jüngeren Berufskollegen noch nicht ausgeprägt sei. Sie begründen das mit dem Mangel an Erfahrungen mit Zwischenfällen und dem häufig herrschenden Zeitdruck. Auf die Nachfrage nach typischen Expertenfehlern in der Intubationsphase gab es keine Aussage, die die aus der Literatur bekannte spezifische Problematik von Routinisierungsfehlern durch langjährige Berufserfahrung reflektiert. [35]

In der Narkosedurchführung brauchen Narkoseärzte wiederum Planungsfähigkeiten, sie müssen auch ohne konkreten Anlass Alternativen entwickeln, sie müssen die Übersicht bewahren über Team, Patient und Medizintechnik (Interviewpartner 2). Es bedarf ferner der Fähigkeit, hohe Abschirmung gegen Störvariablen im OP-Raum aufzubauen – das kann man als Konzentration bezeichnen – und gleichzeitig Flexibilität für neue Strategien der Narkoseführung zu gewährleisten. Narkoseärzte brauchen "klare und bestimmte Vorstellungen, [sie sollen] nicht zwischen verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten schwanken, Fakten im richtigen Augenblick sortieren können [und zur] Änderung der Taktik bereit sein, wenn die klinische Situation sich ändert, zum Beispiel bei Weitung der Pupillen", gibt Interviewpartner 3 an, wobei die kognitive Leistung des Festhaltens an einer Behandlungsstrategie und die gleichzeitig geforderte Planung von Alternativen sowie das taktisch richtige Umschwenken auf eine anderes Vorgehen nicht weiter problematisiert bzw. erläutert wurden. [36]

Schließlich ist auf die Hintergrundkontrolle hingewiesen worden, d.h. der Narkosearzt prüft die Verfügbarkeit personaler und materieller Hilfen bzw. Ressourcen im OP-Umfeld, um ständig über mögliche Änderungen und verfügbare Hilfen informiert zu sein (Interviewpartner 2). [37]

Je nach Teamkontext arbeitet man mit bekannten oder unbekannten Personen zusammen. Daher sind Koordinations- und "Harmonisierungsfähigkeiten" wichtig. Das Pflegepersonal muss "aktiv am Geschehen beteiligt werden, um den Narkosearzt zu entlasten". Bei Personalwechsel ist "viel Zwischenkommunikation" notwendig, führt der Interviewpartner 2 aus. Während die beiden Oberärzte (Interviewpartner 2 und 3) in ihren Interviews betonen, dass Kommunikation eine permanente Denk- und Handlungsanforderung für den Anästhesisten ist, grenzt der Chefarzt dies auf den "Problemfall" ein: "Es besteht im Problemfall Kommunikationsbedarf mit dem Chirurgenteam. Der Narkosearzt sorgt dann für eine transparente Informationslage und exakte Problemdefinition" äußert der Interviewpartner 1. [38]

Bei einem Zwischenfall sind weitere Fähigkeiten bedeutsam, die eher Führungsfunktionen von Anästhesisten betreffen: "sich durchsetzen können", "klare Anweisungen geben", "Festlegung mit Chirurgen treffen, was zuerst gemacht werden soll", "sich dem Druck und Forderungen von außen widersetzen" (Interviewpartner 2), "frühzeitig erkennen, dass ein Problem auftritt und dass etwas getan werden muss" (Interviewpartner 1). [39]

Grundsätzlich geht es bei Narkoseprozessen um die Vermeidung gefährlicher Situationen. Diese können auch durch eine Überschätzung der Kompetenz des Anästhesisten mit verursacht werden. Als "goldene Regel" gilt zwar, dass ein Anästhesist frühzeitig die Hilfe von anderen Personen in Anspruch nehmen soll, woran man jedoch die drohende Überforderung erkennen kann, lassen unsere Interviewpartner offen. Sie geben alle zu Protokoll, dass unter Zwischenfallbedingungen schnell die subjektiven Grenzen der eigenen Fähigkeiten erreicht werden, so dass ein "frühzeitiges Hilfe holen" Methode der Wahl ist. Vorausgesetzt wird also ein hohes Maß an Selbstreflexionsfähigkeit, um den Punkt zu erkennen, an dem man ohne herbei gerufene Hilfe nicht weiter kommt. [40]

