Volume 4, No. 2, Art. 2 – Mai 2003

Rezension:

Michael B. Buchholz

Klaus Antons, Andreas Amann, Gisela Clausen, Oliver König & Karl Schattenhofer (2001). Gruppenprozesse verstehen. Gruppendynamische Forschung und Praxis. Opladen: Leske + Budrich, 392 Seiten, ISBN 3-8100-2996-3, EUR 29,00

Zusammenfassung: Das Buch Gruppenprozesse verstehen. Gruppendynamische Forschung und Praxis untersucht zwei transkribierte Trainingsgruppen einerseits mit qualitativen Methoden, andererseits mit gruppendynamischen Konzepten und konfrontiert beide Sichtweisen, die therapeutische und die qualitative Sicht der Forschung, auf eine produktive Weise. Dabei untersucht die Gruppe der Forschenden auch ihre eigenen Gruppenprozesse. In einer umgreifenden Reflexionsbewegung können die Prozesse des Verstehens auf beide Gruppen, der Teilnehmer wie der Forscher ausgedehnt werden. Diese komplexe Denkbewegung gelingt im Ganzen überzeugend. Einige dabei auftauchende Probleme werden diskutiert.

Keywords: Gruppendynamik, qualitative Forschung, objektive Hermeneutik

Inhaltsverzeichnis

1. Komplexitätsvermehrung – Wenn eine Gruppe eine Gruppe untersucht

2. Komplexitätsreduktion mit Qualitativen Methoden

3. Ordnungen und Strukturen – Überblick über das Buch

4. Zur Geschichte der Gruppendynamik – warum qualitative Forschung?

5. Die objektiv-hermeneutische Analyse der ersten Gruppe

6. Konfrontation der hermeneutischen Analyse mit dem Gruppenleiter

7. Interviews mit der zweiten Gruppe

8. Grunddilemmata der Gruppendynamik – und der Forschungsgruppe

9. Metaphern am Ende – eine persönliche Bemerkung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Komplexitätsvermehrung – Wenn eine Gruppe eine Gruppe untersucht

Endlich verfügen wir mit diesem Buch über eine überzeugende Studie, wie Gruppenprozesse qualitativ analysiert werden können. Gruppenprozesse lassen sich kaum studieren, indem man Studenten und Studentinnen für ein paar Stunden dabei beobachtet, wie sie irgendeine Leistung gemeinsam bewältigen und wie sich dabei Führungsrollen herausbilden und produktiv oder hinderlich bei der Aufgabenerfüllung auswirken. Überschreitet die Gruppengröße nur eine kleine Anzahl von Teilnehmern oder dauert sie länger als ein oder zwei Sitzungen werden die Prozesse derartig komplex, dass andere Ansätze als die Untersuchung abhängiger und unabhängiger Variablen erforderlich werden. Man muss "step by step" analysieren, die Interaktion der Teilnehmer und dabei auch die methodisch berücksichtigen können, die nichts sagen, aber doch schweigend teilnehmen und in diesem Schweigen nicht geringe Effekte auf die sprechenden Teilnehmer ausüben. Und man muss das Thema "Gruppe" für die eigene Forschungsgruppe thematisieren können, ein Vorgang, der alteuropäisch als Reflexivität zu Tode geritten wurde, nach einigen systemtheoretischen Wiederbelebungsversuchen als Reentry jedoch munter wieder Auferstehung feiert. [1]

Die Zahl der Autoren, die an diesem überfälligen Buch mitgearbeitet haben, lässt schon das Anspruchsvolle dieses Unternehmens ahnen. Das Ziel ist nämlich dreifach gesetzt:

2. Komplexitätsreduktion mit Qualitativen Methoden

Die dabei eingesetzten methodischen Mittel müssen, bei einem so anspruchsvollen Ziel, gekonnt gehandhabt werden können. Sie müssen variantenreich genutzt, ihre Zugangsweisen trianguliert und ihre Ergebnisse aufeinander beziehbar sein. Zum Zuge kommen sorgfältige Transkriptionen von Gruppenprozessen, die anlässlich von gruppendynamischen Fortbildungen stattfanden; es handelt sich also um Trainingsgruppen, nicht um Gruppen mit Patienten. Die Transkripte werden mikroanalytisch ausgewertet mit Hilfe der objektiven Hermeneutik, wobei die Autoren ein beträchtliches Maß an Expertise erkennen lassen. Außerdem wird Bezug genommen auf Grundsätze und Haltungen der "Grounded Theory" und schließlich werden die so gewonnenen Ergebnisse mit den Sichtweisen des jeweiligen Gruppenleiters konfrontiert. [3]

