Volume 7, No. 1, Art. 34 – Januar 2006

"Wir sind Kanaltaler!" – Regionale und lokale Identitäten im viersprachigen Valcanale in Italien1)

Stefanie Vavti

Zusammenfassung: Im Nordosten Italiens, im Valcanale, berühren sich drei große Sprachfamilien Europas: Romanen, Slawen und Germanen, und seit vielen Jahrzehnten leben in den Dörfern vier Ethnien – Slowenen, Deutsche, Italiener und Friulaner – auf engem Raum zusammen. Die slowenisch- und deutschsprachige autochthone Bevölkerung ist allerdings in den letzten Jahrzehnten zunehmend vom Aussterben bedroht. Der Aufsatz vermittelt neben Einblicken in das Forschungsdesign einen ersten Eindruck von den ethnischen, lokalen und regionalen Identitätsmustern der alteingesessenen Bevölkerung in den Dörfern des Tales. Wie sehen sich die Menschen in diesem bunten ethnischen Gemisch? Was erzählen sie vom Zusammenleben im Dorf und in der Region, die bis zum Ersten Weltkrieg noch zur Österreich-Ungarischen Monarchie gehörte? Die Antworten weisen in eine Richtung: Die lokale und regionale Zugehörigkeit ist besonders in der älteren Generation noch im Bewusstsein verankert und z.T. der ethnischen Identität übergeordnet – z.B. um Konflikte zu vermeiden. In der jüngeren Generation hingegen zeigen sich Verluste von lokalen und regionalen Bezügen, vereinzelt jedoch verknüpft mit dem Wunsch, diese neu zu beleben.

Keywords: ethnische Vielfalt, ethnische Identität, lokale Identität, regionale Identität, Kanaltal, traditionelle Gesellschaft, narrative Interviews, biographische Forschung

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vorbemerkungen zum Forschungsgebiet

3. Hinweise zum Forschungsdesign

4. Blitzlichter zum Wandel von Identitätsbildung mit Impressionen aus dem Kanaltal

5. Lokale und regionale Identitäten: "Wir waren immer Saifnitzer" oder "Wir sind Kanaltaler"

5.1 "Wir waren immer Saifnitzer …" – die Betonung der Dorfzugehörigkeit

5.1.1 Die "Verbundenheit" und das "gute Zusammenleben im Dorf"

5.1.2 Traditionen halten das Dorf zusammen

5.1.3 Anpassungsleistungen und Abgrenzungsstrategien

5.2 "Wir sind Kanaltaler…" – die Betonung der regionalen Zugehörigkeit

6. Zusammenfassung

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Der vorliegende Beitrag behandelt anhand von Ausschnitten aus narrativen Interviews2) die lokale und regionale Identität der autochthonen deutsch- und slowenischsprachigen Bevölkerung im viersprachigen Valcanale/Kanalska dolina/Valcjânal/Kanaltal3) (Italien). Er zeigt einen Teil des noch nicht abgeschlossenen Forschungsprozesses (vgl. Anmerkung 1) und die Ergebnisse eines ersten Auswertungsschrittes. Somit ergibt sich eine Diskussionsgrundlage zu Fragen des Umgangs mit Mehrsprachigkeit und zu lokalen und regionalen Identitäten im Kanaltal. Der Aufsatz beginnt mit einem kurzen Überblick zum Forschungsgebiet. Anschließend werden der Zugang zum Feld und für den Aufsatz relevante Teile des Projektdesigns vorgestellt. Dem Exkurs zu Identitäten in traditionalen, modernen und postmodernen Gesellschaften, mit Bezügen zum Forschungsfeld, folgt eine nähere Betrachtung der Kategorien lokale und regionale Identität, die im Kanaltal auch mit der ethnischen Identität verknüpft sind. [1]

2. Vorbemerkungen zum Forschungsgebiet

Im äußersten Nordosten Italiens, gleich nachdem die österreichische Grenze auf der Autobahnstrecke Richtung Süden überquert wird, erstreckt sich von Goggau über Tarvis bis Pontebba das Kanaltal. In dieser Talschaft berühren sich drei großen Sprachfamilien Europas, Romanen, Slawen und Germanen und vier verschiedene Ethnien leben auf engem Raum miteinander: Italiener, Deutsche, Slowenen und Friulaner (STEINICKE 1984, 1998, 2001). Ein Großteil der älteren deutsch- und slowenischsprachigen autochthonen Bevölkerung verwendet bis heute im täglichen Umgang miteinander bis zu vier Sprachen. In der jungen Generation jedoch verlieren sich diese immer mehr (KOMAC 2002; LEX 2002). [2]

Ein kurzer historischer Rückblick: Italien annektierte nach dem Ersten Weltkrieg das Kanaltal von Kärnten und Krain. Durch den folgenden Zustrom von Italienern und Friulanern schrumpfte der Anteil der altösterreichischen deutsch- und slowenischsprachigen Bewohner des Tales. Im Zweiten Weltkrieg reduzierte sich ihre Zahl durch das Umsiedlungsabkommen (Option) von 1939 und damit verbundene Abwanderungen zusätzlich, sodass heute die so genannten "Einheimischen" oder "Alteingesessenen" nur mehr knapp über 1.000 Personen zählen. Diese sind in rund 13 Kanaltaler Ortschaften angesiedelt, wobei es in einigen Dörfern nur mehr 2-3 alteingesessene Familien gibt. [3]

In eine wirtschaftliche Randlage wurde das Tal vor allem seit dem Autobahnausbau4) und die EU-Beitritte Österreichs (1995) und Sloweniens (2004) gedrängt: Viele Betriebe, das gilt auch für einst florierende Speditionen und Handelsbetriebe, mussten inzwischen schließen, das Zoll- und Grenzpersonal wurde abgezogen, der Grenzhandel verlor an Bedeutung und eine verstärkte, berufsbedingte Abwanderung war schließlich die Folge (STEINICKE 2001). Die Landwirtschaft war in der Vergangenheit stets eine wichtige Stütze für die deutsch-, besonders aber für die slowenischsprachigen Kanaltaler. Schlechte agrarische Ertragsverhältnisse haben allerdings mittlerweile auch die bäuerliche Bevölkerung geschwächt, kleinere Höfe wurden bereits aufgegeben und nur wenige Großbauern im Tal werden sich in Zukunft halten können. [4]

