Volume 4, No. 3, Art. 13 – September 2003

Rezension:

Dagmar Hoffmann & Markus Wiemker

Rainer Winter & Lothar Mikos (Hrsg.) (2001). Die Fabrikation des Populären. Der John-Fiske-Reader (Reihe: Cultural Studies – Bd. I). Bielefeld: Transcript Verlag, 371 Seiten, ISBN 3-933127-65-3, EUR 25,80

Udo Göttlich, Lothar Mikos & Rainer Winter (Hrsg.) (2001). Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen (Reihe: Cultural Studies – Bd. II), Bielefeld: Transcript Verlag, 348 Seiten, ISBN 3-933127-66-1, EUR 25,80

Zusammenfassung: Der erste Band der Cultural Studies-Reihe versammelt – zusammengestellt von Rainer WINTER und Lothar MIKOS – die wichtigsten Aufsätze des Populärkulturforschers John FISKE. Der Autor analysiert die Polysemie und Popularität unterschiedlicher, kultureller Phänomene wie etwa Musikvideos von Madonna, die Fernsehserie "Hart aber herzlich" oder das Medienereignis um O.J. Simpson. Der Reader führt den Leser punktuell in das Werk von FISKE ein und thematisiert die Cultural Studies als Methode zur Analyse gesellschaftlicher und soziokultureller Phänomene. Die Essenz und Substanz der Beobachtungen und Analysen von FISKE zeigt sich in der Akzentuierung eines breit gefassten Kulturbegriffes und in der Operationalisierung und Aufwertung der Alltags- bzw. Populärkultur. Kultur wird hier als ganze Lebensweise konzeptionalisiert, die in der Praxis aus einer Reihe sich verändernder, miteinander konkurrierender und konfligierender Sinnmuster und Bedeutungen besteht.

Der zweite Band, herausgegeben von Udo GÖTTLICH, Lothar MIKOS und Rainer WINTER, besteht aus einer Auswahl von Aufsätzen, die die unterschiedlichen Formen des Projekts der Cultural Studies, dessen Rezeption in Deutschland und die Schnittstellen – Anschlusspunkte, Parallelen und Unterschiede – zu anderen Disziplinen skizziert. Sehr eindrücklich belegen die Beiträge in diesem Buch die Relevanz und die Möglichkeiten des Cultural Studies-Ansatzes, ethnographische, semiotische und hermeneutische Methoden transdisziplinär in der Sozial-, Medien- und Kulturforschung zu verknüpfen und kontinuierlich die Alltags- bzw. Populärkultur nicht nur der Massen, sondern auch von Subgruppen, zu hinterfragen und darzustellen. Dem Leser bietet dieser Sammelband die Möglichkeit, einen interessanten Einblick in die historischen und internationalen Verzweigungen der Forschungstradition zu erhalten.

Diese Reihe leistet einen viel versprechenden Beitrag zur Etablierung des Cultural Studies Approachs im deutschsprachigen Raum.

Keywords: Cultural Studies, Populärkultur, Ethnographie, Medienforschung

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Cultural Studies exemplarisch vertreten durch das Werk von John FISKE

3. Potenziale und Perspektiven der Cultural Studies – die Beurteilung eines transdisziplinären Projekts aus Sicht verschiedener Disziplinen

4. Fazit und Ausblick

Literatur

Zur Autorin und zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Die vorliegenden Bücher versuchen einen viel versprechenden Beitrag zur Etablierung des Cultural Studies Approachs im deutschsprachigen Raum zu leisten. Die Medienwissenschaftler Rainer WINTER und Lothar MIKOS haben sich einen bekannten Vertreter der Cultural Studies (CS) ausgesucht, dem sie einen Reader mit seinen ins Deutsche übersetzten Texten gewidmet haben. Es ist kein Zufall, dass John FISKEs Aufsätze hier ausgewählt wurden, die die Populärkultur und das Populärwissenschaftliche hier populär werden lassen sollen. Ergänzt wird dieser Reader durch einen Sammelband zum Cultural Studies Approach, der von den eben genannten Autoren und einem weiteren Anhänger der CS, dem Mitherausgeber Udo GÖTTLICH, zusammengestellt wurde. Dieser Sammelband versucht, den komplexen medien- und kulturtheoretischen Ansatz für ein breites Publikum transparent zu machen und im Hinblick auf seine wissenschaftliche Relevanz und seine empirische Brauchbarkeit zu überprüfen. Beide Bände sind der Auftakt einer neuen Reihe im transcript Verlag, der damit den längst überfälligen, aber dennoch wichtigen Versuch unternimmt, eine Reihe zu den Cultural Studies einzurichten. [1]

