Volume 4, No. 3, Art. 9 – September 2003

Leila: Dissoziative (Medien-) Interaktion und Lebensweg einer jungen Erwachsenen. Eine (medien-) biografische und psychotraumatologische Fallstudiex)

Harald Weilnböck

Zusammenfassung: Vor dem Hintergrund von theoretischen Korrespondenzen und methodischen Synergien zwischen der qualitativ-soziologischen Narrationsanalyse und dem Erzählbegriff der neueren Psycho- und Beziehungsanalysen sowie der Psychotraumatologie wird das Desiderat eines interdisziplinären handlungstheoretischen Modells von narrativen Prozessen formuliert, das auch für Medien- und Kulturwissenschaften anschließbar ist. Die exemplarische narrativ-biografische Fallstudie untersucht die Interview-Erzählung der Abiturientin Leila, die aktiv und kompetent am schulischen und kulturellen Leben teilnimmt, hinsichtlich ihrer Lebensgeschichte und ihres Medienrezeptionsverhaltens. Psychotraumatologisch beschreibbare Belastungsfaktoren der früh zerrütteten und gewaltlatenten Elternbeziehung und einer auch in der Jetztzeit nicht spannungsfreien Familiensituation werden vor dem Hintergrund einer bis in die Zeit des Nationalsozialismus reichenden familiären Dreigenerationen-Dynamik sichtbar. Während Leilas Vater von irakisch-iranischer Herkunft ist, stammt ihre Mutter von einer vormals gut situierten Königsberger Bürgerfamilie ab, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Norddeutschland geflohen war. Die historischen Täter- bzw. Opferaffiliationen der Familie stellen sich in der Präsentation auf unklare Weise dar. Diese verschiedenen psychotraumatologischen Belastungsfaktoren schlagen sich bei Leila zum einen in psychoaffektiven Wahrnehmungs-, Narrations- und Medienhandlungsmustern nieder, die auf dissoziative psychische Dynamiken schließen lassen. Diese werden sowohl in ihrem aktuellen Erzählmodus in der Interviewsituation als auch in der Rekonstruktion ihrer Fernseh- und Lektürenutzung deutlich gemacht. Zum anderen führen die psychotraumatologischen Belastungsfaktoren in Leilas gegenwärtigem sozialen Leben dazu, dass zentrale Freundschaftsbeziehungen ein rekurrentes (projektiv-identifizierendes) Konflikt- und Gewaltgeschehen aufweisen und dass sie in ihrer engagierten schulischen Arbeit einen Misserfolg erleidet. Eine korrespondierende Konfliktdynamik ist auch im (Gegen-) Übertragungsgeschehen zwischen Leila und dem männlichen der beiden InterviewerInnen erkennbar.

Keywords: Sozialforschung, Lese- und Medienforschung, Narrationsanalyse, Biografieforschung, Psychoanalyse, Psychotraumatologie, Dissoziation, Übertragung, Holocaust

Inhaltsverzeichnis

1. Synergien zwischen biografietheoretischer Narrationsanalyse und der neueren Psycho- und Beziehungsanalyse bzw. Psychotraumatologie

2. Leila, eine medienbiografische Fallstudie in beziehungsanalytischer und psychotraumatologischer Sicht

3. Leilas Haupterzählung in der Handlungsstruktur: Gefahr, Moderation, Suche von Gefahr/Schutz

4. "Messer unter dem Kissen" – frühe Beziehungstraumatik und traumakompensatorisches Erzählschema

5. Täter-Opfer-Inversion: Narrative Engramme der familiären Dreigenerationen-Dynamik aus der Zeit des Dritten Reichs

6. Die unwillkürliche Re-Inszenierung von psychotraumatischer Konfliktdynamik

7. Leilas Medienhandeln der frühen Kinderzeit

8. Leilas Medieninteraktion zum Zeitpunkt des Interviews

9. Esoterik und Nordisches als spezielle Genres

10. Nordische Wurzeln: Zur Destruktivität von transgenerational-medialen Spaltungsübertragungen

11. Schluss

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Synergien zwischen biografietheoretischer Narrationsanalyse und der neueren Psycho- und Beziehungsanalyse bzw. Psychotraumatologie

Die philosophische Dichotomie von Individuum und Sozietät beruht auf einer langen Tradition, die vor allem in den Geisteswissenschaften, aber auch in der älteren Psychoanalyse und – von der makrosozialen Perspektive her kommend – auch in der quantitativ-empirischen Sozialforschung wirksam ist. Jedoch scheint diese erkenntnistheoretische (und immer auch erkenntnisverhindernde) Dichotomisierung in verschiedenen gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen der jüngeren Zeit zunehmend an bestimmender Kraft zu verlieren. Sowohl die neueren Sozialwissenschaften als auch die neueren Psycho- und Beziehungsanalysen konzentrieren sich verstärkt auf die Beobachtung und theoretische Modellierung von interaktiven Prozessen und Verlaufsgestalten des Kommunizierens und Sinnverstehens. Die Sozialwissenschaften haben so genannte "qualitative" und "hermeneutische" Mittel, wie z.B. ausführliche narrative Interviewverfahren (mit Einzelnen und Gruppen) entwickelt, und die Psychotherapien haben die klassischen Neutralitäts- und Abstinenzregeln in einer Weise umformuliert, die mehr beidseitige, szenisch-narrative Interaktion entstehen lässt. (Die psychoanalytische Erzählforschung erforscht diese Interaktionen.) Die Bemühungen beider Felder richten sich darauf, am Individuum die biografische Genese von psychoaffektiven Handlungsmustern zu rekonstruieren und zu beschreiben (bzw. zu verändern). Dabei ist auch Aufmerksamkeit dafür entstanden, wie sehr man im Grunde auf einer gemeinsamen Materialgrundlage steht: Denn die beforschten Prozesse der Interaktion, sowohl in der Psychotherapie als auch in den qualitativ-soziologischen Erhebungen, sind solche des Erzählens, der Narration vor und mit einem (impliziten) Gegenüber. Die mögliche Rückwirkung, die sich aus dieser perspektivischen Gemeinsamkeit heraus für die kulturwissenschaftlichen Felder ergibt, wird evident, wenn man bedenkt, dass die psychoaffektiven Handlungsmuster Einzelner immer in der Verschränkung von lebensweltlich-direkter Interaktion mit Anderen und medial-indirekter Interaktion mit Medienprodukten entstanden sind und dass sie sich als solche im ständigen Medienverbund der Person, also im Gesamt der von ihr genutzten Schrift-, Ton- und Bildmedien fortentwickeln.1) Die jeweils rezipierten Medienerzählungen haben in dieser handlungstheoretischen Perspektive einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Die heuristische Möglichkeit einer Synthese von soziologischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Verfahren und Gegenständen zeichnet sich ab – freilich auch die Notwendigkeit der erkenntnistheoretischen Integrationsarbeit. [1]

In diesem Sinn will ich im Folgenden einige grundlagentheoretische Überlegungen zu den theoretischen Korrespondenzen und methodische Synergien anstellen, die zwischen der biografietheoretischen Narrationsanalyse einerseits und der neueren Psycho- und Beziehungsanalyse sowie der Psychotraumatologie andererseits bestehen. Diese beiden wissenschaftsgeschichtlich jungen und noch in jeweils marginaler Position befindlichen Bereiche (die zudem noch wenig Kenntnis voneinander haben) stellen das nach wie vor dominierende individualphilosophische Axiom des abendländischen Denkens entschieden und begründet in Frage. Und sie tun dies, indem sie gleichzeitig neue hermeneutische und rekonstruktive Methodiken entwickeln: So hat vonseiten der Narrationsanalyse Wolfram FISCHER-ROSENTHAL unter dem Aspekt des "langen Abschieds aus der selbstverschuldeten Zentriertheit des Subjekts" sehr eindrücklich auf die erkenntnisverhindernde "Melancholie der Identität" in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften hingewiesen. FISCHER-ROSENTHALs Appell richtet sich an neue Perspektiven einer "dezentrierten biografischen" Beschreibung von Individuen, die in ihrer dialektischen Verfasstheit zwischen eigenständiger persönlicher Lebensgestaltung und sozio-biografischer Bedingtheit begreiflich werden. Ein ganz ähnlicher Impuls bewegt Gottfried FISCHER, wenn er vom individualphilosophischen "Intrapsychismus" der älteren Psychoanalyse spricht, der die psychosozialen und ökologischen Bedingungen des psychischen Lebens unterschlägt. Der Aufweis der theoretisch-methodischen und inhaltlichen Korrespondenzen zwischen Narrationsanalyse und Psychotraumatologie/Psychoanalyse scheint also vielversprechend. Vor allem jedoch sollen diese Korrespondenzen anhand einer exemplarischen Fallstudie der Biografieforschung in ihrer interdisziplinären Leistungsfähigkeit konkret nachvollziehbar gemacht werden. Es handelt sich dabei um eine Fallbearbeitung aus einer größeren medien-biografischen Studie, die den handlungstheoretischen Zusammenhang von biografischem Erleben und (affektiv-kognitivem) Medienhandeln von jungen Erwachsenen auf systematische Weise zu ergründen versucht (GARBE, SCHOETT, SCHULTE BERGE und WEILNBÖCK 1999).2) Die Ausgangsfragestellung ist eine zweifache, nämlich (1) wie psychoaffektive Medienhandlungsmuster biografisch herausgebildet werden und (2) wie Individuen mittels Medienhandlungen ihre biografische Arbeit und ihre lebensweltliche Handlungssteuerung strukturieren und Aufgaben des sozialen und emotionalen Lernens bewältigen. In medientheoretischer Hinsicht fußt die Untersuchung auf dem handlungstheoretischen Struktur- und Prozessmodell der Medienrezeption und -sozialisation von CHARLTON und NEUMANN-BRAUN (1992), das Medienkonsum als regelgeleitete (Medien-) Interaktion und als ein "wechselseitig orientiertes soziales Handeln" von biografisch und situativ verfassten intentionalen Subjekten versteht. CHARLTON (1997, S.25). CHARLTON (1993, S.11f.) hatte auf den aus der britischen Sprachpsychologie bezogenen Begriff des dialogism verwiesen, der "die zahlreichen strukturell relevanten Gemeinsamkeiten" zwischen lebensweltlichen "Alltagsdialogen" von "Mediennutzern" einerseits und den "inneren Dialogen mit Medienaussagen" bzw. der "Kommunikation des Rezipienten mit dem Medium" in den Blick zu nehmen erlaubt. Der handlungstheoretischen Ausrichtung des Modells entsprechend unterstreicht CHARLTON (1993, S.23) mit Verweis auf Umberto ECOs Verständnis der offenen Leser-Text-Interaktion die Aspekte der "Zweckgebundenheit, Geplantheit, der Selektivität und der Widerständigkeit" der subjektiven Medieninteraktion. Dass bei einer solchermaßen komplexen sozialwissenschaftlichen Fragestellung beziehungsanalytische und psychotraumatologische Aspekte eine bedeutende Rolle spielen, wird kaum verwundern. Und so stellte sich uns in der Fallgeschichte der Abiturientin Leila der Lebensverlauf einer jungen Frau dar, die erfolgreich und überaus aktiv am schulischen Leben ihres Gymnasiums beteiligt ist und insgesamt eine hohe interaktive und Medienkompetenz erreicht hat, deren vielfältige Aktivitäten und zentrale Freundschaftsbeziehungen jedoch aufgrund von psychotraumatologisch beschreibbaren Belastungsfaktoren ihrer persönlichen und familiären Biografie von spezifischen rekurrenten Konfliktdynamiken beeinträchtigt sind. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern und in welchem Ausmaß trotz der hohen Text- und Medienkompetenz eine dissoziativ strukturierte Form der Medieninteraktion vorliegt (das definitionsgemäß auf systematischen thematischen Ausblendungen und Verschiebungen beruht und von intensiven affektiven Konfliktdynamiken gekennzeichnet ist), inwiefern also Leilas Narrations- und Rezeptionsverhalten einer dissoziativen Struktur folgt. [2]

Die Untersuchung der Leilas Lebensverlauf inhärenten Handlungssteuerung bedient sich des narrationsanalytischen Mittels des narrativ-biografischen Interviews und der rekonstruktiven Auswertung. Die Beschreibung und Analyse der psychosozialen Genese und affektiven Valenzen dieser Handlungssteuerung wird dabei jedoch in interdisziplinärer Weise auch Erkenntnisse der Psychoanalyse und Psychotraumatologie mit einbeziehen. Die biografietheoretische Fundierung der soziologischen Narrationsanalyse erfolgt durch Gabriele ROSENTHAL (1995) und Wolfram FISCHER-ROSENTHAL (1991, 1999).3) Die AutorInnen formulieren einen handlungstheoretischen Ansatz, indem sie Biografie – das Erzählen über das eigene Erleben – als Verhältnisbestimmung bzw. dialektische Beziehung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte begreifen. Dabei konstituiert sich biografisches Erzählen wechselseitig aus den im "Gedächtnis vorstellig werdenden und gestalthaft sedimentierten" Erlebnissen und aus dem gedanklichen, mithin erzählenden "Akt der Zuwendung" zu ihnen, der aus der jeweiligen Gegenwart immer wieder neu und in situativ spezifisch geprägten Weisen erfolgt. Das solchermaßen als lebenslanger Prozess der psychoaffektiven Selbstvergewisserung verstandene Erzählen stellt die biografische Arbeit der Person dar. Mithin können die Handlungsstrukturen, die die narrativen Selbstäußerungen steuern und die Formen des Erlebens und Handelns der Person prägen, aus ihren Erzählungen erschlossen werden. Diese theoretischen Feststellungen der Biografieforschung enthalten mannigfaltige Korrespondenzen mit psychoanalytischen und psychotraumatologischen Grundlegungen, deren jüngerer, traumatologischer Aspekt kürzlich insbesondere durch Gottfried FISCHER und Peter RIEDESSER systematisiert wurde. Auch in den theoretischen sowie praxeologischen Dimensionen von Therapie haben die Prozesse des Erzählens zentrale Bedeutsamkeit. Bereits FREUDs Begriff der Nachträglichkeit von Erinnerung und Erzählen trägt der Tatsache Rechnung, dass Erzählen eine Funktion nicht so sehr der Vergangenheit als vielmehr der Gegenwart ist und sich retrospektiv-kreativ an den Gegebenheiten der momentanen Lebenssituation des Subjekts herausbildet. Ferner unterstreichen FREUDs Ausführungen zur Deckerinnerung das kreative und fiktionale Element der narrativen Selbstpräsentation. Die jüngere psychoanalytische Erzählforschung konkretisiert dies: "Narrative Darstellungen erweisen sich somit geradezu als prototypische Exempel eines Umgangs mit faktischen Gegebenheiten" des persönlich-biografischen Erlebens, "der durchdrungen ist von interpretativen Vorentscheidungen und subjektiven, interessegeleiteten Vorannahmen" der BiografIn. "Dieses Charakteristikum macht die Erzählung für den psychologischen Zugang interessant" (BOOTHE 1994, S.11) und – so wäre hinzuzufügen – gleichermaßen für den sozialwissenschaftlichen Zugang. Auch die neueren Ansätze der psycho- und beziehungsanalytischen (Gegen-) Übertragungsanalyse4) (sowie der Gruppenanalyse) sind von einem solchermaßen situationsspezifischen und handlungstheoretischen Verständnis von Erzählen und Erzählanalyse getragen, indem sie Narration als unmittelbar interaktives und szenisches Geschehen zwischen zwei Personen in einem soziohistorischen Feld begreifen. Selbstverständlicher als in der Biografieforschung ist dabei in den Psychoanalysen die hohe Bedeutung der affektiven Besetzungen und ihrer interpersonellen Übertragung a priori in Rechnung gestellt. [3]

Das Erzählen wird also sowohl in therapiewissenschaftlichen als auch in qualitativ-soziologischen Forschungsbereichen als Kristallisationspunkt von psychoaffektiver Selbst-Versicherung und -Erkenntnis begriffen und mit einer theoretischen und methodologischen Höchstrelevanz versehen. Die soziologische Narrationsanalyse zieht entsprechende methodische Konsequenzen, indem sie den Verfahren des offenen biografisch-narrativen Interviews und der rekonstruktiven Fallanalyse folgt und damit, etwa im Unterschied zu standardisierten oder leitfaden-gestützten Interviews (oder statistischen Erhebungen), den Gestaltungsraum für die interviewte BiografIn maximal ausdehnt. Dadurch erst können die erhobenen Daten im Kontext ihrer biografischen und funktional-handlungsdynamischen Einbettung sichtbar werden. Denn die Handlungsstrukturen der biografischen Arbeit treten erst dann in Erscheinung, wenn genau nachvollzogen werden kann, worüber die BiografIn aus eigenem Antrieb spricht oder worüber sie nicht spricht und wie und in welcher Ausführlichkeit sie die jeweiligen Inhalte darbietet, d.h. wie sie über sie in den unterschiedlichen Textsorten des Berichts, der Argumentation, der Erzählung etc. spricht, wie sie die Daten arrangiert und zu bestimmten Lebensbereichen in Bezug setzt, ferner wie sie sie in thematische Felder und in eine biografische Ablaufgestalt einbettet. Formal in hohem Maße aufschlussreich sind dabei die Beobachtungen hinsichtlich der in der jeweiligen Sequenz verwendeten Textsorte bzw. hinsichtlich des Narrationsgrades der Darbietung, der bei bestimmten Thematiken sinken oder ansteigen mag und u.U. dazu führt, dass der Erzählfluss in Gang gerät, stockt oder sich Raffungen ergeben. In einem psychoanalytischen Setting ist dieser maximale Gestaltungsraum der AnalysandInnen ohnehin selbstverständlich gegeben. [4]

Dementsprechend besteht eine zentrale methodologische Korrespondenz zu den Therapiewissenschaften, insbesondere zur psychoanalytischen und psychotraumatologischen Erzähltheorie darin, dass beide Interaktions-Settings systematisch auf die Aktivierung von Erzählmaterial abzielen. Die Erhebungsmethode des biografisch-narrativen Interviews legt einen besonderen Schwerpunkt darauf, Aussagen in der detaillreichen und affekthaltigen Form der Erzählung anzuregen – in Unterschied und Ergänzung z.B. zu den Formen des Berichts, der Beschreibung und der Argumentation. Sie werden als relativ weniger detaillierte und affektreduziertere Formen der narrativen Darbietung definiert, die den persönlichen Erzählrelevanzen der BiografIn nicht so eng verbunden sind. Diese Methode setzt deshalb (jedoch erst nach der autonomen Haupterzählung) eine Technik des narrativen Nachfragens ein. Denn die qualitative Soziologie geht mit Fritz SCHÜTZE in Weiterführung der linguistischen Erzählanalyse davon aus, dass eigenerlebte Erfahrungen und Handlungen sich am eindrücklichsten und psychisch tiefgreifendsten in der Textform der Erzählung vermitteln.5) Die psychoanalytische Erzähltheorie geht in analoger Weise davon aus, dass die "autobiografische Selbstrepräsentation" gerade dann von höchstem analytischen Interesse ist, "wenn echte Erzählvorgänge eingebaut werden" und es zur "Darbietung von Stories" kommt. Es handelt sich dabei um die "Schilderung einer Gegebenheit, [und] einer Situation", die "sich für den Erzähler und seinen emotionalen Bezug als besonderes Ereignis heraushebt" und sich zur "narrativen Einheit zusammenschließt" (BOOTHE mit Verweis auf WIEDEMANN & STIERLE 1994, S.57f).6) [5]

Diesem theoretischen Schwerpunkt entsprechend ist es auch in der Praxis der Therapie eines der grundsätzlichsten Kriterien für ein erfolgreiches Durcharbeiten (von Traumata), dass Erzählbarkeit entsteht, d.h. dass die Person eine affekt- und erfahrungshaltige persönliche Erinnerung an sowie faktisches Wissen über (traumatische) Erlebnisse erreicht und somit – erzählend – in eine psychoaffektive Erfahrungsintegration eintreten kann (FISCHER), die Prozesse des Trauerns (und der Freude) bewirkt. Dieses Kriterium der Erzählbarkeit ist also, wie die Erzählung in der soziologischen Narratologie, an einen Modus der Erinnerung und Darstellung geknüpft, der die persönlich-biografischen und affektiven Erfahrungsrelevanzen des Einzelnen – gerade auch dann, wenn sie traumatischer Natur sind – so weitgehend wie möglich erschließt. (Dies geschieht insbesondere dann, wenn sie nicht lediglich mittels der tendenziell dissoziativen Sprachlösungen von affektreduziertem Bericht oder Beschreibung oder der rationalisierenden Argumentation bezeichnet werden, deren Funktion es ist, die traumatischen oder konflikthaften Affekte und Inhalts-Assoziationen abzuwehren.) Die psychoanalytische Erzählforschung (die ihren theoretischen Akzent nicht so sehr auf traumatische Geschehnisse als auf intrapsychisches Konflikterleben setzt) trifft eine ähnliche Unterscheidung, wenn sie mit Brigitte BOOTHE zwischen zentripetalem, auf affirmative Selbst-Bestätigung zielendem Erzählen und zentrifugalem, auf erweiternde Selbst-Transzendenz zielendem Erzählen differenziert. Denn damit ist ein Wechselverhältnis von narrativer Erfahrungs- und Erinnerungsvertiefung versus narrativer Abwehr von Erfahrung, Affekt und Erinnerung beschrieben.7) In seiner Wirkung auf das interagierende Gegenüber – diese Dimension ist für medien- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen gleichermaßen bedeutsam – sind diese beiden funktionalen Dimensionen des Erzählens am günstigsten mittels der Unterscheidung zwischen konkordanten und komplementären Text- und Erzählübertragungen zu erfassen (und zu operationalisieren). Die konkordanten Übertragungen von als Abwehr fungierenden Affekten (z.B. der Depression, Manie, Aggression, Melancholie etc.) entsprechen der Funktion des zentripetalen Erzählens, und die komplementären Übertragungen entsprechen den abgewehrten Affekten (zumeist der Trauer und der Freude).8) Nur "im zweiten Fall", dem zentrifugalen Erzählen, ist laut BOOTHE "damit zu rechnen, dass die Erzählung im Therapieprozess auf Veränderung hinarbeitet" (1994, S.37). Eine deutliche Prägnanz des komplementären Übertragungsgeschehens wäre also als Voraussetzung für zentrifugale Narration und mithin dafür zu verstehen, dass traumatische oder konflikthafte Erfahrungsinhalte – von beiden Erzählpartnern – integriert werden können (und nicht etwa rationalisierend und in einem diffusen Mischgefühl der Melancholie oder Angstlust verbleiben, das das affektive Korrelat von Wiederholungszwang und neuerlichen Handlungsmustern der Destruktivität darstellt). In konzeptioneller Hinsicht wären gerade die komplementären Übertragungsfunktionen im zentrifugalen Erzählen als Prozess eines Affekt-Containing in der Text-Leser-Beziehung zu skizzieren. Während also die qualitative Sozialwissenschaft das Erzählen und dessen Analyse für die Ermittlung der individuellen Handlungssteuerung im sozialen Feld nutzt, bedient sich die Therapie des Erzählens für die Ermittlung und Linderung von subjektiv untragbaren persönlichen Belastungszuständen. Erzählen therapeutisch verstanden ist das Immer-wieder-neu-Erzählen der eigenen Lebensgeschichte in zunehmend reichhaltigeren und die persönlichen Affektrelevanzen treffenderen Versionen und Details; und Erzählen qualitativ-sozialwissenschaftlich verstanden birgt die essenziellen, biografisch gebildeten Handlungsregeln von Person und sozialem Typus. Die in der Biografieforschung konzipierte biografische Arbeit der Person hat einerseits soziologisch-handlungstheoretische Relevanz und enthält andererseits ein therapeutisches Potenzial, das im so genannten therapeutischen Durcharbeiten die Auswirkungen von belastender (Konflikt-) Erfahrung lindern kann. Auf der Ebene der medien- und kulturwissenschaftlichen Betrachtung fällt der Blick auf die Funktionen und Wirkungen von medialen Erzählungen und Rezeptionsmustern, die die Verlaufsgestalt der narrativen Selbstverständigung auf gesellschaftlicher Ebene prägen. Der Versuch, diese verschiedenen Ebenen theoretisch und methodologisch zu einem handlungstheoretischen Konzept von narrativen Prozessen zu integrieren, wird eine Verschränkung der Modelle und auch der Terminologien zur Folge haben. [6]

Die folgende exemplarische Fallstudie aus dem jungen Feld der (Medien-) Biografieforschung soll das theoretisch-methodologische Ergänzungsverhältnis zwischen qualitativ-soziologischer Narrationsanalyse und Psychoanalyse/-tramatologie veranschaulichen. Es wird sich eine Handlungsstruktur der dissoziativen (Medien-) Interaktion rekonstruiert. Sie bezeichnet ein Erzählen und Rezipieren von Narrativen in einem tendenziell dissoziativen, assoziations-reduzierten Modus, der sich dadurch auszeichnet, dass das narrative Subjekt eine – gemessen an psychotraumatologischen Maßstäben – relativ schwache persönlich-differenziale Relevanzsetzung des Wahrgenommenen vornimmt. Dissoziative Interaktion lässt sich sowohl in Leilas aktuellem Erzählmodus in der Interviewsituation als auch in ihrer Fernseh- und Lektürenutzung aufweisen. In Anlehnung an den psychotraumatologischen Begriff der allgemeinen traumakompensatorischen Handlungsschemata, die die lebensweltlich-direkte Sozialinteraktion einer Person prägen, wird für den Bereich der Medieninteraktion vorgeschlagen, den Begriff der traumakompensatorischen Erzähl- und Rezeptionsschemata einzuführen. Diese Schemata in ihrem lebensgeschichtlichen und psychogenetischen Zusammenhang zu beschreiben und zu rekonstruieren ist das Ziel der vorgelegten Fallstudie. Dabei ist auf die methodische Kontrolliertheit und den überaus umfangreichen (jedoch forschungsökonomisch abgewogenen) zeitlichen Aufwand hinzuweisen, der in eine Fallausarbeitung der narrativen Biografieforschung (hier der Medienbiografie-Forschung) nach ROSENTHAL/FISCHER-ROSENTHAL investiert werden muss.9) Die Erhebung erfolgte mittels zweier durchschnittlich zweistündiger Interviews, einem allgemeinen lebensgeschichtlichen und einem speziellen mediengeschichtlichen Interview.10) Diejenigen Interviews, die nach der Auswahl per theoretischem Sampling im Sinne der Grounded Theory nach GLASER und STRAUSS11) eine umfassende Ausarbeitung erfuhren, wurden vollständig transkribiert und ergaben jeweils bis zu hundert Seiten Transkript. Die Auswertung per rekonstruktiver Fallanalyse umfasste fünf separate Auswertungsschritte: (1) Analyse der biografischen (Medien-) Daten, (2) Text- und thematische Feldanalyse (der erzählten Lebens- und Mediengeschichte) mit Mitteln der sequenziellen Hypothesenbildung, (3) Feinanalyse selektierter Interviewpassagen, (4) Rekonstruktion der Fallgeschichte (d.h. der erlebten Lebens- und Mediengeschichte) und (5) Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Lebens-/Mediengeschichte, wobei unter Mediengeschichte in Analogie zur Lebensgeschichte die narrative Darbietung begriffen wird, die die Person auf die Eingangsfrage nach ihrer lebenslangen Medieninteraktion erzählt.12) Jeder dieser Schritte wurde in systematischer, methodisch kontrollierter Weise vollzogen. Wenn also im Folgenden handlungsstrukturelle Befunde über das Erleben und Erzählen der jungen Erwachsenen Leila im Horizont ihre Lebensgeschichte und Medienerfahrung vorgestellt werden und wenn diese mittels kurzer exemplarischer und manchmal symbolisch verdichteter Sprachwendungen Leilas bezeichnet werden, dann handelt es sich nicht, wie man vielleicht denken könnte, um spontane hermeneutische Schlüsse, die in einer mehr oder weniger impulsiven Weise aufgrund eines persönlichen oder auch gemeinschaftlichen Kontemplationsverfahrens vor dem Transkript erzielt wurden. Vielmehr gründen die Erkenntnisse auf vielfach abgewogenen und geprüften Schlussfolgerungen nach Maßgabe der narrationsanalytischen Hypothesenbildung (wobei viele alternative Hypothesen, die auf den ersten Blick ähnlich plausibel schienen, begründet verworfen wurden).13) Das Sample der Untersuchung setzte sich aus 15-20jährigen Mädchen und Jungen aus allen Schularten, inklusive berufsbildenden Schulen, zusammen, so dass ein breites soziales und Bildungsspektrum vorlag. Zudem handelte es sich bei dieser Altersgruppe um die zweite Generation mit einer "Medienkindheit", die bereits in ihrer Kindheit die Einführung des Privatfernsehens und die Verbreitung des Videorecorders erlebt hatte. Das Forscherteam bestand aus vier gemischt-geschlechtlichen ForscherInnen, von Hause aus LiteraturwissenschaftlerInnen, wobei immer zwei Personen schwerpunktmäßig an der Durchführung der Erhebung und den ersten Schritten der Auswertung arbeiteten. Die Fallausarbeitung wurde jeweils von einer Person durchgeführt und in Supervisionssitzungen von der Forschergruppe begleitet. Ausgewählte Aspekte von Fällen wurden zudem in einer Fallsupervisions-Sitzung mit einer externen Fachperson für qualitative Sozialforschung besprochen. [7]