Seit den 1980er Jahren haben sich zahlreiche Untersuchungen mit der ethnischen oder ethnolinguistischen Problematik in diesem Raum beschäftigt (z.B. ŠUMI & VENOSI 1996; MINNICH 1993, 1998, 2002; KOMAC 2002; LEX 2002; STEINICKE 1984), die Identitätszustände und -probleme allerdings wurden – bis auf wenige Ausnahmen – nur am Rande gestreift. Schnittpunkte und Begegnungsräume von mehreren Kulturen sind zugleich auch Orte, wo sich mannigfaltige Gemeinschaften herausbilden und sich eine Vielfalt an (ethnischen) Identitätsmustern herauskristallisieren kann. Zugleich wird eine exakte Sprachgruppenzuordnung in diesem bunten Sprachengemisch erschwert. Unumstritten bleibt freilich, dass gerade die Sprache eines der Hauptinstrumente für die Wahrnehmung und Beurteilung der Welt ist und somit ein zentrales Element von Identität. Der Gebrauch einer gemeinsamen Sprache schafft darüber hinaus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wie und als was verstehen sich nun die vielfach noch drei- bis viersprachigen alteingesessenen Bewohner der Dörfer im Kanaltal? Auf welche Entwürfe von Identität greifen sie zurück? [5]

3. Hinweise zum Forschungsdesign

Die dem Beitrag5) zugrunde liegende Studie will unter anderem die Vielschichtigkeit und die Bedrohung von ethnischen, regionalen und lokalen Identitäten der alteingesessenen Kanaltaler aufzeigen und zum tieferen Verständnis von Ethnizität und ethnischer Assimilation beitragen (zu den Definitionen vgl. HECKMANN 1992, S.56-58). Anhand von Gesprächen mit Angehörigen der autochthonen Bevölkerung wird in der Gesamtstudie erforscht, wie sich ethnische Identität im Kontext der gegebenen regionalen, historischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse konstituiert und wie bzw. wodurch sie sich verändert. Schwerpunkt der Untersuchungen sind somit die beiden autochthonen Sprachgruppen, die deutsch- und slowenischsprachigen Kanaltaler. [6]

Der Forschungsansatz liegt im Bereich der qualitativen Sozialforschung. Zur Erklärung der bevölkerungsgeographischen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen wird allerdings in der Gesamtstudie zusätzlich auf vorhandenes statistisches Material zurückgegriffen. [7]

Die Theorieentwicklung und Beobachtung der sozialen Wirklichkeit werden, in Anlehnung an GLASER und STRAUSS (1979) und ihre "grounded theory", als ein unlösbar miteinander verschränkter Prozess verstanden. [8]

Der qualitative methodologische Zugang, im Rahmen der Einzelfallanalyse angesiedelt, erlaubt es, auf die Komplexität der zu untersuchenden Phänomene im Kontext ihrer Träger einzugehen. Die Annäherung an das Feld erfolgt mittels biographischer Forschung (ALHEIT & DAUSIEN 2000; ROSENTHAL 2002; FUCHS 1984; KOHLI & ROBERT 1984), sie richtet sich schwerpunktmäßig auf das Leben und Zusammenleben der Menschen in Familie, Dorf und Talschaft. Es wird davon ausgegangen, dass Individuen in biographischen Erzählungen auf Erfahrungsstrukturen zurückgreifen, die sie im Verlauf des Lebens erworben haben. Als Erhebungsmethode wurde das narrative Interview (SCHÜTZE 1983, 1999) gewählt, allerdings angereichert mit einigen Aspekten des problemzentrierten Interviews (WITZEL 1989; MAYRING 1996). In der erzählten Lebensgeschichte, die zugleich der Verarbeitung und Evaluierung von Erfahrungen dient und übergreifende Handlungszusammenhänge sichtbar macht, legt der Erzähler "sein Leben" aus der Retrospektive dar.6) Diese Lebensgeschichte ist freilich nicht nur ein bloßes Erzählen aus dem Leben, sie lässt durchaus Rückschlüsse auf die Identität und die Identitätskonstruktion zu (FISCHER-ROSENTHAL & ALHEIT 1995). Mit einer stimulierenden Einstiegsfrage7), aus dem Leben und Zusammenleben in der Region, von ihren konkreten Lebenserfahrungen zu erzählen, werden die Interviewpartner aufgefordert, ihre frei strukturierte Narration darzubieten. Diese wird in einem zweiten Teil, bei Bedarf mit Hilfe eines Leitfadens, der für unsere Studie relevante Themen beinhaltet,8) noch mit zusätzlichen Fragen ergänzt ("problemzentriert"). [9]

Erfahrungen aus der Forschungspraxis zeigten, dass manche Erzähler sich Unterstützung durch die Interviewerin (Autorin des Beitrages) wünschten. Entsprechende Signale waren: "Was wollen Sie noch wissen?" "Was soll ich noch erzählen?" oder aber einfach nur ein fragender oder hilfesuchender Blick. In Einzelfällen war die Erzählung auch sehr kurz gehalten, beschränkt auf einige Eckdaten, wie ein Lebenslauf, mit dem Schlussstatement: "Das war mein Leben!" In diesen Fällen hat sich der Leitfaden als nützlich erwiesen, wobei die Fragen dann sehr offen formuliert wurden, um zumindest kleinere Erzähleinheiten zu stimulieren. Grundsätzlich wurden in den meisten Interviews alle Themen des Leitfadens angesprochen. Probleme gab es lediglich bei einigen Jugendlichen, die aufgrund der geringen Sprachkompetenz in den autochthonen Sprachen – die Interviewsprache konnte frei gewählt werden: Slowenisch9) oder Deutsch – keine längere Erzählung präsentieren konnten und die Interviewerin immer wieder aufforderten, entsprechende Fragen zu stellen. Die Erzählungen und die anschließenden Gespräche wurden zur Gänze auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. In slowenischer Sprache durchgeführte Interviews wurden von der zweisprachigen Interviewerin zugleich ins Deutsche übersetzt, wobei die dialektale Färbung verloren ging. [10]

Die Interviewerin ist selber Angehörige der slowenischen Minderheit in Südkärnten/Österreich. Insofern teilt sie mit den befragten Personen die Erfahrung, "Sprachminderheit zu sein". Das erleichtert zum einen das Fremdverstehen, zum anderen birgt es die Gefahr von Subjektivität, die es besonders bei der Interpretationsarbeit zu reflektieren gilt. Zum Forschungsfeld gab es vor der Durchführung der Interviews, außer gelegentlichen Freizeitaufenthalten in Tarvis, keinerlei Kontakt; die Interviewerin kannte auch keine der interviewten Personen persönlich. In der Interviewsituation gab sie sich als Kärntnerin, die auch Slowenisch spricht, zu erkennen. Aufgrund von geschichtlichen Antagonismen zwischen Deutsch- und Slowenischsprachigen in Kärnten, die sich abgemildert auch im Kanaltal zeigten, wirkte dies zweifelsohne auf die Befragungssituation.10) Bei den ersten Kontaktanbahnungen waren Kontaktpersonen hilfreich, die über kulturelle Vereine der beiden autochthonen Sprachgruppen ausfindig gemacht worden waren. In Dörfern,11) in denen noch viele alteingesessene Personen leben, gab es kaum Probleme, weitere Interviewpartner und -partnerinnen zu finden. Schwieriger gestaltete sich hingegen die Suche in Dörfern, in denen es nur mehr zwei oder drei alteingesessene Familien gibt und zudem nur wenige ältere Personen eine ausreichende Sprachkompetenz haben. Da gab es auch erste Verweigerungen, eben aufgrund mangelnder Sprachkompetenz. Der Erstkontakt erfolgte immer per Telefon, wobei in den meisten Fällen bereits für den nächsten Tag ein Termin vereinbart wurde. Da die Interviewerin einem ähnlichen sozialen Umfeld entstammt wie die befragten Personen,12) gab es in der Interviewsituation relativ rasch ein für die Durchführung von narrativen Interviews notwendiges "Klima des Vertrauens." Die zweite Interviewphase13) war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht abgeschlossen. [11]