2. Die Cultural Studies exemplarisch vertreten durch das Werk von John FISKE

Der erste Band der transcript Reihe Cultural Studies trägt den Titel "Die Fabrikation des Populären. Der John FISKE Reader". Dieser präsentiert eine Auswahl von insgesamt zehn Texten eines renommierten Vertreters der CS. Bis auf den ersten sind alle veröffentlichten Texte in chronologischer Reihenfolge publiziert und inhaltlich aufeinander abgestimmt. Gerahmt werden die Beiträge von einem Vor- und einem Nachwort. Rainer WINTER führt auf acht Seiten einen der wichtigsten Vertreter der CS ein und verweist auf die Tradition der CS, deren Ursprünge in Großbritannien liegen und die auf die 1960er Jahre datiert werden können. Damals schlossen sich verschiedene britische Kulturtheoretiker zusammen, die in einem interdisziplinären Rahmen empirische Untersuchungen mit theoretischen Reflexionen zu verknüpfen versuchten. Im Mittelpunkt stand die Frage, was unter dem Begriff der Kultur zu verstehen ist und wie Kultur zu deuten ist. Dies wird in den ausgewählten Texten von FISKE immer wieder thematisiert. In der neunseitigen Nachlese fasst Lothar MIKOS das Wesentliche von FISKEs Werk zusammen, in dem es um die kritisch-reflektierte Ablehnung eines eher egalitären Verständnisses von Kultur geht. Die Essenz und Substanz der Beobachtungen und Analysen von FISKE liegt demzufolge in der Akzentuierung eines breit gefassten Kulturbegriffes und in der Operationalisierung und Aufwertung der Alltags- bzw. Popularkultur. [2]

Zu Beginn wird der Leser des Readers mit einem Aufsatz FISKEs aus dem Jahre 1992 "Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen" über die theoretischen Ursprünge der CS aufgeklärt, die in der philosophisch-ökonomisch, sprich marxistischen Tradition sowie in der kulturellen Ideologiekritik liegen. Der Aufsatz versteht sich als grobe Einführung in die CS und macht den Leser mit den elementaren Denkstrukturen dieses Ansatzes vertraut: Kultur wird demnach grundsätzlich hegemonial ausgehandelt und umfasst die Gesamtheit von Lebensweisen und Organisationsmustern. Der Begriff der Kultur, wie er von den Vertretern der CS verwendet wird, impliziert gesellschaftliche Machtverhältnisse und betont immer die politisch ideologische Komponente. Anhand von Beispielen wie etwa dem Action-Detektivkrimi ("Starsky & Hutch", "Magnum", "Simon & Simon") oder der Musikvideos von Madonna werden dominante und oppositionelle Lesarten von unterschiedlichen Fernsehbeiträgen erläutert, die immer vor dem Hintergrund der herrschaftlichen und kulturellen Verhältnisse gedeutet werden können bzw. müssen. Zwar sind alle medialen Inhalte grundsätzlich polysem – im Sinne von vieldeutig – und gilt es vor allem, das besondere Interesse des Produzenten zu identifizieren, aber in der Interpretation ist der Rezipient weitestgehend autonom. Es fließen lediglich seine Erfahrungen und sein Wissen ein, das er sich im Kontext seiner individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung angeeignet hat. Eine bedeutende Rolle im Interpretations- und Aneignungsprozess spielen die Klassen- bzw. Gruppenzugehörigkeit(en), das Geschlecht, Alter und die ethnische Herkunft. [3]