Schließlich kommt etwas hinzu, was das Niveau der dreifachen Zielsetzung deutlich macht und als angeleitete Selbstanalyse beschrieben wird, nämlich das, was sich die Gruppenteilnehmer an Erkenntnissen erarbeiten konnten mit dem, was die Forschungsgruppe findet, zu vermitteln; freilich erwies sich dies als extrem schwierig, weil die Beteiligten sich naturgemäß nur schwer aus den Handlungszwängen der Gruppenleitung lösen konnten. Und die beobachteten und evaluierten jeweiligen Gruppenleiter befanden sich ja auch auf dem gruppendynamischen Prüfstand, hatten also mit potentiellen Kränkungen ihrer Professionalität umgehen zu lernen, die aus der Konfrontation mit Forschungsbefunden und aus der Überprüfungssituation stammten. Je leichter das allmählich gelang, umso leichter konnte man zu einer "Analyse der Analyse" (S.17) voranschreiten. Wir sehen uns also einem Unternehmen gegenüber, das sich beständig die eigene Begriffsleiter unter den Füßen weganalysieren möchte, wenn der denkende Kopf schon über die nächste Begriffsmauer schaut. [4]

3. Ordnungen und Strukturen – Überblick über das Buch

Das Buch ist komplex aufgebaut, was der Anlage der Untersuchung entspricht. Untersucht wurden zwei Gruppen. Ihre Mitglieder waren deutsche und schweizerische Ausbildungsteilnehmer, die eine Qualifikation in Gruppendynamik erwerben wollten. Die erste Gruppe wurde sozialwissenschaftlich mit Mitteln der objektiven Hermeneutik analysiert (Kapitel 3), die gebildeten Strukturhypothesen werden dann (Kapitel 4) mit einer Darstellung des Prozesses derselben Gruppe durch den Gruppenleiter konfrontiert. Das 5. Kapitel beschreibt eine zweite Gruppe, deren Mitglieder über den Prozess interviewt wurden und dabei wird die Rolle des Interviewers auf eine höchst interessante Weise selbst wiederum thematisch. Das 6. Kapitel bringt die Konfrontation durch den Gruppenleiter und reflektiert Grunddilemmata der Gruppendynamik; hier wird diese Reflexion auch auf die Dynamik der Forschungsgruppe ausgedehnt. Das 7. Kapitel enthält Ergebnisse und Perspektiven, bringt Reflexionen zu Gesten, Metaphern, zur Arbeitsfähigkeit von Gruppen und auch zu den Lernergebnissen aus der Sicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Es wird mit Überlegungen zur Balance von Individualisierung und Vergemeinschaftung beschlossen. Das 8. und letzte Kapitel beschreibt die Kontextbedingungen der beiden analysierten Gruppen. – Nun zu den Darstellungen im einzelnen. [5]

4. Zur Geschichte der Gruppendynamik – warum qualitative Forschung?

Die einführenden Kapitel (1 und 2) geben einen gut lesbaren Überblick über die Geschichte der Gruppendynamik und ihrer Bewegung in Deutschland, in Verbindung mit v.a. amerikanischen Import-Ideen. Diese geraffte Skizze mündet in ein dreidimensional skaliertes Arbeitsmodell, dessen Dimensionen als Leitdifferenzen sensu LUHMANN beschrieben, dann aber im Weiteren als Themen behandelt werden: Es geht danach in Gruppen um Macht, Intimität und Zugehörigkeit. Die geringe Beachtung der letzten Dimension, so zeigt der historische Rückgriff, hatte seine Gründe in größeren kulturellen Kontexten wie der 68er Bewegung. Zugehörigkeit ist eine moderne Frage, deren Relevanz dann auch in gruppendynamischen Trainings neu auftaucht. Das ist eine interessante Beobachtung. Zugehörigkeit wird dann auch in der ersten beobachteten Gruppe zu einem zentralen Topos: die Gruppe besteht aus Schweizer Teilnehmern, die Trainer aber sind Deutsche. Als Trainingsgruppe ist sie nach einem Gruppenwahlprozess hervorgegangen, wobei die Teilnehmer unter bestimmten Gesichtspunkten sowohl ihre Trainer als auch ihre übrigen Mitglieder wählen konnten. Deshalb finden naturgemäß Äußerungen wie die eines Gruppenmitglieds, in der "anderen Gruppe" (sozusagen nebenan) fänden sich die interessanten Teilnehmer, nämlich weitere Deutsche besondere Aufmerksamkeit sowohl der textanalytisch arbeitenden Forscher als auch der Gruppentrainer. [6]