Die Auswertung und Interpretation der Daten soll in mehreren Stufen erfolgen.14) Der vorliegende Beitrag resultiert aus einem ersten Auswertungsschritt: Aus den bruchstückhaften Erzählbausteinen und Erinnerungen wurden für die Kategorien lokale und regionale Identität relevante Passagen "herausgefiltert" und einer genaueren Betrachtung bzw. ersten Interpretation unterzogen. Dabei wurden anhand der Fundstellen Antworten auf folgende Fragen gesucht: Wie und mit wem identifizieren sich die interviewten Personen? Gibt es ethnische, lokale oder regionale Selbstzuordnungen? Von wem grenzen sie sich ab? Wie sehen die Abgrenzungsstrategien aus? Wie sieht das Zusammenleben in Dorf oder Region aus der Innenperspektive aus, wie zeigt es sich aus der Außenperspektive? Wo gibt es Widersprüche zu anderen Passagen der Erzählung?15) Im vorliegenden Aufsatz kommen in Erzählausschnitten betroffene/befragte Menschen – quasi als "Experten ihres Lebens" – auch direkt zu Wort. [12]

4. Blitzlichter zum Wandel von Identitätsbildung mit Impressionen aus dem Kanaltal

Die Identität ist den einzelnen Identifikationen mit Bezugspersonen aus der Vergangenheit übergeordnet, sie schließt wichtige Identifikationen ein, kann sie aber auch verändern (ERIKSON 1981, S.138-140). Die Identitätsbildung ist von der Gesellschaft, in der Menschen leben, abhängig: Diese identifiziert den jungen Menschen und nimmt ihn als jemanden an, der so werden musste, wie er ist. ERIKSONS Identitätstheorie ist aufgebaut auf Kontinuität und Kohärenz in der überschaubaren Welt der traditionalen Gesellschaft. In den Dörfern des Kanaltals waren diese Kontinuität und Kohärenz in der Vergangenheit gegeben und prägten somit die Jugendzeit vieler älterer Interviewpartner und -partnerinnen. ERIKSON (1981, S.144) beschreibt den Prozess der Identitätsbildung als eine Art Konfiguration, die im Lauf der Kindheit durch Ich-Synthesen allmählich aufgebaut wird, wobei konstitutionelle Anlagen, Fähigkeiten, Eigentümlichkeiten, Identifikationen, aber auch Abwehrmechanismen, Sublimierungen und sich verwirklichende Rollen integriert werden. [13]

ERIKSON ist überzeugt, dass "Menschen, die derselben Volksgruppe angehören, in derselben geschichtlichen Zeit leben oder auf dieselbe Art und Weise ihr Brot verdienen, auch von gemeinsamen Vorstellungen von gut und böse geleitet werden (…)" (ERIKSON 1981, S.11). Diesem Statement ist im Hinblick auf die befragte ältere Generation insofern zuzustimmen, als eine erste Interpretation ihrer Erzählungen zeigt, dass gemeinsame bzw. ähnliche Sozialisationserfahrungen in Familie, dörflichem Umfeld und Schule zu weit gehend ähnlichen Sichtweisen und Vorstellungen führten. Diese drücken sich etwa in kaum unterscheidbaren Narrationen über die Jugendzeit und Bewertungen von "früher" in der Generation der über 60-Jährigen aus. Neben der individuellen ("personalen") Identität zeigt sich hier auch eine gemeinsame, kollektive (oder "soziale", vgl. GOFFMAN 1975) Identität, die die einzelnen Mitglieder miteinander "als Kanaltaler" oder "als Saifnitzer" identifiziert. Einzelne Dorfbewohner fühlen sich also jenseits individueller Unterschiede einander zugehörig bzw. einander verpflichtet und grenzen sich von "anderen" ab, in unserem Fall sind das vor allem die später zugewanderten Italiener und Friulaner.16) Es gibt folglich eine alltagsweltliche Gemeinsamkeit, wobei zwischen Innen und Außen bzw. zwischen Vertrautem und Fremdem unterschieden wird.17) Die so genannten "Wir-Gruppen" sind in den Kanaltaler Dörfern in direkter Kommunikation und Interaktion gewachsen, sie identifizieren sich z.T. stark mit den jeweiligen Traditionen und Gebräuchen (vgl. dazu auch STRAUB 1998, S.96-104). In der traditionalen Gesellschaft waren somit Identitäten weitgehend vordefiniert durch die gemeinsamen Traditionen, die dörfliche Gemeinschaft und auch die Religion. [14]