Welche vielschichtigen Lesarten die Populärkultur ermöglicht, wird etwa an den Musikvideos von Madonna aufgezeigt. Anhand des breiten Spektrums an Reaktionen, an Kommentaren im Fernsehen von Kritikern und Journalisten, in Fanzines und der Boulevardpresse wird mittels der ethnographischen Methode die hohe Intertextualität von Images analysiert. Der "Prozess der Bedeutungsproduktion" (S.63), an dem sich die Menschen aktiv beteiligen, steht im Vordergrund der Betrachtung und Analyse von FISKE. Seine Kulturanalyse des Fernsehens besteht grundsätzlich aus der Untersuchung von Texten und den Beziehungen, die auf folgenden drei Ebenen entstehen: 1. beim ursprünglichen Text im Fernsehen, den die Kulturindustrie produziert hat; 2. bei Texten, die auch von unterschiedlichen Sektoren der Kulturindustrie produziert werden: Fernsehkommentare, Fanzines, Tratschkolumnen etc. und 3. bei Texten, die die Zuschauer selbst produzieren über das Fernsehen, auch ihrer Aneignung der im Fernsehen gezeigten Kleidungsstile, Denkweisen. Anhand der Analyse dieser speziellen Beziehungen kann eine Kultur der Herrschaft und eine Kultur der Untergeordneten erkannt werden. Wichtig zu wissen ist dabei, dass jeder Text und jede Lesart "eine soziale und damit auch eine politische Dimension" besitzt, "die sich teils in der Struktur des Textes selbst, teils aber auch in der Beziehung des lesenden Subjekts zu diesem Text finden lässt" (S.45). [4]

Der Aufsatz zum "Bardischen Fernsehen" von 1978 wirkt in der Textsammlung sehr speziell und kommt somit einem Exkurs nahe. Demgegenüber ermöglicht der Zeitschriftenaufsatz von 1986 mit dem Titel "Fernsehen: Polysemie und Popularität" eine genauere Beschäftigung mit FISKEs Interpretation des Cultural Studies Approachs. So wird am Beispiel einer Sequenz der Krimiserie "Hart to hart" ("Hart aber herzlich") gezeigt, dass zwar die Zentralisierung von Bedeutungen beabsichtigt werden, dass der Zuschauer dem aber auch widersteht und dass immer eine Sub- und Alternativkultur bewahrt bleibt. Das Fernsehen ist dialogisch populär, in dem es zu ein und derselben Zeit sowohl den Interessen der Herrschenden als auch jenen der Untergeordneten dienen kann (S.108). Der Beitrag zum Thema "Die populäre Ökonomie" erläutert selbstkritisch das Problem des Populären. FISKE betont in dem Zusammenhang, dass die Menschen keine "Kulturtrottel" sind, sondern eigenaktiv handelnde und kritische Rezipienten, die "sich auf vielfältige Weise mit dem dominanten Wertsystem arrangieren oder sich diesem widersetzen" (S.113). Er verweist hier auf die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den CS vor dem Hintergrund des Habitus-Konzepts von BOURDIEU. [5]

Im weiteren Verlauf des Readers wird der Frage nachgegangen, warum Menschen, die in der Gesellschaft marginalisiert sind und an der Armutsgrenze leben, Gewaltfilme rezipieren. Engagiert schildert FISKE die Kultur der Obdachlosen und deren kulturelle Praktiken. Er konnte beobachten, dass die Obdachlosen in ihrem Rezeptionsverhalten die sozialen Werte negieren, an die beispielsweise bei den gewaltsamen Konflikten in dem Film "Stirb langsam" ("Die Hard") appelliert werden. Sie stellen sich nicht auf die Seite des Protagonisten, der ein unnötiges Blutbad verhindern will, sondern auf die Seite der Terroristen. Die Obdachlosen lehnen kategorisch das Programmfernsehen ab und distanzieren sich auf diese Weise von den Normen der Häuslichkeit und der familiären Beziehungen, der Arbeit und des Geldverdienens. FISKE nimmt im Weiteren eine detaillierte Analyse des Mikro- und Makromilieus eines Obdachlosenheims vor, wobei er sich im Wesentlichen der ethnographischen Methode bedient. Kultur und Struktur werden über systemische, nicht über positivistische Modelle zu erfassen versucht. FISKEs Daten über Obdachlose sind nicht repräsentativ in dem Sinn, dass sie auf andere Obdachlose übertragbar wären. Generalisiert werden kann aber hingegen "die Arbeitsweise des Systems ..., in dessen Rahmen sich diese spezifischen Umstände von Obdachlosigkeit entwickelt haben" (S.204). FISKE weist darauf hin, dass die Ergebnisse seiner Beobachtungen und Analysen immer vor dem Hintergrund der Subjektivität interpretiert werden müssen, und zwar der Subjektivität des Beobachters und auch der zu Beobachtenden. [6]