2. Leila, eine medienbiografische Fallstudie in beziehungsanalytischer und psychotraumatologischer Sicht

Für Leilas (Ls) erzählte Lebensgeschichte trifft eine vielfach bestätigte Forschungserfahrung der soziologischen Narrationsanalyse in besonderem Maße zu: dass nämlich ganz wesentliche Handlungsregeln ihrer Selbstpräsentation sich bereits in denjenigen Sequenzen mit großer Prägnanz niederschlagen, mit denen sie ihre Erzählung beginnt. Schon während die InterviewerInnen die narrative Eingangsfrage nach ihrer Lebensgeschichte stellen, interveniert Leila (L) mit einem scherzhaft warnenden Einwurf. Als nämlich der offene Zeitrahmen akzentuiert wird ("du kannst dir so viel Zeit nehmen wie du, wie du möchtest"), unterbricht L: "/((schmunzelnd)): hä hä: das is sehr unvorsichtig muss ich gleich mal sagen/". Als die Interviewerin daraufhin einen narrativen Impuls setzte ("unvorsichtig"?), antwortet L mit der eher gestisch-paralinguistischen (und evaluativen) Äußerung: "so lalala ((lacht)) genau"; dann erst kann die Eingangsfrage zu Ende formuliert werden. Ungewöhnlicherweise enthält also bereits die Sequenz der Eingangsfrage auch Erzählsequenzen der Interviewten; und für diese gilt es (genauso wie für die Haupterzählung) zu ermitteln, welchem Präsentationsinteresse und/oder welcher Präsentationsregel diese Intervention (Evaluation) folgt. Hierzu kann zunächst eine abstrakte sprachlogische Ableitung vollzogen werden: Wörtlich genommen präsentiert L sich hier als eine Person, die sich selbst (in ihrem narrativen Interaktionsverhalten) für gefährlich hält, denn sie mahnt implizit zur Vorsicht, indem sie unser zeitlich offenes Vorgehen als "unvorsichtig" bezeichnet. Der Präsentationsaspekt des Selbst als Gefahr ist ergänzt dadurch, dass L ihre Warnung "lachend", also in einem scherzhaften Modus ausspricht. Dadurch ist dem Thema der Gefahr auch ein Handlungsaspekt der Moderation durch Witz beigegeben. Ferner ist sogar ein Handlungsmoment der Suche nach Gefahr implizit, insofern die Quelle der Gefahr, Ls eigenes Interaktionsverhalten, eben ein eigenes, intentionales und kontinuierlich sowie mindestens teilweise bewusst wiederholtes Verhalten darstellt, das L, so lässt sie uns indirekt wissen, unter geeigneten Umständen immer wieder aufsucht. Retrospektiv bestätigt hat sich dabei auch die Hypothese: Indem L so direkt auf den offenen Zeitrahmen als eine Gefahr reagiert, äußert sich auch ein indirekter Handlungsappell an uns, ihr zu helfen, sich und uns vor der Uneingegrenztheit des Rahmens und damit vor der Gefahr (wie auch dem witzigen "lalala") zu schützen. Es zeichnete sich also bereits hier eine komplexe, in sich konflikthafte Präsentationsregel ab, die sich als heuristische Präsentations- und Handlungsregel formulieren lässt: die Regel des Selbst als/in Gefahr und gleichzeitig witzige Moderation und Suche von Gefahr sowie von Schutz. [8]

Die heuristische Formulierung dieser Handlungsregel erfolgt hier notwendigerweise noch weitgehend abstrakt. Jegliche genauere biografische Bedingungen wie auch die genaue Funktion im Hier und Jetzt der Präsentation können hier noch nicht präzise bezeichnet und beschrieben werden. Mag sein, dass L hier ankündigt, dass sie die Inhalte oder den Umfang dessen, was sie zu erzählen hat, für so anstrengend hält, dass es uns emotional und kräftemäßig überfordern würde. Mag sein, dass dem "so lalala" Ls Selbsteinschätzung zugrunde liegt, sie würde uns nicht mit anstrengenden Inhalten, sondern mit (subjektiv so empfundenen) Oberflächlichkeiten erschöpfen, und dass sie uns (und sich) bewusst oder unbewusst andere Inhalte und Themen vorenthält, die in der Erzählung zwar kopräsent sind, aber nicht ausgeführt werden können/wollen. Ferner vorstellbar ist – gerade aufgrund der wörtlichen Bedeutung von "gefährlich" –, dass L befürchtet, wir könnten (aus welchen Gründen auch immer) Angst vor ihr und/oder um sie bekommen. Über solche Fragen schon hier entscheiden zu wollen, hieße unfundiert zu psychologisieren. Auch ist erneut zu unterstreichen: Dass diese Handlungsregel überhaupt rekonstruktive Bedeutsamkeit erhalten würde, war nicht von vornherein abzusehen und hat sich erst im Fortgang der Auswertung (unter Ausschluss anderer alternativer Hypothesen) so erwiesen, da L auch im weiteren Verlauf des Interviews Thematisierungen von Gefahr/Vorsicht, Moderation, sowie Suche von Gefahr/Schutz einbrachte, die mit diesem ersten Strukturbefund korrespondieren und ihn differenzieren. Es hat sich dabei allgemein als eine heuristisch günstige Hilfestellung herausgestellt, spezifische Applikationen der abstrakten Regel zu formulieren, die die Aufmerksamkeit der Auswertung zu schärfen vermögen. So z.B. lautet diese Regel in einem engeren, auf die Funktion des Erzählens bezogenen Sinn folgendermaßen: Vorsicht! Die Gefahr, Lust und der Schutz des uneingegrenzten Erzählens; und in der fiktiven (heuristischen) Ichform: "Vorsicht! Ich erzähle viel, schnell und grenzenlos; ich tue dies mit Witz, und ich tue dies so lange – auch bis zur Erschöpfung meiner selbst und anderer ("lalala"), und darin liegt eine Gefahr – bis mein Erzählen auf eine Grenze/Orientierung trifft und Schutz vor der Gefahr entsteht."14) Was die Dimension der psychoanalytischen bzw. -traumatologischen Implikationen dieser Handlungsregel anbetrifft, kann hier zunächst allgemein vermerkt werden, dass die Thematisierung von in sich gegenstrebigen Handlungsfunktionen der Gefahr/Lust/ Vorsicht sowie von Moderation/Schutz u.U. auf Erfahrungen von psychotraumatologischer Relevanz hindeuten. Hinsichtlich des vermutlichen Gegenübertragungs-Geschehens scheint plausibel, dass diese frühe Intervention Ls in die Richtung einer projektiv-identifizierenden Verstrickung mit den InterviewerInnen zielt. In diesem Kontext käme dem Handlungsmoment des uneingegrenzten Erzählens psychoanalytisch gesprochen eine dissoziative Qualität zu. [9]

Bevor die systematische Aufbereitung von Ls Interview fortschreiten kann, muss im kurzen Exkurs eine allgemeine, einer simplen Eindrucksanalyse entstammende Beobachtung angemerkt werden, die die InterviewerInnen und FallsupervisorInnen unwillkürlich über L angestellt haben und die die formulierte Präsentationsregel in genereller Weise bestätigt. Keine andere InterviewpartnerIn hat die ihr zur Verfügung gestellte Zeit so umfänglich mit Präsentationen vielfältigen Inhalts gefüllt wie L; bei keiner InterviewpartnerIn dürfte der rein quantitative Quotient von Inhaltsindizes per Zeiteinheit so hoch sein, also die Präsentationsgeschwindigkeit so hoch liegen, wie bei L. Keine hat so schnell so viel Material dargeboten. Es zeigt sich eine Präsentationsdynamik des (zuweilen beinahe manisch wirkenden) Erzähldrangs, deren Funktion noch unklar ist. Dabei war der Haupteindruck, den L hinterließ, nicht so sehr der der Hastigkeit. Wenngleich kein Zweifel bestand, dass L überaus schnell und nachdrücklich erzählte und zu Zeiten nach Luft schnappte, ins Husten geriet, die Stimme verlor und zuletzt auch erschöpft schien, wirkte sie in ihrer Darbietung durchweg amüsant und inspiriert. Dieses Gesamtbild entspricht also dem formalen Befund des Vorsicht! Die Gefahr, Lust und der Schutz des uneingegrenzten Erzählens. Dem Aspekt der Suche nach Schutz und Eingrenzung entspricht die konkrete Beobachtung, dass L im Verlauf ihrer Haupterzählung von Anbeginn immer wieder Rahmenschaltelemente einsetzt, die ihre prinzipielle Unsicherheit darüber zum Ausdruck bringen, was für ihre lebensgeschichtliche Erzählung relevant ist und/oder was ihr persönlich der Thematisierung wert ist. Dabei stellen diese Unsicherheitszeichen immer auch Problematisierungen des inhaltlich und zeitlich offenen Interviewrahmens dar. So beginnt L ihre Haupterzählung mit dem Satz: "ja muss ich mal überlegen wie geht's los" (Seq. 4); es folgen im weiteren Verlauf die Rahmenschaltelemente: "ja, was gibts denn noch" (Seq. 9); "ja (1) was gibts noch, was wollt ihr noch so wissen, so?" (Seq. 13); "ja (1) hm, was gibts noch" (Seq. 16); "ja muss mal überlegen, was hatten wir" (Seq. 21). Mit diesen Rahmenschaltelementen vermittelt L den Eindruck einer Unsicherheit, die nicht von der Befürchtung, es könne ihr nichts mehr einfallen, geprägt ist, sondern von einer Haltung, in der alle Inhalte, von denen sie denkt, sie könnte sie möglicherweise ("noch") einbringen, für sie selbst ohne spezifische gestaltgebende Relevanz sind. So entsteht neben dem Anschein des hohen persönlichen Einsatzes der Erzählerin immer auch der eigentümlich gegenläufige Eindruck, als ob es ihr persönlich einerlei wäre, was sie aus der Fülle ihrer Erlebnisse auswählt, und als ob sie sich lediglich an einer abstrakten Vollständigkeit und nicht an einer persönlichen Relevanz der Themen orientierte (und/oder ausschließlich daran, was sie für unsere Erwartungen hält). Die Hypothese hinsichtlich einer Funktion von Gefährlichkeit sowie von Schutz-, Gestaltungs- und Abgrenzungssuche basiert hier also zunächst auf Unsicherheitsäußerungen hinsichtlich der persönlichen Relevanzen, die die Biografin für ihr Wahrnehmen und Erzählen zu definieren sucht15): Im spezifischen Handlungsfeld des Erzählens (im Gegensatz zu anderen, direkter handelnden Interaktionsbereichen) kann die Uneingegrenztheit von Erzählen (und Verstehen) als Gefahr erlebt werden. Dem Aspekt des Schutzes entsprechen dann Handlungen, die eine Eingrenzung und Profilierung von persönlichen Relevanzen im Erzählen (und Erleben) bewirken.16) [10]

Hinsichtlich des in Ls Präsentation wirksamen Handlungsaspekts Selbst als Gefahr ist ferner die Beobachtung hinzuzufügen, dass der Aspekt der Gefahr nicht nur thematisch-semantisch in ihren ersten Äußerungen enthalten ist, sondern tatsächlich auch interaktiv-szenisch manifest wird. Indem nämlich L die Formulierung der Eingangsfrage unterbricht, tut sie der Gestalt dieser einzigen Aussage Abbruch, die den InterviewerInnen in diesem Format für lange Zeit überhaupt gegeben ist; sie wird dieser Aussage gewissermaßen gefährlich und unterstreicht gestisch, dass tatsächlich Grund zur "Vorsicht" geboten ist. In noch deutlicherer Weise wird der Aspekt Leila als Interaktions-Gefahr in dem Handlungsbereich sichtbar, der noch vor der Eingangsfrage und Haupterzählung liegt. Da L etwa zwanzig Minuten zu früh bei uns ankommt (und dadurch auch insgesamt entschieden in den Ablauf der Eröffnungssituation eingreift), kommt es bereits während der Zeit der Interview-Vorbereitungen zu viel informeller Interaktion. In einem Moment, als die weibliche Interviewerin, die sich bereits vorgestellt hat, den Raum noch einmal verlassen musste, ist L kurz mit dem männlichen Interviewer alleine, der die Technik installiert. Dabei fällt auf, dass L ganz unvermittelt und in witziger Weise einige populär-feministische Sentenzen äußert, die sie von einer Freundin zitiert: Die drei Minisequenzen (Seq. A, 1/13) lauten:

"Frauen haben gegenüber Männern eigentlich nur einen ganz großen Vorteil [...] sie sind einfach Frauen";

"und was haben die Männer für Träume? ja gar keine";

"hm, (wie wär das:) Frauen haben Gefühle Männer (springen dich an) // I2: "aha" // L: "ja das /((schmunzelnd)): hat meine Freundin gesagt [...] nein um Gottes Willen, also ((lacht etwas))".17) [11]

Insofern in diesen populär-feministischen Witzen eine offensive, wenn nicht gar beleidigende Note gegenüber dem anwesenden Mann enthalten ist, demonstriert L bereits im Vorlauf des Interviews auf szenisch-interaktive Weise (mittels Agieren), dass ihr Interaktionsverhalten tatsächlich Anlass zur "Vorsicht" gibt. Denn L wird selbst zur Gefahr und bestätigt ihre eigene Warnung, indem sie den männlichen Interviewer, der gewissermaßen "unvorsichtig" war, in verblüffend unvermittelter Weise einer Provokation aussetzt. Gleichzeitig jedoch präsentiert sich L durch dieses offensive Manöver in einer Position, die sich der Gefahr einer Gegenattacke vonseiten des männlichen Gegenübers aussetzt. Zudem entspricht diese Interaktions-Sequenz auch in allen anderen Hinsichten der oben formulierten Präsentationsregel. Denn die Provokation bzw. Gefahr ist gleichzeitig durch den Modus des Witzigen moderiert; und indem L diese Sentenzen ausdrücklich als Zitate (einer Freundin) markiert und mit einem "nein um Gottes Willen, also ((lacht etwas))" letztendlich zurücknimmt, stellt sie gleichzeitig auch eine Funktion des Schutzes her. Auch die heuristische Formulierung: Vorsicht! Die Gefahr, Lust und der Schutz des uneingegrenzten Erzählens, erweist sich hier in eindrücklicher Weise als treffend. Denn neben den Aspekten von Gefahr und Schutz ist gerade die Lust am uneingegrenzten Erzählen spürbar, wenn L in geraffter (evtl. dissoziativer) Weise Sentenzen ihrer Freundin akkumuliert und also im lustbetont sprudelnden Bericht von Zitaten die Grenze einer persönlichen Relevanzsetzung entbehrt.18) [12]

In psychotraumatologischer Dimension bilden sich hier erneut die Grundzüge einer (Sprach-) Handlungsdynamik von Gefahr/Vorsicht, Moderation, Suche von Gefahr/Schutz ab, wobei sich hier die Gefahr thematisch auf den Aspekt des männlichen Angriffs auf die Frau präzisiert: "Frauen haben Gefühle Männer (springen dich an)". Die konkrete lebensgeschichtliche und analytische Frage, inwiefern sich hier auf szenische Weise abbildet, was L in einem bewusstseinsfernen Erlebensbereich tatsächlich an traumatischen Handlungen erfahren hat, und inwiefern sie diese Erfahrung in strukturelle Handlungsregeln der persönlichen Lebens- und Interaktionsgestaltung mit den sozialen Anderen und/oder den rezipierten Medienprodukten umsetzt, muss der separaten Recherche der biografischen Daten vorbehalten bleiben. (In begrifflicher Hinsicht jedenfalls entspricht der biografietheoretischen Strukturhypothese zur Handlungssteuerung der Person der psychotraumatologische Begriff des traumakompensatorischen Handlungsschemas.19)) Von gleichermaßen narratologischer und psychotraumatologischer Relevanz ist auch die Tatsache, dass zwischen der Lust an und wiederholten Suche nach der Gefahr einerseits und dem Schutz vor ihr andererseits eine subjektiv unvermerkte strukturelle Ambivalenz besteht. In funktionaler Hinsicht schlägt sich dies auch darin nieder, dass dem Aspekt der Gefahr (hier der Provokation von Seiten Ls und der Gegenprovokation, die sie damit aufruft) in diesem Kontext der Uneingegrenztheit der persönlichen Relevanzsetzung die Funktion zukommt, auf dem sekundären Weg des Agierens unwillkürlich eine (kompensative) Grenzsetzung und Gestaltbildung zu erwirken. Indem nämlich L ihre Sentenzen in provokativer Raffung vorbringt, fordert sie den Widerspruch (oder auch die affirmative Reaktion) des Gegenübers heraus, die es ihr erleichtert, – konfrontativ oder affirmativ – eine eigene Relevanzsetzung und Standpunktverortung zu erzielen. [13]

3. Leilas Haupterzählung in der Handlungsstruktur: Gefahr, Moderation, Suche von Gefahr/Schutz

Vor dem Hintergrund dieses ersten handlungsstrukturellen Befundes, der bereits auf der Grundlage des Interviewvorlaufs und -beginns erstellt werden konnte, soll nun im Folgenden die Haupterzählung Ls betrachtet werden. Erst deren Untersuchung kann erweisen, ob und in welchen Hinsichten sich die hypothetische Annahme der Handlungsregel: Selbst als/in Gefahr und gleichzeitig witzige Moderation und Suche von Gefahr sowie von Schutz bestätigen lässt und auf welche biografischen und psychotraumatologischen Bedingungen sie zurückzuführen ist. Der erste Themenbereich, den L ausführt, könnte unter das Motto "Mein Vater und meine Geburt" gefasst werden:

"L: ja muss ich mal überlegen wie geht s los, ja, meine Eltern haben, also mein Vater is oder war Diplomingenieur, und hat also is wie ich ja auch schon am Telefon so an-, klingen hab hab anklingen lassen // I2: hmh // L: ähm, kommt aus m Irak, meine Großmutter is ne Russin aus m Aserbeidshan und mein Großvater Iraner, ähm:, hmh also vor der weißen Revolution ham uns dann auch mal n paar Dörfer gehört ((lacht)) // I2: hmh //, aber danach, also als der ( ) gestürzt wurde wars alles weg, und ähm, mein Vater hat se hat halt also hier in Deutschland studiert, is dann hier Diplomingenieur geworden, und ähm, hat dann meine Mutter geheiratet und die sind dann, in n Sudan geflogen, oder, haben dann da gewohnt [...] // I1: hmh //, und ähm, für meine Geburt is meine Mutter dann extra nach Düsseldorf geflogen hatten wir ne Wohnung hier in Deutschland". [14]

L beginnt ihre Darstellung mit einer jener Rahmenschaltungen der Unsicherheitsbekundung ("Wie geht's los?"). Gleich darauf trifft sie die spontane Entscheidung, ihren Beginn als Tochter "meiner Eltern" zu präsentieren; sie verwirft diese Entscheidung jedoch im selben Moment wieder, korrigiert sich mitten im Satz und beginnt, sich als Tochter ihres Vaters darzustellen ("ja muss ich mal überlegen wie gehts los, ja, meine Eltern haben, also mein Vater ..."). Die thematische Fokussierung auf den Vater bleibt auch im weiteren Verlauf in Kraft. L präsentiert sich in der Linie der väterlichen Herkunftsfamilie und deren Milieu sowie mit Bezug auf dessen berufliche Laufbahn (das Studium des Vaters, sein Beruf als Ingenieur, seiner ethnischen Herkunft als Iraker, die russisch-aserbeidschanische Großmutter Großmutter, der ehemalige Besitz der iranischen Großeltern väterlicherseits, die Heirat des Vaters, den Auslandsaufenthalt im Sudan). Auch die narrative Kontextualisierung ihrer Geburt, für die die Mutter aus dem Sudan "extra nach Düsseldorf geflogen" ist, ist nicht so sehr auf die Mutter als vielmehr auf den Vater bezogen. Denn die diesbezügliche Analyse der biografischen Daten ergibt, dass der besondere Aufwand, den L hier hervorkehrt, aufgrund des durch den Beruf des Vaters gegebenen Sozialstatus ermöglicht war und die "Düsseldorfer Wohnung", die L ausdrücklich erwähnt, eine Eigentumswohnung war, die dem Vater gehörte. Die Mutter, mit der L seither zusammenlebt und die alleinerziehend für sie sorgte, kommt in diesen ersten Sequenzen des Eingangsberichts nur als diejenige vor, die vom Vater geheiratet wurde ("[er] hat dann meine Mutter geheiratet"). Die entschiedene Abwendung, mit der L in ihrer Erzählung vom Aspekt der "Eltern" und der Mutter absieht und die Geschichte des "Vaters", seines Berufes und seiner Familie fokussiert, ist umso bemerkenswerter, als wir aufgrund der separat durchgeführten Datenanalyse wissen, dass die Eltern seit Ls 5. Lebensjahr geschieden sind, der Vater schon seit Ls 3. Lebensjahr nur sehr eingeschränkt präsent war und L bis zu ihrem 18. Geburtstag keinerlei Kontakt zu ihm hatte.20) [15]

Ls gegenwärtige Realität und beinahe ihre gesamte bewusste kindliche Erfahrung, in der der Vater und dessen Familie keinerlei konkrete Rolle spielte, geht in die Erzählung über ihre ersten Jahre überhaupt nicht ein. Der Vater erscheint nicht als einer, der von der Familie getrennt und praktisch immer vollkommen absent gewesen ist. Und auch die iranischen Großeltern, die bereits vor Ls Geburt gestorben waren, sowie deren "Dörfer", die seit der iranischen Revolution verloren gegangen waren, bezieht L mit einem einfachen "uns" auf sich selbst: "uns haben dann auch mal n paar Dörfer gehört". Dass es seit der frühen Kindheit keinerlei Beziehung mehr zur väterlichen Familie gibt, wird erst in späteren Erzählphasen und in der Datenanalyse deutlich. Die Präsentationsweise Ls, die hier der Regel entspricht: "ich bin die Tochter nicht so sehr meiner Eltern, sondern meines Vaters und seiner Familie", steht in eklatantem Widerspruch zu dem, was das konkrete lebensweltliche Kindheitserleben Ls gewesen sein muss. Das heißt: L präsentiert sich und ihre Geschichte in einer tendenziell realitäts- oder erlebnis-fernen Weise, nämlich nicht mittels der Gegebenheiten, die unmittelbar präsent waren und die sie also lebenswirklich erfahren hat, sondern mittels derer, die absent waren und sich ihrer Verfügung entzogen (ihr Vater und dessen Familie). Beinahe scheint es, als ob die logischen Bedeutungen der Begriffe von Abwesenheit-Anwesenheit oder Verlust-Gewinn eine Verkehrung erfahren hätten. (An dieser Stelle bereits über die konkreten Ursachen dieser Verkehrung zu spekulieren, verbietet sich aus methodologischen Rücksichten.) Die rekonstruktive Fallanalyse beschränkt sich auf die Ermittlung der je zugrunde liegenden strukturellen Handlungsregel (bzw. Strukturhypothese); und diese kann hier eine der realitäts- und erlebnisfernen Handlungsorientierung genannt werden. Ohne also bereits hier entsprechende Schlussfolgerungen geltend machen zu wollen, sei in interdisziplinärer Hinsicht darauf hingewiesen, dass die psychoanalytischen und psychotraumatologischen Begriffe, die dieser Handlungsregel der Erlebensferne entsprechen, die der Abwehrformen der dissoziativen Abspaltung und der Idealisierung sind. Die Idealisierung fokussiert irreale Vorstellungsinhalte und/oder solche von Entitäten, die lebensweltlich abwesend sind, und die dissoziativen Abspaltungen unterteilen das Wahrnehmungsfeld in rigoros-idiosynkratische Bereiche des Positiven und Negativen, die sich zudem häufig als Gegenstände des Absent-Positiven und des Präsent-Negativen konkretisieren.21) Ls Präsentation weist eine dementsprechende Struktur auf, indem sie die Präsentation des Selbst im Lichte des idealisierten Abwesenden (der väterlichen Familie) bei gleichzeitiger Ausblendung des Anwesenden (der mütterlichen Familie) vollzieht; und diese Struktur wird sich für weiterhin differenzierte Beobachtungen als tragfähig erweisen. In verfahrenstechnischer Hinsicht ergibt sich aus der begrifflichen Synergie von Narrationsanalyse und Psychoanalyse die Möglichkeit, bei zunehmender Erhärtung des Befunds der Handlungsregel der Erlebensferne in einer interdisziplinären methodisch-theoretischen Erweiterung der Beobachtungskriterien auch systematisch auf Phänomene der Idealisierung und der dissoziativen Abspaltung zu achten. [16]

Die Handlungs-/Erzähl-Struktur der realitäts- und erlebnis-fernen Handlungsorientierung sowie eine Latenz der Verkehrung von Abwesenheit-Anwesenheit (bzw. Verlust-Gewinn) wiederholt sich in bemerkenswerter Weise, als L an wenngleich bedeutend späterer Stelle (ca. eine Stunde später in der Nachfragephase) auch über die mütterliche Seite der Familie spricht:

"meine Urgroßmutter is ähm, auf die höhere Töchternschule in Königsberg, oder in Berlin nee in Berlin glaub ich gegangen war hatte n guten Namen, also ganz hoch angesehen, und ihr Mann, ähm, und sie besaßen n Gut, n ganz großes Gut mit ganz vielen Dienstleuten /I2: hmh/, und ähm vorm ersten Weltkriech hat mein Urgroßvater durch eine Bürgschaft das Gut verloren, auf dem, ich glaub das war sogar das Gut, auf dem in Ostpreußen der Kaiser, zu Gast war wenn er in Ostpreußen jagen war also es war wirklich also hoch angesehen". [17]

Auch hier nimmt ein Verlust, der in der familiären Vorgeschichte auf der Ebene der Urgroßeltern situiert wird, in Ls Präsentation beinahe die Qualität eines persönlichen Gewinns – gewissermaßen an historischer Bedeutung – an. Es liegt also ebenfalls eine Präsentationsstruktur der realitäts- und erlebnis-fernen Erzählorientierung im obigen Verständnis vor. (Wobei hier die geschichtliche Distanz zur Großelterngeneration den Aspekt der Erlebnisferne zusätzlich verstärkt.) Auf der psychoanalytischen Betrachtungsebene würde sich hier mehr als eine Hypothese an bieten: Vielleicht präsentiert sich L deshalb mit dieser Reihe von bunten Herkunfts-, aber auch Verlustdaten auf der von ihr relativ weit distanzierten Großelternebene und vielleicht tut sie dies deshalb in einem amüsierten und Interesse erregenden Präsentationsgestus, weil sie damit einen ganz wesentlichen selbst erfahrenen Verlust, nämlich den des Vaters (vielleicht auch noch andere ungenannte Verluste auf der Mutterseite), indirekt artikulieren und gleichzeitig auch in einen Gewinn umdeuten kann. Vielleicht will L einen besonderen Selbstwert suggerieren, indem sie sich als letzte (große) Überlebende einer großen Zeit der Familiengeschichte präsentiert. Oder sie will mit diesem erlebnis-fernen, aber unaufhaltsam sprudelnden Erzählen eine Orientierungsunsicherheit in der Präsentation des Anfangs ihrer Lebensgeschichte ("wie geht's los?") überwinden. Derlei psychoanalytische und -traumatologische Erwägungen werden im Fortgang der Auswertung kontinuierlich angestellt werden, ohne allerdings zu vergessen, dass sie nur mit Vorsicht erfolgen können, weil sie in diesem Forschungs-Setting keiner interaktiven und konsensuellen Validierung zugänglich sind und deshalb im klassischen Verfahren der rekonstruktiven Narrationsanalyse nur sehr eingeschränkt eingesetzt werden. Diese bescheidet sich hier also zunächst mit der Feststellung, dass die Strukturhypothese der realitäts- und erlebnisfernen Erzählorientierung eine weitere Bestärkung erfahren hat. Und sie zieht den Schluss, dass für Ls Präsentation ihres frühen Lebens die Wirkung eines thematischen Negativfeldes angenommen werden muss.22) Ein solches thematisches Negativfeld kann freilich genau genommen niemals nur für L persönlich angenommen werden, sondern gilt immer auch wesentlich für das gesamte (narrative) System ihrer Familie. Denn Ls Präsentation ist nicht ohne die Strukturen und Leerstellen zu denken, in denen die zu Hause vielfach erzählte und/oder ausgesparte Familiengeschichte tradiert wird. Und thematische Negativfelder werden insbesondere dann ausgebildet, wenn wesentliche Teile des persönlichen frühen Erlebens der BiografIn nicht in die Tradierung ihrer Familiengeschichte aufgenommen sind (und also desymbolisiert bleiben). In jedem Fall stellen Negativfelder einen allgemeinen Hinweis auf konflikthafte Themen der Familiengeschichte dar. [18]

4. "Messer unter dem Kissen" – frühe Beziehungstraumatik und traumakompensatorisches Erzählschema

Angesichts eines thematischen Negativfeldes stellt sich zunächst die methodisch-technische Frage nach dem konkreten zeitlichen Ausmaß, in dem es sich entlang der sequenziellen Aufschichtung über die Erzählung erstreckt, sowie nach den thematischen Erlebnisinhalten, auf die es sich (negativ) bezieht. Auf dieser Grundlage können dann die betroffenen Lebensphasen und die Themen im Einzelnen näher eruiert (bzw. direkt angefragt werden). Für Ls Erzählung kann festgestellt werden, dass sich das Negativfeld auf "meine Eltern" bezieht, denn dieses Stichwort ist der Punkt, an dem L ihre Darbietung unterbricht und ihre Perspektive allein auf den Vater konzentriert ("ja muss ich mal überlegen wie geht's los, ja, meine Eltern haben, also mein Vater ..."). Die Themen des Negativfeldes, die L nicht ausführt (oder ausführen kann), haben also mit Ls Eltern zu tun und sind zunächst in der Zeit um die Geburt Ls und in den ersten drei Jahren zu lokalisieren. Um zu ermitteln, wie weit sich das Negativfeld sequenziell über die Erzählung erstreckt, ist nun darauf zu achten, an welcher Stelle L den Modus von Bericht und Argumentation verlässt, dem sie bis hierher gefolgt war und der ihr eine wertfreie sowie meinungs- und affektneutrale Darbietung ermöglichte. Wo nämlich Evaluationen und Erzählungen einsetzen, die in Ls Eingangsbericht vollkommen fehlen, lässt die blockierende Wirkung nach und der biografische Endpunkt des Negativfeldes kann angesetzt werden. Die erste Evaluation Ls ist zu verzeichnen (Seq. 7, 4,8 – 4,21), als sie über den Eintritt in den Kindergarten in ihrem dritten Lebensjahr berichtet ("war sehr schön"). Das Nachlassen der tabuisierenden und/oder der die Darbietung verwirrenden Wirkung des Negativfeldes für die Lebensphase ab drei Jahren ist zeitlich mit der Rückkehr nach Deutschland verknüpft und mit der Eröffnung des ersten außerfamiliären und außerhäusigen Bereichs. Ferner dürfte sich in diesem Zeitraum auch die Trennung der Eltern angebahnt haben, die sich schließlich scheiden lassen, als L fünf Jahre alt ist. Das Negativfeld konstituiert sich also aus Themen, die mit dem frühen gemeinsamen Leben der Eltern, den Umständen der Rückkehr der Familie nach Deutschland und der letztendlichen Trennung zu tun haben. (Entsprechend stark ausgeprägt sind die emotionalen und kognitiven Unsicherheits-Indikatoren bei der Präsentation der Trennung.)