Fasst man die Interviewergebnisse zur Frage nach Problemlösefähigkeiten zusammen, so sind verschiedene Formen von Planungsfähigkeit wichtig, des weiteren strategische und handlungsorganisatorische Fähigkeiten und schließlich sozial-kommunikative Fähigkeiten. Im anschließenden Abschnitt haben wir mit einem Fragebogen Urteile über Fähigkeitskonstrukte erhoben, um deren Stellenwert für das Problemlösen in der Anästhesie besser abschätzen zu können. [41]

6.3 Ergebnisse des Befragungsbogens

6.3.1 Beurteilung der allgemeinen Fähigkeiten

Im Fragebogen waren 13 Items allgemeiner Fähigkeitskonstrukte vorgegeben. Es sollte die Wichtigkeit dieser 13 Fähigkeiten für das Problemlösen in der Anästhesie auf einer Skala von 1 (unwichtig) bis 5 (sehr wichtig) beurteilt werden. Das Ergebnis ist eine Rangreihe, gebildet nach den durchschnittlichen Urteilen je Item. Die am höchsten bewerteten Items sind "Gewissenhaftigkeit", "Kommunikation" und "Konzentration", während "Führungsfähigkeit", "Offenheit" und "Vorstellungskraft" als weniger wichtig eingeschätzt werden. Alle Items sind in der Rangfolge ihrer eingeschätzten Wichtigkeit in Abbildung 1 zu sehen.

Buerschaper et al.

Abbildung 1: Bedeutsamkeit allgemeiner Fähigkeiten in der Anästhesie (Median) [42]

6.3.2 Beurteilung der situativen Problemlösefähigkeiten

Die Beurteilung situativ benötigter Problemlösefähigkeiten anhand einer Itemliste erfordert vom Bearbeiter, sich an einen situativen Problemkontext zu erinnern und die Beurteilung der Fähigkeitsitems darauf zu beziehen. Es sollen 27 Problemlösefähigkeiten beurteilt werden hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für den ausgewählten Problemkontext (Skala 1-5 wie in 6.3.1 beschrieben). Die schriftlich fixierten situativen Problemkontexte wurden bei der Auswertung zu den folgenden drei Klassen zusammengefasst: a) zeitlich eng begrenzte anästhesiologische Prozeduren, die erwartbares Problempotenzial haben (z.B. Intubation), b) komplexe Situationen großen Umfangs an Arbeitsschritten, Polytelie, Zeitdruck, Phasen hoher Arbeitsdichte (z.B. Polytraumapatient) und c) Problemsituation durch Organisations- und Managementprobleme (z.B. unklare Verantwortlichkeit im Schockraum). Von den 27 Fähigkeiten, die hinsichtlich ihrer Nützlichkeit bewertet wurden, haben folgende 8 Items die höchsten Bewertungen erhalten (siehe Tabelle 1).

Item

Median

Quartilabstand

Übersicht bewahren (N=37)

4,94

0,56

Prioritäten setzen (N=37)

4,86

0,64

wichtige von unwichtigen Informationen trennen (N=19)

4,82

0,74

unter Zeitdruck ruhig bleiben (N=37)

4,78

0,86

auf Gefühle anderer achten (N=19)

4,77

0,95

bei Stress Ruhe bewahren (N=19)

4,71

1,17

Konsequenzen des Handelns bedenken (N=37)

4,55

1,14

Probleme analysieren (N=19)

4,55

1,37

Tabelle 1: Situative Problemlösefähigkeiten. Median und Quartilabstand bei 5-stufiger Bewertungsskala [43]

Am unteren Ende der Rangreihe sind die folgenden 6 Items zu finden (siehe Tabelle 2).

Item

Median

Quartilabstand

Visionen entwickeln können (N=37)

2

1,88

Prognosen über die weitere Entwicklung machen
(N= 19)

2,31

1,32

Kompromisse mit Kollegen eingehen (N= 18)

2,38

2,44

Unklarheiten eine Weile aushalten können (N= 37)

2,38

2,47

Aufmerksamkeit auf Details richten (N=19)

2,42

2

Vorschläge anderer Personen berücksichtigen (N= 19)

2,43

1,28

Tabelle 2: Situativ wenig wichtige Problemlösefähigkeiten. Median und Quartilabstand bei 5-stufiger Bewertungsskala [44]