Das letzte Drittel des Readers wird eingeleitet mit der Auseinandersetzung über die Präsentation und der Bedeutung des Körpers in der Alltags- und der Medienwelt. In dem Beitrag "Körper des Wissens" von 1993 klärt FISKE mit Verweis auf FOUCAULT über die Macht der Körper auf, die in der Gesellschaft nicht nur kulturalisiert, sondern auch materialisiert werden. Körper und dessen Präsentationen ermöglichen Differenzierungen und definieren Machtgefälle zwischen den Individuen, die auch politisch genutzt werden können, indem z.B. in Institutionen Körper über Gesten, Verhaltensweisen und Kleidung (Schuluniformen) diszipliniert werden. Insbesondere "die Vitalität des improvisierenden, expressiven schwarzen Körpers" (S.221) provoziert die weiße Bevölkerung in den USA so sehr, dass sie diese Körper als Bedrohung erlebt und eine strenge Disziplinierung und soziale Positionierung durchzusetzen versucht. Dies wird in dem darauf folgenden Beitrag über den Fall O.J. Simpson ("The Juice is loose") eindrucksvoll und recht ausführlich, geschildert. Der Footballstar und Sportreporter wird Anfang der 1990er Jahre des Mordes an seiner Frau und dessen Freund beschuldigt. Die Geschichte von der Festnahme des Verdächtigten, über den Prozessverlauf bis hin zum Freispruch bewegte Millionen von Amerikanern und wurde zu einem der größten Fernsehereignisse in der Geschichte der USA schlechthin. FISKE analysiert den Verlauf der medialen Aufbereitung dieser Berichterstattung sehr genau im Hinblick auf die medial vermittelte Sexualisierung und Kriminalisierung einer Minderheit, indem er die Diskurse der Medien auf ihren Realitätsgehalt hin überprüft. Er kann zeigen, dass in den Diskursen nicht die Realität repräsentiert wird, die dem Diskurs wirklich vorangegangen ist. In den Diskursen wird eher eine Realität konstituiert, die soziale Konsequenzen induziert, z.B. für das Rechtssystem, die Beschäftigungspolitik, das Waffengesetz und für die "weiße Furcht" (S.251). FISKE klärt über die rassistische Diffamierung der Männlichkeit von Schwarzen auf, die in der Furcht der Weißen vor dem Anderssein gründet. Die Inszenierungen und Verwertungen von Geschlecht und Rasse sind die bestimmenden Themen FISKEs, dem auch der letzte Beitrag des Readers ("Die Überwachung der Stadt: Weißsein, der schwarze Mann und demokratischer Totalitarismus") gewidmet ist. Hier geht es FISKE darum, anhand der allgemeinen Videoüberwachungspraxis in den USA zu zeigen, dass die televisuelle Dokumentation von Privatheit nicht nur Sicherheitsaspekten dient, sondern auch im Hinblick auf bestehende oder intendierte Ressentiments gegenüber Minderheiten missbraucht werden kann. [7]