5. Die objektiv-hermeneutische Analyse der ersten Gruppe

Das dritte Kapitel beginnt dann mit einer genauen objektiv-hermeneutischen Analyse der ersten Interaktionssequenz; die einleitenden Bemerkungen der Gruppenleiterin werden sorgfältig und nachvollziehbar interpretiert, so dass man lesend etwas von der Spannung mitbekommt, mit der sie die objektiven Möglichkeiten der Antworten vorstrukturiert und gebahnt hat. Es folgen dann Analysen der weiteren Äußerungen von Teilnehmern, es wird Bezug genommen – dem eigenen Anspruch gemäß – auf die beinah unsichtbare, aber mit solchen Methoden erschließbare Beziehungsdynamik zwischen jüngerer Trainerin und dem erfahrenen Trainer. Und es ist angenehm, dass die Analysen in einem rezipientenfreundlichen Format gehalten sind; nicht selten begegnet einem bei objektiv-hermeneutischen Analysen das unsägliche Missverhältnis von wenigen Worten einer Äußerung und einem Vielfachen an Seiten der Interpretation. Die Sparsamkeit der Interpretation schadet hier nicht, sie spitzt eher zu auf notwendige Aussagen und diese Rücksichtnahme auf Leser wird auch von der Entscheidung gefördert, bestimmte Aspekte in Form von Exkursen zu bearbeiten. So erhält man einen sehr genauen Bericht über die Sitzordnung (oder über Lachen und Weinen), über deren Bedeutung und wie diese analysiert werden kann. Das ist umso wichtiger, als die Gruppe ihre Sitzordnung selbst bemerkt und äußerlich verändert – nicht aber ihre dynamische Struktur. Lediglich die Darstellung des Konflikts wird invisibilisiert, nicht aber der Konflikt bearbeitet. Wie gezeigt wird, dass etwa die Bezugnahme der Männer auf die Frauen Mittel der Vermeidung des Intimitätsthemas sind, ist absolut überzeugend und öffnet auch dem Gruppentherapeuten neue Überlegungen. Eben dies Muster der Vermeidung des einen durch Darstellung des anderen findet die objektiv-hermeneutische Analyse dann auch beim Umgang mit anderen Themen: das Thema der Zugehörigkeit verdeckt die Auseinandersetzung mit Macht und Intimität innerhalb der Gruppe selbst. Natürlich könnte man kleinere Bemerkungen zu den Details der Analyse machen. Jemand spricht davon, wie man aneinander "andocken" könne und der Interpret meint, das sei ein Ausdruck aus der Seefahrt, wenn Schiffe zur Reparatur ins Dock gebracht wurden. Ohne die Möglichkeit dazu könnten sie untergehen (S.70). Diese Deutung übersieht, dass "andocken" auch ein Begriff ist, der für das "Entladen" von Schiffen notwendig ist, der die Vorstellung der Verbindung von Rohren mit anklingen lässt – hier gäbe es sicher noch eine weitere Reihe von Möglichkeiten, die wenigstens hätten erwogen werden können, vielleicht aber nur der Entscheidung zu sparsamer Darstellung zum Opfer gefallen sind. Auffallender und vielleicht eine Wirkung der Dynamik in der Forschergruppe ist, dass der objektiv-hermeneutische Interpret, je weiter seine Analyse voranschreitet, peu à peu in einen gruppendynamischen Sprachmodus überwechselt. Das ist immer nur partiell, verliert sich dann wieder, könnte aber zu einer grundsätzlichen Überlegung bei solchen Analysen anregen: Wie verhält sich die therapeutische Fachsprache zur qualitativen Analyse? Ist sie Objekt oder Mittel der Beobachtung? Das ist freilich auch in anderen so komplexen Untersuchungen nicht immer geklärt, soll also hier nur als Anregung eines methodologischen Problems erwähnt werden. [7]