Die geringen Quartilabstände der in Tabelle 1 aufgeführten Items sind ein Hinweis auf hohen transsituativen Nutzen der genannten Problemlösefähigkeit, weil diese Items in ganz unterschiedlichen situativen Problemkonstellationen jeweils hohe Werte erhalten haben. Somit sind Fähigkeiten wie Informationsmanagement, Planen, Stressregulation und Teamarbeit eher generell wichtige Problemlösekonzepte in der Anästhesie. Von geringerer Nützlichkeit für Problemsettings sind die Fähigkeiten, die absolut gering bewertet wurden und zudem hohe Quartilabstände aufweisen. Das spricht für geringe transsituative Bedeutsamkeit, kann aber fallweise situationsspezifisch eine wichtige Fähigkeit sein. [45]

6.3.3 Ergebnis der kritischen Situationen

Es liegen insgesamt 20 schriftliche Schilderungen kritischer Situationen vor, d.h. Zwischenfälle, in denen Problemlösefähigkeiten beansprucht wurden. In welchem Narkosezusammenhang die einzelnen Zwischenfälle stehen, zeigt die Tabelle 3.

Narkosesituation

Häufigkeit der Nennung

Intubation, Re-Intubation, Extubation

10

intraoperatives Beamtungsproblem

2

plötzliche Veränderung des Patienten (Schock, Blutverlust)

6

Notfalleingriff Herzoperation

1

Intensivstation: Patient lehnt Behandlung ab

1

Tabelle 3: Narkosesituation bei Zwischenfällen (N=20) [46]

Auch andere Untersuchungen über die Häufigkeit von Zwischenfällen weisen einen hohen Anteil der Beatmungs- und Intubationsschwierigkeiten aus (CAPLAN, POSNER & WARD, 1990). Erster Schritt der Auswertung ist eine Bestandsaufnahme der Problemlösedefizite, die in den Schilderungen benannt werden, gruppiert nach Anforderungsschwerpunkten. In einer Falldarstellung können mehrere Defizite benannt worden sein (siehe Tabelle 4). [47]

Der zweite Auswertungsschritt bezieht sich auf Lehren, persönliche Konsequenzen und ableitbare Heurismen des Problemlösens, die Narkoseärzte in den Darstellungen kritischer Situationen formuliert haben. Die Daten sind kategorisiert worden und hier mit ausgewählten Beispielen dargestellt (siehe Tabelle 5).

Problemlösedefizit

Anforderungsschwerpunkt

ungenügende Informationssammlung

frühzeitiger Abbruch der Situationsanalyse

Informationsmanagement

Unterplanung des Vorgehens

dekonditionaler Einsatz von Routinemaßnahmen
(Motto: "Alles wie immer")

mangelnde Umsicht und Vorausschau

unzureichende Bereitstellung von Hilfsmitteln der Notfallversorgung

Planen

mangelnde Absprachen über intraoperative
Zielveränderungen

unangekündigter, riskanter diagnostischer Eingriff

Kommunikation &
Kooperation

mangelnde gegenseitige Kontrolle

Teamarbeit

Tabelle 4: Problemlösedefizite, gruppiert nach Anforderungsschwerpunkten

Kategorie

Beispiele für Lehren, Konsequenzen, Heuristiken

Einstellungen und Werthaltungen

den falschen Stolz überwinden: sich helfen lassen

Im Notfall klappt's immer!

vertraue der eigenen Situationseinschätzung, nicht der Ansicht anderer

Heurismen mit spezifischem Anwendungsgebiet

bei schwierigen Beatmungsbedingungen: wie geplant aber vorsichtig vorgehen

Ampullenbeschriftung genau durchlesen

Algorithmus des Koniotomieverfahrens im Kopf haben

Verlegungsbett auf Intensivstation rechtzeitig planen

Heurismus mit breitem Anwendungsgebiet

den worst case gedanklich vorbereiten

Überblick behalten

vermeide vorschnelles Handeln, wenn du nicht zuständig bist

ein gewähltes Verfahren intraoperativ nicht wechseln

trotz Zeitdruck: vollständiges Bild vom Patienten machen

Heurismus für Teamarbeit

frühzeitig Hilfe holen

Fachvorgesetzten informieren Entscheidungen dort absichern

nicht von Operateuren zur Eile antreiben lassen

Kommunikation von Narkoseproblemen an Operateur

Operateur auffordern, unter suboptimalen Bedingungen zu arbeiten

gegen Druck des Operateurs wehren

Unterstützung der Pflegekraft

gute präoperative Kommunikation mit Oberarzt gemeinsam entschlossenes Vorgehen Aufgabentrennung vorher vereinbaren