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich freilich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Kanaltal verändert: Die älteren befragten Menschen haben die Modernisierung hautnah miterlebt. In vielen Erzählungen wird diese Zeit als Bruch erlebt und begleitet von einem wehmütigen Blick zurück in die Jugendzeit, in der alles noch seinen Platz und seine Ordnung hatte. Der Verlust von Verbundenheit, Nachbarschaft und Gemeinschaft wird in den Narrationen immer wieder beklagt. Mit BECK (1994) könnte dieser Prozess so beschrieben werden: Alte Institutionen und Strukturen lösen sich auf, es gibt keine Standardbiographien mehr, viele neue Muster der Lebensführung konkurrieren miteinander, der Rückhalt eines entlastenden und bewährten sozialen Umfeldes aber fehlt zunehmend. Die Modernisierung und ihre strukturellen Veränderungen brachten zwar ein leichteres und bequemeres Leben in die Dörfer des Kanaltals, zugleich aber auch eine zunehmende Entsolidarisierung und Zersplitterung der Dorfgemeinschaft. In den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren war für viele alteingesessene Kanaltaler Mobilität in räumlicher und beruflicher Hinsicht notwendig geworden und sie wirkte auf die sprachliche Vielfalt zurück: Wegen auswärtiger Jobs mussten oft gerade junge Menschen das Dorf verlassen. In entfernten Großstädten, in denen sie Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten vorfanden, "war alles Italienisch". Das italienische Umfeld beeinflusste später die Partnerwahl: "Intermarriage" wurde zur Normalität. Unter diesen Rahmenbedingungen konnten freilich die autochthonen Sprachen, Deutsch und Slowenisch, kaum oder nur mehr eingeschränkt an die nachkommende Generation vermittelt werden. Im Alltag fehlten die sprachenkundigen Großeltern, die in der Großfamilie selbstverständlich wichtige Sozialisationsaufgaben übernommen hatten. Zugleich ist die sprachliche Vielfalt des dörflichen Umfeldes wegen Überalterung immer mehr bedroht. Besonders ältere Menschen, die im dörflichen Umfeld geblieben sind, leiden unter den Folgen der Individualisierung: Statt am Dorfplatz, den es häufig gar nicht mehr gibt, zusammen zu sitzen, sitzt jeder vor seinem TV-Gerät.18) Dennoch sind in dieser Generation einmal gewählte Gemeinschaften noch relativ stabil: Man entscheidet sich für einen Beruf, geht einer auswärtigen Beschäftigung nach, sucht sich den Ehepartner und diverse Vereine (Kulturverein, Feuerwehr) und bleibt ihnen in der Regel auch "treu"19). Erst bei der jüngeren Generation im Kanaltal werden die Brüche in Form fließender Sprachzugehörigkeiten oder wechselnder Konsum- und Freizeitorientierungen sichtbar. [15]

KEUPP (1998) geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Prozesse der Enttraditionalisierung und Entgrenzung die bislang vertrauten Rahmenbedingungen für Anerkennung und Zugehörigkeit grundlegend in Frage gestellt hätten. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass auch Identitäten in einem Dialog ohne gesellschaftlich festgelegtes Drehbuch geformt werden müssen (KEUPP 1998, S.13f.). Diese Erfahrung teilen einige Angehörige der jüngeren Generation im Kanaltal: Flexibilität und Improvisation sind angesagt, und das nicht nur im Sprachgebrauch, sondern auch bei der Ausbildungs- und Jobsuche im Ausland oder in der entfernteren Großstadt und bei der Partnerwahl. Der "einheimische Bursche" aus dem Nachbardorf, der die gleiche Sprache spricht, wird gegen viele mögliche andere Optionen "ausgetauscht."20) Internet und Chats öffnen jungen Menschen Türen zu weiteren "Welten" und neuen Kommunikationsmustern. [16]

GERGEN (1996) als Vertreter des sozialen Konstruktivismus geht davon aus, dass sich Identität in der Artikulation der Sprache konstruiert. Die gesellschaftliche Entwicklung, samt ihren modernen Technologien und dadurch notwendiger Flexibilität und Kreativität, begünstige flexible Identitäten. Der Individualisierungsprozess befreie Menschen von geschichtlichen Traditionen und führe sie hin zu flexiblen und innovativen Mustern mit neuen Bedeutungen. Doch gibt es nach wie vor Routinen, Regelungen, Gesetze und Gebräuche, aus denen allerdings frei gewählt werden kann. Die objektiven, klaren Grenzen, wie sie in der traditionalen Gesellschaft noch selbstverständlich waren, verschieben sich: Es gibt nun viele mögliche Optionen für jedes einzelne Mitglied. Auch Rückbesinnungen sind eine mögliche und z.T. gewählte Option. So ist die ethnische Identität, früher zum Großteil mitbestimmt durch die Geburt in eine Sprachgruppe, heute verstärkt abhängig von Sozialisation und von den Rahmenbedingungen, in denen Menschen aufwachsen und leben, vor allem aber ist ihre Entwicklung und Veränderung ein lebenslanger Prozess. Einige Beispiele im Kanaltal zeigen, dass einer Wegbewegung von der ethnischen Herkunft später durchaus wieder Rückbesinnungen auf die eigenen Wurzeln folgen können. Das innerfamiliär durch sprachliche Sozialisation und diverse Gebräuche vermittelte "ethnische Erbe"21) kann somit verändert und neu kreiert werden: Besonders junge Menschen wehren sich aufgrund der freien Wahlmöglichkeit auch häufiger gegen feste Zuschreibungen von außen: Z.B. werden Kategorisierungen "der ist Slowene, jener Deutscher" von den befragten Personen z.T. dezidiert abgelehnt.22) Zugleich zeigen sich vereinzelt Sehnsüchte nach Wiederbelebung alter Traditionen. Sind also die Menschen hier doch nicht ganz von ihren geschichtlichen Traditionen und Erfahrungen "befreit"? [17]

Interaktionstheoretiker betonen die Wichtigkeit und Bedeutung des soziokulturellen Kontextes und der Rahmenbedingungen wie Sozialisation in Familie, Gleichaltrigengruppe, Schule und Beruf für die Entwicklung von Identität (vgl. MEAD 1980): In den verschiedenen Sozialisationsinstanzen wird der "gemeinsame Sinn" erarbeitet, wobei es auch Widersprüche und Unklarheiten geben kann, weil Ziele und Orientierungen in der Gesellschaft häufig umstritten sind. Das Individuum muss sozusagen "seinen Platz in diesem Wirrwarr" bestimmen. KRAPPMANN (1998, S.81) bringt dies auf den Punkt: "Der Identitätssuchende versucht zusätzliche Informationen und Erfahrungen, aber auch Enttäuschungen und Verletzungen zu integrieren und sich gegen Stigmatisierungen und Stereotypisierungen zu wehren". Bei dieser Suche gibt es grundlegende Orientierungen, die beibehalten, und Teile der Identität, die immer wieder umgeformt werden (müssen). Im Verlauf der Geschichte erlebten Angehörige der autochthonen Bevölkerung viele Verletzungen, die im Rahmen der Sozialisation artikuliert und weitervermittelt wurden: So erzählt etwa eine Tante ihrer (von mir interviewten) Nichte immer wieder von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, vom Verbot, in der Schule Deutsch zu sprechen: bei Zuwiderhandeln mussten 5 centesime in die Schulkasse eingezahlt werden. Solche und ähnliche "demütigende" Erfahrungen in der Kindheit wirken nach: Sie sind möglicherweise mit ein Grund, warum Betroffene bis heute die lokale oder regionale Zugehörigkeit einer klaren ethnischen Selbstzuordnung vorziehen. Erzählt wird weiter vom Ratschlag der alten Tante, sich ja nicht zu sehr in die (Sprachen-) Politik einzulassen, man habe diesbezüglich schon zuviel durchgestanden im Leben. Auch solche im Rahmen der Sozialisation artikulierte Erfahrungen der älteren Generation gilt es bei der eigenen Identitätssuche zu integrieren. Mit GOFFMAN (1975) könnte man hier vom Balancieren zwischen eigenen Interessen (z.B. offen sein für alle Sprachen), den Erwartungen der anderen (z.B. der alten Tante) und den Zuschreibungen von außen (z.B. als Mitglied des Kanaltaler Kulturvereines wird man der deutschen Sprachgruppe zugeordnet) sprechen. [18]