6. Konfrontation der hermeneutischen Analyse mit dem Gruppenleiter

Interessant wird es nun, wenn die bis hier recht überzeugende objektiv-hermeneutische Analyse mit der des Gruppenleiters konfrontiert wird. Hier erwartet man als Leser nun, dass das Potential, das in der Kombination von hermeneutischer und therapeutischer Sensibilität stecken könnte, als Ressource genutzt wird. Beide, die therapeutische und die qualitativ forschende Seite könnten ihre Wahrnehmungsfähigkeiten aneinander steigern und verfeinern, darin liegt ein nicht unerheblicher Gewinn der qualitativen Erforschung therapeutischer Prozesse. Die Erfüllung dieser Erwartung erweist sich allerdings als nicht leicht einlösbar. Das angesprochene Problem, ob die therapeutische Sicht Mittel oder Objekt der Beobachtung ist, kann sich ja nur methodisch bewältigen lassen, wenn die Differenz zwischen beiden, der therapeutischen und der qualitativen Sicht, produktiv aufrecht erhalten wird. Dazu muss die Forschungsgruppe ein egalitäres Verständnis dieser methodischen Dynamik entwickeln; setzt sich die eine Sicht über die andere im Sinne von "ich weiß es besser", bricht die produktive Dynamik zusammen. Der Kollaps kann dann nicht geringe destruktive Energien entbinden, die als "Macht" thematisch werden müssten. Freilich sind die Bedingungen, wie ein solcher Zusammenbruch vermieden werden kann, keineswegs klar. [8]

Als Leser war ich nun überrascht zu erfahren, dass die "Einzelschritte" des "methodisch verschlungenen Weges", wie es in der Analyse der gleichen Gruppeninteraktion nun durch den Gruppenleiter anfänglich (S.116) heißt, man der "Leserschaft nicht zumuten" möchte – warum eigentlich nicht? Und noch überraschter war ich, dass der Gruppenleiter sich in der folgenden Weise auf die vorangegangene objektiv-hermeneutische Analyse bezieht. Einerseits wird die hermeneutische Analyse als "so aussagekräftig" gekennzeichnet, dass "sie als Leitmotiv für dieses Kapitel dient". Dann aber heißt es: "Ich werde in seinem Verlauf die Hypothesen und Entwicklungsprognosen der Sequenzanalyse als roten Faden nehmen und sie am tatsächlichen Verlauf der Kursgruppe überprüfen ..." (S.118). Diese Feststellung eines "tatsächlichen Verlaufs" im privilegierten Wissen des Gruppenleiters droht, die methodische Egalität aufzulösen. Freilich, auch nicht eindeutig – denn die Beispiele zeigen die Erfordernis, Kontextwissen heranzuziehen. Der Gruppenleiter weiß z.B., dass er mit seiner Co-Trainerin zu Beginn einer Sitzung sich gegenübersetzte, "um guten Blickkontakt zu haben". Der objektive Hermeneut kann nicht wissen, dass die "später Kommenden" (S.129) dann die leeren Plätze erst eingenommen haben. Hier haben also die Gruppenleiter einen Prozess initiiert, den der Hermeneut der Gruppe und ihrem verdeckten Konflikt zuschreibt. Was der Gruppenleiter in seiner Analyse als privilegiertes Wissen in Anspruch nehmen kann, wäre dann methodisch von der objektiven Hermeneutik noch einzufordern, die erklärtermaßen auf Kontextwissen verzichten will. Diese Selbstbeschränkung übrigens hat sich auch in anderen, quasi-experimentellen Versuchsanordnungen bei der Analyse eines einzeltherapeutischen Gesprächs als verhängnisvoll erwiesen (BUCHHOLZ 1995). Das damalige Gespräch begann damit, dass der Patient seinem Therapeuten einen Zettel mit den Gesprächsthemen überreichte und dazu als ersten Satz auf dem Tonband und im Transkript formulierte "was mich beschäfticht". Auf dem Video war die Überreichungsgeste deutlich zu sehen; aber Vertreter der objektiven Hermeneutik, die allein mit dem verbalen Material auszukommen meinten, konnten diesen Anfang nicht erschließen. Diese methodische Selbstbeschränkung wird hier empirisch an ihre Grenzen geführt. Das ist, bei allen Vorzüglichkeiten der objektiven Hermeneutik, kein geringer Gewinn einer empirischen Analyse. [9]