"in den O-Dorf Kindergarten, war sehr schön ((lacht leicht)) /I1: hmh/, ham sich meine Eltern irgendwann scheiden lassen ich glaub s war, 87, 89 weiß ich gar nich so genau, war ziemlich klein // I1: hmh // und dann 87 oder 86 muss es gewesen sein, und ähm, bin ich in L-Stadt zur Schule gegangen". [19]

Um welche Erfahrungen es sich in dieser von einem Negativfeld überdeckten Zeit im Einzelnen gehandelt haben mag, ist zunächst gar keine vordringliche Frage; denn die narrationsanalytisch wichtigere Frage richtet sich darauf, mittels welcher Handlungsregeln L diese Erfahrungen verarbeitet. Und diese schlagen sich in ihrer Präsentationsweise nieder, wenn sie diesen Negativ-Themen in ihrer Erzählung begegnet. Da L in ihrer eigenständigen Präsentation der Haupterzählung den Vater und die junge Familie nicht mehr erwähnen wird, die Wirkung des Negativfeldes also durchgängig anhält, kommt diese Thematik erst später in der Nachfragephase zur Sprache. Als L eineinhalb Stunden später von uns auf ihre Erinnerungen an den Vater angesprochen wird, erwähnt sie einen Streit der Eltern:

"L: ja: also dadurch dass, als wir hierher also in L-Stadt schon waren dass er na- also alleine durch die Weltgeschichte gegondelt is ( ) so arbeiten musste, da hab ich ihn also nich so oft gesehen aber, ich kann mich noch an eine Szene erinnern wo er sich ganz fürchterlich mit meiner Mutter gestritten hatte, [...] und da hatten die sich angeschrien und angebrüllt und ja als Kind versteht man das natürlich nich so // I2: hmh // daran kann ich mich erinnern und dass er mir mal eine Barbie gekauft hat". [20]

Vom Thema des Streits kommt L also gleich wieder ab. Als sie erneut daraufhin angesprochen wird, erzählt sie knapp die Szene eines heftigen Wortwechsels zwischen den Eltern, die sie miterlebt hat, und beschließt ihre Äußerung mit folgender Evaluation:

"aber ich weiß auch nich ob ich da ne große Angst hatte oder, ich bin einfach wieder in s Bett gegangen, ich kann mich nur erinnern dass ich sie gesehen hab und bin dann einfach wieder // I1: hmh // ins Bett ich konnt es zwar nich verstehen aber ich glaub es hat mir auch, es hat mir auch keine Furcht eingeflößt // I1: hmh // wenn ich so drüber nachdenke ich bin einfach wieder in mein Bett gegangen und hab das dann gut sein lassen". [21]

Wie es bei einem für eine höchstens Vierjährige so beunruhigenden Erlebnis nicht überrascht, ist die der Präsentation inhärente Handlungsregel eine der thematischen Vermeidung bzw. der affektiven Abspaltung oder Verneinung ("es hat mir auch keine Furcht eingeflößt"), die mit der im Bisherigen formulierten Handlungsregel der Gefahr sowie der Erlebensferne korrespondiert. [22]

Es erhalten hier die psychotraumatologischen Erwägungen neue Hinweise; zumal L diese Szene auch in der für traumatische Erfahrungen typischen Weise in abbildexakter, visueller (eidetischer) Rekapitulation der Originalabläufe darstellt.23)

"und ähm gleich daneben so schräg also hier is mein Zimmer gewesen hier so, die Tür war hier, und hier war dann die Küche, Flur also das isn bisschen schwierig jetzt, und die sind dann ständich hin und her gerannt und, haben er also er hat meine Mutter angeschrieen und meine Mutter hat, also ihn angeschrien und, also, sonst ja also, so d d- hm so daran kann ich noch erinnern so nochm- mich dran erinnern dass mein Mutter dann eben Turban auf ( ) grad geduscht in ihrem blauen Bademantel, durch die Gegend gerannt ist". [23]

Hinzu kommt ein Hinweis auf eine psychosomatische Reaktion; denn L berichtet, dass sie zu dieser Zeit wiederholt unter organisch ungeklärten Fieberkrämpfen gelitten hat, und sowohl das Faktum selbst als auch die thematische Abfolge in der Präsentation weisen darauf hin, dass es sich dabei um den körper-symptomatischen Niederschlag einer beziehungsbedingten psychotraumatologischen Stresssituation handelt.

"ich bin einfach wieder n mein Bett gegangen und hab das dann gut sein lassen // I1: ja // L: also (1) weiß ich nich (1) ich weiß nur, als ich ich war, ziemlich, krank also ich war, als ich, ganz klein war wirklich also oft krank, ich hatte Fieberkrämpfe, auch bis schon einundvierzig Grad rauf und für so ein Kind ist das ja // I1: hmh // [...] und, ähm, die vom Krankenhaus hatten ihm, äh ihr dann empfohlen, ja in, ab in kaltes Wasser können aber Gehirnschäden bleiben // I1: uh // L: ((räuspert sich)) das wollte meine Mutter aber nich ja dann, um mich zu entkrampfen ich hab halt wirklich Fieberkrämpfe gehabt // I2: hmh //, und ich hatt von allen Bekannten alle ham mir geholfen ham Eis- Eisblöcke und und und Eis-, würfel und alles, rangekarrt und ähm, dann musst ich ins Krankenhaus und es war, ähm gar nich so sicher ob ich das überlebe, also das war wirklich ich lag dann da wö hab gekrampft und, keiner hat das Fieber runterbekommen". [24]

Im direkten Anschluss an den Bericht über den elterlichen Streit spricht L über die Fieberkrämpfe. Es deutet sich also in der thematischen Sequenzierung von Ls Erzählablauf durch die Aufeinanderfolge der Sequenzen Streit und Fieber ein direkter Zusammenhang an (den L jedoch offensichtlich nicht bewusst erwägen kann/will). [25]

In diesem Kontext bietet sich ein kurzer Exkurs über die Daten von Ls facettenreicher Krankheitsgeschichte an; denn L weist während ihrer gesamten Kindheit bis heute eine schwache gesundheitliche Verfassung auf, die für psychosomatische Überlegungen eine wichtige Rolle spielt. L gibt folgende Stichworte, die hier aus Platzgründen lediglich kontextfrei summiert werden können, die jedoch auch L selbst in überwiegend summarischer und dekontextualisierter Weise darbietet:

"jeweils drei Wochen Masern und Windpocken, also ganz heftich"; [...] "Gesichtspneumone, das heißt also das Gewebe hat sich vergiftet in meinen Gesicht"; [...] "Streptokoggen in die Wunde rein, ( ) und dann stand ich wieder an der Schwelle des Todes"; [...] "Keuchhusten"; [...] "Verdacht auf Tuberkulose"; [...] "schon immer n schwachen Kreislauf dann lag ich immer flach hat Gehirnerschütterungen, wie nichts also, auch richtich heftich dann durft ich drei Wochen immer nur in dunklen Räumen"; [...] "irgendwann mal n Verdacht auf Blinddarmreizung"; [...] "dann wurden mir die Mandeln raus genommen"; [...] "dann immer gleich Grippe mit hohen Fieberschüben Fieberkrämpfen ausgeartet"; [...] "irgendwie auch Kreislauf", "ne Sauerstoff-Fehlversorgung das heißt ich kann nich immer richtich durchatmen also ich krich nich genuch"; [...] "also niedriger Blutdruck, ne Kreislaufschwäche ((hustet)) und das bedingt dann, zeitweise Herzrhythmus-Störungen"; [...] "ja mein Rücken is auch kaputt"; [...] "dass war aber schon als ich Säugling war war sie [die Wirbelsäule, H.W.] nich richtich ausgebildet, also ich bin schon so auf die Welt gekommen sozusagen"; "als ich gewachsen bin früher sind meine Kniescheiben, ganz gerne mal aus ihren Fassungen gesprungen"; [...] "und sonst bin ich eigentlich kerngesund [...] ja aber ich merk das [die Herzrhythmus-Störungen] dann wirklich nichts also, ( ) wenn ich mich nich anstrenge so ( ) wie bis jetzt dann merk ich davon nichts". [26]

Bei aller Vorsicht, mit der derlei biografisch-narrative Angaben immer gelesen werden müssen, sie erwiesen sich für L insofern als zutreffend, als sich in der Datenanalyse hinsichtlich der Krankheitsgeschichte keine Widersprüche ergaben. Auch deutet in der Narration nichts darauf hin, dass L sie in dem Bestreben gegeben hat, Mitleid zu erregen. Denn die meisten dieser Äußerungen bringt L nicht aus eigenem Antrieb vor, sondern erst in der Nachfragephase. Der Präsentationsakzent liegt dabei vielmehr auf der Verharmlosung und sogar der witzigen Belustigung über diese Krankheiten, die L, ähnlich wie schon die Geschichten auf der Großelternebene, eher distanziert (evtl. dissoziiert) als interessante Kuriositäten aufzubereiten scheint. Der Akzent der Verneinung/Abspaltung tritt hinzu, insofern das abschließende Motto der Darbietung auf dem "eigentlich kerngesund" insistiert und L als unmittelbaren Leistungsnachweis auch die momentane Situation mit uns und ihre bisherige – in der Tat respektable – Erzählleistung anführt ("wenn ich mich nich anstrenge so ( ) wie bis jetzt"). [27]

Ein psychosomatischer Zusammenhang mit frühkindlichen familiären Stressfaktoren deutet sich zudem in der zum Zeitpunkt des Interviews seit zwei Jahren bestehenden depressiven Disposition Ls an, die sie in heilpraktisch-psychologische Behandlung führte. Nachdem L über den Streit der Eltern und ihre Fieberkrämpfe berichtet hat, macht sie noch weitere Angaben über die familiäre Spannungssituation ihrer ersten Jahre.

"das hab ich allerdings erst (im) hinterher erfahren ich, wusste, dass ich ne Zeit lang immer bei meiner Mutter im Bett schlafen sollte also ich durfte nich in meinem Zimmer schlafen ich musste in ihrem Bett schlafen, im Schlafzimmer // I1: hmh //, und später hab ich mitbekommen dass es so war weil, ähm, damit meine Mutter mich also ähm in Sicherheit weiß sozusagen". (Herv. H.W.) [28]

Erst zu diesem Zeitpunkt, eineinhalb Stunden nach Beginn des Interviews, in dem sich L vielfach als Vatertochter präsentiert hat, kommt dann eher nebenher Folgendes zur Sprache:

"mein Vater war wohl auch, Alkoholiker oder was weiß ich (1) und also das schwarze Schaf in seiner Familie auch, irgendwie, und hat wohl meine Mutter gewürgt (1) und hat zu ihr gesacht, ähm, ich hätt dich schon längst umgebracht wenn deine deine, deine Mutter nich so nett wäre dazu muss man sagen meine Oma war ne Hexe also wirklich die hat, ein bes- immer gegen den anderen aufgewiegelt // I2: hmh //, aber also hat sie gewürgt und gesacht ja also ich hätt dich schon längst umgebracht wenn deine Mutter nicht so nett wäre // I2: hmh //, und meine Mutter hab ich dann also, deshalb musst ich bei meiner Mutter im Bett schlafen damit er mir nichts tut, ich war noch sehr klein, und hatte also immer n Messer da unter ihrem Kissen gehabt also falls er reinkäme dass sie sich sofort da, das klingt immer so ganz spektakulär aber ich fand das, gar nich so ((lacht)) // I2: hmh //, wie gesacht ich kann mich nich dran erinnern also // I1: hmh". (Herv. H.W.) [29]

Auch hier ist die Auswertung zur Vorsicht aufgerufen, zumal L sich ausdrücklich auf die Erzählungen anderer bezieht. Es ist bei der Auswertung eines narrativ-biografischen Interviews zunächst gar nicht das erste Ziel, den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu ermitteln.24) Die Frage ist vielmehr, auf welche Weise L die Themen präsentiert, die im Negativfeld ihrer Darbietung der frühen Familiengeschichte situiert sind, und welche allgemeine Handlungsregel aus der Präsentation gewonnen werden kann. Und hierzu ist hinsichtlich der beiden zitierten Aussagen (Streit, Messer) festzustellen, dass L sie in einem Präsentationsmodus der Entdramatisierung, Beschwichtigung oder Harmonisierung einbringt. Denn eine Situation des Streits bzw. eine Szene fürchterlichen Inhalts ("Messer unter dem Kissen") wird uns gegenüber in ihren Aspekten der Gefahr und Gewalt beschwichtigt bzw. verneint ("aber ich glaub es hat mir auch, es hat mir auch keine Furcht eingeflößt"; "das klingt immer so ganz spektakulär aber ich fand das, gar nich so"). Dabei ist immer zu bedenken, dass der Beschwichtigung und Verneinung in der Darstellung einer jungen Erwachsenen auf der Ebene des Erlebens eines vierjährigen Mädchens einem sehr viel tiefer greifenden Abwehrvorgang entspricht, nämlich dem der Derealisierung von Szenen der Angst und Gewalt. Bei den psychotraumatologisch beschriebenen Phänomenen der Derealisierung25), handelt es sich um Vorgänge, die zur vollkommenen oder teilweisen Ausblendung von (Gewalt-) Erfahrungen führen. Für Ls Präsentation muss also grundsätzlich mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass sie wesentliche Teile der zwischen den Eltern aufbrechenden Aggression im Damals des Erlebens nicht nur beschwichtigt, sondern gerade in affektiver Hinsicht unter Umständen vollkommen vergessen, mithin derealisiert hat. [30]

Wie auf den Bericht zu Beginn von Ls Präsentation treffen auch auf diese (inhaltlich dramatische) Erzählszene die handlungsdynamischen Strukturmerkmale Selbst als/in Gefahr und gleichzeitig witzige Moderation und Suche von Gefahr sowie von Schutz zu. Die Aspekte Gefahr und Moderation sind in eklatanter Weise inhaltlich präsent, während sich die Moderation hier als sprachliche Beschwichtigung/Verneinung von möglicherweise sehr schwerwiegenden gewalttätigen Übertretungen zwischen den Eltern und evtl. sich selbst konkretisiert. Ls durchgängiger Modus der Harmonisierung (Affektneutralisierung) stellt dann für Vater und Tochter gleichermaßen eine psychologische Form von Schutz dar; lediglich der Aspekt des Witzes ist hier nicht aktiviert. (Man mag allenfalls eine Latenz dergestalt annehmen, dass diese Geschichte, wenn sie denn durchaus nicht "spektakulär" sein soll, sich beinahe selbsttätig auf den Modus entweder des Unbedeutenden oder sogar des Amüsanten zubewegt.) Damit findet auch die oben erwogene psychoanalytische und -traumatologische Hypothese eine Bestärkung. Denn unter der durchaus plausiblen Voraussetzung, dass die frühe Familiensituation (auch wenn das Handlungsdetail um das "Messer unter dem Kissen" fantasmatischer Natur sein sollte) insgesamt von Aggression und Übergriffigkeit gekennzeichnet war, ist die narrative Selbstpräsentation unter den Strukturmerkmalen Gefahr, Moderation, Suche von Gefahr/Schutz als Folge der frühen Lebenssituation begreiflich. Die "Vorsicht", zu der L uns eingangs mahnte, wäre in diesem Zusammenhang dann als Projektion bzw. als die dissoziativ agierte Inszenierung einer Vorsicht und Schutzsuche zu verstehen, die L in ihrer lebensgeschichtlichen Frühzeit nicht in wünschenswerter Weise gewährt war. Ferner handelt es sich um eine "Vorsicht", die L in ihrer Gegenwart in Folge ihrer Entdramatisierung wie auch ihres provokativen Handlungsstils gegenüber sich selbst in eklatanter Weise vermissen lässt. Denn diese Faktoren der Handlungssteuerung begünstigen (projektiv-identifizierende) Eskalationen, was in aller Regel zu wiederholungshaftem Konfliktagieren führt. Wie oben angesprochen entspricht diese narrationsanalytisch ermittelte Handlungsstruktur-Regel dem, was in psychotraumatologischer Perspektive ein traumakompensatorisches Handlungsschema genannt wird. Auch der augenscheinliche Mangel an persönlicher Relevanzsetzung, aufgrund dessen L eine durchgängige Unsicherheit dahingehend aufwies, was für ihre lebensgeschichtliche Erzählung relevant ist und/oder was ihr persönlich der Thematisierung wert ist ("ja (1) was gibts noch, was wollt ihr noch so wissen, so?"), ist als Folge der frühen, aggressiv aufgeladenen Lebenssituation begreiflich. Denn ein Präsentationsstil, der in unvermerkter Ambivalenz zwischen lustbetontem Erzähleifer und Mangel an persönlich-differenzieller Relevanzsetzung steht und somit tendenziell dissoziativ geprägt ist, weist grundsätzlich auf psycho- und beziehungstraumatisches Erleben hin. Umso aussichtsreicher scheint es, in Anlehnung an die traumakompensatorischen Handlungsschemata, die die lebensweltlich-direkte Sozialinteraktion einer Person prägen, für die Medieninteraktion nach den traumakompensatorischen Erzähl- und Rezeptionsschemata des dissoziativen Handlungsbereichs zu suchen und sie in ihrem lebensgeschichtlichen und psychogenetischen Zusammenhang zu rekonstruieren. Für L wird sich im Folgenden die konkrete Frage stellen, inwiefern sich diese Schemata in ihrer Familiengeschichte (in Daten und Präsentation), in ihrem Sozialleben und in ihrer Medieninteraktion niederschlagen. [31]

5. Täter-Opfer-Inversion: Narrative Engramme der familiären Dreigenerationen-Dynamik aus der Zeit des Dritten Reichs

Ls Präsentationsverfahren der Entdramatisierung und Harmonisierung von Themen/Erfahrungen der Gefahr und Gewalt ist noch durch einen weiteren psychotraumatologisch bedingten Mechanismus gestützt. Unter der Voraussetzung, dass der Vater tatsächlich, in welcher Form auch immer, für L eine Quelle der Aggression und Angst war, ist Ls Präsentation ansatzweise von einer so genannten Täter-Opfer-Inversion oder Täterentschuldigung geprägt.26) Dies zeigt sich daran, dass L trotz des gewalthaften Zusammenhangs von ihrem Vater verständnisvoll, aber ohne jegliche weitere Erläuterung als dem "schwarzen Schaf in seiner Familie" spricht und zwar genau dort, wo sie gleichzeitig die Gewaltaspekte derealisiert. Damit rückt die Vater-Figur ihrer Erzählung, die doch in vielfacher Hinsicht als Täter profiliert ist, in die Position des Opfers. (Nicht der möglicherweise empathische Perspektivenwechsel als solcher, der ja durchaus einsichtsreich sein kann, sondern die Tatsache, dass die Perspektiven akut und unvermerkt vermischt werden und vollkommen erläuterungslos verbleiben, weist auf eine Täter-Opfer-Inversion hin.) [32]

Der Mechanismus der Täter-Opfer-Inversion findet sich in prägnanter Weise noch in mindestens einem weiteren Kontext, der inhaltlich Ls Recherche von historischen Themen betrifft. (L ist Teilnehmerin eines Leistungskurses Geschichte und beschäftigt sich laut eigenem Bekunden bis an die Grenzen ihrer emotionalen Belastbarkeit mit dem Thema "Holocaust".) Hier ist also indirekt bereits die Frage nach Ls Medienhandeln berührt. Über die mütterliche Seite ihrer Familie, die aus Königsberg stammt und nach dem Krieg auf der Flucht in den Raum L-Stadt gekommen ist, berichtet L:

"meine, Oma mütterlicherseits also die Mutter meiner Mutter kommt, aus Königsberg direkt, und deren Vorfahren wieder aus Österreich irgendwann im dreißig jährigen Krieg sind se aus Österreich dann nach Polen geflüchtet, oder wie das damals war, und mein Opa also der Vater meiner Mutter kommt, aus Frankreich ursprünglich also n bisschen Franzosen // I1: hmh // Hugenotten die #dann auch // I1: #((lacht etwas))# // L: irgendwann geflüchtet sind#, ja s is ne bunte Mischung /((lachend)): ihr seht schon // I1: ((lacht etwas)) ja // L: ja und, ja, sind se dann nach hierher geflüchtet nach B-Dorf, und da sind se auch geblieben". (Herv. H.W.) [33]

Bemerkenswert an dieser Äußerung ist, wie L das, was sie uns als ihre Familiengeschichte mütterlicherseits präsentiert, mit einem Schwerpunkt im 16. Jahrhundert versieht. Hinsichtlich ihres Großvaters verdichtet L den Bericht in einer Weise, die für den Zuhörer zwangsläufig zu Missverständnissen führen muss. Sie berichtet, dass ihr Großvater "ursprünglich also n bisschen Franzose" wäre und von den "Hugenotten" abstammt; sie tut dies dermaßen gerafft, dass im Moment der Erzählung der Eindruck entsteht, der Großvater selbst wäre ein Hugenotte des 16. Jahrhunderts. Nach einer kurzen Einfügung ("bunte Mischung") schließt L unmittelbar die Erwähnung der Flucht der Großeltern an, als ob es sich um die Flucht der Hugenotten aus Frankreich nach Brandenburg-Preußen handele oder als ob diese Hugenotten damals nach B-Dorf geflohen wären.27) Bei der Flucht der Großeltern kann es sich freilich nur um die Flucht vor der sowjetischen Armee aus Königsberg handeln. Dort nämlich haben, wie wir später erfahren, die Großeltern noch im Jahre 1941 geheiratet. [34]

Was ist die präsentationssteuernde Handlungsregel, die dieser eigentümlichen Überblendung einer tatsächlichen mit einer historischen Fluchtgeschichte zugrunde liegt? Warum präsentiert L ihren Großvater und nur ihn ("Opa also der Vater meiner Mutter") und nicht etwa auch die Großmutter, die ja zusammen mit ihm fliehen musste, als ob dieser Großvater schon 1685 vor den französischen Katholiken geflohen wäre (die die Hugenotten [in der sog. Bartholomäusnacht] einer Massenvernichtung aussetzten). Ferner schließt sich die Frage an: Aufgrund welcher Handlungsregel vollzieht L an genau diesem Punkt den expliziten Rückbezug auf sich selbst und ihr Selbstverständnis als "bunte Mischung" (eine Selbstattribuierung, die freilich schon seit den ersten Zeilen ihrer Erzählung mit Bezug zur väterlichen Seite – Iran, Irak, Russland und Aserbeidschan – implizit vollzogen war)? Die allgemeinen geschichtlichen Umstände der Zeit und die sozialgeschichtliche Platzierung, in der sich Ls Großeltern damals befanden, sollen hier nur insoweit eruiert werden, als sie zur Beantwortung der Frage nach dem Präsentationsgestus beitragen können. Und in der Frage nach Ls Präsentation dieses Themas muss selbstverständlich immer mitbedacht werden, dass diese im Wesentlichen auf die innerfamiliäre Tradierung dieses Teils der Familiengeschichte zurückgehen wird. Hierzu müssen wir einige (familien-) biografische Daten heranziehen: Wir erfahren über Ls Großeltern und ihr Leben in der Zeit vor der Flucht nur, dass sie 1941 geheiratet haben; ferner macht L die allgemeine Bemerkung: "[die] Großeltern dann wirklich, die waren Ostpreußen vom, vom besten, auch preußische Erziehung bis in s Letzte". Diese Verheiratung erfolgte also nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Nachbarländer im Osten und während der Einrichtung der Konzentrationslager in Polen. Angesichts des Ausmaßes, das die Deportation und Vernichtung jüdischer Mitbürger in den Gebieten der baltischen Länder angenommen hatte, ist die Annahme zwingend, dass die Großeltern über eine gewisse persönliche Kenntnis und Erfahrung mit den Vorgängen der Deportation verfügten, sei es durch Mitwisserschaft oder evtl. durch Mitverantwortlichkeit (möglicherweise, wenngleich nicht wahrscheinlich, auch durch Mitopferschaft). Darüber hinaus sind die Großeltern später mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer der Vertreibung und evtl. Verfolgung durch die sowjetische Armee geworden. [35]

Das Interview enthält weitere für diese Thematik relevante Hinweise. Zum einen berichtet L beiläufig, dass nach dem Tod der Großmutter, der einige Monate vor dem Interview erfolgte, einige Familienakten aufgetaucht seien und dass diese jedoch von einem der Onkel entwendet wurden (wofür L finanzielle Motive geltend macht). Das einzige Detail, das L aus diesen Akten erwähnt, spricht sie nicht an dieser Stelle an, sondern erst später, als wir sie danach fragen, ob jüdisches Leben in ihrer Familie eine Rolle spielt. (Die Frage erfolgte, nachdem L über ihre extensiven Recherchen zum Thema jüdische Religion und Shoah berichtet und an anderer Stelle ebenfalls beiläufig erwähnt hatte, dass ihre 14 Jahre ältere Halbschwester mütterlicherseits, deren Existenz L bis zu ihrem vierten Lebensjahr verschwiegen wurde, ihre Kinder Joshua und David nannte; dabei verriet L mit keiner Geste, dass sie sich der jüdisch-alttestamentarischen Tradition dieser Namen bewusst war.) Auf diese Frage gibt L folgende Antwort:

"L: Ich weiß also ((lacht)), ganz platt ausgedrückt damals als meine Oma gestorben is (1) als die heiraten, geheiratet haben im Dritten, Reich war das noch '41 ham die (1) ja '40 '41 irgendwann, mussten die ja so n Stammbaum, also so einen Standesnachweis, verfasst keine Ahnung ((lacht)) // I1: ja // I2: hmh hmh // L: und da ham wir von meiner Oma von meinem Opa nich mehr die hat, meine Oma wohl ( ) von meiner Oma Unterlagen gefunden, und da:, also mein, der Vater meiner Oma war unehelich, und den hat eine jüdische Hebamme /((lachend)): auf die Welt gebracht/ // I2: ((lacht)) L: das aber nun aber nichts damit zu tun is mir grad nur so eingefallen" (Herv. H.W.). [36]