Die Betonung des gemeinsamen lokalen Raumes, die sich vor allem in den Narrationen älterer Menschen zeigt, ist schließlich ein Ausdruck der Rückbesinnung auf historisch überkommene Besonderheiten und Identitäten sowie auf eigene Werte und Traditionen. Diese Werte sind im kollektiven Gedächtnis der "Dorfgemeinschaft" als Symbole gemeinsamer Identifikation verankert. Im Alltag zeigen sich Auswirkungen des kollektiven Gedächtnisses (HALBWACHS 1985), z.B. "Heiratsgrenzen" in den Köpfen der Menschen, etwa in Interviews immer wieder in angesprochenen Vorbehalten gegenüber den "eingeheirateten" Gailtalerinnen oder gegenüber den später zugewanderten Italienern und Friulanern.23) Die Dörfer waren und sind vereinzelt noch so genannte "Not- und Trutzgemeinschaften" (SCHILLING 1994), die den Widrigkeiten des Lebens, wie etwa größeren Überschwemmungen (2003) oder Erdbeben (1976), aber auch "Repressalien" seitens des Staates24) trotzen. Der innere Konsens im Dorf war in der Vergangenheit immer dann besonders stark, wenn die Abgrenzung nach außen erforderlich schien. Hier gibt es mittlerweile in den Dörfern des Kanaltals zunehmend mehr Brüche, die sich in Entsolidarisierungstendenzen zeigen. Das kulturökologische Raumorientierungsmodell (GREVERUS 1979, 1995) geht davon aus, dass der Mensch für seine Identitätsbalance nicht nur der Identität bestätigenden Interaktionen bedarf, sondern auch der Identifikation mit einem spezifischen Raum, an dem er seinen Alltag orientieren kann, und zwar im Hinblick auf die materielle Existenzsicherung, die Mitbestimmungs- und Kontrollmöglichkeiten bei der Gestaltung seiner Umwelt sowie auf seine sozialen und kulturellen Entfaltungschancen. Auf der Suche nach kollektiver Identität drückt sich das Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Übereinstimmung aus. Letztere können – im Gegensatz zu "früher" – "heute" im Dorfalltag des Kanaltales nur mehr partiell befriedigt werden. Die noch erwünschte Verbundenheit in der Dorfgemeinschaft ist aufgrund von sozialstrukturellen Veränderungen mit den tatsächlichen Erfahrungen immer weniger in Einklang zu bringen. Als Reaktion wird das Lokale mit nostalgischen, geschlossenen Vorstellungswelten betont: Das zeigt sich etwa in der Betonung von Kirchtagsritualen und Gebräuchen in Uggowitz/Ukve und in der Wiederbelebung alter Traditionen wie das Maibaumaufstellen in Goggau/Kokovo. Zugleich gewinnen aber auch Regionalismen mit ökonomischen und kulturellen Vorzeichen an Bedeutung, z.B. das Schlagwort "Europa der Regionen", hier die Region Dreiländereck Kärnten/Slowenien/Friaul. [19]

5. Lokale und regionale Identitäten: "Wir waren immer Saifnitzer" oder "Wir sind Kanaltaler"

5.1 "Wir waren immer Saifnitzer …" – die Betonung der Dorfzugehörigkeit

In diesem Abschnitt werden anhand von Erzählausschnitten die Bedeutung der lokalen Identität im Verhältnis zur ethnischen Selbstzuordnung und die Verlusterfahrungen im Zuge der Modernisierung aufgezeigt. Zugleich werden folgende Indikatoren der Dorfidentität einer näheren Betrachtung unterzogen: die Betonung der Verbundenheit und des guten Zusammenlebens, die gemeinsamen Traditionen und diverse Anpassungsleistungen sowie Abgrenzungsstrategien. [20]

5.1.1 Die "Verbundenheit" und das "gute Zusammenleben im Dorf"

"Aber wir haben uns gut verbunden" (Int. 15:225)) – dieses in verschiedenen Variationen häufig verwendete Statement ist auf den ersten Blick ein Hinweis darauf, dass Menschen auch bei ethnisch-kulturellen Unterschieden im Dorf harmonisch miteinander leben können (oder wollen). Andere Erzählausschnitte, besonders aus Interviews mit älteren Personen, die die Zwischenkriegszeit und den Krieg miterlebt haben, stellen allerdings dieses harmonische Bild wieder in Frage: So gibt es etwa Berichte von Eltern, die nach dem Ersten Weltkrieg kein Wort Italienisch lernen wollten, von Stigmatisierungserfahrungen bei "intermarriage" u.ä.m. Zugleich wird in den Narrationen das gute Zusammenleben der verschiedenen Ethnien im Dorf betont. Ist das ein Balanceakt zwischen der einstigen Kränkung – die noch immer nachwirkt, sonst würde man vermutlich darüber nicht erzählen – und dem Wunsch nach einem guten Zusammenleben im Hier und Jetzt?

"Bei meinem Votar wor a so, er hot müssn wos aufstelln, in Weißenfels beim Grob, mit einem Mitarbeiter. Und der Mitarbeiter hot den Stein ausglossn und der Voter hot die Hond unterm Stein ghobt, … donn Versicherung, donn hom sie obe gerufen noch Tolmezzo zur Untersuchung, zur Versicherung, Versicherungsorzt. Und do hob i müssn mit dem Votar obe fohrn, als Dolmetsch, weil der Votar hot ka Wort gekonnt, und donn hot er die Froge gestellt, und i hob Deutsch übersetzt und es worn so viele Frogn, do is mein Votar schon gstiegn, und donn hot er gsogt: 'Die können mi olle gern hobn! Die können mi olle gern hobn,' … und donn hob i müssn des übersetzen, donn hob i des nit so sogn können, … homma olles stehn glossn und sind wir gfohrn, … (hmh) … Kleine Soche" (Int. 23:7).

"Bei meiner Tante wor holt a so, in der Schule, wenn einer Deutsch gredet hot, hot er müssen 5 centesime in eine Kasse hinein schmeissn, des worn holt olles so Sochn …".