Persönlicher Arbeitsstandard

notwendige Hilfsmittel in Reichweite/schnell zur Hand haben

Standardprozedur für Beatmungsprobleme im Kopf haben

nur Verfahren einsetzen, die man sicher beherrscht

Tabelle 5: Lehren und persönliche Konsequenzen aus Zwischenfällen [48]

6.3.4 Ergebnis der Beanspruchung von Fähigkeiten in Narkosephasen

Alle narkosebezogenen Tätigkeiten sind in acht Phasen unterteilt worden, die der zeitlichen und arbeitsorganisatorischen Abfolge der Tätigkeiten zur Durchführung einer Narkose entsprechen. Die Narkosetätigkeiten, die direkt mit der chirurgischen OP-Tätigkeit zusammen fallen, wurden nach markanten OP-Arbeitsschritten in Phasen gegliedert. In ein leeres Phasenschema sollten die Fragebogenbearbeiter beanspruchte Problemlösefähigkeiten zu jeder verbal bezeichneten Narkosephase eintragen. Wir erhalten insgesamt 341 Fähigkeitsnennungen, die sich auf die acht Phasen verteilen. Diese Fähigkeitsbeschreibungen wurden einer von 7 Kategorien zugeordnet (Arzt-Patient-Kommunikation, Narkose-Teamkommunikation, OP-Teamkommunikation, Situationsanalyse, Planen, Überwachen/Kontrollieren, Selbstmanagement). Die Beobachterübereinstimmung beträgt 0.74 (Kappa-Koeffizient nach COHEN, 1960). Legt man die absolute Häufigkeit der Nennung von beanspruchten Fähigkeiten zu Grunde, und geht man davon aus, dass häufige Nennung Beanspruchungsschwerpunkte im Narkoseprozess anzeigt, ergibt sich ein "Beanspruchungsprofil". In der Abbildung 2 ist dieses "Profil" dargestellt, das auf absoluten Häufigkeiten der kategorisierten Fähigkeitsnennungen je Narkosephase basiert.

Buerschaper et al.

Abbildung 2: Absolute Häufigkeit von beanspruchten Fähigkeiten in Narkose- und OP-Phasen [49]

Wie die Abbildung 2 zeigt, beansprucht die Narkosevorbereitung vor allem Fähigkeiten der Informationsbeschaffung und Kommunikation (Beispiele aus den Rohdaten: Daten- und Dokumentenakquisition, "Logistik" der Arzt-Patient-Gesprächsführung, Umgang mit Zeitdruck beim Prämedikations- und Aufklärungsgespräch). In Narkosevorbereitung und -einleitung werden ebenfalls Kommunikationsfähigkeiten sowie Planungs-, Teamkoordinations- und Selbstmanagementfähigkeiten beansprucht. Bei Narkosebeginn werden "Selbstmanagement"-Fähigkeiten am häufigsten genannt (z.B. Stress abbauen, Ruhe bewahren, umsichtiges Handeln). Zwischen der Einleitung und dem Hautschnitt (chirurgischer OP-Beginn) findet eine Verschiebung der Beanspruchung hin zu Fähigkeiten der Überwachung und Teamkoordination des gesamten OP-Teams statt. Die Anzahl von genannten Fähigkeiten, die der Kategorie Selbstmanagement zugerechnet wurden, nimmt in der Phase der Narkoseausleitung wieder deutlich zu, d.h. in einem Zeitfenster, wo die Chirurgen ihre Arbeit beendet haben, nennen Narkoseärzte häufig Fähigkeiten, die mit Konzentration, Überblick bewahren, Stressabbau und dem Management von Mehrfachbelastungen zu tun haben. [50]

6.3.5 "Idealer Anästhesist"

Das Ergebnis dieses Fragebogenabschnitts besteht aus schriftlich dargelegten Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die man einem kompetenten anästhesiologischen Problemlöseexperten zuschreibt. Unter der Aufforderung: "Was tut der 'ideale' Anästhesist, wenn ..." waren drei Problemsituationen vorgegeben: (a) "Zeitdrucksituation", (b) "Kooperationsproblem mit Chirurg" und c) "wenn der Narkosearzt keine Problemlösung weiß". Die Fähigkeitsbegriffe sollten in ein freies Antwortfeld eingetragen werden. Wir zeigen hier die genannten Fähigkeiten (insgesamt N=85) mit Angabe von Häufigkeiten. Wo sich eine Zusammenfassung von Fähigkeiten bzw. Verhaltensattributen anbietet, haben wir dies unter einem zentralen Stichwort vorgenommen. Die Tabelle 6 zeigt die leicht verdichteten Rohdaten mit Angabe der Häufigkeit der genannten Fähigkeit der "Idealperson".