Wie immer eine solche Aussage in einer mündlich tradierten Familiengeschichte aus dem Königsberg des Dritten Reiches im Einzelnen zu verstehen sein mag – ob die "jüdische Hebamme" ein faktengetreues Datum darstellt, ob sie auf einen jüdischen Zweig der Familie hinweist (evtl. sogar metonymisch für ihn einsteht), von dem L keine Kenntnis hat und der der Vernichtung zum Opfer gefallen ist, oder aber ob die Geschichte über die "jüdische Hebamme" innerhalb der Familienerzählung funktionalisiert wurde, um eine Nähe zur Judenheit bzw. eine jüdische Scheinidentität zu suggerieren und damit Entschuldigung für Verantwortlichkeiten zu erreichen. Dies kann hier nicht ermittelt werden. (Auch die jüdische Namenswahl für die Kinder von Ls Halbschwester mag mit dergleichen Motiven zu tun haben.) Insgesamt kann man aufgrund der Präsentation und biografischen Daten davon ausgehen, dass Ls Großeltern mütterlicherseits in der damaligen historischen Konstellation dem Bevölkerungsanteil der Mitwisser und evtl. Mitbeteiligten angehört haben und ferner dass sie nach dem Krieg Opfer der Vertreibung durch die sowjetische Armee wurden. Und die Tatsache, dass eine Familiengeschichte der Mitwisser- oder Täterschaft, aber auch eine der Opferschaft in der Nachkriegszeit in aller Regel schwer erzählbar war (und die Akten entwendet sind), macht für diese mündlich tradierte Familiengeschichte eine Täter-Opfer-Inversion auf der Basis einer jüdischen Konnotation durchaus plausibel. Zweifelsfrei kann jedenfalls festgestellt werden, dass sich ein der Täter-Opfer-Inversion analoges Phänomen auf der Ebene von Ls Präsentation findet. Indem nämlich L die Flucht der Großeltern vor der sowjetischen Armee durch ihre eigentümliche thematische Überblendung mit Assoziationen der Hugenotten-Flucht aus Frankreich versieht, unterstreicht sie ausdrücklich deren Opferstatus, und zwar ohne von irgendeiner konkreten Opfererfahrung der Großeltern zu berichten. Und dies mag mit ein wesentlicher Grund dafür sein, dass sie in ihrer Familiengeschichte über die mütterliche Seite historisch so weit ausholt und so gerafft erzählt. (Die Annahme liegt nahe, dass L hier mehr oder weniger unbewusst eine Darbietungsstruktur der Großeltern nachvollzieht [die seit ihrem vierten Lebensjahr als ihre Ersatzeltern fungierten]).28) Der Opferstatus der jüdischen Hebamme hingegen, von deren Ermordung aufgrund der hohen Opferzahlen in der jüdischen Bevölkerung der baltischen Länder mit einiger Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden muss, ist in Ls Äußerung nicht präsent, was angesichts ihrer Holocaust-Recherche überrascht ("das aber nun aber nichts damit zu tun is mir grad nur so eingefallen"). [37]

Mit Blick auf unser primäres Untersuchungsinteresse – die Handlungsstruktur von Ls Präsentationsverhalten – zeigt sich hier eine weitere Dimension der Handlungsregel: Vorsicht! Die Gefahr, Lust und der Schutz des uneingegrenzten Erzählens; und zwar stellt sich hier ihre Erstreckung in der familiären Dreigenerationen-Dynamik dar. Denn die in der Strukturregel enthaltenen Handlungsaspekte sind auch in diesen Sequenzen wirksam (und sie erweisen sich hier in ihrer spezifisch familiendynamischen Dreigenerationen-Dimension). Die Gefahr (und Gewalt) stellt einen herausragenden Inhaltsaspekt der von Konnotationen sowohl der Mitwisser-/Mittäterschaft als auch der eigenen Vertreibung gekennzeichneten Familiengeschichte dar; und die Gefahr erweist sich neuerlich auch auf der (formalen) Ebene der Präsentation Ls als eine der grenzverlorenen Überblendung von verschiedenen Thematiken und Geschichtsepochen.29) Die Erzähl-Lust Ls ist nach wie vor als ungebrochener Präsentationseifer evident, wie auch das Bemühen Ls, innerhalb unseres Settings und zusammen mit uns für dieses Erzählen einen ermöglichenden und schützenden Rahmen herzustellen. In psychotraumatologischer Perspektive lässt sich neuerlich die Beobachtung machen, dass das engagierte Erzählen der Biografin, das in historischer Hinsicht um inhaltliche und formale Aspekte von Gefahr kreist (ferner um Aspekte der manifesten sowie impliziten, mikrostrukturellen Gewalterfahrung, die eventuell durch transgenerationale Weitergabe von Traumatik übertragen wurde30)), auch auf familiengeschichtlicher Ebene keinerlei konkrete Gewalterfahrung erzählt, weil die entsprechenden Dissoziationen vorliegen. Zwar ist dieses engagierte Erzählen von einem wiederholungsdynamisch geprägten Versuch getragen, die Affekte und Assoziationen, die diese Gefahr und ihr formaler erzählerischer Niederschlag beinhalten/ausagieren (Angst, Wut, Orientierungs-Verunsicherung, Trauer), erzählend zu bannen und psychisch zu integrieren. Weil die Gefahr-Erlebnisse jedoch nicht erzählend aktualisiert werden können, besteht eine Situation der relativen, abwehrbedingten Dissoziation. Wie sich L oben nicht der Bedrohlichkeit sowie des Entsetzens und der Trauer erzählend inne werden kann, die ein Bild der frühen Kindheit von Eltern mit einem "Messer unter dem Kissen" aufruft, scheint sie auch hier vollkommen frei von allen Affekten und Erwägungen über Gewalt und Leid zu sein, die sich in der Geschichte der Großeltern wahrscheinlich zugetragen haben. (Lediglich ein – verschobener – Affekt über die unglücklichen Kindertage des überbehüteten Großvaters kommt zum Ausdruck.) Die Handlungsaspekte der Affekt-Harmonisierung und -Verneinung ("aber ich glaub es hat mir auch, es hat mir auch keine Furcht eingeflößt") sowie der tendenziellen Täter-Opfer-Inversion sind eine Folge dieser dissoziativen Struktur. Auch dass sich L in ihrem Erzählen an den Rand der physischen Erschöpfung begibt (wie schon bei ihren Holocaust-Studien), stellt eine direkte Konsequenz dieses Handlungszusammenhangs dar. In der familiengeschichtlichen Tiefendimension zeichnet sich ab, dass Ls dissoziative Handlungsstruktur bis mindestens auf die Großelternebene zurückzuverfolgen ist und somit noch von den Ereignissen der Zeit des Nationalsozialismus geprägt ist.31) [38]

6. Die unwillkürliche Re-Inszenierung von psychotraumatischer Konfliktdynamik

Dass die Handlungsmuster und Affekte (der Angst, Wut und Orientierungs-Verunsicherung), die Ls Erzählstruktur der Gefahr sowie ihren Erzählinhalten ("Messer"; Flucht der preußischen Großeltern) inhärent sind, auch in Ls alltäglichen Lebenspraxen und Erlebensweisen wiederkehren und sich quasi selbsttätig (auch transgenerational) re-inszenieren, entspricht den von der Psychotraumatologie und Biografieforschung angenommenen Gesetzmäßigkeiten32). In der Jetztzeit zeigt sich diese Wiederkehr von Affekten und agierten Szenen der Gefahr eklatant zunächst im Rahmen ihrer schulischen Arbeit und dann in Ls schulkameradschaftlichem Beziehungsleben. In ihrer schulischen Arbeit präsentiert sich L als junge Erwachsene, die verschiedene historische und gesellschaftswissenschaftliche Interessen hat. Eine zentrale Stellung nimmt dabei das Thema "Holocaust" ein, dem sich L in einem über das Maß des schulisch Geforderten hinausgehenden Engagement gewidmet hat. Dies führte auch dazu, dass sie ihre gymnasiale Facharbeit über jüdische Mitbürger im Nationalsozialismus schrieb. Da L dieses Thema mittels eigenständiger Recherchen z.B. in der Stadtbibliothek und in Kursen der Volkshochschule erarbeitete und dabei verschiedene Text-, Ton- und Bildmedien nutzte, ist die Frage nach der Handlungsstruktur von Ls Mediennutzungsverhalten in spezifischer Weise berührt. In ihrer Darstellung des Rechercheinteresses am Thema "Holocaust" kam ein Aspekt des starken persönlichen und emotionalen Engagements sowie der (Über-) Anstrengung zum Ausdruck (der insofern auch mit der Interviewsituation selbst korrespondierte, als L sich uns gegenüber als engagierte, bis zur Erschöpfung gehende Erzählerin erwies):

"ich hab mich ich musste mich ja, nochmal in das Thema reinknieen, und dann dann war mir das so, wenn ich da abends dran gearbeitet hatte dann konnte ich auch nich da- musste überall Licht brennen, da konnte also da is mir richtich unheimlich geworden, und dann, also da Photos das sind ja alles Original-Fotos gewesen die verwesten Leichenberge und, die Beschreibung von Kindern und so weiter und so fort, da musste überall Licht an sein also ich konnte da, nich irgendwie wenn ich irgendwelche Schatten gesehen hab dann bin ich schon zusammengezuckt [...] man muss also ziemlich abgebrüht sein man muss schon ziemlich viel mit dem Thema gearbeitet haben um sagen zu können, so, ich hab, ausgeweint jetzt ich hab, meine Trauer is jetzt zu Ende ich muss da jetzt ma, // I2: hmh // also ganz objektiv fragen // I2: hmh //, und das hab ich nich geschafft // I1: hmh // also, das nimmt mich immer noch mit irgendwie weiß nich". [39]

Die Präsentationsregel Vorsicht! Die Gefahr, Lust und der Schutz des uneingegrenzten Erzählens zeigt sich im thematischen Zusammenhang der Holocaust-Recherche in einer bisher nicht sichtbaren Variante. Denn der Mangel an Eingrenzung und Integration betrifft hier eine akute Angst- und Schmerzerfahrung; sie rührt her von einer so genannten sekundären, mittelbaren Traumatisierung (die sich aus der Arbeit mit nicht selbst erlebtem traumatischem Erfahrungsmaterial ergibt33)). L hat es bis heute nicht "geschafft", sich "auszuweinen" und abends das Licht im Zimmer zu löschen ("das nimmt mich immer noch mit irgendwie weiß nich"). Die Handlungsstruktur der Gefahr schlägt sich hier in Dynamiken des emotionalen Grenz- und Kontrollverlusts nieder (und ist direkt mit dem Bereich des Medienhandelns verknüpft). Während also der Handlungsaspekt der Uneingegrenztheit bisher u.a. auch als einer des Mangels der persönlichen Relevanzsetzung (evtl. sogar einer "Oberflächlichkeit" des "lalala") erschienen war, zeigt sich Uneingegrenztheit hier mit umgekehrtem Akzent geradezu als eine psychoaffektive Überschwemmung durch Emotionen, die als Angst und Trauer beschrieben werden, deren spezifische persönliche Relevanzen jedoch noch unklar sind. [40]

In psychoanalytischer Dimension können einige Hinweise darauf verzeichnet werden, dass Ls affektive Reaktion nicht nur auf die per se belastende Natur des Themas zurückzuführen ist, sondern auch auf eine spezifische (Handlungs-) Disposition, die für projektiv-identifizierende Spaltungsübertragungen, also Übertragungen von gespaltenen (dissoziierten) Affektrepräsentanzen (sowohl in sozialer als auch medialer Text-Leser-Interaktion) empfänglich ist. Diese Affektübertragungen sind generell von einer relativ hohen Konflikthaftigkeit, Uneingrenzbarkeit, aber auch Ausblendungsneigung gekennzeichnet.34) Zunächst äußert L selbst das Gefühl einer Disproportionalität ihrer emotionalen Reaktion ("ich wundere mich, warum mich die hungernden Kinder in Afrika mich nicht so aufregen"). Darüber hinaus ist zu sagen: Im Lichte der psychoanalytischen Affekttheorie stellt die Tatsache, dass L gleichzeitig und für ein und dieselbe Situation von Affekten der Angst und der Trauer berichtet (Licht anschalten; Ausweinen), einen Widerspruch dar (der somit auf projektive und dissoziierende Ausblendungs-/ Abspaltungsdynamiken hinweist). Denn Angst und Trauer sind für den jeweiligen Einzelmoment unverträgliche Affekte; sie schließen sich wechselseitig aus.35) Ein indirekter Hinweis auf projektiv-identifizierende Affektübertragungen besteht auch darin, dass L mit ihrer Facharbeit trotz hohem Engagement in schulischer Hinsicht scheitert. Dies hatte damit zu tun, dass sie die genaue Orientierung der Aufgabenstellung (Titel: Die Situation der jüdischen Bürger im Dritten Reich) verfehlt, indem sie sich allein auf die Darstellung der KZs fixiert, und nur fünf von möglichen fünfzehn Punkten erhält. L ist also die thematische Grenzsetzung und Gestaltbildung ihrer Arbeit misslungen, und zwar aus affektiven Gründen, weil sie unter der Wirkung einer sie blockierenden (projektiv-identifizierenden) Affekt-Konstellation (Angst/Trauer) stand. [41]

Die affektive Struktur einer projektiv-identifizierenden Spaltungsübertragung in Ls Medieninteraktion über dieses Thema schlägt sich vor allem jedoch in der vollkommenen Ausblendung der eigenen Familiengeschichte nieder (die umso verblüffender ist, als L sich ihrer Familiengeschichte in so vielen Hinsichten überaus bewusst ist). Dies hat zur Folge, dass die spezifischen persönlichen Trauma-Assoziationen bzw. Empathie-Resonanzen, also die psychischen Assoziationen und Übertragungen, die sich zwischen dem textuell-medial dargestellten Traumathema und den historisch anders bedingten und qualitativ anders strukturierten Traumaerfahrungen der je persönlichen Erlebenssphäre der Person unwillkürlich ausbilden, hier vollkommen unbewusst bleiben.36) Ein erster Hinweis auf die Ausblendung der Familiengeschichte ist Ls Vagheit der Aussagen darüber, wie sie auf das Thema des Holocaust verfallen ist. L macht dahingehend nämlich keine eigenständigen Angaben und vermag auf Fragen nach einer persönlichen Motivation oder spezifischen thematischen Anregung keine Auskunft zu geben, die über die Nennung von bloßen Zufällen hinausginge:

"da muss ich überlegen ich glaube, das hat irgend n Auslöser, ich weiß gar nich ob das ich weiß gar nich [...], ja jetzt weiß ich meine Oma, hatte n Buch im Schrank stehen Der gelbe Stern, // I2: hmh // [...] es beschäftigt sich halt mit dem Holocaust von dreiundreißig bis fünfundvierzich, insgesamt, und das hab ich durchgelesen und war, furchtbar entsetzt und das hat mich, sofort entsetzt". [42]

Als L gefragt wird, wie es dazu kam, dass sie auf dieses Buch aufmerksam geworden ist, führt sie aus:

"Das war eine ganz witzige Geschichte oder s is gar nich witzig also, ich hatte davon ja keine Ahnung // I1: ja // L: äh, da, bei meiner Oma, oben im Regal stand wie gesacht dieses Buch, Der gelbe Stern, und ich hab ursprünglich angenommen als ich klein war dass da so=n so=n Telefonbuch so Telekom, Telekom oder so so oder nee, damals die Post genau // I2: logisch, ( ) // L: #so gelb und so nem Horn# und da dacht ich der gelbe Stern das muss n Postbuch sein // I2: ((lacht)) // L: den Sachverhalt fand ich ganz logisch, und dann hab ich mir das irgendwann, raus gegriffen und dann gedacht ja Moment äh was hat es damit auf sich und hab angefangen darin rum zu blättern, und da hat s mich auch schon ergriffen irgendwie weiß nich". [43]

Was ihre eigene Familiengeschichte der mütterlichen Seite in Königsberg betrifft, gibt L an keiner Stelle Zeichen eines Interesses und/oder Rechercheengagements hinsichtlich von deren Erlebnissen aus dieser Zeit. Als L über die im Februar verschwundenen Familienakten der Oma spricht, tut sie dies in einem rein finanziellen, erbschaftsbedingten Kontext und thematisiert keinerlei andere Möglichkeit einer familiengeschichtlichen Relevanz dieser Akten. Angesichts ihres historischen Interesses (und auch der Tatsache, dass sie Der gelbe Stern im Regal der Oma gefunden hat) überrascht dies, und es besteht neuerlich Anlass zur Annahme, dass Ls (mediengestützter) Gegenstandsbezug auch und gerade bei dieser engagierten Auseinandersetzung durch eine Handlungsregel der (dissoziierenden) Erlebensferne geprägt ist (die Abwehrformen der Abspaltung und der Idealisierung bedingen) wie auch der Uneingegrenztheit, also des in zweifacher Hinsicht – durch Vagheit und Überfülle – uneingegrenzten Erzählens. Die Narrationsanalyse dieser Sequenzen kann auf drei entsprechende Handlungsaspekte verweisen: (1) die Betonung des starken persönlichen Engagements, ja der emotionalen Überflutung, der L bis an den Rand der psychophysischen Erschöpfung folgt, (2) die Abwesenheit von Angaben über eine persönliche Motivation oder eine spezifische Anregung für dieses Thema und (3) die Nicht-Wahrnehmung des offenkundigen Bezugs zur eigenen Familiengeschichte der mütterlichen Seite. Die Kombination dieser Handlungsaspekte führt konkret zur persönlichen Überbelastung und zum schulischen Scheitern des Projekts. In psychogenetischer Hinsicht unterstreicht sie die psychotraumatologische Annahme einer dissoziativen Handlungsstruktur, wie sie als Folge von persönlich erfahrenen (manifesten bzw. beziehungstraumatischen) und/oder transgenerationalen Trauma-Belastungen entsteht. [44]

Die unkontrollierte Wiederkehr von Affekten und agierten Szenen der Struktur Gefahr, Moderation, Suche von Gefahr/Schutz ist für L nicht auf ihre schulische Arbeit begrenzt, sondern schlägt sich auch im schulkameradschaftlichen Beziehungsleben nieder. Und sie ist auch dort von dissoziativ (und projektiv-identifikatorisch) geprägten Handlungsstrukturen der Realitäts- und Erlebensferne gekennzeichnet. L unterhält seit über vier Jahren (von ihrem vierzehnten Lebensjahr an) eine persönliche und auch erotisch besetzte Freundschaftsbeziehung zu dem Mitschüler Herbert, die eine nicht ausdrücklich erklärte und eine nicht-sexuelle Beziehung geblieben zu sein scheint. So führt L Herbert uns gegenüber zunächst als "Bekannten" aus einem Tanzkurs ein, und dessen hohe Relevanz für sie wird erst nach und nach deutlich. Zudem lässt ihre Schilderung die Beziehung als eine fortgesetzte turbulente Reihung von mutwilligen z.T. handgreiflichen Provokationen, Konflikten, Wiederannäherungen und neuerlichen Sticheleien/Hänseleien erscheinen, wobei der jeweilige Gegenstand der Konflikte wie auch die Motivation für die Freundschaft in hohem Maße diffus bleiben. Die Beziehung scheint wenige Tage vor dem Interview gewaltsam eskaliert und abgebrochen worden zu sein. Auf die entsprechende Konfliktszene kommt L eher zufällig und in zunächst ganz anderem Zusammenhang zu sprechen:

"dazu muss ich sagen unser Jahrgang is sehr, kindisch wir nehmen uns gegenseitich die Haargummis weg, // I1: ((schmunzelt)) // L: stecken uns in irgendwelche Mülltonnen, ähm dann haben wir so Papierkisten da wird klein Leila gerne mal reingeschmissen und so, am Band so durch die Gegend rumgeschleudert, // I1: ((schmunzelt)) // L: letzten Freitach meinen dann also fünf meiner, Jahrgangskameraden, alle größer und stärker als ich sie könnten mich mal in so ne große Mülltonne stecken und nich so in so ne kleine sondern schon so ne große blaue ähm an der der Rand so richtich schön scharf is // I1: hm // P: ja und das passierte nich nur einmal sondern dreimal, und irgendwann ähm hatt ich dann die Schnauze voll und bin dann irgendwie weggehumpelt hab aber überhaupt nich gewusst häh wie dä, hab mich am nächsten Morgen im Spiegel angekuckt, und es sah gar nich, so lecker aus was mich da erwartet /((lachend)): hat/ /I1: hmh/". [45]

In welchem Ausmaß auch immer: L ist zum Ziel eines aggressiven Übergriffs durch eine Gruppe von Mitschülern geworden. Die Mutter fährt mit L ins Krankenhaus, die Erstattung einer Anzeige wird erwogen, erfolgt jedoch nicht; es wird eine schulinterne Mediation auf den Weg gebracht. Was L jedoch erst wesentlich später berichtet: Herbert ist einer der Beteiligten, und damit nicht genug, L berichtet, Herbert habe ihr dabei in einer gezielten Handlung "den Daumen nach hinten umgebogen", einen Finger, der bereits durch eine vorherige, eher scherzhafte Auseinandersetzung der beiden unabsichtlich einen Muskelfaserriss erlitten hatte und auf dessen Gesundheit L wegen ihres musikalischen Hobbys, dem Harfenspiel, unbedingt angewiesen ist ("also [...] ich mein er hat wirklich gezielt nach meinem Daumen gegriffen und ihn nach hinten umgebogen, und das obwohl er ganz genau weiß wie wie wie sehr ich auf meine Hände aufpassen muss"). Mögliche Abstriche in der Faktentreue der Erzählung einer turbulenten Szene seien a priori in Rechnung gestellt. Insgesamt zeigt sich jedenfalls ein Bild, in dem die langjährige und, wie auch immer, intensive und exklusive Beziehung Ls zu einem jungen Mann von, wie auch immer, übergriffigen und gewaltsamen Akzenten geprägt ist. [46]

Dass die geschilderte Handlung Herberts allerdings nicht der völlig idiosynkratische Akt eines per se sadistischen Menschen gewesen ist, sondern auch das Ergebnis eines beziehungsbedingten unbewussten szenischen Agierens beider Beteiligter (nach projektiv-identifikatorischem Muster), darauf weisen an anderer Stelle platzierte Äußerungen Ls hin. Auf Nachfrage (die erfolgt, als L Herbert überraschenderweise als "sonniges Gemüt" bezeichnet) sagt sie, es seien sich alle Mitschüler einig darüber, dass Herbert "so n Lieber" sei:

"also, wirklich er is n sonniges Gemüt er is wirklich so, es is so n Lieber, man kann ihm sagen Herbert, schlepp mir meine Harfe da die Treppe runter und er würd das machen oder, ja Herbert, trag mir mal bitte die Wasserkiste hoch, und dann kommt er mit einem nach Hause und trägt einem die Wasserkiste hoch also er is wirklich". [47]

Der gewaltsame Übergriff auf Ls Finger ist offensichtlich für das allgemeine und auch von Dritten so wahrgenommene Verhaltensprofil Herberts nicht durchweg typisch. Über die Beziehung als solche und darüber, dass sie jetzt abgebrochen ist, sagt L:

"Ja also es es ging einfach nich mehr ich hab, dadurch dass ich nun, anders, ähm, zu ihm gestanden hab oder sagen wir mal so dass mein Verhältnis, zu ihm oder was ich gerne zu ihm gehabt hätte (1) was anderes war als das was wir tatsächlich zueinander hatten, das hat sich so n bisschen das war, ähm, so n bisschen ähm, wie sagt man, ähm (1) ähm das widersprochen sich so n bisschen, und ähm ich hab immer, ich hab, wenn ich wenn er etwas gesagt hat hab ich so reagiert, ähm, wie ich reagiert hätte, wenn ähm ha das is so kompliziert auszudrücken, er ist davon ausgegangen von der, von dem Verhältnis was wir zueinander haben, ich bin davon ausgegangen wenn er irgendwas gesacht hatte von dem Verhältnis was ( ) auch gerne zu ihm hätte, und ähm (1) dann hab ich dumm reagiert ohne ohne aber, mir zu sagen in dem Moment, dass er s gar nich wissen kann also ich hab ja nie irgendwelche Andeutungen gemacht und // I1: hmh //, dass ich ganz schön un-, also ich war ganz ziemlich unfair gegenüber also ihm gegenüber weil, er konnt es ja wirklich nich wissen und, ähm was ich denke dass weiß er nich und ich hätt s vielleicht aussprechen sollen, aber, ich mein es is klar also ,wie gesagt es war, es war nich, also wenn ich überlege jemand würd das mit mir machen ich hab erst mal drei Tage nich mehr mit ihm gesprochen, und ich dachte vielleicht kommt er mal auf die Idee dass irgendwas sein könnte" (Herv. H.W.). [48]

Es ist hier gar nicht daran zu denken, die dieser Narration zugrunde liegenden Erlebnishandlungen zu klären und zu rekonstruieren. Die ausgeprägte Diskontinuität dieser Beziehung bildet sich in hohem Maße bereits direkt sprachlich in der Diffusion der narrativen Darbietung ab. Dabei geraten vor allem auch die grammatischen Korrelate von essentiellen psychischen Kategorien der individuellen Realitätsprüfung in (dissoziative) Verwirrung, nämlich die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem ("ich" vs. "er") sowie Indikativ und Konjunktiv ("jemand würde" vs. "ich hab"). Diese Präsentation hält noch ein gutes Stück weit in derselben Weise an, um dann auf eine kurze Erzählung darüber zuzulaufen, dass L Herbert eines Abends am Ufer eines Flusses in einem Moment des ruhigeren Einverständnisses aus einer spontanen schnippischen Laune heraus gesagt hat, dass ihm wohl nicht kalt sei, weil er "auch genug Fettreserven" habe, was offensichtlich ein gezieltes Anrühren einer hohen persönlichen Empfindlichkeit Herberts darstellt ("in dem Moment hab ich so komisch reagiert ich weiß auch nich"). [49]

Gerade in beziehungsanalytischer Hinsicht stellt sich hier die Frage, ob nicht der bisher scheinbar erste und einzige schwere körperliche Übergriff Herberts aus dem Kontext einer Beziehungsdynamik heraus zu verstehen ist, in der sich impulsive wiederholungsdynamische Vollzüge der gezielten persönlichen Verletzung ereignen, die zudem schwerpunktmäßig von L selbst auszugehen scheinen. Eine weitere Konfliktbeschreibung lautet folgendermaßen:

"L: ja, und ähm, ich war nich so n bisschen empfindlich und, dann kamen so fiese Kommentare von der hinteren Bank ich mein die natürlich im Scherz gemeint waren aber, wenn s mir schlecht geht dann dann, seh ich das nicht als Spaß an und reagier dann dementsprechend auch, und hab dann erstmal n paar Tage lang nich mit ihm geredet weil mich das so verletzt hat (1) und ähm, davon is er dann bockich geworden, und ich hab ihm ganz genau ich braucht ihn bloß anzusehen und dann hab ich schon gedacht ja er hat kein Bock mehr wenn ich da jetzt hingeh ( ) das is ihm scheißegal und, der das is einfach zu viel ich bin zu, zu fest mit ihm umgegangen, und Julia, Gloria also meine meine Freundin #und# Jan, auch, das is auch n Freund von mir, und dann // I1: #ja# // L: sachten die nun versuch das doch Herbert is doch so n Lieber mit dem kann man ja reden dann ja natürlich weil er so n Trottel is aber hallo meinte ihr er äh äh, er hat nich auch mal die Schnauze voll, bin ich halt so hin ja Herbert entschuldige bitte und äh, ich kann auch nichts zu ich mein, ich bin nich gerne so und musst du verstehen, ich versteh wenn du von- genervt bist". [50]

Und so kommt es, dass L trotz allem den Bruch der Beziehung sehr bedauert.