"Es wor holt so nochan, i hob dos beim Votar gsehn, wenn ein Mädchen mit einem Italiener gegangen ist, und wenn sie von ihm geehelicht wurde, do hom sie: 'Die hot ihr Deutschtum verrotn!' do wurde sehr stork kritisiert, wenn eine Frau einen Italiener geheiratet hot. Dos hom sie sehr kritisiert, es worn jo einige Fälle hier, domols …" (Int. 24:7). [21]

Wenngleich "heute" Alltagskonflikte im Rahmen der ethnischen Pluralität nicht automatisch beseitigt sind, werden im Gegensatz zu "früher" (vgl. Beispiele oben) in den erzählten Geschichten sprachlich-kulturelle Hintergründe nicht mehr als unmittelbarer Anlass dafür gesehen. Die Fähigkeit, sich im bunten Sprachengemisch gegenseitig zu schätzen und zu achten, musste allerdings im viersprachigen Kanaltal in den vergangenen Jahrzehnten erst eingeübt werden. Hier zeigen sich in den Erzählungen viele Widersprüche zwischen dem gewünschten und häufig artikulierten Ideal des guten Zusammenlebens und den latent vorhandenen Grenzen und Abgrenzungen.26) Gerade bei den jüngeren Kanaltalern sind sich allerdings die "eigenen Leit" und die "fremden Anderen" durchaus näher gekommen. Die einst klaren Grenzen (z.B. "man lernt kein Wort Italienisch", "man heiratet keinen Italiener") verwischen sich hier bereits innerhalb der Sozialisation27) und häufig noch nachhaltiger aufgrund von "intermarriage", wo das fremde Andere sozusagen in die eigene Familie hinein geholt wird. [22]

Die Verbundenheit mit verschiedenen Dörfern und ihren Bewohnern artikuliert ein 70-jähriger Pensionist und Bauer:

 "Ja ich persönlich, eigentlich bin ich ein Freund mit allen, mit den Weißenfelsern, den Tarvisern und den Ratečanern, ... aber fast würde ich sagen, dass ich ein bisschen stärker mit Rateče verbunden bin. Aber ich versteh` mich mit allen, mit den Weißenfelsern, den Tarvisern den Saifnitzern, ich bin mit allen gut Freund" (Int. 14:5, übersetzt aus dem Slowenischen). [23]

Die verschiedenen Orte sind hier Bezugspunkte zu einzelnen Menschen und zu ihren Sprachen. Der ältere Mann fühlt sich mit Rateče besonders stark verbunden. Dieses Dorf liegt in Slowenien. Damit wird implizit auch die Nähe zum Slowenischen ausgedrückt. Die engere Verbundenheit mit dem slowenischen Dorf wird allerdings durch das "aber" relativiert. In seinem Lebensumfeld dominiert bereits die italienische Sprache. Trotzdem betont der Bauer die selbstverständliche Vielfalt der Sprachen in seinem Leben:

"Ja, da ist mehr italienisch, aber ich gehe auch oft zu Freunden nach Rateče und dort spreche ich slowenisch und wenn ich nach Österreich gehe (…) dort sprechen wir auch deutsch (…) und die Österreicher sagen 'gemischt', ja, es ist halt gemischt, wir sprechen auf alle möglichen Arten (Lachen)" (Int. 14:7, übersetzt aus dem Slowenischen). [24]

Neben der emotionalen Nähe zum Slowenischen sind somit auch die Vielfalt und das Gemischtsein Teile seines Lebensalltags und Bestandteile seiner Identität. Er identifiziert sich mit dem Gemisch, bringt aber – über die Verbindungen zu Rateče – die Nähe zum Slowenischen zum Ausdruck. Dafür sprechen auch zahlreiche Wiederholungen in der lebensgeschichtlichen Erzählung. Die sprachliche Vielfalt in den Dörfern wirkt auf Selbstbild und Selbstverständnis der Menschen, zugleich beeinflusst die engere Bindung zu einer der Sprachen – über die ethnische Herkunft – die Identität. [25]

Die Dorfidentität beruhte in der Vergangenheit auf dem Geborgensein in der Gemeinschaft, dem Gefühl, alles habe seinen Platz, jeder kenne jeden. Zugleich gab und gibt es im Dorf verschiedene Abhängigkeiten, die wiederum die gegenseitige Akzeptanz fördern. Dabei geht es nicht zuletzt um Konfliktvermeidung, weil man die Nachbarn im Alltag braucht:

"Ja, ich will sagen, der Mensch kann 2-3 Sprachen beherrschen. Ist ja kein Problem, wenn der Nachbar, der eigentlich Slowene ist und italienisch spricht ... dann spreche ich auch italienisch mit ihm, was soll ich, wenn er Italiener sein will, dann soll er Italiener sein, was soll ich, soll ich ihn zwingen, dass er Slowene bleibt? Soll er sich färben (Anm: ethnisch umfärben, assimilieren), wenn wir uns zerstreiten, dann borgt er mir nicht einmal mehr Geräte, er soll reden, wie er will" (Int. 11:7, übersetzt aus dem Slowenischen). [26]

Eine Anpassung an die sprachlichen Gegebenheiten, bis hin zur Akzeptanz von Identitätswechseln, erfolgt hier aufgrund von Abhängigkeiten: Die Toleranz und Offenheit gegenüber dem anderen und seinen Entscheidungen28) hat somit auch ganz pragmatische Hintergründe. [27]

5.1.2 Traditionen halten das Dorf zusammen

Als Zumutungen für das Dorf wurden in der Vergangenheit Zuzüge von Fremden, aber auch technische Neuerungen oder Umbrüche im Vereinsleben und im administrativen Bereich29) erlebt. Die ethnische und die Dorfidentität sind besonders im noch immer agrarisch dominierten, eher slowenischen Uggowitz/Ukve eng miteinander verknüpft:

"Ja in Uggowitz/Ukve, da sind die Sprachen noch erhalten, weil Tarvis, Wolfsbach ist schon viel mehr gemischt, da gibt es nur mehr italienische Messen, nur bei uns und in Saifnitz/Žabnice, da ist auch noch mehr slowenisch, auch in der Messe, da versuchen sie auch noch die Jugend zu halten. In der Kirche. In Uggowitz/Ukve und Saifnitz/Žabnice, da hält es sich noch ein bisschen, … dass es erhalten bleibt, die Traditionen und so, die halten auch noch das Dorf zusammen, wenn das verloren geht, dann geht jeder nach Seinem und das Dorf verliert auch, es kann nicht mehr wieder erkannt werden, wenn es seine Traditionen verliert, ... wenn das verloren geht, dann ist das Dorf nicht mehr das, was es einmal war. ...

I: Und von außen – was glauben Sie, könnte da helfen?