Merkmal der Problemsituation

Fähigkeit/Verhalten der "Idealperson"

Häufigkeit

a) Zeitdruck

eins-nach-dem-anderen-tun

N=8

sorgfältig Plan abarbeiten

N=10

Prioritäten setzen und frühzeitig Hilfe holen

N=10

b) Kooperationsproblem mit Operateur

sachlich und ruhig bleiben

N=8

auf Standpunkt des Patienten stellen

N=2

Informationen an Operateur verteilen

N=2

Kompromiss erarbeiten

N=3

Vorgesetzte einschalten

N=2

Schlichter sein

N=1

Operateur ignorieren

N=1

Revision der Situation und Hilfe anbieten

N=2

einen klaren Diskussionsstil befolgen

N=7

c) keine Lösungsidee

Hilfe suchen bei Ärzten

N=15

Hilfe suchen bei Ärzten oder Pflegepersonal

N=2

Zeit gewinnen, um nach neuen Lösungen zu suchen

N=5

symptomatische Therapie und Fehlersuche initiieren

N=3

opportunistisch vorgehen, improvisieren

N=4

Tabelle 6: Fähigkeiten und Verhaltensweisen eines "idealen Narkosearztes" in drei Problemsituationen a-c [51]

7. Zusammenfassung und Diskussion

Unter narkosebezogenen Tätigkeiten in der Anästhesiologie nimmt das problemlösende Denken und Handeln eine Schlüsselfunktion ein. Probleme sind subjektiv erlebte Barrieren, die nicht allein mit erworbenen fachlich-anästhesiologischen Kompetenzen bewältigt werden können. Um der Verschiedenheit von Tätigkeiten eines Narkosearztes Rechnung zu tragen und den Stellenwert von Problemlösefähigkeiten exakter zu bestimmen als das bisher durch arbeitswissenschaftliche Methoden geleistet wurde, ist ein multimethodales Verfahren entwickelt worden. Die Methoden des eingesetzten Verfahrens repräsentieren verschiedene Zugänge zum Thema Problemlösen unter Dynamik und Unbestimmtheit. Gemeinsam ist allen Methoden, dass sie aus der Perspektive von Narkoseärzten Daten über Problemlösefähigkeiten erheben. [52]

Der Beitrag von Interviews und OP-Beobachtungen liegt in der Strukturierung von Narkosetätigkeiten und der Verortung von Problemlöseanforderungen, die u.a. im Prämedikationsgespräch, in der Narkosevorbereitung und -durchführung bis hin zum Aufwachraum anstehen. Durch einen Fragebogen konnten generelle und spezielle Problemlösefähigkeiten hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit beurteilt werden. Generell werden bei Narkosetätigkeiten Fähigkeiten beansprucht wie "Gewissenhaftigkeit", "Kommunikationsfähigkeit" und "Konzentrationsfähigkeit". Diese allgemeinen Fähigkeitskonstrukte erhalten in der Beurteilung durch Narkoseärzte die höchsten Werte. In den Bedeutsamkeitsurteilen spiegeln sich sowohl verbindliche Berufsgrundsätze der Medizin wider als auch der anästhesiespezifische Umstand, dass gerade in Problemfällen kooperatives Handeln und kommunikative Kompetenz entscheidend sind. Der hohe Stellenwert von Kommunikationsfähigkeiten wird durch die einander ergänzenden Verfahrensbausteine näher aufgeklärt. Kommunikation steht in enger Beziehung zur Handlungsorganisation beim Narkosezwischenfall. Bereits die Informationssammlung über den Patienten, die Erfassung von problemrelevanten Daten und die Bildung eines mentalen Modells der OP-Raum-Situation setzen voraus, dass ein Narkosearzt differenzierte Kommunikationsfähigkeiten hat. Ferner hängen das Planen und die erfolgreiche Umsetzung von Entscheidungen von Kommunikationsfähigkeiten ab. Eine Ausprägung dieser Fähigkeit in Richtung verbaler Konfliktlösungsfähigkeit erscheint wichtig, da der Narkosearzt Problemlösungen auch "gegen" den Operateur durchsetzen muss. Hinsichtlich des Stellenwertes von Kommunikationsfähigkeiten im Kontext des oft genannten "Hilfe-Holens" kann man den Daten entnehmen, dass der Narkosearzt im Stande sein muss, Problemsituationen und Maßnahmen klar, vollständig und stark verdichtet zu kommunizieren. Anderenfalls ist der Nutzen des zu Hilfe geholten Personals für eine gemeinsame Problemlösung gering. [53]