"sehr traurich, also das macht mir mehr zu schaffen als, äh, ich weiß nich (1) viereinhalb Jahre wenn man sich vorstellt man man hängt wirklich viereinhalb Jahre, is, ein Teil von einem einfach n Mensch [...] und dann von einem Tag auf den anderen is was weg, es is vorbei, es is einfach vorbei obwohl, wir wir wir waren ja nie zusammen wir ham ja nie irgendwie gesacht so jetzt sind wir mal, [...] naja (1) ich warte noch n bisschen, ich warte nochmal vier Jahre, vielleicht, er is n bisschen kindlich, er versteht 'nich alles so ganz so". [51]

Es ist auch aus der Fülle der übrigen Aussagen zur Herbert-Beziehung kein vollkommen untrügliches Bild darüber zu erhalten, in welchem Ausmaß und welcher Weise L tatsächlich "unfair" gegenüber Herbert war, ob sie eventuell von seinem "Lieb-Sein" einen zwiespältigen, durch Entwertung unterlaufenen Gebrauch gemacht hat (oder aber: ob sie vielleicht auch hier dem Handlungsmuster einer vorauseilenden Täterentschuldigung folgt und die gewaltsamen Handlungsanteile aufseiten Herberts wesentlich größer ausfallen). Unzweifelhaft jedoch ist, dass diese beiden jungen Erwachsenen eine in vieler Hinsicht prekäre Beziehung unterhalten, die als solche gar nicht verbindlich erklärt wurde, die jedoch nichtsdestoweniger eine lange zeitliche Dauer aufweist und die offensichtlich ganz wesentlich von ausagierten Szenen der körperlichen und psychischen Verletzung geprägt ist. (Dass L die Beziehung trotzdem und zwar um viereinhalb Jahre auch in die Zukunft hinein entwirft und dass viereinhalb in etwa das Alter gewesen ist, in dem die Trennung vom Vater unabweisbar wurde, verleiht gerade der letzteren Aussage unvermerkt eine besondere Qualität.) Dem entspricht aus der Sicht der Psychotraumatologie eine grundlagentheoretische Erkenntnis: Denn dergleichen wiederholungsdynamisches Ausagieren von verletzenden Handlungen geht regelmäßig auf frühe Traumaerfahrungen zurück (die sich auch bereits auf der externen Ebene ereignet haben und auf transgenerationalen Übertragungswegen weitergegeben worden sein können). [52]

Dass für die psychotraumatologischen Hypothesen einer tiefgreifenden entweder akuten oder kumulativen beziehungstraumatischen Verletzungserfahrung auf Seiten Ls, die sich für die Ebene der erzählten wie der erlebten Lebensgeschichte immer mehr konsolidieren, nicht nur der väterliche Faktor relevant sein mag, sondern auch der mütterliche bzw. der der elterlichen Interaktionsdynamik insgesamt, lässt sich insbesondere vor dem Hintergrund der Herbert-Interaktion zeigen. In dieser (eher beziehungsanalytischen) Hinsicht muss kurz auf die biografischen Daten der Mutter bzw. Eltern Bezug genommen werden: Hier lässt sich feststellen, dass die Paarbeziehung zwischen Ls Mutter und ihrem irakischen Vater nicht nur eine interkulturelle, sondern auch von unterschiedlichen Bildungsmilieus gekennzeichnet ist. Die Mutter hat kein Abitur und keine Ausbildung; der Vater hingegen hat – als nicht-europäischer und nicht-christlicher Ausländer – einen akademischen Abschluss an einer deutschen Universität erlangt. Seine heterogene Konstellation stellte das Paar vor eine besondere Herausforderung. Dadurch dass die junge Familie die ersten drei Jahre im Ausland der Dritten Welt verbrachte, haben sich die Bedingungen dieser Ausgangssituation nicht erleichtert. Kurz nach der Heirat lebte das Paar ca. ein Jahr an der Arbeitsstelle des Vaters im Sudan, der dort für eine deutsche Firma als Ingenieur tätig war. Dann flog die Mutter zur Geburt Ls nach Düsseldorf und kehrte nach wenigen Monaten zusammen mit dem Kleinkind in den Sudan zurück. Ein Jahr später siedelte die Familie nach kurzem Zwischenaufenthalt in Deutschland nach Saudi-Arabien über und blieb dort weitere eineinhalb Jahre. Für die Mutter wird der Aufenthalt als europäische Frau in zwei islamischen Ländern ohne eigene berufliche oder andere Perspektive einer persönlichen Tätigkeit u.U. nicht einfach gewesen sein, so dass die Beziehung der interkulturellen Eheleute möglicherweise verstärkten Belastungen unterworfen war. Als L drei Jahre alt war, kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Auch abgesehen von den unterschiedlichen ethnischen und bildungssoziologischen Positionen sowie den Auslandsaufenthalten waren die Ausgangsbedingungen dieser Paarbeziehung und damit die Ausgangsbedingungen für Ls frühe Lebenssituation schwierig. Der Vater nahm in seiner Herkunftsfamilie aus Gründen, die nicht zur Sprache kamen, eine Außenseiterposition ein; und er neigte zu Alkoholkonsum, was vor dem Hintergrund seiner islamischen Herkunft ein Faktum von besonderem Gewicht darstellt. Die Mutter war vor dieser Verbindung und der Geburt Ls schon zweimal (mit deutschen Ehemännern) verheiratet. Die Tochter Margit aus erster Ehe lebte seit der Scheidung der zweiten Ehe, als sie ca. 10 bis 12 Jahre alt war, bei ihrem leiblichen Vater, was entweder auf eine hohe Konflikthaftigkeit der ersten beiden Ehen von Ls Mutter oder/und auf eine spezifische Konfliktantizipation für die Ehe mit Ls Vater hinweist. Denn der Verbleib des Kindes beim Vater ist für Trennungspaare die statistisch relativ unwahrscheinlichere Lösung. Zudem wurde L die Existenz ihrer Halbschwester Margit bis zu ihrem 4. Lebensjahr und der Scheidung ihrer Eltern aus nicht bekannten Gründen verschwiegen, so dass man davon ausgehen kann, dass Margit keinen Umgang mit der Familie hatte und eventuell auch Ls Vater von deren Halbschwester nicht wusste oder nicht wissen sollte. Beide Hypothesen indizieren konflikthafte Interaktionsdynamiken. In der Beziehungsbiografie der heute etwa fünfzigjährigen Mutter ist zudem festzustellen, dass drei ihrer vier Ehemänner in jeweils nicht genau eruierbarem Ausmaß dem Alkoholkonsum anhingen, davon der erste, dann Ls Vater und auch der Mann, mit dem die Mutter zum gegenwärtigen Zeitpunkt verheiratet ist. Das Beziehungsleben der Mutter war/ist somit von den Handlungsregeln der Ko-Abhängigkeit geprägt. Für den Aufbau einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung stellt dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Die frühe Familiensituation Ls war also durch verschiedene destabilisierende Faktoren belastet. [53]

Die Qualität der frühen Beziehung zwischen der Mutter und L wird im Interview nicht direkt fassbar, denn L äußert bemerkenswert wenige Erinnerungen an den frühen Umgang mit der Mutter. Ihre Mutterbeziehung der Gegenwart hingegen zeigt ein klarer konturiertes Bild, in dem sich Zuneigung ("natürlich hab ich also ähm lieb ich meine Mutter"), reflexives Verständnis ("die hat schon unter meiner Oma ((räuspert sich)) als Kind sehr schwer zu leiden gehabt"), persönliche Abgrenzung ("vom Typ Mensch her wär meine Mutter wirklich nich diejenige mit der ichs, Jahre aushalte könnte") wie auch Ähnlichkeitswahrnehmungen ("ich mein ich bin ja auch nich grade temperamentlos") zu einem facettenreichen Bild addieren. Den allgemeinen Modus der informellen Alltagsinteraktion beschreibt L in einer ausführlicheren Äußerung folgendermaßen:

"ich mein das dieses dieses, schnell (1) eingeschnappt sein [der Mutter, H.W.] // I1: hmh // ich mein auch dieses schnell hochbrausen also ganz schnell hochbrausen und dann, zum Beispiel, redet und redet sie einfach ( ), nein sie hört einfach nich zu wenn man irgendwas sacht // I1: hmh //, man sitzt da das liegt aber nich daran dass sie meine Mutter is das macht sie bei niemanden // I1: hmh //, sitzt da und redet, // I1: hmh //, und dann wirft man was ein und sie redet immer weiter, das is also ganz seltsam das is immer so sie redet sie kommt also nich zum zum Aufhören, und dann // I1: hmh //, resi- ähm, resigniert ähm ((lacht)) registriert ich war bei 'recognize' ((lacht)), registriert sie aber auch nich was man da grade gesacht hat, also man kann so nah ran treten man, man kann sagen bla bla ja Mama hörst du überhaupt zu, Mama redet, man kann aufstehen und wieder kommen, Mama redet immer noch // I1: ((lacht)) // I2: ((lacht)) // L: und dann, also ja, es is meistens ganz witzig dann, nehm ich mir n Buch und, also wirklich es is vorkommen ich hab gelesen, ich hab gar nich gehört was meine Mutter, meine Mutter saß mir gegenüber und hat mit mir geredet und es is ihr nich aufgefallen dass ich mein Buch da hatte und gelesen hab dass ich ihr nich mal zugehört hab ich dachte dann, so demonstrativ Mama ich möchte jetzt auch mal was sagen hoffentlich fällt dir das auf, nix, laber laber, mh, ja ich les jetzt mal was ((lacht)) [...] das das is herrlich, man geht ausm Zimmer, heute war dann so, ich mach mir was zu essen komm wieder meine Mutter redet immer noch, is echt unglaublich ((lacht)) es is, faszinierend es is, ich kuck fern, kuck meine Mutter gar nich an, laber laber, Mama, du ich möchte das jetzt gern kucken ja wir können ja jetzt auch Schluss machen aber was ich dir noch sagen wollte". [54]

Die heutige Interaktion zwischen L und ihrer Mutter scheint also mitunter durch Aspekte einer allgemeinen Verständigungs- und Empathieschwierigkeit gekennzeichnet zu sein. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Interaktion in Ls frühen Jahren einer ähnlichen Struktur gefolgt ist.37) Es kann angenommen werden, dass sich Aspekte und Konsequenzen dieser Verständigungsschwierigkeit, wie L sich selbst durchaus bewusst ist, auch in ihrem außerfamiliären Interaktionsverhalten niederschlagen und z.B. die Herbert-Beziehung mit prägen.38) [55]

Der kurze familienbiografische Ausblick auf die Mutter/Eltern Ls macht deutlich, was sich in der Perspektive der psychotraumatologischen und systemischen Familienanalyse bereits andeutet: Die lebensgeschichtlichen Ursachen der tendenziell dissoziativen Phänomene in Ls Interaktionen haben nicht zwingenderweise ausschließlich mit den aggressiven Übergriffen des Vaters zu tun. Gerade die frühe Mutter-Kind-Interaktion mag auch weitgehend unabhängig von der Spannung zum ohnehin zumeist abwesenden Vater in einer Weise strukturiert gewesen sein, die mikro- und beziehungstraumatische Relevanz hat. Die für lange Strecken der narratologischen Untersuchung gültige und vielfach bestätigte Handlungsstruktur Gefahr, Moderation, Suche von Gefahr/Schutz mag also auch einen Aspekt der beziehungsdynamischen Beeinträchtigungen in der frühen Mutter-Kind-Interaktion enthalten, der die Handlungsbereiche Empathie und/oder Ablösung/Autonomie betrifft. [56]

7. Leilas Medienhandeln der frühen Kinderzeit

Vor dem Hintergrund dieses differenzierteren biografie-analytischen Bildes kann an dieser Stelle der Blick auch auf das Medienhandeln/Mediennutzungsverhalten Ls gerichtet werden. Denn wie sich bereits in der schulischen Arbeit zum Thema Holocaust abzeichnete, mögen sich auch hier – und also nicht nur in der direkten sozialen Interaktion – Auswirkungen der psychotraumatologischen Faktoren von Ls Lebensgeschichte niederschlagen. Die Auswertung von Ls Medieninterview, in dem auch das private, nicht-schulische Mediennutzungsverhalten erhoben wurde, zeigt insgesamt – dies sei hier vorausgeschickt – ein eigentümliches Bild: L, die literarisch interessiert ist, einen Deutsch-Leistungskurs besucht, federführend die Gründung der schulischen Theater-AG voranbrachte und des Weiteren erwägt, Germanistik zu studieren, entpuppt sich auch als extensive Trivialliteratur-Leserin und Trivialmedien-Rezipientin. L liest stets viele Bücher gleichzeitig, wobei immer auch der Fernseher läuft, der morgens als erste Handlung des Tages eingeschaltet wird und sich nachts erst per Timer automatisch ausschaltet, wenn L eingeschlafen ist. Dabei zeichnet sich u.a. ein inhaltlicher Schwerpunkt auf im weitesten Sinn esoterische Themen ab sowie entsprechende Formen der rituellen Rezeption/Handlung (die in psychotraumatologischer Hinsicht Operationen des magischen Denkens implizieren). Ls Medieninteraktion wird deshalb in den bisher formulierten, vorwiegend inhaltlich und quantitativ definierten Kategorien der Literarizität, der Medienkompetenz und des intellektuellen Rezeptionsniveaus kaum trefflich verortet werden können.39) Zudem zeichnet sich schon auf den ersten, pauschal erfassenden Blick ab: Auch hier ist die Handlungsregel Lust und Schutz des uneingegrenzten Erzählens gültig, denn die Grenzen nicht nur der Rezeptions- und (innerpsychischen) Erzählprozesse, sondern auch der einzelnen Medien untereinander sind diffus. Uneingegrenztheit der Interaktion liegt hier also hinsichtlich der Grenze zwischen den verschiedenen, parallel genutzten Medien sowie der Grenze zwischen Vordergrund- und Hintergrundnutzung von Medien vor. Zu klären bleibt der Zusammenhang zu den Aspekten von Vorsicht und Gefahr: Die lebensgeschichtliche Dimension dieses eigentümlichen Mediennutzungsprofils erschließt sich wiederum in Sequenzen der Interviews, die gar nicht in erster Linie mit Fragen nach Ls Medieninteraktion befasst sind und in denen sich die Funktion von Medien eher nebenher erschließt. Inwiefern diese Sequenzen nichtsdestotrotz zentrale Aspekte von Ls Mediengeschichte enthalten, soll im Folgenden mit Hilfe einiger exemplarischer Feinanalysen aufgewiesen werden. [57]

Die lebensgeschichtlich am weitesten zurückreichenden Aussagen Ls zu ihrer Mediennutzung erfolgen, als wir L danach fragen, wie sie die Abwesenheit ihres Vaters nach der Trennung der Eltern erlebt hat. (Die Trennung erfolgte in ihrem vierten Lebensjahr, also noch im Vorschulalter.)

"L: ja, das hat mich dann aber auch gar nich ehrlich gesagt gar nich weiter gestört /I1: hmh hmh/ also s hat mich alles alles was passiert is hab ich als selbverständlich von ihm hingenommen /I1: hmh/, also ich war irgendwie fünf als er endgültich ausgezogen is also vier fünf hat m ich überhaupt nich gestört ich hab s einfach // I1: ja: // L: wie gesacht ich hab eher so immer, also von Anfang an so in meiner eigenen Welt gelebt, es hat mich überhaupt nich gestört dass der auf einmal weg war es war mir so egal ((lacht)) also, Benja- Benjamin Blümchen Cassetten gehört oder schöne, in mei- in meiner Höhle gesessen mir irgendwelche Geschichten ausgedacht dass hat mich überhaupt nich /I2: hmh/, weiß nich, also, der war dann weg, ja schön ((lacht)) toll" (Herv. H.W.). [58]

Indem L uns in einem Gestus der akzentuierten Gleichgültigkeit versichert, die Trennung von ihrem Vater hätte sie "ehrlich gesagt gar nich weiter gestört", entspricht sie ihrem allgemeinen Präsentationsverhalten, das durchgängig von der Haltung des Das-macht-mir-nichts-aus gekennzeichnet ist (und auf eine Handlungsregel der dissoziativen Erlebensferne und der Uneingegrenztheit zurückgeführt wurde). Diese Haltung ist in Bezug auf die Gewalt- und Aggressionslatenz bzw. die (im Kontext von Alkoholismus und Ko-Abhängigkeit) eingeschränkte Aufmerksamkeit in ihrer familiären Situation ("Messer unter m Kissen") und auch in Bezug auf die gesundheitlichen Probleme rekonstruiert worden. Die Themen Gewalt und Aggression sind auch in obiger Äußerung Ls latent enthalten, wenn sie sagt: "also s hat mich alles alles was passiert is hab ich als selbverständlich von ihm hingenommen"; ist doch in diesem "alles" nicht nur der Weggang, sondern auch die Gewalterfahrung seitens des Vaters enthalten. Diese Thematik ist indirekt auch dort (ko-) präsent, wo L eine allgemeine (charakterologische) Aussage über sich macht: "wie gesacht ich hab eher so immer, also von Anfang an so in meiner eigenen Welt gelebt". Denn angesichts der hohen Gewaltlatenz, aber auch der relativen Einsamkeit in Ls früher Familiensituation ist davon auszugehen, dass dieses In-der-eigenen-Welt-Leben eine Funktion dessen ist, was in der psychotraumatologischen Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte als die durch Psycho- und Beziehungstraumata bedingten dissoziativen (Abwehr- und Verarbeitungs-) Mechanismen der Verleugnung und Derealisierung festgestellt worden ist.40) Dass L von Anfang an "in meiner Höhle" gesessen und sich vielfach in Imaginationen einer "eigenen" fantasmatischen Welt hinein begeben hat, wird vor dem Hintergrund der bisherigen Fallrekonstruktion als Folge der Bedrohlichkeit bzw. Unterversorgung in ihrer frühen sozialen Lebenssituation verständlich. [59]

Die lebensgeschichtlich bedingte Haltung des In-einer-Höhle-Lebens oder des In-der-eigenen-Welt-Lebens erweist hier auch ihre spezifische Wirkung auf die frühe Mediennutzung Ls – sowie auf die Ausbildung ihres ästhetischen Empfindens im Allgemeinen. Denn die "Höhle", in die sie sich angesichts der äußeren und/oder innerpsychischen Turbulenzen zurückzieht, ist gefüllt mit medialen Stoffen. Diese sind zunächst als "Benjamin Blümchen Kassetten" definitiv benannt (also als Kinder-Kassetten, in denen ein Elefant als Bruder- und Helferfigur auftritt und in schwierigen Situationen die allgemeine Ordnung und Harmonie wieder herstellt). Die Stoffe der "Höhle" sind aber gleichzeitig auch als eigene Produktion von imaginären "schönen" "Geschichten" benannt (deren Inhalte nicht mehr artikuliert werden können). Dabei enthält schon die spezifische Art und Weise, in der L dieses Geschichten-Ausdenken berichtet, formale Hinweise darauf, wie sehr sie unter dem Schatten der Bedrohung (und der Einsamkeit) stehen und der harmonisierenden Angstabwehr verpflichtet sind, denn L sagt: "oder schöne, in mei- in meiner Höhle gesessen mir irgendwelche Geschichten ausgedacht" (Herv. H. W.). L spricht also nicht in bündiger Form von den "schönen" "Geschichten", sondern bricht die Aussage nach dem Wort "schöne" ab und akzentuiert neuerlich die "Höhle", bevor sie zum Kern ihrer Aussage kommt. Diese unwillkürliche Akzentuierung des Schönen zeigt an: Auf der Ebene ihrer eigenen "Geschichten", also ihres eigenen medialen Sprachhandelns, schlagen sich die biografischen Erfahrungsfaktoren der Bedrohung und der Einsamkeit konkret darin nieder, dass die Geschichten Gefahr laufen, die "Schönheit" und Harmonie zu verlieren, die L ihnen in ihrer Höhle zu verleihen vermag. Ls Geschichten laufen ständig Gefahr, ihren positiven Affekt zu verlieren; pointiert könnte man sagen: sie laufen Gefahr unversehens von "schönen" Geschichten zu "irgendwelchen" Geschichten zu werden, wie sie sie im gleichen Atemzug auch nennt. Und insofern die Gleichgültigkeit dieses irgendwelchen bereits ihre Präsentation der familiären Konfliktgeschichten kennzeichnete, kann angenommen werden, dass diese Konfliktgeschichten es sind, die die schönen Geschichten bedrohen. Von der anderen Seite her gedacht: die schönen Geschichten bzw. die Schönheit der Geschichten stehen in der psychischen Funktion der Angstabwehr, die durch die familiären Konfliktgeschichten bedingt ist. Indem L die biografischen Erfahrungsfaktoren der Bedrohung und Einsamkeit per Gleichgültigkeit verleugnet, werden diese gewissermaßen negativ verinnerlicht – in psychotraumatologischer Terminologie: eingekapselt/eingefroren – und sind somit der narrativ-assoziativen Vernetzung entzogen. Dadurch sind diese Erfahrungsfaktoren zwar in ihrer Bedrohlichkeit erfolgreich abgewehrt – und zwar durch dissoziative Abspaltung. Sie können jedoch nicht bewusst rekapituliert und erzählt werden; und das heißt für L: sie konnten keinerlei Eingang in die "Höhle" ihrer "schönen" "Geschichten" finden (deren abwesende Ursache sie sind). Dies jedoch wäre die Voraussetzung für ein narratives Durcharbeiten der biografischen Konflikt- und Gewalterfahrung im psychotraumatologischen Verständnis. Der partielle Verlust der Schönheit und des positiven Affekts der "Geschichten", der hierzu eingegangen werden müsste, weil er die therapeutische Essenz des narrativen Durcharbeitens ist, wurde, so kann angenommen werden, von L als zu bedrohlich empfunden. Und die intensive Produktion von "Geschichten" in der "Höhle" diente in erster Linie der Vorbeugung gegen die bedrohlichen Aspekte und Affekte ihrer biografischen Lebenserfahrung, so dass die narrativen Möglichkeiten der psychischen Integration genommen sind. Ls Geschichten-Ausdenken der frühen Jahre ist also entschieden von dissoziativen Abwehrfunktionen in Anspruch genommen, und zwar zu Ungunsten der assoziativen Verarbeitungsfunktionen, die allem Sprachhandeln und insbesondere dem der akuten Erlebnissituation enthobenen, medialen Sprachhandeln prinzipiell innewohnen. [60]

In der Feinanalyse dieser Aussage Ls über ihre frühe Mediennutzung wird die (medien-) biografische Vorgeschichte dessen deutlich, was in der Fallrekonstruktion (mithin auf struktureller Ebene) bereits sichtbar wurde, als von Ls Orientierungsunsicherheit hinsichtlich der Setzung von eigenen narrativen Relevanzen die Rede war. Im Präsentationsverhalten Ls war eine allgemeine Unsicherheit dahingehend aufgefallen, welche Ereignisse/Geschichten sie als persönlich wünschenswert und angenehm oder als für ihre Darbietung wichtig erachten soll. Dies entspricht der sich hier latent enthaltenen Befürchtung, die "schönen" Geschichten könnten aufgrund der Spannungen außerhalb der "Höhle" zu "irgendwelchen" Geschichten werden, die L dann, wie sie dies vor uns tut, auch vor sich selbst mit einem "was gibt s noch" eher freudlos oder auch atemlos aneinander reiht und somit relevanz-nivelliert und dissoziativ verarbeitet. Mit der Vermeidung (oder Diffusion) der persönlichen Relevanz sind auch die traumatischen Erfahrungsaspekte vermieden (können deshalb aber auch nur schwer narrativ durchgearbeitet und in ihren Spätwirkungen gelindert werden). Hieran wird deutlich, inwieweit Ls frühe Mediennutzung in der Funktion der Verarbeitung der ungünstigen Bedingungen ihrer familiären Situation steht. Die frühen Medienhandlungen Ls, seien es die der Rezeption (Benjamin Blümchen) oder die der eigenen imaginären Produktion ("schöne" "Geschichten"), sind an die Funktion geknüpft, L vor der Erfahrung von äußerer Spannung/Aggression und Einsamkeit bzw. vor der Angst davor zu bewahren. Biografietheoretisch formuliert erfüllen diese Medienhandlungen eine biografische Reparaturfunktion. Die konkrete Konsequenz dieser Handlungsfunktion ist eine zweifache: Einerseits zeichnet sich schon an dieser frühen Stelle der Lebensgeschichte eine Produktivität/Kreativität ab, die sich in Ls späterem Leben in ihren vielfältigen medialen/kulturellen Interessen und Aktivitäten niederschlagen wird. Andererseits bedroht diese Schutz- und Reparaturfunktion das Medienhandeln selbst, wenn sie nämlich die Schönheit und den positiven Affekt der Geschichten bedroht und damit immer auch Ls grundsätzliche Fähigkeit, an ihrer eigenen Medienrezeption und -produktion Gefallen zu finden und aus ihr Freude zu schöpfen. [61]

Auch für die sich Lebensphase nach der Trennung vom Vater ist eine strukturanaloge familien- und lebensgeschichtliche Funktion der Mediennutzung festzustellen. Die Zeit nach der Trennung ist davon gekennzeichnet, dass die Mutter infolge ihrer damals aufgenommenen selbstständigen Berufstätigkeit auch abends häufig abwesend ist, und L, wenn die Großeltern nicht verfügbar sind, allein zu Hause bleibt. Auch hier erhalten Medien, vor allem Kassetten und Fernseher, eine wichtige Funktion. Die folgende diesbezügliche Äußerung Ls zeigt dies besonders in ihrer spezifischen narrativen Rahmung und soll deshalb in ganzer Länge zitiert werden:

"das war auch das war witzich, und einmal da weiß ich noch da is sie, sie is häufich abends weg gewesen von der Arbeit her, und das hat mich aber auch alles gar nich gestört also ich bin nie auf die Idee gekommen ich könnte jetzt hier HighLife machen und das Haus anzünden, hab ich überhaupt nich ( ) hab mich vor n Fernseher gesetzt oder gespielt oder Cassette gehört, und sie war halt dann weg das war halt dann einfach so dann kam sie irgendwann wieder das war ganz schön, und das war halt dann einfach so, das hat mich überhaupt nich gestört, und dann, irgendwann kam sie wieder, und dann hatte meine Opa mir n Kaufmannsladen gezimmert und ich war also ich war die, die kleine Puppe meines Opas der hat mich unwahrscheinlich geliebt der hat mir auch kleine Aquarelle gemalt und, er hat mir meinen Kaufmannsladen gebastelt da hab ich mich so drüber gefreut auch mit so kleinen Paketchen meine Mutter war begeistert und ich war begeistert und /I1: hmh/also s war s war ganz super, das war richtich schön (1) /I2: hmh/, und zu Weihnachten hab ich mal ne Barbie-Küche bekommen, das fand ich auch ganz super ((lacht)), das war ganz toll, einmal saß ich vor dem Fernseher und fühlte mich n bisschen alleine eigentlich ((räuspert sich)), und dann kroch ich so saß ich so vor m Fernseher so öh, kuck ich so und dann kam meine Mutter um die Ecke strahlend mit dem Kaufmannsladen das war, schon wirklich super" (Herv. H.W.). [62]

Auch das abendliche Alleinsein infolge der Abwesenheit der Mutter (offensichtlich wurde L schon im Alter von vier Jahren abends häufig allein gelassen) vermittelt L in einer Haltung des Das-hat-mir-gar-nichts-ausgemacht ("das hat mich aber auch alles gar nich gestört"). L scheint dieses Alleinsein in einer Weise bewältigt zu haben, die ihr schon aus der Zeit vor der Trennung vom Vater vertraut war, nämlich durch den dissoziativen Rückzug in die "Höhle", die mit imaginären und Medien-Erlebnissen angefüllt ist (Benjamin Blümchen): "hab mich vor n Fernseher gesetzt oder gespielt oder Cassette gehört". [63]

Im weiteren Verlauf des Medieninterviews erfahren wir, dass die Mutter dieses Arrangement – der Fernseher als Kindbetreuer – unterstützt und aktiv mit vorbereitet hatte, indem sie der Tochter vorab Kindersendungen auf Video aufzeichnete, die diese dann während ihrer Abwesenheit sehen konnte.

"ja meine Mutter hat gearbeitet und war, auch ganz viel weg so durch die Gegend gefahren und dann saß ich immer vorm Fernseher ((lacht)) Zeichentrickfilme gekuckt natürlich nur ausgewählte Sachen die ich dann auch kucken durfte meine Mutter hat immer Mickey Maus Filme aufgenommen, und die durft ich mir immer ankucken auf Video, das war auch ganz toll und, mocht ich alle, furchtbar gern, ja, muss ich mal überlegen". [64]

Für die Präsentationsebene ist bemerkenswert, dass hier neben dem allgemeinen Gestus des Das-hat-mir-gar-nichts-ausgemacht auch die explizite Äußerung eines Einsamkeitsgefühls zum Ausdruck kommt ("und fühlte mich n bisschen alleine eigentlich"), die in Ls Präsentation insgesamt vollkommen singulär bleibt. Sie ist hier nicht in erster Linie als Beleg für die tatsächliche subjektive Verbürgtheit von Ls Einsamkeitserleben beachtlich. Vielmehr eröffnet diese singuläre Äußerung weitere Einblicke in die Modalitäten von dissoziativ strukturierter Präsentation (und Wahrnehmung). Sie erfolgt hier nämlich nicht so sehr als persönlich-narrative Affektäußerung, sondern eher als Reflex der Tatsache, dass es in diesem Moment um die Erzählung einer Episode geht, in der das abendliche Alleinsein Ls eine eklatante Auflösung erfährt ("Kaufmannsladen"/Opa). Eine Episode der freudigen Auflösung ist jedoch ohne die Voraussetzung einer vorher bestehenden Einsamkeit narrativ unstimmig. Es scheint also in der Darbietung dieser Erinnerung nicht so sehr die persönlich-biografische und emotionale Relevanz von Einsamkeit und deren Auflösung wirksam zu sein (sonst hätte diese sich schon an vielfacher Stelle im Interview ausdrücken müssen), sondern eher der Zwang zur schematischen und logischen Stringenz der Episode selbst. Betrachtet man die spezifische Rahmung und Erzählstruktur, in der L die Schilderung dieser Mediennutzungsszene vollzieht, wird jedoch auch die innere thematische Entwicklungstendenz der Präsentation deutlich, die – trotz und entgegen der dissoziativen Verdeckung – auf eine Artikulation der Erfahrungen von Einsamkeit zustrebt. Denn L setzt den affektiven Rahmen – in entschieden kontra-depressiver Weise – durch Gefühle von Freude und Witz ("das war witzich"), ähnlich wie sie oben die Schönheit der Geschichten akzentuierte; und sie nimmt dreimal Anlauf (und überblendet dabei die Szene des Kaufmannsladens mit einer anderen – der der Barbiküche), um letztendlich in wenngleich lediglich anflugshafter Weise ein Gefühl der Einsamkeit zum Ausdruck bringen zu können. Denn erst zuletzt erwähnt sie, dass sie, "n bisschen alleine eigentlich", vor den Fernseher "gekrochen" war – und dann plötzlich die Mutter mit dem Kaufmannsladen "um die Ecke" kam. Ls Mediennutzung während des abendlichen Alleinseins (und das Erzählen darüber) ist also in affektiver und funktionaler Hinsicht dadurch bestimmt, dass sie die Einsamkeit und das Warten auf die Rückkehr der Mutter verdeckt (evtl. auch den Wunsch nach einem Geschichten-Ausdenken und Spielen, das die Möglichkeiten von Hör- und Video-Kassetten übersteigt, indem es sich in der Kulisse eines gebastelten Kaufmannsladens ereignet und zumindest prinzipiell auch andere Mitspieler direkt mit einbeziehen kann). Dabei ist der Erzählprozess, der eine leise Tendenz zur Erschließung und Artikulation von Affekten der Einsamkeit verrät, durch vielfältige dissoziative Abwehrmechanismen beeinträchtigt. [65]

Dass Ls frühe Mediennutzung wesentlich in der Funktion steht, Einsamkeit und Angst zu bewältigen, schlägt sich am Anfang des Medieninterviews auch in der Weise nieder, in der sie auf eine Kinderfilmserie zu sprechen kommt, die ihr Albträume verursacht hat. Davon berichtet L im Anschluss an die Auskunft, dass ihr die Mutter ihre Lieblingskinderfilme auf Video aufgenommen hat; in diesem Zusammenhang kommt sie übergangslos auf die Albtraum-Filme zu sprechen.