Von außen, nein, … ich glaube die Traditionen sind im Dorf, was im Dorf ist, das soll erhalten werden, das muss man im Dorf lehren, erhalten … die Traditionen, die kommen aus dem Dorf, nur aus dem Dorf, die muss man fühlen, ... und es weiter machen. Wenn es der Mensch … nicht fühlt (betont), sich dafür nicht erwärmt, dann kann es nicht weitergehen. Also nur so, … von außen nicht, weil jedes Dorf hat seine Tradition und es ist wichtig, dass das Dorf seine Traditionen erhält" (Int. 12:7, übersetzt aus dem Slowenischen). [28]

Eine starke Dorfidentität in Form von Traditionen, die das Dorf zusammenhalten, wird hier zum Ausdruck gebracht. Vom Dorf muss das "am Leben Erhaltende" kommen, gelehrt und gefühlt werden, die Menschen müssen sich dafür erwärmen. Durch viele gemeinsame Gebräuche werden junge Menschen in die Dorfgemeinschaft sozialisiert. Die in anderen Interviews beschriebenen Rituale um den Dorfkirchtag30) in Uggowitz/Ukve – dabei spielen junge Mädchen und Burschen eine zentrale Rolle – könnten durchaus als eine Art Initiationsritus (ERDHEIM 1984) gewertet werden. Zugleich wird im obigen Statement dem "Außen" keine identitäts- und sprachenerhaltende Kompetenz zugesprochen.31) Die (kollektive) Dorfidentität wurzelt in den gemeinsamen Traditionen, wenn sich diese verlieren, geht "jeder nach Seinem" (individuelle oder personale Identität). Uggowitz/Ukve ist unter den Kanaltaler Dörfern zweifelsohne eine Ausnahme. Im Gegensatz zu den meisten anderen Dörfern, in denen bereits "jeder nach Seinem" geht, gibt es hier noch eine stark ausgeprägte Dorfidentität. Dies wird auch aus der "Außensicht" – so etwa in Erzählungen/Interviews aus anderen Dörfern – immer wieder artikuliert, indem von einem "circolo chiuso", vom starken Dorfzusammenhalt gesprochen wird.32) [29]

5.1.3 Anpassungsleistungen und Abgrenzungsstrategien

Ein Ehepaar passt die Familiensprache an die Dorfsprache an, wenngleich beide Eheleute aus dem slowenischen Nachbardorf Uggowitz/Ukve stammen:

"I: Und mit dem Mann, wie redeten sie mit ihm?

P: Deutsch, weil da (Anm: in Malborgeth) ist deutsch. In Uggowitz/Ukve slowenisch …" (Int. 19:2). [30]

Die Kanaltaler Dörfer sind traditionell entweder eher der deutschen oder der slowenischen Sprache zugeordnet.33) Das Paar aus dem slowenischen Dorf übernimmt mit der Übersiedlung ins deutsche Nachbardorf auch die dortige Dorfsprache als Familiensprache. Die emotionale Bindung der hier interviewten Frau ist allerdings nach wie vor bei der slowenischen Herkunftssprache geblieben: "Wir sind Slowenen und ein bissl Deutsch" (Int. 19:6). [31]

Die Dorfidentität ist auch "überethnisch" und Menschen greifen darauf zurück, wenn die Zuschreibung zu einer bestimmten Ethnie nicht erwünscht ist. Ein Grund dafür sind etwa geschichtliche Antagonismen zwischen den Deutsch- und Slowenischsprachigen: Man ist nicht an Konflikten interessiert und weicht ihnen aus, indem "das Dorf" und nicht die klare ethnische Selbstidentifikation gewählt wird. Zugleich gibt es über die Dorfsprache, "po našem/nach Unserigem", einen Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit:

"… Nicht Slowenisch sondern nach Unserigem. Mein Sohn konnte gar nicht Italienisch, als er in den Kindergarten kam … auch die Kinder meiner Schwester haben erst im Kindergarten und in der Schule Italienisch gelernt" (Int. 9:1, übersetzt aus dem Slowenischen). [32]

Die junge Frau gebraucht immer wieder die Bezeichnung "po našem/nach Unserigem" für den slowenischen Dorfdialekt. Das ist ein Hinweis auf kollektives Empfinden und zugleich eine Abgrenzung von der slowenischen Schriftsprache. Letztere wird den "anderen" zugewiesen, z.B. jenen Dorfbewohnern, die aus Slowenien eingeheiratet haben. Die Frau identifiziert sich ausschließlich mit dem Dorfdialekt. [33]

Eine weitere Option ist die Doppelidentität – bis hin zum Identitätswechsel:

"Ja, einmal haben sie (Anm: in einer anderen Befragungssituation) schon gefragt: 'Cosa siete?' Wir sind Slowenen und ein bissl Deutsch, das passt ihnen nicht" (Int. 19:6, übersetzt aus dem Slowenischen). [34]

Die alte Frau wehrt sich gegen Kategorisierungen von außen: "Ihr seid Slowenen" oder "Ihr seid Deutsche". Sie ordnet sich nicht einer Sprache zu, sondern beiden – wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Die Grenzen zwischen den beiden autochthonen Sprachen sind durchlässig und fließend.34) Sie erzählt in weiterer Folge von Dorfbewohnern, die sich an die Italiener angepasst haben. Der Identitätswechsel ist jedenfalls eine mögliche Option, z.B. wenn man vom traditionell slowenischen Dorf in ein deutsches übersiedelt, oder wenn man eine Italienerin heiratet:

"Ja wissen Sie, wie das ist, jeder der nach Österreich gegangen ist (Anm: nach der Optierung 1939), wollte in Uggowitz/Ukve begraben werden und wollte eine slowenische Aufschrift haben, auf dem Grab, einige sind mit Italiener, die eine Italienerin geheiratet haben, die haben auch italienische Aufschriften genommen, unsere Leute, … einige, da in unserer Kirche, (Anm: im eher deutschsprachigen Malborgeth) da haben sie Deutsch angefangen" (ebd.). [35]

Der folgende Ausschnitt zeigt eine ausgeprägte Dorfidentität der Erzählerin. Zugleich wird eine häufig verwendete Abgrenzungsstrategie angesprochen: Der Gebrauch des Dorfdialekts, um von den "anderen" nicht verstanden zu werden. [36]

Die Rahmenhandlung: Es ist während des Interviews eine Cousine vorbeigekommen. Die Interviewpartnerin und ihre Cousine unterhalten sich auf Italienisch. Die Interviewerin fragt, wie eigentlich meistens miteinander gesprochen wird:

"Italienisch. … Wenn wir nicht wollen, dass uns jemand versteht, dann reden wir nach Unserigem (Anm: den slowenischen Dialekt). Als ich klein war, da habe ich nur Deutsch gesprochen, wegen dem Großvater, es war bei uns recht hart, nur Deutsch, damals, wie die Großeltern noch gelebt haben, der Großvater sagte nur: 'Immer Deutsch, kein Italienisch und kein Slowenisch!' Als er gestorben ist, habe ich das Deutsche dann wieder eher verlernt. Ich war ja noch klein. Im Dorf haben wir immer nach Unserigem gesprochen" (Int. 9:2, übersetzt aus dem Slowenischen). [37]