Hier im Gruppenbuch kann der Gruppenleiter anerkennen (S.132), dass erst die Sequenzanalyse ihm gezeigt habe, wie sehr die Gruppenleitung die Gruppe in ihren Vermeidungsstrategien unterstützte – eben durch die Vor-Wahl der Sitzordnung beispielsweise. Dem wird dann in einem weiteren Exkurs über die gruppendynamischen Paradoxien gedacht. Niemand kann dem entgehen, dass eine Gruppe, deren Aufgabe es ist, sich selbst zu untersuchen, tut, was der Staff will – also in ein autoritätshöriges Verhältnis zur Leitung gerät, das Antipode zur intendierten Selbstklärung wird. Die dabei entstehende Komplexität produziert eine Überfülle von Metaphern für den Gruppenprozess: da ist von Spirale, vom Fluss oder vom Rhythmus die Rede oder vom Überkochen, von Steuerung und Gegensteuerung und der Gruppenleiter kämpft mit der Darstellung des Geschehens unter Nutzung von Bildern und graphischen Darstellungen. Und als die Gruppe noch von einem Interviewer daraufhin befragt wird, wie sie mit dem Beobachtetwerden zurecht gekommen ist, stellt sich heraus: Beobachtetwerden war "von Anfang an etwas so Selbstverständliches und Unhinterfragtes", dass "die Frage auf eine Art blinden Fleck in der Selbstwahrnehmung" stieß (S.189). Und der Interviewer stellt beinah resignierend fest: "Es scheint fast unmöglich zu sein, den Gruppenprozeß zu beschreiben, denn egal, was man macht, auch wenn man von außen reinkommt, man beeinflusst irgendwie" (S.192). [10]

Doch immerhin lässt sich ein Resümee ziehen: die Gruppe hielt sich kaum in einer Orientierungsphase auf, entwickelte ein hohes Maß an Verteidigung ihrer Autonomie, setzt Normen, ist arbeitsfähig und kann Geheimnisse um ein Paar wahren – das alles klingt trivial, wenn man es auf diese theoretische Abstraktion hochzieht. Der Prozess der Lektüre hingegen ist mit Leben gefüllt. [11]

7. Interviews mit der zweiten Gruppe

Die Analyse der zweiten Gruppe setzt mit einem konstruktivistischen Konzept an: Welche Leitdifferenzen benutzen die Teilnehmer bei der Konstruktion ihrer (Gruppen-) Welt? Eine dieser Leitdifferenzen ist die zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen individueller Autonomie und dem "Wir" der Gruppe. Auch hier geht es also um Zugehörigkeit. Die Datenerhebung erfolgt hier im Interview mit der Gruppe, wobei verschiedene Ebenen unterschieden werden. Die Gruppe erhält dabei die Aufgabe, ihren Prozess graphisch darzustellen und bezieht sich dabei auf fünf Kategorien (Wut, Trauer, Distanz, Orientierung, Macht), deren Zu- bzw. Abnahme während der Woche in Form einer kurvilinearen Darstellung gezeigt wird (S.211). Das ist originell und bringt den Prozess sofort zur Anschauung; und es zeigt, wie die Gruppe sich selbst beforscht. Die graphischen Korrekturen können selbst als Versuche, etwas im Prozess Geschehenes ungeschehen zu machen, interpretiert werden (S.213). Lange und ergiebige Zitate aus den Interviews unterfüttern diese Deutung, eingeschobene Exkurse nehmen Bezug auf das Habituskonzept von BOURDIEU, auf den Konfigurationsbegriff von ELIAS und stellen Erläuterungen bereit. Freilich findet sich erst im 16. Exkurs die Beobachtung ausdrücklich formuliert, die das ganze Buch leitet, dass Forscher bei einem so langen und ausgedehnten Kontakt zu einem Teil des Systems werden können. Die Gefahr des "going native" ist aus der Ethnologie gut bekannt – man wird ein Teil des Stammes, den man erforschen will und mag nicht mehr nach Hause zurückkehren. Aber ohne diese Nähe versteht man umgekehrt auch nicht, was man untersuchen will – und kommt aus dem Dilemma nicht heraus, man kann es nur balancieren. So hat es die Interviewerin beim zweiten Gruppeninterview leichter, weil sie schon bekannt ist, besser "andocken" kann, aber auch schon Teil des Systems ist. Die methodische Gefahr, dass sich im Interview damit die Beziehung zwischen Gruppe und Leitung wiederholt (weil die Interviewerin als Teil der Leitung wahrgenommen wird), wird deutlich erkannt, kann aber nicht umschifft werden – wie auch? Sie, die die von der Leitung geleitete Gruppe interviewt, avanciert beinah zu einer Supervisorin der Leitung, steht also neben und über der Leitung. Konsequent ist es dann, wenn die Leitungsrolle selbst als Paradoxon gefasst wird, so wenig "auflösbar" wie der Grundkonflikt in der Gruppe selbst (S.279). Doch das ist ein beachtliches Ergebnis, von dem auch hier wieder nur die dürre Abstraktion wiedergegeben werden konnte. [12]