"Zeichentrickfilme hab ich immer gekuckt, von Mickey Maus, und Emily Erdbeer, Emily Erdbeer war der Hit ohhh, die mag ich heut auch noch das ist süß so n Erdbeermänchen mit so nem großen Hut und ner Erdbeere drauf so n Zeichentrickfilm das is, nich zu schlagen das is absolut ( ) ja Emily Erdbeer was mocht ich noch ja Alice im Wunderland, mhm, da hat sie so rote Haare das mocht ich auch ganz gern /I1: hmh/, ja das sind so Sachen die mag man ja heute auch noch ne /I2: ((lacht))/ mag ich ganz gern und ein ja Gott und ein Kinderfilm das war ganz krass da kriegte ich voll die Albträume von das war so n Mehrteiler ( ) hat ich immer total Angst total die Albträume gekriecht davon /I1: hmh/ blödes, Dingens ((lachte)) und Peter Lustich haben wir immer gekuckt" (Herv. H.W.). [66]

Hinsichtlich der Präsentation ist hierbei bemerkenswert, wie unvermittelt Leila von der Nennung der für sie amüsanten Sendungen Emily Erdbeer und Alice im Wunderland auf jenen Angst auslösenden "Mehrteiler" zu sprechen kommt, dessen Titel und Inhalt sie nicht bezeichnet, bevor sie dann umstandslos mit Peter Lustig wieder eine amüsante Sendung anführt. Der unvermittelte Übergang ("mag ich ganz gern und ein ja Gott und ein Kinderfilm das war ganz krass") hinterlässt den Eindruck, als stünde in ihrer Wahrnehmung das Erleben der Angst machenden Filme zu dem der amüsanten Filme nicht in einem so vollkommen diametralen und "krassen" Widerspruch, wie man dies zunächst annehmen würde. Dieses – in Ls Präsentationsverhalten rekurrente – Phänomen des schnellen und kaum vermittelten Übergangs zwischen gegenteilig empfundenen und gewerteten Erlebnissen entspricht einer dissoziativen Verarbeitungsstruktur. Dies korrespondiert mit der in der Rekonstruktion allgemein festgestellten Orientierungsunsicherheit, die in persönlichen Wertungsfragen erkennbar wird, z.B. dahingehend was sie als angenehm/wünschenswert bzw. unangenehm wahrnimmt und was ihr in ihrer Schilderung als persönlich relevant erscheint. Ohne das Phänomen des dissoziativen Affektwechsels hier im Detail weiter verfolgen zu können41), ist für die obige Sequenz davon auszugehen, dass L jenen Angst machenden "Mehrteiler" offensichtlich nicht nur einmal sah und dass sie also das Sehen der Sendung nach den ersten Albträumen keineswegs unmittelbar einstellte, sondern sich ein bestimmter Rezeptionsmodus ausbildete.42) Dabei hat es sich vermutlich um eine andere (dissoziative) Facette der medialen Angstverarbeitung gehandelt, die nicht wie die übrigen genannten Sendungen mittels Amüsement bzw. mittels Verdeckung, sondern – gewissermaßen in Identifikation mit dem Aggressor – mittels Angst erregender Stimuli operiert.43) Wahrscheinlich gehen in diese Form der medialen Angstverarbeitung auch diejenigen biografischen Angstpotenziale mit ein (und sind also ko-präsent), die noch von den familiären Spannungssituationen bzw. den Einsamkeitssituationen her bestehen (d.h. in abgespaltener Form wirksam sind); sie waren in Ls Erzählung lediglich latent enthalten (und fanden in Modi der Verleugnung und Derealisierung ihren indirekten Ausdruck). Erst die Nennung einer Sendung, die ihr Albträume verursacht hat, erlaubt es ihr, die affektive Thematik der intensiven Angst überhaupt – und wie flüchtig auch immer – anzusprechen; wie es ihr die Rezeption der Sendung im damaligen Erleben erlaubte, einen Teil der abgespaltenen Angst – in dissoziativen Anflügen – in ihrer bewussten Wahrnehmung aufscheinen zu lassen (wobei freilich die originalen Auslöserszenen der Angst weiterhin abgespalten bleiben). Aufgrund der dissoziativen Erlebens- und Erzählstruktur vermag L also nur zu einer kurzen, flüchtigen Nennung und zu keinerlei narrativer Vertiefung der persönlich-biografischen Angstthematiken zu gelangen. [67]

8. Leilas Medieninteraktion zum Zeitpunkt des Interviews

Vor dem Hintergrund dieser exemplarischen Feinanalysen wird die biografische Vorgeschichte der gegenwärtigen Mediennutzung, besonders, aber nicht nur der TV-Nutzung, deutlicher. Die medienbiografischen Wirkungen der seit frühen Zeiten bestehenden Funktion der Reparatur und Verarbeitung von familiär bedingten Angsterfahrungen zeichnen sich ab. Bemerkenswerterweise erfahren wir über die gegenwärtige TV-Nutzung im lebensgeschichtlichen Interview sehr wenig. Dieses Wenige ist im konsequent narrativen Interviewverfahren jedoch stets szenisch kontextualisiert und deshalb für die persönliche Handlungssteuerung besonders aussagekräftig. Ein erster Hinweis ergibt sich im Kontext der Erzählung über einen Streit mit dem Stiefvater, der die Angewohnheit hat, Ls Schulsachen zu verstecken, wenn sie sie nachmittags sofort nach der Ankunft zu Hause im Wohnzimmer fallen lässt, um sich zur Entspannung vor den Fernseher zu setzen:

"also dann so gedankenlos ich schmeiß das dahin und, geh nach hinten und kuck fern und hä wä wä und bin so fertich will n bisschen ( ) einfach, anstatt mir das zu sagen nimmt er den [die Schulsachen, H.W.] ( ) und versteckt ihn dann irgendwo". [68]

In zwei anderen Sequenzen ähnlichen Inhalts heißt es:

"er [der Stiefvater, H.W.] wusste nich wie er sich verhalten sollte am Anfang, und hat dann so versucht mir den Vater zu ersetzen den ich aber gar nich vermisst hab den ich gar nich gebraucht hab, und is dann so ja mit so kleinen (1) wie er dachte so Erziehungsmaßnahmen so, jetzt mach den Fernseh aus oder wenn ich irgendwas gesacht hatte so n bisschen frech war oder, jetzt hast du zwei Wochen Fernseh-Verbot [...]

ich mein ich lass mir auch nich von irgendwem wildfremden den ich auf der Strasse treffe nun sagen du, du darfst jetzt nich fernsehen wenn du das und das nicht machst oder irgendwie, jetzt als Beispiel, und ähm, ich weiß nich da fand ich, das fand ich nich schön und das, dann hab ich mich von ihm distanziert (1) relativ früh" (Herv. H.W.). [69]

Es wird hier deutlich, dass L mitunter einer eher wahllosen TV-Nutzung zu kompensativen Entspannungs- und Stimulanzzwecken folgt. [70]

Die sachlichen Details und die szenische Dynamik von Ls Fernsehnutzung werden in ihrem ganzen Umfang erst im Medieninterview deutlich. Dort erfahren wir – wenngleich ebenfalls erst auf Nachfrage (hinsichtlich einer flüchtigen Bemerkung, dass "nebenbei immer der Fernseher läuft"), wie L ihren normalen Tagesablauf unter der Perspektive der Fernsehnutzung beschreibt:

"Also ich wach auf und der [Fernseher, H.W.] wird eingeschaltet, nein so is das natürlich nich, ja ja so ungefähr / I1: also am morgen, ja / L: ja das hab ich von meiner Mutter, also meine Mutter hat wenn sie früh ausgestanden ist und der Mann musste relativ früh aufstehen und meine Mutter konnte noch im Bett bleiben, aber weil sie nicht schlafen konnte, zu müde war zum lesen und dann hat sie, da konnte oder wollte sie nich mehr schlafen, den Fernseher laufen, da hab ich mich dann dazu gesetzt und hab mein Frühstück mitgenommen und mich zu ihr gesetzt, also das is die Schuld meiner Mutter, daher hab ich das, das so früh am Tag der Fernseher eingestellt wird / I1: Wie sieht denn das so aus? / L: Also ganz normaler Tag sieht bei mir so aus, morgen steh ich auf und stell ich den Fernseher an geh dann ins Bad räum auf oder so also der Fernseher läuft immer, setz ich mich hin zap durch, stimmt das is ja wie früher, ich setz mich hin zap durch wenn mir langweilig ist, da lese ich ein bisschen dabei krieg ich aber gar nichts mit, hör nicht zu, oder bürste das Meerschweinchen, ich geh mit dem Hund raus der Fernseher bleibt laufen, da lebe ich so vor mich hin, geht in die Küche koch ein bisschen der Fernseher bleibt laufen, und abends wenn ich ins Bett geh dann stell ich den Timer an und dann geht der irgendwann von alleine aus wenn ich schlafe ja, Tschuldigung ((lacht)) / I1/I2 ((lachen)) / L: das is mir so peinlich, wenn ich das so erzähl also wenn ich mit Freuden weggeh, dann dann mach ich den Fernseher auch aus, also der is nicht immer an" (Herv. H.W.). [71]

Es ist der Deutsch- und Geschichte-Leistungskurs-Teilnehmerin L peinlich (uns gegenüber, die sie als Mitarbeiter des Faches Deutsch der Universität kennenlernte), ihre tägliche Fernsehroutine zu schildern. Dabei geht aus ihrer Schilderung hervor, wie sehr L das Fernsehen als permanent verfügbare Hintergrundpräsenz in den Funktionen von Einsamkeitsprofilaxe, Angstabwehr, Schutz vor depressiver Unterstimulanz nutzt (L ist, wie gesagt, wegen phasenweiser Depression in Behandlung), wobei kaum abzusehen ist, inwiefern L die gesendeten Inhalte überhaupt nicht, sporadisch oder mitunter auch voll wahrnimmt. (An anderer Stelle, als L die Titel einiger der von ihr und ihrer Freundin Anne rezipierten Sendungen nennt, fallen die Stichworte: Bill Cosby, Rosanne, Vorabendserien auf Pro7, Talk Shows.) Das Fernsehen steht also für L noch immer in der – für die gesamte tägliche Wachzeit genutzten – Funktion der biografischen Reparatur von Angst und psychosozialer Unterversorgung die es bereits früh in der Vorschulzeit hatte, als sie allein zuhause in ihrer "Höhle" saß und die Kindervideos ansah. Noch heute ist der Fernseher der Kindbetreuer und Babysitter, der sich erst mittels Timer selbsttätig ausschaltet, wenn L schon schläft. Die einzige Situation, für die L definitiv feststellt, dass sie den Fernseher ausschaltet (der ja auch läuft, wenn L "mit dem Hund rausgeht"), ist die, wenn sie "mit Freunden weggeht": "dann mach ich den Fernseher auch aus, also der is nicht immer an". Es ist also einzig die direkte außerhäusige Interaktion mit anderen Menschen, die die Hintergrundpräsenz des Fernsehers zuhause hinfällig macht. In diesem Detail spiegelt sich noch der Mangel an persönlicher Interaktion, der in den frühen Jahren bestand und durch den Fernseher kompensiert wurde. [72]

Die funktionale psychosoziale Gebundenheit ihrer Fernsehnutzung führt für L dazu, dass wesentliche andere Funktionen dieses Mediums blockiert sind. Denn, so heißt es, "dabei krieg ich aber gar nichts mit", was sich u.U. nicht nur auf den Fernseher, sondern eventuell auch auf das fernsehbegleitete Lesen bezieht. Diese Blockierung wesentlicher kognitiver und Wahrnehmungsfunktionen wird noch konkreter benannt:

"Nachrichten kuck ich prinzipiell nicht überall dieselbe Panikmache, Tagesschau ist einigermaßen objektiv, aber ich weis nich wann hab ich das letzte Mal richtich Nachrichten gekuckt, so richtig bewusst also so richtich bewusst also weis ich nich also das is schon so lange her, weiß ich nich (...) neulich bin ich eingeschlafen und da lief RTL-Nachrichten als ich wieder aufwachte, Klatschgeschichten, Lady Di undsoweiter aber sonst so bewusst überhaupt nich". [73]

An anderer Stelle:

"Nachrichten so kuck ich eigentlich nich /I1: hmh/ also wenn grad nichts anderes kommt kuck ich Tagesschau /I1: hmh/ aber, nee eigentlich so überhaupt nich, also so Nachrichtenmagazine, Spiegel TV mal wenn was Interessantes da is oder /I1: hmh/, sonst überhaupt nich (1) alles rauf und runter aber nicht Nachrichten irgendwie, is eh schon alles traurich da muss mans nicht auch noch, ne, so" (Herv. H.W.). [74]

Wie sehr der Widerstand gegenüber allen lebenswirklich-komplexen Medieninhalten nicht so sehr kognitiv, als vielmehr affektiv bedingt ist, darauf machen die Anmerkungen über die "Panikmache" aufmerksam ("eh schon alles traurich"). Eine dissoziativ organisierte Medieninteraktion, die wesentlich in Funktionen der Angstabwehr steht, wird potenziell Angst machende Thematiken immer abzuwehren versuchen – ganz unabhängig vom jeweiligen Grad der kognitiven Intelligenzen und der allgemeinen Medienkompetenzen der Person. [75]

Es soll hier nur kurz angedeutet werden, dass diese biografische Funktion in ihrer Auswirkung keineswegs auf das Medium des Fernsehens beschränkt ist. Hinsichtlich ihrer Buch-Lektüre sagt L:

"meistens lese ich beim Fernsehen, kommt drauf an welches Buch es ist, dann mach ich schon aus, also nich bei Rosamunde Pilcher oder Ephraim Kishon aber wenn ich mich auf die Sätze konzentrieren muss und wie Heine Deutschland ein Wintermärchen wenn ich mich konzentrieren muss dann mach ich den Fernseher aus, also dann mach ich den Ton aus damit das Bild noch da ist ((lacht)), ach was haltet ihr denn davon sagt doch mal ganz ehrlich um Gottes willen ich bin total fernsehgeschädigt." [76]

Auf die Frage, welche Bücher die "Vielleserin" L liest und welche sie neben dem Fernseher auch mehrmals liest, sagt sie:

"diese ewich platten Erna Bombeck Bücher, Erna Bombeck und Evelin Sanders, weil es so heiter is da muss man nich nachdenken, das unterhält einen also da muss man nicht reindenken das unterhält einen also ich weiß nicht, also die veräppelt so die Hausfrauentätigkeiten." [77]

Die dissoziative Organisation von Ls Medieninteraktion ist also medienübergreifend wirksam und betrifft auch das Lesen. [78]

Nicht nur ist L die funktionale Gebundenheit ihrer Mediennutzung (auf die Funktion der Linderung von latenter Angst und Einsamkeit) selbst peinlich. Das Bewusstsein dieser Gebundenheit ist auch ein gutes Stück weit abgespalten. L schildert dies alles nur auf Nachfrage und nicht schon im frei gestalteten Hauptteil ihrer Erzählung. Und offensichtlich projiziert sie die Formen der eigenen Rezeptionsblockierung in aggressiver Weise nach außen: Denn an früherer Stelle des Interviews artikuliert L in Bezug auf eine ihr bekannte Clique von Jugendlichen, die sie abfällig "den Mob" nennt, die Versatzstücke einer allgemeinen Medien- und Gesellschaftskritik: "das is so die typische, will sagen Fernsehgeneration also ((lacht)) ja düdüdü hmh, die sind so, richtich willenlos, die sind so abgestumpft, die nehmen schon gar nich mehr auf was die da kucken oder was die da lesen". Wie sehr diese Beschreibung einer passiven und kritiklosen Konsumhaltung auch auf einen wesentlichen Teil ihrer eigenen Mediennutzung zutrifft, artikuliert L an dieser Stelle nicht; und man kann davon ausgehen, dass ihr dies in diesem (dissoziativen) Moment nicht voll bewusst ist. Vielmehr werden diese Vorwürfe kurze Zeit später auf die Medien selbst umorientiert: "aber ich finde das is überhaupt kein Reiz mehr da, das is einfach, es kommt nichts Neues weil man kennt schon alles man is total übersätticht wir sind ne total übersättichte Gesellschaft, wir sind ne totale Freizeitgesellschaft, so richtich anspruchs-, anspruchslos". Die utopische Konsequenz, die L aus dem an dieser Stelle aktivierten Sentiment gegen die Jugendclique ("der Mob") und die Medien zieht, verweist direkt auf die frühe lebensgeschichtliche Funktion zurück, die das Fernsehen für sie als Mittel der Abwehr von Angst ("Panikmache") bzw. Einsamkeit hatte: "Immer schön zurückgezogen in irgendeinem Dörfchen leben nichts von der Außenwelt mitkriegen das find ich viel besser /I1: hmh/, ne (1) ja ja, das verdirbt uns alle (1) ja ja ((lacht))". In der Vorstellung über ein Utopia des "Dörfchens" findet sich die "Höhle" von Ls Medienkindheit wieder. Damals wie heute ist die Schutz- und Stimulanzfunktion dieser Zurückgezogenheit eine verbindliche Handlungsregel ihrer Lebenssteuerung. [79]

9. Esoterik und Nordisches als spezielle Genres

Das im Grunde utopistische Vorstellungselement des "Dörfchens" stellt einen Hinweis auf Ls Interesse an esoterischen Stoffen dar. Es soll hier noch eigens angesprochen werden, weil es als spezielles Genre innerhalb der trivialen Stoffe in seiner – auch geschlechtsspezifischen – Bedeutung für L herausragt und weil esoterische Wahrnehmungs- und Denkstrukturen den genannten Bedürfnissen der Angstabwehr und kompensativen Selbst-Stimulanzfunktion in besonderem Maße entsprechen. Dieses Interesse führte bei L zur auch schulischen Beschäftigung nicht nur mit jüdischer, sondern insbesondere mit keltischer Kultur und Religion – weil das "so ne frauenfreundliche Religion is". Dabei erzählt L zunächst von einem unmittelbaren, nicht-medialen Erlebnis, das sie während eines von einer Gruppe von Frauen ausgerichteten keltischen Weihe-Rituals an einem alten Hünengrab im Wald hatte.

"/I1: hmh/ also da sind ja die Frauen das Zentrale, und das find ich richtich gut also die einzige Religion die dann mal so n bisschen, auch sehr naturbezogen, und ja ähm ich muss irgendwie mal Nase putzen /I1: hmh/ ((putzt sich die Nase)) und das fasziniert mich sehr ich war auch gestern, mit n paar, ähm, also mit ner Bekannten von mir die is, eigentlich Heilpraktikerin und, hat sich jetzt zur Priesterin ausbilden lassen die is jetzt Hohe Priesterin /I1: hmh/, ham wir gestern ähm, also gestern an der Sommersonnenwende ham die ja dann einen, ähm keltisches Einweihung- Ein-, also ein keltisches Weiheritual vollzogen so /I1: hmh/ also, ganz viele Frauen waren da und, jetzt also geweiht worden sozusagen so, ja, der großen Göttin geweiht worden sozusagen /I1: hmh/, und das war so ne ganz, tolle Erfahrung, also mitten im Wald und, so viel Frauen auf einmal und, ähm, das war so das war ganz faszinierend also wir waren an nem, an ner Kraftquelle, an nem Kraftort, altes Hünengrab war das, und es war also es war wirklich ich hatte zwei Freundinnen mit /((lachend)): die/ fanden das wahrscheinlich nich so, hm, doch die eine schon aber, is ja auch egal ((lacht)), und es war also total faszinierend also s war richtig dieses also dieses Zugehörichkeitsgefühl und auch diese Kraft die man spürt an solchen Orten also /I1: hmh/, das war also, das hat mich also sehr beeindruckt ich bin auch ganz stolz dass ich sowas mitmachen durfte, fand ich super". [80]

Insofern sich hier das unmittelbare gruppendynamische Zugehörigkeitsgefühl mit Vorstellungen und Empfindungen von geheimnisvollen Kräften mischt, ist den Funktionen der Angstabwehr und kompensativen Selbst-Stimulanz/Harmonisierung in zweifacher Weise Rechnung getragen. Dabei scheinen die Stichworte "frauenfreundlich", "naturbezogen", die "Bekannte/Heilpraktikerin" bei L auch eine unmittelbare körper-gestische Reaktion auszulösen, die die affektive Valenz dieses Erlebnisses – in physisch-präsymbolischer, nicht aber in narrativer Weise – unterstreicht ("und ja ähm ich muss irgendwie mal Nase putzen"). Erst später sollte klar werden, dass diese Heilpraktikerin im Zusammenhang von Ls phasenweiser Depression auch als Psychotherapeutin fungiert. [81]

Auf weitere Nachfrage erzählt L:

"wir hatten erst gestern, weiß nich kennt ihr euch damit aus ungefähr so n bisschen so, Esoterik so kann man s vielleicht nennen? ((lacht))

I2: also ganze einfach als das Seelische

L: ja, von ner Freundin, die hat mir auch schon mal, öfter erzählt also ich selbst, kenn s so nich also war nich dabei also aber, hm ja es is aber ähm bestimmt von, oh je was kann man da als Beispiel nehmen von, Marion Zimmer Bradley, die Nebel von Avalon, / I1: ja / L: das ist doch bestimmt bekannt /I1: hmh/, sowas ist das eigentlich, also worauf ich was halt dann heißt n paar Worte aber /I1: hmh/, ich hatte, die Bekannte mal gefracht, die Heilpraktikerin, die wohnt in B-Dorf, Simone Meyer, ob wir nich mal so n Ritual machen können, also äh n richtiges Ritual zu den n- n- Jahres- ähm, kreisfesten ( ) es gibt ja diese keltischen Jahreskreisfeste /I1: hmh/ acht Stück, und Sommersonnenwende ich hab an ( ) zu Hause gesessen und nichts gemacht ( ) nacht nichts gemacht und da wollt ich einfach an der Sommersonnenwende ma irgendwie, ma so n Ritual machen irgendwie so Feuer, das wir das mal begehen, und ähm das hatte sie, dann irgendwie, hatte sie wohl keine Zeit das richtich vorzubereiten, letzte Woche war ich nochmal bei ihr und hab sie drauf angesprochen, und dann hat sie das, irgendwie in die Wege geleitet hat n paar, Frauen angerufen, also nur n weibliches Fest also s waren nur Frauen da, und hat das dann ähm alles organisiert, ähm dann sind wir alle so hingefahren gestern, um fünf Uhr also mitteleuropäischer Zeit war, auf der ganzen Welt so ein so=ne so=ne Friedensmeditation also äh, Frieden für Mutter Erde sozusagen ((lacht)), weiß nich ich kann damit auch nich so viel anfangen aber, dadurch dass s so ne große Gruppe war, und dass es so viele Frauen ( ) zur Meditation, hatten sich also man man spürte das Kraftfeld sozusagen dass sich da aufbaute, dann sind wir hinterher, äh in die Nähe von (B-Dorf) gefahren in Wald, und ham uns also dieses Hünengrab diesen, halt diesen Kraftort aufgesucht den drei Buchen, und also, ham da n Kreis gebildet um diese Buchen rum, so n Kreis gezogen mit so=nem so=nem Stoffband oder was war das nochmal so n Stoffdingens, ham uns außerhalb dieses Kreises gestellt und dann hat sie uns, sozusagen auch nach diesen Nebel von Avalon Prinzip also da da is der Ursprung das hat ja wirklich n Ursprung is ja nich nur erfunden ((lacht)) ähm, hat uns dann gereinigt mit Salbei und, irgendso nem andern Kraut ich weiß es nich also mit Rauch, und hat uns dann ähm, also das klingt alles so esoterisch wenn man das so Außenstehenden erklärt im Namen der großen Göttin, ähm, ((lacht))

I2: #((lacht))#

L: in die Schwesternschaft aufgenommen, und dann standen wir in diesem Kreis, und es war wirklich es war so faszinierend ähm als dass es, ähm s war richtich man man spürte die Kraft an dem Ort also man hat richtich nich so dass man sonst so umgefallen is aber man hat so n Kribbeln gespürt so untereinander und auch wenn man sich angefasst hat und, man hat gefühlt das is n Kraftort, das auf jeden Fall /I1: hmh/ und s war eine so schöne Erfahrung s war also die Gemeinschaft der Frauen wir haben, gesungen n bisschen, dann sind wir rumgetölt /((lachend)): ( ) das find ich sehr, weiß nich)), naja, aber s war s hat sich, so ne Gemeinschaft aufgebaut und es war also, schön, es war also wundervoll dann sind wir, hinterher noch auf n Rastplatz gegangen, ham n Lagerfeuer gemacht und gegessen, und ja dann war s auch schon vorbei aber diese Einweihungszeremonie, das hatte so viel, das is ja nun so ne weibliche mh Zeremonie und, ähm, dadurch ähm dass dass wir nur Frauen waren und so viele auch und dass es ähm, an Mittsommer passiert is das is richtich also das hat schon Eindruck hinterlassen also ich bin richtich stolz drauf dass ich, ähm gesegnte bin sozusagen im Namen der Natur, und dass ich das mal erleben durfte" (Herv. H.W.). [82]

Besonders bemerkenswert an dieser Schilderung ist einmal die mediale Vermitteltheit dieses Erlebnisses durch Marion Zimmer Bradleys esoterisch-mystischen Bestseller Die Nebel von Avalon; ferner der geschlechtsspezifische Aspekt der weiblichen Weihe. Beide Aspekte sind schon dadurch miteinander verquickt, dass es die Heilpraktikerin war, die L zum Lesen dieses Romans angeregt hat. Also auch für Ls Mediennutzung im Bereich des esoterischen Genres zeichnet sich die für ihre gesamte Medieninteraktion festgestellte Funktion der Angstabwehr und kompensativen Selbst-Stimulanz/-Harmonisierung ab. [83]

10. Nordische Wurzeln: Zur Destruktivität von transgenerational-medialen Spaltungsübertragungen

Dass L für dieses Erlebnis einer weiblichen Weihehandlung nicht nur aufgrund der konflikthaften Erfahrungen mit ihrem Vater, sondern auch aufgrund einer matrilinearen Dynamik in ihrer Familie empfänglich ist, die bis auf ihre Großmutter zurückführt, wird in einer Sequenz deutlich, die ebenfalls mit nordischer Mythologie zu tun hat. L war lange ein enthusiastischer Fan der Folkmusik-Gruppe Die Kelly-Family, die in den Neunzigerjahren als vielköpfige Familie durchs Land zog, irische und keltische Folkmusik spielte und gerade bei Teenagern einen großen Erfolg erzielte. Auf die Frage, wie L zum Kelly-Fan wurde, erzählt sie Folgendes:

"Ich hab die als ich klein war immer schon mit meinen Großeltern noch im Fernseh gesehen, da waren sie auch noch relativ unbekannt /I1: hmh/, und dann waren die beim Großen Preis und in der aktuellen Schaubude (1) und Musikladen, und da hab ich die aber noch nich ganz wahrgenommen, ich weiß aber noch ganz ich weiß aber noch wie heute, da hab ich gespielt, irgendwie auf m Boden, und dann kamen im Fernsehen die Kellys und, dann hat meine Oma gesacht, zu mir hej schau mal hier kommt die Kelly Family das is was ganz besonderes das das das weiß ich noch irgendwie /I1: hmh/, und das hab ich wohl mit so rüber genommen, so als Brücke sozusagen / I1: ((lacht)) / L: bis ich dann in der, in der Bravo, hm ((lacht)) in der siebten Klasse in der Bravo, so ne Autogramm Karte von den Kellys fand, /I1: hmh/ und dann fand ich die ganz super, hab dann, ja ne CD gekauft von denen und ja von den ganz tollen, und so das is dann ausgeartet, aber holla die Waldfee ((lacht)), ja also ne Freundin also wie gesacht wenn ich wenn mich irgendwas begeistere dann is kein halten mehr" (Herv. H.W.). [84]