Die Frage nach speziellen Problemlösefähigkeiten fokussiert kognitive und emotionale Kompetenzen, die beim Narkosezwischenfall bedeutsam sind. Nach Einschätzung von Narkoseärzten ist es besonders wichtig, den Überblick zu bewahren, richtige Prioritäten zu setzen und die lösungsrelevanten Informationen zu selektieren. Von ähnlich hoher Bedeutsamkeit wie diese kognitiven Fähigkeiten sind Coping-Fähigkeiten für emotionale Zustände; wer im OP-Raum Probleme löst, sollte in der Lage sein, unter Zeitdruck und Stress Ruhe zu bewahren. Aus theoretischen Überlegungen heraus stehen die kognitiven Problemlösefähigkeiten in enger Wechselwirkung mit den emotionalen Coping-Fähigkeiten. Wer unter Zeitdruck ruhig arbeitet, kann wahrscheinlich "richtige" Prioritäten setzen. Vice versa ermöglichen "richtig" gesetzte Prioritäten auch ein ruhiges und konzentriertes Arbeiten. Fähigkeitsbegriffe sind daher nicht unproblematisch. Sie stellen häufig nur eine alltagssprachliche Codierung für komplexe Denk- und Handlungsregulationsprozesse dar ohne Bezug zu Theorien menschlicher Informationsverarbeitung beim Problemlösen (DÖRNER, 1999). Für unseren Untersuchungszweck, begründete Ziele und Fähigkeitskonstrukte für ein Problemlösetraining zu gewinnen, haben wir die geringe Konsistenz zwischen Handlungstheorie und Fähigkeitsbegriffen in Kauf genommen. Die Fragebogenmethodik zur Beurteilung der Wichtigkeit von generellen und speziellen Problemlösefähigkeiten ist ein ausreichendes Instrument für die Gewinnung und Gewichtung von Trainingszielen. Will man die prozessualen Zusammenhänge von Fähigkeiten aufklären, bieten sich andere Methoden an. [54]

Einen Zugewinn für die Thematik der dynamischen Beanspruchung von Problemlösefähigkeiten stellt die Methode der phasenspezifisch abgeforderten Fähigkeiten dar. Dieses einfache Instrument verdeutlicht Beanspruchungswechsel und liefert Hinweise auf mögliche kognitive Ressourcenkonflikte. Die Phasen-Beanspruchungsgrafik (Abbildung 2) beruht auf der Häufigkeit von Nennungen beanspruchter Fähigkeiten und dient der Zuordnung von Fähigkeiten zu Narkosephasen, was für Trainingsfragen wichtig ist. Die Rohdaten in den einzelnen Kategorien enthalten darüber hinaus präzise Aussagen zu bestimmten Fähigkeiten, so dass mit dieser Methode auch berufsbezogene Differenzierungen einzelner Fähigkeitskonstrukte (z.B. Planen in der Narkosevorbereitung) möglich sind. [55]