8. Grunddilemmata der Gruppendynamik – und der Forschungsgruppe

Ein weiteres Kapitel setzt nun an den Grunddilemmata der Gruppendynamik an, indem zwischen Reflexion und Handlung basal unterschieden wird und festgestellt werden muss, "dass jede Reflexion einer Handlung selbst wieder als Handlung mit zu reflektierenden Wirkungen angesehen werden kann" (S.283). Hierauf setzt dann die ganze Hierarchie von Gruppe, Leitung, Staff, Forschern wieder ein, die alle handeln und reflektieren und sich darin nicht von ihren jeweiligen "Objekten" unterscheiden, "da die Forschungsgruppe als weitere reflektierende Gruppe eine ähnliche Dynamik wie der Staff entwickelt" (S. 287). Vielleicht also wäre es hilfreich, so möchte ich anregen, einmal über diese grundsätzliche Differenz nachzudenken – besteht sie eigentlich in dieser Prägnanz? Sind wir nicht vielmehr immer Denkende beim Handeln? Wer hat uns eigentlich eingeredet, dass das unterschieden werden muss? So jedenfalls fragen manche (SCHÖN 1983, VELLEMAN 1989). [13]

Anders gesagt: die Unterscheidung zwischen "Reflexion" und "Handeln" impliziert selbst wiederum eine Hierarchie, in der das Reflektieren höher steht als das Handeln. Diese Hierarchie ist partiell identisch mit der hierarchischen Anordnung von Gruppe – Leitung – Staff – wissenschaftliche Beobachter. Die je höheren erscheinen als "Reflektoren" der je unteren, diese sind immer die beim Handeln Beobachteten. Insofern bildet das gesamte Setting eine Leitdifferenz ab, die, weil sie auch so ungemein "selbstverständlich" ist, nicht mehr analysiert werden kann. In dieser Blindheit verhält sich dann auch die Gruppe konform, die ja nicht bemerkt zu haben scheint, dass sie beobachtet wurde – und das kann dann kaum noch als Verleugnung interpretiert werden. Wenn man diese Differenz selbst zum Objekt einer Analyse machen wollte, müsste man sehen, dass eine Gruppe auch umgekehrt ihre Leitung beobachtet, die Leitung den Staff und insgesamt die wissenschaftlichen Beobachter beobachtet und dann könnte das, was die Gruppe tut, immer auch als eine Art derivativer Kommentar zu dem betrachtet werden, was die je höheren Ebenen tun. Kinder kommentieren in ihrem Spiel, wenn auch selten direkt, immer aber anspielend, was Eltern oder andere Autoritäten gerade tun. Man könnte dann sehen, dass die Differenz zwischen Handeln und Reflektieren konstitutiv ist für das gruppendynamische Arrangement, das hier untersucht wird und dass solche Differenz flüchtig Identitäten (als "Teilnehmer", als "Forscher") performativ erzeugt – und gleichzeitig die verdeckende naturalistische Illusion, das alles werde ja nur "beobachtet", während es doch durch das Forschungsarrangement "hergestellt" wird. Hierin versteckt sich eine geheime Bindung qualitativer Forschung an ein immer noch korrespondenztheoretisches Wahrheitskonzept. Referenz müsste auf "Differenz" umgestellt werden. Es könnte dann sein, dass die Unterscheidung zwischen Handeln und Reflektieren als eine notwendige Bedingung der Gruppenarbeit beobachtet werden kann und dass, wer diese Differenz auflösen wollte, damit vielleicht auch der Gruppendynamik den Boden entzöge – welchen neuen Sinn bekäme das Wort "verstehen" in einer Gruppe, wenn es nicht auf dieser Differenz aufbauen würde? Das wäre ein interessantes, weiterführendes Gedankenexperiment. [14]