Die großfamilienhafte, durch Musik verbundene Kelly-Family, die gerade in ihren Anfängen vielfach an nordische und keltische Stoffe anschloss und diese durch ihre blondhaarige rurale Erscheinung auch unmittelbar szenisch und physiognomisch zum Ausdruck brachte, stellt ein zweifaches – familiales und religiös/kultisches – Angebot der Angstabwehr und kompensativen Stimulanz/Harmonisierung dar. Hinsichtlich von Ls Dreigenerationen-Familiendynamik ist bemerkenswert, wie dieser mediale Stoff in matrilinearer Dimension an L vermittelt wurde, denn es war die Großmutter, durch die L auf die Kellys gestoßen wurde (während die zweite, mediale Vermittlungslinie Freundin/Bravo sekundär ist). Schon auf den ebenfalls nordisch-keltisch konnotierten Roman von Zimmer Bradley ist L über einen familiär-matrilinearen Vermittlungsweg aufmerksam geworden, denn er wurde von der Heilpraktikerin empfohlen, die zudem eine enge Freundin der Mutter ist. Dabei hatte dieser Roman für L auch die konkrete psychosoziale Funktion der Anbahnung einer quasi-religiösen Weihe- und Initiationshandlung, die in einem rein weiblichen und nordisch-keltisch konnotierten Handlungsfeld beschritten wurde. [85]

Die Großmutter war jedoch für L nicht nur als inhaltliches Relais der Vermittlung von Medienstoffen wichtig. Eine solche "rein inhaltliche", sozusagen wertfreie und emotionslose Vermittlung dürfte innerhalb von psychosozialen Interaktionsprozessen als grundsätzlich undenkbar gelten, weil zusammen mit den Inhalten/Stoffen immer auch die (familien-) biografisch bedingten Affekte und Assoziationen der beteiligten Personen (im Sinn der transgenerationalen Übertragung) weiter gegeben werden.44) Und in dieser Hinsicht scheint die Großmutter nicht nur einen wirkungsstarken, sondern auch einen konflikthaften familiendynamischen Einflussfaktor für L (und die Familie als ganze) dargestellt zu haben. Ls Erzählung enthält zahlreiche Indizien, die in Richtung einer großen Konflikthaftigkeit der Position der Großmutter weisen. Z.B. scheint die Großmutter in den ehelichen Spannungen zwischen den Eltern Ls eine eher polarisierend-eskalative als ausgleichend-vermittelnde Rolle gespielt zu haben. Eines der darauf hinweisenden Indizien soll hier mittels psychotraumatologischer Begriffe ausführlich diskutiert werden (bevor später dessen [medien-] biografische Relevanz für L erörtert wird): L erzählt, dass der Vater in einem seiner gewaltsamen Übergriffe, bei dem er "die Mutter gewürgt" habe, ausrief: "ich hätt dich schon längst umgebracht wenn deine deine, deine Mutter [also die Großmutter, H.W.] nich so nett wäre". (Die Auswertung geht davon aus, dass dieser Satz tatsächlich in dieser oder einer ähnlichen Weise geäußert wurde.) Wie auch immer die Hergänge im Einzelnen gewesen sein mögen: diese eigentümliche Äußerung eines Ehemanns über seine Schwiegermutter und seine Frau macht die Annahme eines familiendynamischen Kontexts wahrscheinlich, in dem die Großmutter, psychoanalytisch gesprochen, im Sinne einer Spaltungsübertragung agiert.45) Denn offensichtlich scheint ein – wie auch immer genau beschaffenes, aber jedenfalls aggressionsbehaftetes – familiendynamisches Bündnis von Ehemann und Schwiegermutter gegen die Frau/Tochter bestanden zu haben. Schon die bloße Tatsache, dass in der größten affektiven Hitze des gewaltsamen Übergriffes eine solchermaßen kontrastive, gegenidealisierende Berufung auf die Großmutter erfolgt, macht nach kleingruppen- und familiendynamischen Maßgaben die Annahme in hohem Maße wahrscheinlich, dass von der Großmutter (transgenerationale) dissoziierte Aggressionsübertragungen ausgingen und dass diese eine projektiv-identifizierende Spaltungsdynamik in ihrer (disponierten) sozialen Umgebung speisten (bzw. dass diese Umgebung in einer Weise gruppendynamisch strukturiert war, dass solche Übertragungen aufgenommen und ausagiert wurden). [86]

Diese analytische Annahme beruht auf der psychodynamischen Voraussetzung, dass die Großmutter (bzw. das System der Großeltern) psychotraumatologisch bedingte Aggressionsaffekte, die sie selbst nicht wahrnahm/ertrug, nach außen, in die nächste Generation der Familie hinein projizierte. Dort wurden die übertragenen Affekte und szenischen Interaktionsmuster (aus Affekt, Assoziation und Handlungsimpuls) dann von einem Protagonisten des – spezifisch disponierten – Umfeldes konkret ausagiert, re-inszeniert, eventuell somatisiert, aber auf jeden Fall desymbolisiert, so dass sie aus der bewussten Erzählbarkeit herausfallen46). Bezeichnend dafür ist, dass in der die projizierende Person umgebenden Sozialsphäre eine gruppendynamische Spaltung auftritt. Sie zeigt sich hier in der Perspektive des in die Familie eingegangenen Ehemanns, für den, mindestens in Momenten der psychische Destabilisierung und des Kontrollverlusts, die Bilder (bzw. psychischen Repräsentanzen) der guten Schwiegermutter und der bösen Ehefrau dissoziativ auseinander zu fallen schienen und für den dadurch das Zerwürfnis zwischen ihm und seiner Frau vertieft wurde. (Es werden noch weitere familiäre Spaltungslinien sichtbar werden.) Denn es handelt sich in dieser Handlungsszene ja gerade eben nicht darum, dass eine gutmütige und wohlmeinende Mutter und ihre böswillige Tochter – eine Kombination, die es prinzipiell geben könnte – in begründeter Weise gegenüber gestellt werden; oder dass ein Mann vollkommen losgelöst von seiner Beziehungsumgebung in quasi-psychotischer Weise gute und böse Charaktere halluziniert. Vielmehr handelt es sich hier allen Anzeichen nach darum, dass ein Mann im Moment eines Affekts der Tötungsaggression gegen seine Frau gleichzeitig in kontrastiver, gegenidealisierender Weise das Bild von deren Mutter evoziert. Und eine solche Konstellation entsteht – von offen psychotischen Zuständen abgesehen – niemals im handlungsdynamisch luftleeren Raum, sondern hat immer auch mit dem gruppendynamischen Interaktionsverhalten aller beteiligter Personen zu tun. So nimmt es nicht Wunder, dass die Beschwörung der Großmutter in dieser konkreten Handlungsszene offensichtlich nicht dazu beigetragen hat, dass die traumatherapeutische Gewalt- und Aggressionsverarbeitung innerhalb dieser Familie befördert wurde; und zwar entgegen der wörtlichen Bedeutung der Äußerung des Mannes, die ja impliziert, dass er seine Frau gerade eben nicht "umbringt". Psychodynamisch gesehen nämlich hat diese Übertragungsdynamik die Konsequenz, dass der Ehemann seine Frau immer wieder "würgt" und dass er sie immer wieder "schon längst" umbringen würde, wenn die Großmutter "nich so nett wäre". [87]

Der in feinanalytischer Auswertung ermittelte Hinweis auf eine Familiendynamik der Aggressions- und Spaltungsübertragung seitens der Großmutter wird vor allem dadurch bestärkt, dass und wie L sich als junge Erwachsene von der Großmutter abwendet. L tut dies, obwohl die Großmutter in ihrer Kindheit allgemein und auch hinsichtlich ihrer Mediensozialisation eine quasi-mütterliche Funktion gehabt hat ("ich konnte lesen und schreiben mit vier, das hat meine Oma mir beigebracht"). Nach der obigen Aussage fügt L hinzu: "dazu muss man sagen meine Oma war ne Hexe also wirklich die hat, ein bes- immer gegen den anderen aufgewiegelt". Und die entschiedenen Worte und relativ detaillierten Berichte, mit denen L über ihre Abwendung erzählt, unterstreicht die Konflikthaftigkeit und Spaltungsübertragung, die von der familiendynamischen Position der Großmutter ausgeht:

"und dann hat meine Oma versucht, als meine Mutter gearbeitet hat, und irgendwie auch schon umgezogen war da war ich häufig bei meiner Oma, und dann hat sie versucht mich zu manipulieren indem sie mir Cassetten gekauft hat, und mein kleines Pony diesen kleinen bunten, ( ) mocht ich ganz furchtbar gern [...] ja das war natürlich als Kind ich mein, also bestechen lassen hätt ich mich ja nun nich sollen, und aber, ich hab nach der Zeit gemerkt sie wurd immer fieser und hat, die ganze Familie so gegeneinander aufgewiegelt, und im Grunde genommen, ich weiß nich hatt ich schon, mit ihr abgeschlossen als ich das als ich sie das letzte Mal besucht hatte das war an Nicolaus letzten Jahres (1) und also sie lag ständich in Krankenhäusern jetzt zum Schluss und, also ich hab das das find ich wirklich empfind ich wirklich so als kalt von mir, egal also sie war wirklich n gehässiger Mensch sie hat ihre Schwestern gegeneinander aufgewiegelt und die Eltern und die Schwester und /I1: hmh/ [...]

und ich hab ihr eigentlich, von ihr Abschied genommen weil ich hab, für mich war sie schon gestorben als ich sie das letzte Mal besucht hab da war ich mit ner Freundin da, und dann hab ich ihr richtich äh im Gesicht angesehen ihre Bös- Boshaftichkeit oder ihre, Falschheit hab ich ihr richtich im Gesicht angesehen obwohl s meine Oma is oder war, was ich also hab ich schon, hab ich mit ihr schon abgeschlossen als dann im Februar tatsächlich, um vier Uhr, morgens dann so ja Oma so tot ach so, oh, äh, äh ja oh ((lacht)), dann hab ich also, das ich hab damit gerechnet ich hab jeden Tag damit gerechnet ich wusste dass sie irgendwann stirbt und, ich mein es hat mir insofern nich so viel ausgemacht hat als dass ich sie, als Kind, gut in Erinnerung behalten haben und dann, in den letzten Monaten, dieses Falsche so rausgekommen is /I1: hmh/ [...] dann vor der Beerdigung oder von, ich mein, das is wird ich mir eigentlich ich glaub das wird ich mir was heißt nich verzeihen momentan macht s mir nich nich so viel aus aber, nich jetzt /((lachend)): (3) sehr gefühlskalt/ aber, die Beerdingung war, und ich mir mir is immer noch ganz ge- mir war ganz genau bewusst meine Oma war einfach ne fal- n falscher Mensch sie war ne falsche Person ob sie meine Oma war ob ich mit ihr verwandt war oder nich, es war einfach n ne falsche Frau /I1: hmh/, und bei der Trauerfeier, hm, ham alle dagesessen und n trauriges Gesicht gemacht erstmal versteh ich sowieso nich, oder, o.k. wenn jemand stirbt der Mensch fehlt einem aber s is für ihn doch, wenn er krank war und schwach nur eine Erleichterung zu sterben, und ich mein, wir die zurück bleiben ham s schwer und nicht derjenige der gestorben is /I1: hmh/, das is vielleicht ne komische Einstellung n bisschen gefühlskalt vielleicht aber ((räuspert sich)) und dann bei der Trauerfeier da saßen sie dann alle mit ganz ernsthaften Mienen /I2: hmh/, /((lachend)): und dann hätt ich beinah angefangen zu lachen" (Herv. H.W.) [88]

Was auch immer im Einzelnen geschehen sein mag, diese Erzählungen bestärken die Annahme, dass die Großmutter ein familiendynamischer Fokus der Konflikthaftigkeit und der Aggressionsübertragung gewesen ist, die sich als dissoziativ abgespaltene Affekthypothek transgenerational auf die zwei nachfolgenden Generationen übertragen haben. L bemerkt dementsprechend intuitiv: "wir die zurück bleiben ham s schwer und nicht derjenige der gestorben is". Und tatsächlich haben sich die Mutter und die beiden Onkel Ls nach dem Tod der Oma in Erbschaftsstreitigkeiten verstrickt, die auch Akte des Diebstahls eingeschlossen zu haben scheinen. Die Last an Ambiguität, Schuldgefühl und vor allem an dissoziativer psychischer Desorientierung und Verwirrung, die diese Umstände in L erzeugt haben müssen, ist indirekt schon am Satzbau insbesondere von denjenigen Aussagen zu ermessen, die sich zentral auf Tod und Beerdigung der Großmutter beziehen: "dieses Falsche so rausgekommen is /I1: hmh/ [...] dann vor der Beerdigung oder von, ich mein das is wird ich mir eigentlich ich glaub das wird ich mir was heißt nich verzeihen". Die Dynamik von Satzbau und Satzbaustörungen stellt ein wichtiges analytisches Indiz für dissoziative psychische Prozesse dar.47) Hier deutet sich bereits im Satzbau eine Verwirrung hinsichtlich von Affekten der Selbst- und Fremdbeschuldigung an, die in ihrem Ausmaß nicht unterschätzt werden sollte. Denn es handelt sich, wie dies für dissoziative Dynamiken im Gegensatz zu so genannt "reifen", psychoneurotischen Abwehrvollzügen typisch ist, nicht nur um die relativ leicht aufzulösenden Schuldgefühle hinsichtlich spezifischer "Verfehlungs"-Szenen. Vielmehr scheint hier die für dissoziative Befindlichkeiten bezeichnende latente Verzweiflung über die Verbürgtheit bzw. Unbeständigkeit der eigenen Gefühle überhaupt wirksam zu sein, denn die Vokabeln der Schuld kreisen immer wieder um Erfahrungen der Gefühlskälte, der (abwesenden) Trauer ("(3) sehr gefühlskalt/ ich mein, das is wird ich mir eigentlich ich glaub das wird ich mir was heißt nich verzeihen") und letztlich der tendenziellen Verleugnung ("momentan macht s mir nich nich so viel aus aber, nich jetzt /((lachend))").48) [89]

Die Beziehung Ls zum Opa scheint demgegenüber ungetrübt geblieben zu sein. Der Tod des Opas hat die damals siebenjährige L, die zu diesem Zeitpunkt verreist war, offensichtlich stark betroffen, was sie retrospektiv auch dadurch akzentuiert, dass sie sich nicht umgehend genug informiert fühlte.

"gerade mein Opa also mein Opa mein Opa mocht ich wirklich gerne, der hat so dann immer kleine Aquarelle gemalt so wunderschön so die die, die Blätter so ähm viergeteilt pro Jahreszeit so n Aquarell das konnt er auch richtich gut ((räuspert sich)), aber meine Oma hat die weggeschlossen, weil die unnütz waren, also die waren nich". [...] "das war also, doch mein Opa war einfach furchtbar lieb, [...] ich mein ich konnt mir einfach nich vorstellen du kommst wieder und dein Opa is weg, dann kam ich wieder und der Grabstein also er war schon längst beerdicht der Grabstein war auch schon da, und ich konnte das ich konnte das einfach nich fassen dass da mein Opa liegen sollte und der war einfach weg, das war also un- unfassbar irgendwie für mich". [90]

Die in erster Linie um die Großmutter zentrierte familiäre Konflikt- und Projektionsdynamik ist nicht nur für die persönliche, sondern gerade auch für die mediale Sozialisation Ls von umso größerer Bedeutung, als der "Oma" in der Lese- und Medienerziehung Ls eine besondere Rolle zukam. Von ihr hat L im Alter von vier Jahren "lesen und schreiben gelernt"; von ihr wurden ihr Kinderkassetten geschenkt. Und insbesondere wurde über die Großmutter auch die Kelly-Family samt der ihr eigenen Konnotationen des Sagenhaften und Nordisch-Keltischen vermittelt In dieser Konstellation lässt sich eine spezifische symbolische Korrelation feststellen: Denn dieser medienbiografische Vermittlungsweg ist durch eine semantisch-konnotative und ethnische Korrespondenz zwischen dem esoterischen und nordisch-keltischen Medienstoff einerseits und der Person der Großmutter andererseits bzw. ihrer Herkunft aus Königsberg unterlegt: Sowohl die Medienstoffe als auch die Königsberger Großmutter sind mit dem europäischen Norden und den dort lebenden Ethnien assoziierbar. Beide sind über das Merkmal des Nordischen miteinander verbunden und bilden eine semantische Schnittmenge. Und diese semantische Korrelation muss als fester – wie auch immer bewusstseinsnaher oder -ferner – Bestandteil der (Selbst-) Wahrnehmung sowohl der Großmutter wie auch Ls begriffen werden. Denn Konnotationen des subjektiven ethnischen Selbstverständnisses und der kulturellen/semantischen Empfänglichkeit sind Gegenstand der transgenerationalen Übertragung. L jedenfalls beschreibt ihre Großeltern in emphatischer Weise als preußisch ("dann wirklich, die waren Ostpreußen vom, vom besten, auch preußische Erziehung bis in s Letzte"). Und den InterviewerInnen sitzt eine junge Frau gegenüber, die, obwohl Tochter eines anders-ethnischen Vaters, lange blonde Haare und blaue Augen hat, in einem Weiheritual in eine – informelle – keltische Schwesternschaft eingetreten ist und mit großer Ernsthaftigkeit das Harfenspiel erlernt. Dabei scheint die Annahme durchaus plausibel, dass bereits Ls Mutter an dieser Übertragung von ethnischen Selbstkonzepten und kulturellen/semantischen Empfänglichkeiten im thematischen Bereich des Nordisch-Keltischen, Esoterischen, "Preußischen" beteiligt war, auch wenn uns darüber nichts direkt mitgeteilt wurde. Denn abgesehen von dem allgemeinen Hinweis, dass Mutter und Tochter heute vielfach dieselben Bücher lesen und also schon die Nebel von Avalon eventuell auch der Mutter bekannt gewesen sein mögen, ist, wie gesagt, die Heilpraktikerin und keltische "Hohe Priesterin", die zur Psychotherapeutin Ls wird und ZIMMER BRADLEYs Roman empfiehlt, eine gute Freundin der Mutter. Die Mutter mag also – trotz aller innerfamiliärer Bruchlinien – hinsichtlich eines (keineswegs unbedingt bewussten) nordischen Akzents von Ls kulturellem Selbstverständnis eine konkordante und verstärkende Funktion gehabt haben. Darauf weist auch ein spezifisches Detail in der Präsentation des Themas "Verkauf des Hauses der Großmutter" hin. Denn als dieser Verkauf wegen der durch die Onkel entwendeten Familienakten verzögert wurde, führte dies für L und deren Mutter vor allem deshalb zur Besorgnis, weil damit die Anschaffung von Ls neuer Harfe in Frage stand. Als ob eine unbewusste semantische Hypothek bestünde, ist somit das Haus der "preußischen" Königsberger Großmutter in der Handlungsregelung der Familie direkt mit Ls Harfe korreliert. [91]

Betrachtet man nun den Aspekt der hohen Konflikthaftigkeit, die dem biografischen Vermittlungsweg der kulturellen/semantischen Empfänglichkeiten für Nordisches sowie der Vermittlung von Ls medialen Kinder- und Jugendstoffen im Allgemeinen anhaftete, indem sie über eine so beschaffene Großmutter-Position erfolgte, ergibt sich folgende Überlegung: Die esoterischen und nordisch-keltischen Medienstoffe, die für L mit einer Funktion der kompensativen Selbst-Stimulanz und -Harmonisierung besetzt sind, scheinen in ihrer Familie auch von genau derjenigen familiendynamischen Position aus an sie vermittelt worden zu sein, die ein wesentlicher Faktor der Übertragung von Disharmonie, Konflikthaftigkeit und Spaltungsdynamik war und somit überhaupt erst einen Akzent für den Bedarf an psychischer Harmonisierung setzte, nämlich von der Großmutter. Es scheint sich hier ein integraler Komplex der sozio-medialen Interaktion über zwei Generationen hinweg zu erstrecken und einen Modus der dissoziativen Erfahrungsverarbeitung zu übertragen.49) Von der historischen Perspektive aus wird zudem eine weitere Korrespondenz sichtbar: Denn diese familiendynamische Konflikthaftigkeit um die Großmutter korrespondiert auch mit den historischen Gewaltzusammenhängen, in denen nordisch-keltische Stoffe zwangsläufig stehen, wenn sie von einer Person goutiert und vermittelt werden, die ihre Jugend als "deutschstämmige", junge bürgerliche Frau im Königsberg des Dritten Reiches verbracht hat. Haben doch die nordisch-keltischen Stoffe damals im historischen Kontext einer immensen psychosozialen Gewalteskalation von Deportation, Völkermord, Krieg und Vertreibung gestanden und in den Überlebenden und Davongekommenen entsprechende Psychotraumata hinterlassen. Im historischen Zusammenhang der nationalsozialistischen Mystik des Nordisch-Keltischen ist die Aufforderung der Großmutter: "hej schau mal hier kommt die Kelly Family das is was ganz besonderes", von einem eigentümlichen historischen Nachhall begleitet, zumal L diese Aufforderung als Schlüsselerlebnis erzählt, an das sie sich "noch wie heute" erinnert. Ebenso verhält es sich mit Ls Faszination für Rituale der "Sommersonnenwende", die sich zur nächtlichen Stunde, an "Kraftfeldern" und/oder "Hünengräbern" und von Fackeln beschienen abspielen – "so n Ritual machen irgendwie so Feuer" – und in denen "ganz viele Frauen [...] sozusagen so, ja, der großen Göttin geweiht wurden sozusagen" – nach dem "Nebel von Avalon Prinzip". Der hier sich abzeichnende, über zwei Generationen hinweg wirkende sozio-mediale Interaktionskomplex vermittelt zum einen nordisch-keltische Stoffe und Faszinationen der esoterischen Harmonisierung und zum anderen deren historisch und psychotraumatologisch bedingte Besetzung mit Erfahrungsassoziationen und Affektintensitäten der Aggression und Gewalt. Dabei ist es die psychosoziale Funktion dieser Stoffe und Faszinationen, die psychische Abwehr und Harmonisierung der Aggressionserfahrung per Dissoziation zu bewerkstelligen. Wenn dann die dritte Generation mit diesem Übertragungskomplex in assoziative Resonanz und/oder in Empathie tritt50) besteht deren konkrete Psychotraumatik nicht mehr (zwangsläufig) aus Erfahrungen des öffentlichen Terrors und der politisch-massenpsychologisch bedingten Gewalt gegen Menschen. Vielmehr hat diese Psychotraumatik sich auf den Wegen der innerfamiliären Übertragung und Reinszenierung – akzentuiert auch durch Effekte der unbewussten Partnerwahl von Ls Mutter – in traumatische familiendynamische Beziehungsstrukturen mit Gewaltlatenz übersetzt (ein Handlungsfaktor, der freilich auch vor dem Ausbruch der historischen Eskalation im Königsberg der nationalsozialistischen Zeit schon eine wichtige psychohistorische Rolle gespielt haben mag). Letztlich finden Psychotraumatik und Gewalt noch in der dritten Generation, nämlich in Ls Peergroup-Dynamik (insbesondere mit Herbert) eine eindrückliche Wiederholung. Ein spezifisches Vehikel und Substrat dieses transgenerationalen sozio-medialen Interaktionskomplexes der dissoziativen Erfahrungsverarbeitung sind für L die Medienstoffe des esoterischen und insbesondere nordisch-keltischen Bereichs (Avalon, Kelly etc.). [92]

Der Zusammenhang zwischen nordischem Stoff und dessen spezifischer Besetzung mit Erfahrungsassoziationen und Affektintensitäten der Aggression und Gewalt sowie dissoziativen Übertragungsimpulsen ist jedoch keineswegs von rein spezifisch-persönlicher bzw. historischer und mithin äußerlicher Art. Denn die Psychotherapiewissenschaften unterstreichen: Auch abgesehen von dieser spezifischen Funktionalisierung des Nordisch-Mythischen verweist jegliche Disposition zu esoterischen Denk- und Wahrnehmungsformen in grundsätzlicher psychodynamischer Hinsicht auf eine Disposition zu Operationen des magischen Denkens, der Affektdissoziation und des Deck-Agierens, deren psychotraumatologische Relevanz hinlänglich belegt ist.51) Das "esoterische Genre" so verstanden ist also nicht nur eine von vielen denkbaren thematischen Textsorten, sondern hat darüber hinaus auch psychodynamische und funktionale Implikationen. Jedoch: Dieser Zusammenhang ist keineswegs unwandelbar fixiert: Denn das mediale Vehikel und Substrat dieser familiengeschichtlichen Übertragung kann immer auch zum Vehikel eines künftigen Verarbeitens bzw. Durcharbeitens der Traumatik werden. Dass Ls Medienbiografie einen psychotraumatisch bedingten Schwerpunkt auf der Interaktion mit esoterischen und/oder religiösen Stoffen aufweist, sagt also nichts darüber aus, wie dieser in ihrem weiteren medienbiografischen Lebensweg genutzt werden wird, d.h. ob er weiterhin in Abwehrfunktionen oder auch in Funktionen des traumatherapeutischen Durcharbeitens stehen wird.52) (Die Option des Durcharbeitens mag für L im Rahmen der historischen Themen bereits dadurch angedeutet sein, dass sie zusammen mit ihrer Empfänglichkeit für Nordisch-Mythisches und Esoterisches auch ein intensives Interesse an jüdischer Religion und Kultur entwickelt hat.) Nicht nur also bestätigt Ls Mediennutzung im Bereich des esoterischen Genres die für ihre gesamte Medieninteraktion festgestellte Funktion der Angstabwehr und kompensativen Selbst-Stimulanz/-Harmonisierung. Darüber hinaus zeigt sich anhand dieses Genres mit besonderer Prägnanz die familiengeschichtliche sowie allgemein-historische Tiefendimension, in der Ls Medienhandeln in Inhalt und dissoziativem Modus gesehen werden kann. [93]

11. Schluss

Die sich bereits vor dem Hintergrund der ersten Interview-Sequenzen abzeichnende zentrale psychogenetische und psychotraumatologische Hypothese hat sich im Blick auf die verschiedenen Lebensbereiche der jungen Erwachsenen L bestätigt: Die psychisch nicht integrierte Gewalterfahrung aus der frühen Zeit der jungen Familie, die sich im Wesentlichen am Vater kristallisiert hatte, hängt familiengeschichtlich und -dynamisch (auf der Ebene der transgenerationalen Weitergabe von Traumatik) auch mit der traumatischen und/oder verdeckten Familiengeschichte aus der Zeit des Nationalsozialismus zusammen, die sich an der Großmutter zu kristallisieren scheint. Diese Geschichte ist aus der Narration Ls (sowie mutmaßlich der Familie insgesamt) ausgespart oder wird in familien-mythischer bzw. metonymischer Weise durch Verdeckungen und Ersatzbildungen bezeichnet und in vielfacher Weise unbewusst szenisch ausagiert (die Mutter ist ko-alkoholisch und wählt einen anders-ethnischen, alkoholkranken und gewaltsam disponierten Partner; die Halbschwester Ls gibt ihren Kindern jüdische Vornamen; L selbst bezeichnet sich als ethnisch "bunte Mischung", ist fasziniert von jüdischer Religion, aber auch von keltisch-esoterischen Mythen, gerät in gewaltsame – projektiv-identifizierende – Freundschaftskonflikte und leidet an phasenweiser Depression etc.). Für Ls Persönlichkeitsentwicklung hat diese familial bedingte und sich medial verlängernde Interaktionsdynamik verschiedene Folgen. L bildet vielfache Talente und Aktivitäten aus und mobilisiert ein hohes Maß an soziokulturellem Engagement. Allerdings ist dieses Engagement von Zuständen der Überanstrengung und emotionalen Überflutung durch "namenlose" Affekte gekennzeichnet (deren inhaltliche Assoziationen somit aus der Narration abgespaltenen und de-symbolisiert sind; Holocaust/Kelly-Familie). Eine beziehungsdynamische Entsprechung zu diesen Zuständen der desymbolisierten Affektüberflutung sind die verschiedenen Formen des konflikthaften Ausagierens in ihrer Peer-group-Interaktion, die eine projektiv-identifizierende Handlungsdynamik durchscheinen lassen (Vorfall Herbert) . Im Bereich der persönlichen (schulischen) Arbeitsfähigkeit führt dies zu Beeinträchtigungen und einer Misserfolgsdisposition. (Ihre gymnasiale Facharbeit setzt sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinander. Insofern L dabei jedoch aufgrund einer dissoziativ verfahrenden Arbeitsweise ihre persönliche Familiengeschichte vollkommen ausblendet und dann auch die thematische Eingrenzung und Fokussierung des Themas nicht aufgabengetreu bewältigt, wird diese Facharbeit nur mit ausreichend bewertet.) [94]