Der Reader führt den Leser punktuell in das Werk von John FISKE ein und thematisiert die CS als Methode zur Analyse gesellschaftlicher bzw. soziokultureller Phänomene. Kultur wird als ganze Lebensweise konzeptionalisiert, die in der Praxis aus einer Reihe sich verändernder, mit einander konkurrierender und konfligierender Sinnmuster und Bedeutungen besteht. Diese werden vorwiegend über ethnographische Zugänge, d.h. mittels Diskurs- und Inhaltsanalysen sowie Beobachtungen zu verstehen und zu interpretieren versucht. Es wird dem Leser bei der Lektüre des Readers bald deutlich, dass der Cultural Studies Approach keine soziologische Theorie im klassischen Sinne ist, sondern dass er lediglich Paradigmen bereithält, die sich auf einen breit gefassten Kulturbegriff berufen und auf Populärkultur fokussiert sind. Dem CS-Einsteiger fehlt an einigen Stellen des Bandes eventuell der theoretische Überbau, um das Werk in Gänze und im Hinblick auf seine Relevanz für den kulturwissenschaftlichen Diskurs einschätzen zu können; auch vermisst er mitunter Kernaussagen wie sie andere Theorien für sich beanspruchen. Aber FISKEs Werk ist eben nur ein Beitrag zum interdisziplinären Projekt der CS, dem viele andere – zum Teil anderer nationaler und ideologischer Prägung – angehören. Wünschenswert wären deshalb insbesondere für Nichtexperten mehr Hintergrundinformationen und Interpretationshilfen zum Werk von John FISKE, auch einige Angaben zu seinem curriculum vitae, wären hilfreich gewesen. [8]

3. Potenziale und Perspektiven der Cultural Studies – die Beurteilung eines transdisziplinären Projekts aus Sicht verschiedener Disziplinen

Der Sammelband von GÖTTLICH, MIKOS und WINTER mit dem Titel "Die Werkzeugkiste der Cultural Studies" vereinigt insgesamt 13 Beiträge von Autoren unterschiedlicher Disziplinen. Der Titel weckt zunächst vielleicht die Erwartung einer Methodenübersicht der CS, in dem vorliegenden Buch dreht es sich jedoch vielmehr um "Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen", um den positiven Aspekt der Unabschließbarkeit von Paradigmen und theoretischen Positionen innerhalb der CS. In dieser Auswahl von Aufsätzen geht es im Wesentlichen um die unterschiedlichen Formen des Projekts der CS, dessen Rezeption in Deutschland und um die Schnittstellen – Anschlusspunkte, Parallelen und Unterschiede – zu anderen Disziplinen. Anhand einiger zentraler Beiträge sei im Folgenden exemplarisch auf die Kernpunkte der Diskussion innerhalb der CS verwiesen. [9]

Udo GÖTTLICH resümiert in einem einleitenden Beitrag die Epistemologie der CS aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Er weist darauf hin, dass es eigentlich keine Erkenntnistheorie der CS gibt, da sich dessen Geschichte als Tradition wechselvoller, theoretischer Verschiebungen, als Kampf um Positionen und Bedeutungen darstellt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Ethnographie, der postmarxistische Kulturalismus und der (Post-) Strukturalismus. Mit Hilfe dieser theoretischen Modelle und Methoden werden Strukturen und Prozesse der Alltags- und Populärkultur und das Wechselspiel von Medien und Rezeption analysiert. Rainer WINTER konzentriert sich in dem darauf folgenden Aufsatz auf die Rolle der Ethnographie innerhalb der CS, ihren Einfluss auf die aktuelle, deutsche Ethnographie und die unzureichende Rezeption neuerer ethnographischer Ansätze. Während die ethnographische Forschung in Deutschland nach Ansicht des Autors vorwiegend einem post-positivistischen Paradigma folgt und davon ausgeht, dass qualitative Untersuchungen eine von ihnen unabhängige Wirklichkeit möglichst realistisch repräsentieren sollen, wird innerhalb der CS die Rolle des Forschers als Beobachter radikal problematisiert und die zentrale Bedeutung der Interpretation herausgestellt. Im Mittelpunkt steht hierbei die Vorstellung, dass die Erfahrungen, die ethnographische Forscher in ihren Texten beschreiben und analysieren, durch diesen Prozess selbst "mitkonstruiert" werden. [10]