Ich will damit anregen, dass die Analyse der Analyse auch diese grundlegenden Differenzen (die eher kulturelle "basics" sind denn begriffene methodisch scharfe Instrumente) einer Analyse zugänglich machen und damit auch überwinden könnte. Aber die Überlegungen zu den nachfolgenden Dilemmata, – ob man also "Szene" oder "Inhalt" interpretieren soll, ob man eher eine offene oder strukturierte Gesprächssituation bei Interviews schaffen soll – bleiben überzeugend; sie haben mit methodischen Fragen vor der Unterscheidung zwischen Reflexion und Handeln zu tun. [15]

9. Metaphern am Ende – eine persönliche Bemerkung

Ich möchte diese Rezension mit einer persönlichen Bemerkung beenden. Mich freut es natürlich, wenn in einem abschließenden Kapitel über die Geste, angeregt auch durch eine Romanlektüre, nachgedacht wird und mich freut es, wenn ähnliche und damit zusammenhängende Überlegungen der Metapher (BUCHHOLZ 2003) gelten. Das schließt in der qualitativen Forschung bislang eher nur schwer zugängliche Aspekte ein und auf und verbindet zugleich mit Aspekten der Poesie, denen diese Forschungsrichtung sich in meinen Augen durchaus ungehemmter nähern dürfte. Das Buch selbst ist in Teilen von einer immensen gruppendynamischen Ästhetik, die sich bei Darstellung und Analyse von Reflexion kaum vermeiden lässt, es hat sich einen gewaltigen Anspruch aufgebürdet, den es nicht immer, aber doch in beträchtlichen Teilen einzulösen vermag und es verbindet therapeutische und forscherische Qualitäten auf eine Weise, die Hoffnung gibt, das FREUDsche Junktim von Heilen und Forschen könnte, wenn auch nicht mehr in einer Person, so aber doch durch solche Kooperation auf ein neues und sinnvoll realisierbares Niveau gehoben werden. Auch das ist neben vielen anderen Aspekten ein beachtlicher Gewinn einer Arbeit, die den Gruppendynamikern und den qualitativen Forscher mit Nachdruck ans Herz gelegt sei. Die Lektüre erhellt mit Geist und sie wärmt mit Feuer. [16]

Literatur

Buchholz, Michael B. (1995). Psychotherapeutische Interaktion. Qualitative Studien zu Konversation und Metapher, Geste und Plan. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Buchholz, Michael B. (2003). Metaphern der Kur. Eine qualitative Studie zum therapeutischen Prozess. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Schön, Donald (1983). The Reflective Practitioner. New York, Basic Books.

Velleman, J. David (1989). Practical Reflection. Princeton, NJ, Princeton University Press.

Zum Autor

Michael B. BUCHHOLZ, Dipl.-Psych., Dr. phil., apl. Prof. am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Göttingen, arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung, besonders Metapherntheorie. In zurückliegenden Ausgaben von FQS finden sich weitere Besprechungen von Michael B. BUCHHOLZ, u.a. zu den Bänden Qualitative Psychotherapy Research, Where Mathematics Comes From, sowie eine Sammelbesprechung Language and Gesture.

Kontakt:

Prof. Dr. Michael B. Buchholz

Schlesierring 60
D - 37085 Göttingen

E-Mail: buchholz.mbb@t-online.de

Zitation

Buchholz, Michael B. (2003). Rezension zu: Klaus Antons, Andreas Amann, Gisela Clausen, Oliver König & Karl Schattenhofer (2001). Gruppenprozesse verstehen. Gruppendynamische Forschung und Praxis [16 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 4(2), Art. 2, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs030227.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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