Ein methodischer Zugang, um den Einsatz von Problemlösefähigkeiten im Prozess einer Narkose (oder sonstiger Handlungsverläufe) zu erfassen, ist die qualitative Darstellung "kritischer Situationen" und der dabei relevanten Problemlösefähigkeiten. Die geschilderten kritischen Situationen lassen sich auch vor dem Hintergrund der phasenspezifisch beanspruchten Fähigkeiten leichter einordnen. Nachteilig ist bei "kritischen Situationen", dass die Frage nach Problemlösefähigkeiten in der Regel zu einer defizit-orientierten Darstellung des Handelns führt. Die gewonnenen Daten zeigen erwartungsgemäß Defizite bei Problemlösefähigkeiten; typische "Fehler" sind z.B. der Abbruch der Informationssammlungsphase und der frühzeitige Übergang zum Tun oder die dekonditionale Anwendung von Handlungsoperatoren, was ein Mangel an Planungsfähigkeit ist. Der spezifische Methodennutzen der "kritischen Situationen" liegt einerseits in der Erfassung von psychologischen Ursachen, die zum Zwischenfall beitragen und im Sinne eines Defizits z.B. durch Trainings ausgeglichen werden können. Andererseits erbringt die Frage nach "Lehren", die die Akteure aus der retrospektiven Betrachtung ihres Handelns ziehen, einen Satz von Heuristiken mit breitem und spezifischem Anwendungsbereich. Man gewinnt auf diese Weise eine Operationalisierung für Problemlösefähigkeiten, die sich in Trainings vermitteln lässt. [56]

Die Herausforderung für die Konstruktion von Trainings, die den – aus der Sicht von Narkoseärzten – zentralen Fähigkeiten Rechnung tragen, besteht darin, parallel handlungsorganisatorische Fähigkeiten (Planen, Informationsmanagement) mit sozial-kommunikativen Fähigkeiten zu trainieren. Die eingesetzten Methoden des vorgestellten Erhebungsverfahrens liefern dafür brauchbare thematische Ansatzpunkte. Aus den erfassten Problemlöseheuristiken und "Expertenregeln", aber auch aus Operationalisierungen von Fähigkeitskonstrukten und phasenspezifisch beanspruchten Fähigkeiten lassen sich Informationen für Trainingsmethodik und -inhalte ableiten. Die Erfahrungen aus dem Einsatz von Trainingsmodulen (z.B. zum Thema Kommunikation in kritischen Situationen) an zwei Kliniken zeigen rückblickend, dass das vorgestellte Erhebungsverfahren vor allem in den Abschnitten "Kritische Situationen", Vorgehensmerkmale eines "Idealen Anästhesisten" und durch die Operationalisierung der berufsrelevanten Fähigkeitskonstrukte im Expertenhearing zu fruchtbaren Ergebnissen führt. [57]

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Zu den Autoren und zur Autorin

Cornelius BUERSCHAPER, Diplom-Psychologe, Forschungsschwerpunkt Denk- und Handlungsstrategien im Umgang mit komplexen Mensch-Technik-Systemen, Trainings- und Organisationsentwicklungsprojekte für Industrie- und Dienstleistungsunternehmen

Kontakt:

Cornelius Buerschaper

Institut für Theoretische Psychologie
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Markusplatz3
D-96045 Bamberg

E-Mail: cornelius.buerschaper@t-online.de

 

Dr. Gesine HOFINGER, Diplom-Psychologin, Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, Forschungsschwerpunkte Strategisches Denken bei Problemlöseprozessen, Trainings- und Beratungsprojekte u.a. für Qualitätsmanagement in Krankenhäusern, Umweltpsychologie

Kontakt:

Dr. Gesine Hofinger

Institut für Theoretische Psychologie
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Markusplatz3
D-96045 Bamberg

E-Mail: gesine.hofinger@t-online.de

 

Holger HARMS, Diplom-Psychologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theoretische Psychologie, Forschungsschwerpunkt Angewandte Methoden des Trainings von Denk- und Problemlöseprozessen

Kontakt:

Holger Harms

Institut für Theoretische Psychologie
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Markusplatz3
D-96045 Bamberg

E-Mail: holgerharms@bvn-bamberg.de

 

Dr. Marcus RALL, Anästhesiologe, Leiter des Tübinger Patienten-Sicherheitssimulators (TÜPASS), Forschungsschwerpunkt Systemsicherheit im OP, Zwischenfalltraining in der Anästhesie, Anwendungsforschung Telemedizin

Kontakt:

Dr. Marcus Rall

Klinik für Anästhesiologie
Eberhard-Karls-Universität
Hoppe-Seyler-Str. 3
D-70071 Tübingen

E-Mail: marcus.rall@med.uni-tuebingen.de

Zitation

Buerschaper, Cornelius; Harms, Holger; Hofinger, Gesine & Rall, Marcus (2003). Problemlösefähigkeiten in der Anästhesie [57 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 11, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0303115.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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