Christina LUTTER und Manuela Ribeiro SANCHES berichten von ihren Erfahrungen und Bemühungen, die CS in die Kultur- und Literaturwissenschaften sowie Germanistik praktisch und innovativ einzubringen. LUTTER stellt ein 1998 in Österreich initiiertes kulturwissenschaftliches Forschungsnetzwerk vor, dessen Ziel es ist, einen stärkeren Dialog über die theoretischen Grundlagen und über die praktische Relevanz kulturwissenschaftlicher Forschung zu führen. Dabei sollen die CS nicht als abgegrenzte Forschungstradition verstanden werden, sondern als ein Konglomerat von Disziplinen und Themenfeldern, das multiple methodische Ansätze und Forschungsstrategien anzubieten hat. Wie schwierig allerdings eine transdisziplinäre Vermittlung kulturwissenschaftlicher und -soziologischer Theorien und Methoden ist, erörtert SANCHES am Beispiel des Studiengangs "Deutsche Kultur" in Portugal. Die Auslandsgermanistin macht auf die lokal begrenzte Übertragung und Übertragbarkeit der CS aufmerksam. Bestimmte Themenfelder der CS können aufgrund unterschiedlicher nationaler Traditionen, Werte und Vorstellungen global nicht unbedingt eine einheitliche Rezeption zur Folge haben. [11]

Roman HORAK und Otto PRENZ schildern die Rezeption der CS in der Sportforschung in Deutschland und Österreich seit ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Die Autoren bilanzieren für den deutschsprachigen Raum im Gegensatz zum angloamerikanischen einen marginalen Einfluss der CS auf den sozial- und kulturwissenschaftlichen Sportdiskurs. Mühsam vollzieht sich auch die Rezeption der CS in der Erziehungswissenschaft. Olaf SANDERS unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, anhand einer Analyse von neuen club-kulturellen Prozessen den Blick auf bildungsrelevante Entwicklungen in der Tradition der CS zu schärfen. Der Autor widmet sich in seinen philosophischen Ausführungen den Möglichkeitsbedingungen der Entstehung von Neuem und prüft dahingehend explorativ die Erzählstrukturen in den Produktionen des Musikers und Produzenten Carl Craigs. Einer kulturellen Analyse unter Verwendung des hier besprochenen Ansatzes von popkulturellen Phänomenen wendet sich im Weiteren Richard GEBHARD zu. Er zeigt auf, dass die Popzeitschrift SPEX in ihren Texten und Berichten über Musikstile, Bands und Popkultur – zwar "mit einer gewissen Unschärfe" und "parallel und unabhängig vom akademischen Diskurs" (S.190) – aber dennoch beständig und zuverlässig den Cultural Studies Approach publiziert und propagiert. Vielen Artikeln ist das besondere Erkenntnisinteresse bezüglich der Praxis jugendlicher Subkulturen gemein, wobei die Analysen populärkultureller Phänomene in Anlehnung an die CS vor dem Hintergrund der Diskussionen um Gender, Race, Ethnizität und Identität erfolgen. [12]

In vielen Beitragen des Buches wird betont, dass das Bestechende an den CS ihre Transdisziplinarität sei. Diese erweist sich nach Ansicht von Birgit WAGNER unvermeidlich aber auch als schwerwiegendes Problem in der Forschungspraxis, in der man sich bekanntlich nur über Spezialisierung professionalisiert. In ihrem Beitrag "Denken (und Schreiben) in Netzwerken: Antonio Gramsci, Walter Benjamin und Antonio Machado" plädiert sie mit Bezug auf bedeutende Philosophen und mit einem Verweis auf den spanischen Lyriker MACHADO für eine metatheoretische Darstellung und Reflexion der CS. Diese kann bei einer engagierten und verbindlichen Vernetzung der Disziplinen sehr aussichtsreich und kreativ sein, weil damit auch disziplin- und kulturraumübergreifende Fragestellungen bearbeitet werden können. Die Betrachtung und Bestimmung von Populärkultur allein auf nationaler Ebene scheint in Zeiten fortschreitender Globalisierung nach Auffassung von Andreas HEPP und Carsten WINTER kaum noch sinnvoll. Es bietet sich an, die CS vor dem Hintergrund dieser Entwicklung als transkulturelle Medienforschung zu betreiben, die globale medienökonomische Prozesse mit berücksichtigt. [13]