Auf der Ebene des medialen Handelns schlagen sich Affektüberflutung und Ausagieren in Ls vielfältiger Mediennutzung nieder, und zwar in Form einer tendenziell dissoziativen Dynamik der Medieninteraktion. Bereits Ls Geschichten-Ausdenken in der "Höhle" der frühen Jahre ist von dissoziativen Abwehrfunktionen in Anspruch genommen, die vom dem elterlichen Konfliktgeschehen und vom Allein-Sein zu Hause herrühren. Und solche Abwehrfunktionen gehen grundsätzlich zu Lasten des assoziativen und narrativen Durcharbeitens von (traumatischer) Erfahrung, die allem medialen Sprachhandeln innewohnen.53) In psychoanalytischer Hinsicht stehen sowohl die dissoziativen Dynamiken der affektiven Überflutung/Überanstrengung und Abspaltung als auch das (projektiv-identifizierende) Konfliktgeschehen in ihrer sozialen Interaktion in einem Zusammenhang der Retraumatisierung, d.h der Reaktualisierung von früheren und/oder transgenerational übertragenen Traumata. Insgesamt konnte dadurch bestätigt werden: Erfahrungen der aktualen und der beziehungsdynamischen (strukturellen) Gewalt wirken sich direkt auf die Ausbildung von Mustern der Lese- und Mediennutzung aus, die wiederum, so lässt sich folgern, abwehr-affirmativ auf die lebensweltliche Handlungssteuerung zurückwirken.54) Lebensweg und Mediennutzung sind handlungsdynamisch eng miteinander verschränkt. Angesichts ihrer komplexen Wechselwirkung ist vor monokausalen Zuschreibungen von psychosozialen Problematiken (etwa der Aggressions- und Gewalterzeugung) an spezifische Medienprodukte zur Vorsicht zu mahnen. [95]

Methodologisch bemerkenswert ist die Tatsache, dass das hier erprobte und erweiterte Verfahren des narrativen (Medien-) Interviews Material aus der Familiengeschichte, der Peer-group-Interaktion und dem Mediennutzungsverhalten Ls in einen interaktions- und narrationstheoretischen Zusammenhang zu stellen vermochte. Die nach der Methodologie der narrationsanalytischen Biografieforschung ermittelte Handlungsregel der (dissoziierenden) Erlebensferne der Wahrnehmung und der intentionalen Uneingegrenztheit der (Sprach-) Handlung, präziser: die narrative Präsentationsregel Vorsicht! Die Gefahr, Lust und der Schutz des uneingegrenzten Erzählens, hat für alle der genannten Handlungsbereiche von Ls Biografie hohen strukturanalytischen Beschreibungswert bewiesen. Dementsprechend hat diese Handlungsregel bereits eingangs des Interviews auch die (Gegen-) Übertragungsdynamik in der Interviewsituation geprägt (indem L dem männlichen Interviewer mit einer Sammlung von vulgär-feministischen Witzen begegnete). – In theoretischer Hinsicht zeigten sich darüber hinaus Verknüpfungsstellen von Narrationsanalyse und Psychoanalyse bzw. Psychotraumatologie. Denn die weitgehend vortheoretische und deskriptive Handlungsregel Ls (die, wie dies für die qualitative Sozialforschung nicht ganz untypisch ist, entsprechend umständlich formuliert war) wurde in psychodynamischer Hinsicht als Äußerung eines dissoziativ geprägten Interaktionsmodus begreiflich. Die narrative Präsentationsregel Vorsicht! Die Gefahr, Lust und der Schutz des uneingegrenzten Erzählens ist eine spezifisch-persönliche Ausbildung dessen, was in der Psychodiagnostik allgemein als dissoziative Disposition bezeichnet wird. Sie ist durch (projektiv-identifizierende) Affekt- und Erfahrungs-Abspaltung gekennzeichnet und verweist auf einen handlungsgenetischen Kontext der (Beziehungs-) Traumatisierung. [96]

Die Medien- und Kulturwissenschaften könnten in dieser interdisziplinären Verknüpfung von Sozial- und Psychowissenschaften nicht nur Nutznießer sein, sondern darüber hinaus auch wesentlich beitragen. Denn gerade in den kulturellen und medialen Artikulationen kommen die so genannten "blanden", nicht klinisch relevanten, aber nichtsdestoweniger gesellschaftlich umso wirkungsmächtigeren Handlungsformen und Abwehrmechanismen zum Tragen. In dieser Hinsicht wäre es also darum zu tun, anhand von spezifischen aktuellen Medienphänomenen zeitgenössische kulturelle Stile der (Medien-) Interaktion zu rekonstruieren und in ihren psychosozialen Funktionen einzuschätzen.55) Inwiefern Ls Handlungssteuerung als Beispiel eines dissoziativen Medienhandlungsstils auch allgemeinere Bedeutung für die Beschreibung der soziokulturellen Jetztzeit (evtl. einer wie auch immer verstandenen Postmoderne56)) hat und inwiefern sich korrespondierende Strukturen auch auf der Ebene der Produktanalyse in Film, Fernsehen und Literatur aufweisen lassen, wäre die dementsprechende kulturwissenschaftliche Fragestellung. Für Erkenntnisinteressen, die auf die Handlungsstrukturen im psychosozialen/soziokulturellen Raum gerichtet sind, zeichnet sich hier die Möglichkeit, u.U. sogar die Dringlichkeit einer interdisziplinären Vernetzung zwischen zwei bzw. drei verschiedenen Forschungsbereichen ab: nämlich zwischen der qualitativen Sozialwissenschaft einerseits und den Psychowissenschaften sowie den Medien- und Kulturwissenschaften andererseits. Denn die sozialwissenschaftliche Handlungsforschung bedarf der Erkenntnisse, die Psychoanalyse, Psychotraumatologie und Entwicklungspsychologie gesammelt haben; und sie kann von den Gegenständen und Fragestellungen der Medien- und Kulturwissenschaften profitieren. (Damit nämlich kann eine latente Beschränkung der Sozialwissenschaften auf rein deskriptive und funktionsanalytische Befunde im engeren Sinn gelockert werden.) Hingegen bedürfen die Psychoanalyse/Psychotraumatologie wie auch die Kultur-/Medienwissenschaften der systematischen und disziplinierten Methodologie und der handlungstheoretischen Narratologie der jüngeren Sozialwissenschaften, um in den für sie relevanten gesellschaftlichen Fragefeldern handlungstheoretisch bedeutsame und methodisch kontrollierte Befunde erzielen zu können. Umso erstrebenswerter ist es, ein höheres Maß an interdisziplinärer Vernetzung herzustellen und Begriffe zu entwickeln, die den Anforderungen von allen drei Bereichen gerecht werden. Begriffe des medialen Agierens bzw. des medialen Durcharbeitens könnten dahingehend einen ersten konzeptuellen Rahmen schaffen, in dem sich spezifische Phänomene der (dissoziativen) Medieninteraktion mit größerer systematischer Genauigkeit platzieren ließen. [97]

Anmerkungen

x) Der Beitrag ist die ausführliche Ausarbeitung des Aufsatzes: "Qualitativ-empirische Sozialwissenschaft und Psychoanalyse/Psychotraumatologie? Syntheseversuch anhand einer medien-biografischen Fallstudie über dissoziative Rezeptionsmodi". Erschienen in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 6(11), 2002, 221-248. <zurück>

1) Für einen handlungstheoretischen Begriff des Medienverbundes vgl. GARBE, SCHOETT, SCHULTE BERGE und WEILNBÖCK (1999); ferner CHARLTON (1997). <zurück>

2) Die Fallauswertung wurde verantwortlich von mir durchgeführt. Beim Interview und in den anfänglichen Phasen der Hypothesenbildung, die zu zweit durchgeführt wurden, arbeitete ich mit Gerlind SCHULTE BERGE zusammen. Die schriftlichen Vorarbeiten, die letztendliche Auswertung, insbesondere die Integration von psychoanalytischen und -traumatologischen Kategorien und die Ausarbeitung verantworte ich. <zurück>

3) Für eine ausführlichere Darstellung vgl. GARBE, SCHOETT und WEILNBÖCK (1999, S.223-225). <zurück>

4) Vgl. hierzu BOHLEBER (2000) und BOHLEBER und DREWS (2001). <zurück>

5) Vgl. GARBE, SCHOETT und WEILNBÖCK (1999, S.226). <zurück>

6) Dabei betrifft die Korrespondenz zwischen narrationsanalytischem und psychoanalytischem Vorgehen nicht nur die Ebene der Erhebung, sondern auch die der Auswertung. Wie in der rekonstruktiven Auswertung des transkribierten Interviews Verfahren der Hypothesenbildung per Verifikation und Falsifikation eingesetzt werden, die die einer spezifischen Erzählsequenz inhärente biografische Handlungsregel ermitteln sollen, gibt es in der Auseinandersetzung zwischen AnalytikerIn und KlientIn eine laufende und immer neu aktualisierte Hypothesenbildung darüber, welches die affektiven Qualitäten, handlungsleitenden interaktiven Funktionen und lebensgeschichtlichen Bedingungen des aktuellen szenischen Übertragungsgeschehens sind, das von der Erzählung der Klientin ausgeht. Die Engführung des Hypothesenbildungsprozesses, die im sozialwissenschaftlichen Vorgehen durch Techniken der systematischen und methodisch kontrollierten Prüfung vollzogen wird, erfolgt im langfristigen Therapie-Verlauf durch dessen extensive Erstreckung (die einer kontinuierlichen konsensuellen Validierung entspricht). <zurück>

7) "Erst [die] differenzierte Selbstplatzierung sowie Platzierung eines getrennten Gegenübers in der Erzählung fordern eine Handlungs- und/oder Geschehensentwicklung als Veränderungsbewegung zwischen Start- und Ergebnissituation der Erzählung, die ein offenes, konfliktreiches, differenziertes Aushandeln zwischen divergierenden Interessen und Positionen artikuliert." (BOOTHE 1994, S.37-38) <zurück>

8) Für die psychoanalytischen Begriffe der konkordanten und komplementären Übertragung vgl. MÖLLER und RACKER (1978); für die Umsetzung auf die Text-Leser-Beziehung mittels des konkreten Forschungssettings des Gruppenanalytischen Literaturseminars vgl. WEILNBÖCK 2002a, 2002b, 2003a. <zurück>

9) Für eine ausführliche Darstellung von Theorie und Methode siehe ROSENTHAL (1995, 2002) und FISCHER-ROSENTHAL (1997), ferner GARBE, SCHOETT und WEILNBÖCK (1999) und GARBE, SCHOETT, SCHULTE BERGE und WEILNBÖCK (1999). <zurück>

10) Der zeitliche Umfang für eine Auswertung kann bis zu vierzig Stunden umfassen, in denen für spezifische Phasen (der Hypothesenbildung) auch zu zweit bzw. im Team gearbeitet wird; die Herstellung der schriftlichen Endfassung der Darstellung nicht eingerechnet . <zurück>

11) Vgl. hierzu STRAUSS und CORBIN (1996) und LAMNEK (1989, S.301ff. bzw. 309ff.) zu den "Gütekriterien qualitativer Datenerhebung" bzw. den "Gütekriterien qualitativer Datenanalyse". <zurück>

12) Die Eingangsfrage für die Medieninterviews lautete: "Wir möchten dich heute bitten, uns noch mehr über deine Lebensgeschichte zu erzählen, und zwar unter einem besonderen Aspekt: Wir interessieren uns für deine Erfahrungen mit Medien, das heißt mit Büchern, Kassetten, Fernsehen, Video, Musik, Kino, Computer und allem, was in diesem Zusammenhang für dich wichtig ist. Am besten, du fängst wieder mit deinen frühesten Kindheitserinnerungen an und erzählst dann, wie sich dein Umgang mit Medien weiter entwickelt hat bis heute." <zurück>

13) Dieser Hinweis ist hier umso wichtiger, als in dieser Falldarstellung versucht werden soll, die Aufbereitung der Präsentationsanalyse – Wie präsentiert sich die Biografin in ihrem Erzählen? – mit der der Datenanalyse – Wie hat die Biografin ihr Leben erlebt? (nach Maßgabe einer Annäherung über die biografischen Daten) – in einem Durchgang zu vollziehen. Zudem soll gleichzeitig die hier angestrebte systematische Vernetzung der sozialwissenschaftlichen Methodik und Präsentation mit psychoanalytischen und psychotraumatologischen Befunden durchgeführt werden. <zurück>

14) Es soll mit diesen heuristischen Formulierungen keineswegs suggeriert werden, die BiografIn selbst wäre disponiert und/oder überhaupt zwingend in der Lage, dergleichen Aussagen über ihre eigene Handlungsregelung zu vollziehen. Die Handlungsregeln der BiografIn sind ihr selbst in je unterschiedlichen und wechselnden Ausmaßen (un-)bewusst. Ihre prägnante Formulierung (in der ersten Person Singular) ist lediglich aus heuristischen und aus Rücksichten der möglichst dichten Falldarstellung gewählt. Der manchmal eigentümlich anmutende Wortlaut der Formulierung rührt daher, dass sie zunächst maximal abstrakt formuliert werden muss, weil sie im Fortgang der Falldarstellung für eine Vielzahl unterschiedlicher Präsentationsphänomene allgemeine Gültigkeit beansprucht. <zurück>

15) Diese Minisequenzen bestätigen auch die Überlegungen hinsichtlich einer Tendenz zur projektiven Identifikation, denn eine solche hätte sich hier leicht entwickeln können. <zurück>

16) Diese Unsicherheit korrespondiert mit der oben angestellten Hypothese, jenes "lalala" könnte einer subjektiv empfundenen Oberflächlichkeit und/oder thematischen Vermeidung entsprechen. <zurück>

17) Für die Transkriptionsregeln vgl. ROSENTHAL (1995). Kommas bedeuten Akzente im Redefluss der Biografin; einfache Klammern, evtl. mit Ziffern darin, bedeuten eine Pause und deren Länge in Sekunden; Text in einfachen Klammern konnte phonetisch nicht eindeutig verstanden werden; Attribute in doppelter Klammer zeigen Geste und Affekt der Darbietung an, z.B. "((schmunzelnd))"; "[...]" markiert eine Auslassungen meinerseits im Zitat. <zurück>

18) Insgesamt stellt sich angesichts dieser agierten Interaktion die Frage, inwiefern der biografietheoretische Begriff der Präsentationsregel nicht vielleicht durch den präziseren Begriff der Interaktionsregel ersetzt werden sollte, der psychoanalytisch auf die Theorien der (Gegen-) Übertragungsprozesse zu beziehen wäre. <zurück>

19) Vgl. FISCHER und RIEDESSER (2000). <zurück>

20) Zu diesem Geburtstag gab es eine briefliche Kontaktaufnahme, die sich nicht fortsetzte; die wenigen Bemerkungen, die in sehr viel später erfolgenden Erzählsequenzen – der Nachfragephase – über den Vater gegeben werden, sind durch eine insgesamt eher unfreundliche Tonlage gekennzeichnet. <zurück>

21) Vgl. ROHDE-DACHSER (2000, S.88). Man mag hierbei an die Beobachtungen denken, die die sozialpsychologische Literatur über Scheidungskinder und deren Neigung angestellt hat, das abwesende Elternteil zu idealisieren. Hinsichtlich Ls Narration stellte dies jedoch keinen Befund, sondern lediglich eine monokausal verkürzte Ursachenzuschreibung dar. Deshalb wird hier aus methodologischen Gründen die abstraktere handlungsstrukturelle Perspektive auf Idealisierung und Abspaltung im psychoanalytischen Sinn unterstrichen. <zurück>

22) Ein solches Negativfeld umfasst Thematiken, die in der Erzählung nicht ausgeführt werden, die jedoch der Darstellung kopräsent sind und sich – gewissermaßen zwischen den Zeilen der Interviewaussagen – in ihren formalen Aspekten oder in spezifischen Widersprüchen (etwa zur Datenebene) niederschlagen; hier z.B. in jener Eigentümlichkeit von Ls Selbstverortung in der für die konkrete Lebenssituation vollkommen unmaßgeblichen väterlichen Linie oder in den Unsicherheits-Indikatoren ihrer Präsentation (Rahmenschaltelemente). <zurück>

23) Vgl. ROHDE-DACHSER (2000, S.88, S.94f.) und für einen einschlägigen Literaturüberblick zu eidetischen Phänomenen S.97. <zurück>

24) Diese Fragestellung wird erst bei der Datenanalyse und deren Vergleich mit der Narration wichtig. Z.B. kann es sich bei der Geschichte mit dem Messer durchaus um eine Erinnerungsfiktion und/oder einen innerfamiliären Mythos handeln, der nicht wirklich als tatsächliches Ereignis geschehen ist. <zurück>

25) Vgl. FISCHER und RIEDESSER (1999), MERTENS und WALDVOGEL (2000) und ROHDE-DACHSER (2000, S.80f.) und LAMPRECHT (2000). <zurück>

26) Das Phänomen der Täter-Opfer-Inversion ist der psychotraumatologischen Literatur als ein Mechanismus bekannt, aufgrund dessen die Gewaltopfer die Funktionen von Täter und Opfer dergestalt verkehren, dass die Täter in einer Opferrolle erscheinen, während die Opfer sich selbst die Schuld an dem Erlittenen zuweisen (vgl. auch das Stockholm-Syndrom; FISCHER & RIEDESSER 1999). <zurück>

27) Die historische Flucht der Hugenotten nach Preußen ereignete sich schwerpunktmäßig im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts und wurde durch das Edikt von Potsdam (1685) des Großen Kurfürsten von Brandenburg-Preußen nachdrücklich unterstützt. <zurück>

28) Eine strukturanaloge Präsentation der latenten Täter-Opfer-Inversion zeigt sich an späterer Stelle, als L über die Kindertage ihres gesellschaftlich hochstehenden Großvaters berichtet und diesen als unglückliches Kind schildert: "mein Opa der war also n ganz furchtbar, na also n ganz sensibler Mann und ganz furchtbar unglücklich also ich kann mir wirklich gut vorstellen dass er mit meiner Oma sehr unglücklich gewesen is [...] und ich weiß nur meine meine, das einzige was mein Opa von seiner Kindheit erzählt hat weiß ich von meiner Mutter, also er hatte ne ganz schreckliche Kindheit wohl, dass er, in seinem weißen Matrosenanzuch immer daneben stand wenn die Dienstleute, die Dienstleut- also die Dienstleutskinder, gespielt haben und sich dreckich gemacht haben und er durfte nie mitmachen (1) [...]". Nicht dass diese Erzählung unplausibel wäre, lediglich dass sie die einzige Vignette der Vergangenheit des Opas ist und dass sie genau hier erzählt wird, macht sie zur dissoziativen und u.U. Täter-Opfer-inversiven Erzählung. <zurück>

29) ie begriffliche Korrelation von Gefahr und Grenzverlust basiert auf einer psychologischen Grundannahme, die in fragmentierten und/oder abgrenzungsdiffusen Erzählweisen nicht so sehr den Aufweis einer avantgardistischen, evtl. genialen Kreativität sieht als vielmehr einen Hinweis auf psychosoziale Spannungszustände. <zurück>

30) Zum Begriff der transgenerationalen Weitergabe von Traumatik vgl. ROSENTHAL (1997) und BERGMANN et al. (1998). <zurück>

31) Zur familiendynamischen Dreigenerationen-Perspektive vgl. ROSENTHAL (1997) sowie GRÜNBERG (2001) und VOGT (2001). <zurück>

32) Vgl. FISCHER und RIEDESSER (1999, S.112f.), ROHDE-DACHSER (2000, S.45f., S.143), LAMPRECHT (2000, S.164ff.). <zurück>

33) Vgl. FISCHER und RIEDESSER (1999, S.124). <zurück>

34) Zum Begriff der projektiv-identifizierenden Spaltungsübertragung in medialen Text-Leser-Interaktionen vgl. meinen Beitrag 2002a. <zurück>

35) Dies will keineswegs heißen, dass L diese Affekte nicht wirklich erlebt hätte. Im Gegenteil ist grundsätzlich (bis zum Beweis des Gegenteils) davon auszugehen, dass ihre Angaben authentisch sind und diese Affekte, in welchen situativen Weisen auch immer, aufgetreten sind. Ihre narrative Vermittlung erfolgt jedoch in einer Weise, die der affektiven Differenz zwischen Angst und Trauer nicht gerecht wird und insofern auf eine Dynamik der Abspaltung hinweist. <zurück>

36) Zu den Begriffen der Trauma-Assoziation bzw. Empathie-Resonanz vgl. meine Beiträge zu Shoah-Filmen (2002c und 2003b). Die Affektdynamik, die dort in der Filmanalyse zweier Shoah-Filme als Textimplikation aufgewiesen werden konnte, wird hier in Form einer empirischen Untersuchung von Rezeptionsverhalten gewissermaßen von der anderen Seite der Text-Leser-Interaktion her nachvollziehbar. Grundsätzlich gilt: Je mehr sich solche Trauma-Assoziationen und Empathie-Resonanzen über zeitliche und thematische Distanzen der Generationenfolge hinweg erstrecken und je unbekannter sie den Rezipierenden sind, desto mehr muss im medial-gesellschaftlichen Bearbeiten von kollektiven Traumata – in Analogie zu FREUDs Begriff der Deckerinnerung – mit Phänomenen der Deck-Empathie und der Trauma-Sucht gerechnet werden. Zur Trauma-Sucht vgl. FISCHER und RIEDESSER (1998). <zurück>

37) Es bestanden damals für Ls Mutter keine grundsätzlich anderen und günstigeren, sondern wegen der sich anbahnenden Trennung und der Rückkehr in den Bereich der eigenen Herkunftsfamilie eher ungünstigere biografische Lebensbedingungen; auch ist seit dieser Zeit kein biografischer Faktor im Leben von Ls Mutter sichtbar, der die Disposition zu einer solchen Verständigungsschwierigkeit mit ihrer Tochter hätte akut erzeugen können. <zurück>

38) Diese Verständigungsschwierigkeit wird hier sogar im Moment des Erzählens selbst (auf mikrodynamischer Ebene) durch eine sprachlichen Fehlleistung unterstrichen ("// I1: hmh //, resi- ähm, resigniert ähm ((lacht)) registriert ich war bei 'recognize' ((lacht)), registriert sie aber auch nich was man da grade gesacht hat"). Insgesamt erscheint aus diesem Bericht über die Mutter-Tochter-Interaktion vieles von dem aktuellen Erzählverhalten Ls intuitiv verständlich. <zurück>

39) Vgl. einführend hierzu EGGERT und GARBE (1995). <zurück>

40) Vgl. hierzu wiederum FISCHER und RIEDESSER (1999) und ROHDE-DACHSER (2000) sowie ferner HIRSCH (2000, 2002) und GEISSLER (2001). <zurück>

41) Im Zusammenhang der tiefgreifenden Persönlichkeitsstörungen des Borderline-Spektrums spricht ROHDE-DACHSER (2000, S. 94) von spontanen Besetzungswechseln. <zurück>

42) Dass von den InterviewerInnen im Nachfrageteil keine narrativen Vertiefungsfragen zu Inhalt und Erleben des "Mehrteilers" gestellt wurden, geht auf eine methodische Zurückhaltung gegenüber medien-inhaltlichen Fragen zurück, die zwar grundsätzlich sinnvoll ist, aber neu überdacht werden muss. M.E. stellen fokussierte Fragepassagen, die nicht nur die Rezeptionssituation, sondern auch die szenischen Inhalte und deren assoziatives Erleben anzielen, ein vorzügliches Mittel der Beobachtung von Rezeptionsprozessen dar. <zurück>

43) Zur medialen Angstverarbeitung vgl. PETTE und CHARLTON (1997). <zurück>

44) S. oben Anm. 31 zur transgenerationalen Übertragung. <zurück>

45) Zum Begriff des Agierens und der Spaltungsübertragung in dissoziativen (und borderlinen) Interaktionsdynamiken vgl. KERNBERG et al. (2000, S. 100ff. und 506ff.). <zurück>

46) Zur Gegenübertragung im Kontext von so genannten "primitiven" oder borderlinen Abwehrmechanismen wie der dissoziativen Spaltung, Verdeckung und Idealisierung vgl. KOENIGSBERG (2000, S.87-98). Vgl. ferner MERTENS und WALDVOGEL (2000); zu gruppendynamischen Aspekten von Übertragung und Spaltungsübertragung vgl. TSCHUSCHKE (2000); zur Inszenierung vgl. KERNBERG et al. (2000, S. 505ff. und insbes. S.511); zu psychogenetischen Fragen der (De-) Symbolisierung bzw. (Re-) Somatisierung von erlebter Erfahrung vgl. BÖHME-BLOEM (2000, S. 307ff.), ferner BÖHME-BLOEM (2002). <zurück>

47) Für Beobachtungen zu Satzbaustörungen bei Borderline-Patienten vgl. SEARLES (2000, S.472ff.). Das allgemeine Ausmaß der Zwiespältigkeiten, die von der Position der Großmutter ausgeht, macht es zudem wahrscheinlich, dass sie, die gegenüber L das Familiengeheimnis gelüftet/gebrochen hat (dass nämlich L eine ältere Schwester hat), dies weniger in behutsamer als in impulsiver oder strategischer Weise getan hat ("und meine meine Oma meinte so ja dein Schwester kommt ich so häh was was für ne Schwester, ja dein Schwester ja ich bin doch n Einzelkind ne"). <zurück>

48) In radikalisierter Form entspräche dies der tendenziell borderlinen Befindlichkeit, die sich "als vollkommen unfähig zu fühlen" erlebt und die von Zweifeln geplagt ist, "ob sie überhaupt zur Wahrnehmung von Gefühlen in der Lage ist" (SEARLES 2000, S.433). <zurück>

49) Im Anschluss an Stavros MENTZOS' (1988) Konzept der psychosozialen und institutionellen Abwehr sowie seinen Begriff des psychosozialen Arrangements könnte, um der mediensozialisatorischen Perspektive gerecht zu werden, von einem psycho-sozio-medialen Arrangement gesprochen werden. <zurück>

50) Zum Begriff der medialen Trauma-Assoziation und Empathieresonanz vgl. WEILNBÖCK (2003b). <zurück>

51) Zu magischem Denken vgl. ROHDE-DACHSER (2000, S.101ff.). <zurück>

52) So diskutiert STONE (2000, S. 691f.) unter den "prognostischen Faktoren für die Borderline-Persönlichkeitsstörung" die Kategorie Glaubensverlust versus Spiritualität; angesichts der tief greifenden (Selbst-) Vertrauens-Problematik von dissoziativ strukturierten Persönlichkeiten stellen Formen der Spiritualität einen ausgesprochen positiven prognostischen Faktor dar. Allerdings ist hier unbedingt eine differenziale Abgrenzung zum Faktor des tendenziell paranoiden magischen Denkens notwendig, die bei STONE nicht bedacht ist. <zurück>

53) Zum handlungstheoretischen Begriff der Narration und des narrativen Durcharbeitens vgl. PANTOJA (2001) bzw. WEILNBÖCK (2003c). <zurück>

54) Für eine Modellierung des Zusammenhangs von medialem und lebensweltlichem Handeln vgl. CHARLTON (1992, 1993). <zurück>

55) Für wegweisende theoretische Grundlegungen zur so genannten postmoderne Identität aus der Sicht einer sozialwissenschaftlich aufgefassten Objektbeziehungstheorie vgl. HONNETH (2000). <zurück>

56) Für eine Textanalyse nach dem Kriterium der dissoziativen bzw. borderlinen Interaktionsstruktur vgl. WEILNBÖCK (2003d), monografisch WEILNBÖCK (2004). <zurück>

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Zum Autor

Harald WEILNBÖCK ist Germanist, Kulturwissenschaftler und Gruppenanalytiker. Er hat in München, Berlin, New Haven, Los Angeles und Paris studiert bzw. unterrichtet und promovierte an der UCLA in Los Angeles mit einer Arbeit über HÖLDERLIN und HEIDEGGER, die auf neuere beziehungsanalytische sowie psychotraumatologische Begriffe rekurriert. Es erschienen Aufsätze zur literaturpsychologischen Text- und Filmanalyse, zu psychoanalytischen Themen, zur Shoah-Literatur, zu Fragen der literarischen Traumabearbeitung, zur qualitativ-soziologischen Lese- und Medienrezeptionsforschung und Narrationstheorie sowie zur "gruppenanalytischen Literaturinterpretation". Die verschiedenen Arbeitsbereiche sind durch ein handlungstheoretisches Gegenstandsverständnis von Literatur auf der Basis der psychoanalytischen Theorien der Gegen-/Übertragung verbunden. Harald WEINBÖCK ist im Begriff, seine Habilitation mit einer Arbeit über die "borderline literarische Interaktion am Beispiel Ernst Jünger" abzuschließen. Er führt als Lehrbeauftragter der Freien Universität Berlin das Pilotprojekt "Gruppenanalytisches Literaturseminar" durch und beabsichtigt, im plurimethodischen Vorgehen literaturpsychologische Textanalyse und qualitativ-sozialwissenschaftliche Rezeptionsforschung zu verbinden.

Kontakt:

Dr. Harald Weilnböck (Ph.D.)

D-10711 Berlin, Kurfürstendamm 123

E-Mail: hweilnboeck@gmx.de

Zitation

Weilnböck, Harald (2003). Leila: Dissoziative (Medien-) Interaktion und Lebensweg einer jungen Erwachsenen. Eine (medien-) biografische und psychotraumatologische Fallstudie [97 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 9, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs030399.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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