Abschließend verweist Lothar MIKOS noch auf die Verbindung von CS, Medienanalyse und Rezeptionsästhetik. Wurden zunächst in Deutschland vor allem die ethnographisch orientierten Arbeiten der CS, insbesondere zur Mediennutzung im Alltag, rezipiert, so erfolgt nun eine Wende zur Untersuchung der Strukturmerkmale von Medientexten. MIKOS fordert in diesem Zusammenhang eine Verbindung von Rezeptions- und Textanalysen, eine Rezeptionsästhetik der audiovisuellen Medien, die in den Kontext der CS eingebettet ist. [14]

Am Ende des Buches kommt dem Leser das Vorwort der Herausgeber in den Sinn, in dem es heißt: "Es gibt (bisher) nicht die Disziplin der Cultural Studies, sondern Wissenschaftler, die sich dem Projekt der Cultural Studies verpflichtet fühlen – jenseits disziplinärer Grenzen" (S.8). Deutlich wird in dem Sammelband die heterogene Auslegung des CS-Approaches, der eben einen theoretischen Ansatz und weniger ein klar umrissenes Theoriemodell darstellt. Sehr eindrücklich belegen die Aufsätze in dem Buch die Wichtigkeit und die Möglichkeiten des CS-Ansatzes, ethnographische, semiotische und hermeneutische Methoden transdisziplinär in der Sozial-, Medien- und Kulturforschung zu verknüpfen und kontinuierlich die Alltags- bzw. Populärkultur nicht nur der Massen, sondern auch von Subgruppen zu hinterfragen und darzustellen. Dem Leser wird ein Einblick in die historischen und internationalen Verzweigungen der Forschungstradition der CS gewährt, der zum Verständnis der CS wesentlich beiträgt. Die versammelten Beiträge können weniger als Werkzeuge oder Hilfen zur Analyse gesehen werden; sie zeigen aber insgesamt – und dies in gelungener Form – die Breite des Spektrums der unterschiedlichen Theorien und Methoden innerhalb der CS auf, die explizit theoretisch wie methodisch offen strukturiert sind (vgl. DONGES & MEIER 2001). [15]

4. Fazit und Ausblick

Nach der Lektüre beider Bücher der neuen Reihe des transcript Verlages Cultural Studies ist insgesamt die Entwicklung und Bedeutung dieses theoretischen Paradigmas in seiner Ausdifferenziertheit, seinen Möglichkeiten und Grenzen deutlich geworden. Der Diskurs über die CS wird allerdings weitestgehend unter Experten und Anhängern geführt, weshalb sich die Bücher weniger als Einstiegslektüre für interessierte Studierende eignen. Dennoch ermöglichen die verschiedenen disziplinären Perspektiven auf die CS eine Bestimmung dessen, was die Attraktivität dieses Ansatzes und seinen Nutzen für die Charakterisierung von Populärkultur ausmacht. Die CS sind nach Auffassung der Autoren relativ unkompliziert an verschiedene disziplinäre Wissenschaften anschlussfähig und ergänzen diese um elementare makrotheoretische Überlegungen. Offenkundig wird jedoch der eingeschränkte Gebrauchswert des CS-Ansatzes, der in seiner Komplexität und seinen methodischen Herangehensweisen einerseits viel versprechend und andererseits sehr umfassend und im Hinblick auf Objektivität und Einheitlichkeit angreifbar scheint. Der empirisch-medienorientierte Sozialwissenschaftler wird anhand der beiden Bücher mitunter nicht genau wissen, wie die CS für die Forschung chancenreich genutzt und eingesetzt werden können und etwas vergeblich nach der Bedienungsanleitung in der Werkzeugkiste gesucht haben. Eventuell – und dies wäre wünschenswert – folgen in der Reihe aber noch entsprechende Handreichungen. [16]

Unverständlich bleibt, warum sich der CS-Approach so mühsam insbesondere im deutschsprachigen Raum etabliert, wohingegen er im englischsprachigen seit den frühen 1960er Jahren einen festen Platz innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften hat. Wie marginalisiert die CS nach wie vor sind, lässt sich auch daran ablesen, dass die Methoden und Modelle der CS oftmals in einführenden Lehrbüchern zu Medien- und Kulturtheorien vergessen, nur kryptisch oder sehr komprimiert berücksichtigt werden (vgl. u.a. DONGES & MEIER 2001, KROTZ 2000, MEYEN 2001). Hier könnte die initiierte Reihe mit weiteren Übersetzungen wichtiger Cultural Studies-Autoren wie Raymond WILLIAMS, Stuart HALL oder Douglas KELLNER ein nützlicher Wegbereiter für eine größere Publizität sein. Hoffen wir mit Rolf LINDNER (2000, S.13), dass so die verdiente "Stunde der Cultural Studies" im deutschen Sprachraum gekommen ist. [17]

Literatur

Donges, Patrick & Meier, Werner A. (2001). Gesellschafts- und Medientheorien. In Otfried Jarren & Heinz Bonfadelli (Hrsg.), Einführung in die Publizistikwissenschaft (S.69-99). Bern, Stuttgart und Wien: Haupt.

Krotz, Friedrich (2000). Cultural Studies – Radio, Kultur und Gesellschaft. In Klaus Neumann-Braun & Stefan Müller-Dohm (Hrsg.), Medien- und Kommunikationssoziologie. Eine Einführung in zentrale Begriffe und Theorien (S.159-180). Weinheim und München: Juventa.

Lindner, Rolf (2000). Die Stunde der Cultural Studies. Wien: Universitätsverlag.

Meyen, Michael (2001). Mediennutzung: Medienforschung, Medienfunktionen, Nutzungsmuster. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

Zur Autorin und zum Autor

Dagmar HOFFMANN, Studium der Soziologie mit den Nebenfächern Psychologie und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, Promotion zum Thema "Attraktion und Faszination Medien – Jugendliche Sozialisation im Kontext von Modernisierung und Individualisierung" an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz. Im WS 2001/02 und SS 2002 Vertreterin der Professur Mediennutzung im Studiengang Medienkommunikation der TU Chemnitz. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Audiovisuelle Medienwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Medientheorien und -forschung, Jugendsozialisation, Politische Soziologie, Kultursoziologie. Dagmar HOFFMANN hat in einer zurückliegenden FQS-Ausgabe einen Rezensionsaufsatz zu Stadt und Kommunikation im digitalen Zeitalter verfasst.

Kontakt:

Dr. phil. Dagmar Hoffmann

Hochschule für Film und Fernsehen
"Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg
AV-Medienwissenschaft/Präsidialamt
Marlene-Dietrich-Allee 11
D – 14482 Potsdam

Tel.: +49 – (0)331 – 6202-133
Fax.: +49 – (0)331 – 6202-199

E-Mail: d.hoffmann@hff-potsdam.de
URL: http://www.hff-potsdam.de/

 

Markus WIEMKER, Studium der Soziologie mit dem Schwerpunkt Cultural Studies und Mediensoziologie, Psychologie und Philosophie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Im WS 2001/02 und SS 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Medienkommunikation an der TU Chemnitz. Seit Oktober 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Zurzeit schließt der Autor sein Promotionsvorhaben über "Die Realitätskonstruktion der Medien" ab. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Analysen von Film, Fernsehen und Internet sowie die gesellschaftliche Wirkung von Computerspielen.

Kontakt:

Markus Wiemker, M.A.

Universität Mannheim
Medien- und Kommunikationswissenschaft
L5, 1
D – 68131 Mannheim

Tel.: +49 – (0)621 – 181-2301
Fax.: +49 – (0)621 – 181-3114

E-Mail: wiemker@uni-mannheim.de
URL: http://www.wiemker.org/

Zitation

Hoffmann, Dagmar & Wiemker, Markus (2003). Rezension zu: Rainer Winter & Lothar Mikos (Hrsg.) (2001). Die Fabrikation des Populären. Der John-Fiske-Reader / Udo Göttlich, Lothar Mikos & Rainer Winter (Hrsg.) (2001). Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen [17 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(3), Art. 13, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0303132.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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