Hier wird ein starkes Indiz für den Einfluss des dörflichen Umfeldes auf den Spracherwerb und die Sprachpräferenz vor Augen geführt. Die Frau weist dezidiert darauf hin, dass in der Herkunftsfamilie der Großvater "recht hart, nur Deutsch" war. Er habe sich von den anderen Dorfsprachen klar abgegrenzt. Nach dem Tod der Großeltern hat die junge Frau das Deutsche wieder "eher verlernt", weil sie im Dorf "immer nach Unserigem gesprochen haben", also den slowenischen Dorfdialekt. Dieser wird schließlich auch gesprochen, um die später hinzugewanderten Italiener und Friulaner von Gesprächen auszugrenzen. Entsprechende Hinweise gibt es auch in anderen Erzählungen. [38]

Eine 73-jährige Bäuerin ist stark mit ihrem Dorf verwurzelt. In ihrer Narration gibt es viele Hinweise auf eine ausgeprägte Dorfidentität:

"Wir haben alle 'po žabniškem' (Anm: Saifnitzer slowenischer Dialekt) geredet und wir waren Žabničani/die Saifnitzer. Uns hat keiner gesagt: 'Ihr seid Slowenen', alle haben gesagt: 'Žabničani /die Saifnitzer'. Es war nämlich genug Deutsches hier und da war die Feuerwehr, da war alles deutsch und das ist sogar bis heute so geblieben, das hat Italien nie verboten. …Und was war noch: Gesprochen haben wir im Haus, wie ich jetzt mit Ihnen rede (Anm.: slowenischer Dorfdialekt). Die Schule war italienisch und Religion war im Pfarramt und da haben wir etwas Slowenisch (Anm: Schriftsprache) lesen gelernt, schreiben nicht" (Int. 5:1-2, übersetzt aus dem Slowenischen). [39]

Nicht "Slowenen", sondern die slowenische Dorfbezeichnung wird auch hier gewählt, um Zugehörigkeit zu artikulieren. Das Dorf (oder "Žabničani /wir Saifnitzer") ist jedoch mehr als "nur" slowenisch: Z.B. ist die Feuerwehr deutsch, die Schule italienisch. Später erzählt die Frau stolz, ihre Schwiegertochter, eine Italienerin aus Carnia, habe Slowenisch gelernt und sei sogar kulturell aktiv. Die sprachliche Anpassung der Schwiegertochter ist allerdings keine Garantie gegen sprachliche Verluste in der nachfolgenden Generation:

"… Wie gesagt, sie (Anm: die Schwiegertochter aus Carnia) spricht mit den Kindern slowenisch aber die Kinder italienisch, die antworten italienisch. Ich auch, sag: 'Pridi sem/ Komm her', und sie tun so, als ob sie nichts verstehen: 'Cosa/Was ist?' Und das ist schade, da wird sich unsere Sprache … verlieren. Es ist schade. […]

Slowenen. Ich sage immer so: Uns hat schon von klein auf keiner gesagt, dass wir Slowenen sind. Wir haben den slowenischen Dialekt gesprochen, sie haben immer gesagt: 'Das sind die Žabniška dekleta/Saifnitzer Mädchen', nie wurde gesagt, wir seien slowenisch. Ein bissl aus politischen Gründen, das ist so. Wir sagen immer: 'Wir sind Saifnitzer, wir sind international, wir können mehrere Sprachen: Slowenisch, Deutsch, Friulanisch und Italienisch'. Richtige Slowenen sind nur die, die aus Slowenien gekommen sind und von denen gibt es nicht so viele. Und die sind mehr italienisch als wir. Die haben sich nie als Saifnitzer gefühlt! So sagen wir, das ist unsere Kultur, dass wir mehrere Sprachen sprechen, auch die Kirche, in der Kirche. Wir haben immer Pfarrer, die mehrere Sprachen können, Gott sei Dank" (Int. 5:4, übersetzt aus dem Slowenischen). [40]

Hier steht die Dorfzugehörigkeit "ein bissl aus politischen Gründen" im Vordergrund. Selbst das Hinlenken zum Internationalen könnte als eine (Sprachen-) Konfliktvermeidungsstrategie gewertet werden. Auch gegenüber den später aus Jugoslawien hinzugewanderten Slowenen gibt es Abgrenzungen: "Die sind mehr italienisch als wir. Die haben sich nie als Saifnitzer gefühlt!" Die Differenzierung im Dorf (vgl. auch MINNICH 1993, 1998) verläuft hier zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten. Die Fremden werden erst dann integriert, wenn sie bereit sind, bei Dorffesten mitzumachen. Die Anpassung der "Fremden" an das "Eigene" wird somit erwartet und gelegentlich erfüllt: Einige Italiener beginnen sich für das alte Brauchtum zu interessieren. Bei fehlender Anpassungsbereitschaft gibt es hingegen Spannungen und Schuldzuweisungen: z.B. "wegen der Italiener sind viele Gebräuche verloren gegangen". Was aber macht die anderen anders? Nicht so sehr die materiellen Bedingungen, sondern die verschiedenen Handlungsentwürfe, die sich in der Summe der kleinen, banalen Dinge der Alltagswelt zeigen: z.B. Zugewanderte, die sich nicht für Brauchtum und Sprachen interessieren, oder Alteingesessene, die ihre Sprachen wechseln, damit Italiener und Friulaner sie nicht verstehen.35) [41]

Das "Code-Switching" ist eine Form der Anpassung an die ethnische Vielfalt des Dorfes:

"Es kommt automatisch. Wenn ich mich mit Slowenen treffe, dann spreche ich slowenisch, wenn ich mich mit Italienern treffe, dann sprechen wir italienisch, mit Friulanern auch, friulanisch verstehe ich, aber ich spreche es nicht. Und wenn, da können alle Slowenisch, alle die hier aufgewachsen sind, auch in Saifnitz aber es sprechen nicht alle slowenisch. … Wenn ich weiß, eine Frau kann Slowenisch, auch wenn sie mehr für's Deutsche, dann spreche ich slowenisch, weil meine Muttersprache ist Slowenisch. Meine Sprache" (Int. 2:5, übersetzt aus dem Slowenischen). [42]

"Meine Sprache" ist ein klares ethnisches Bekenntnis. Interessant ist die Fremdzuweisung und Kategorisierung der anderen Dorfbewohner ("alle, die hier aufgewachsen sind, können Slowenisch"), mit der Einschränkung ("aber es sprechen nicht alle slowenisch") als Hinweis auf sprachliche Anpassungen und Assimilation. Nichtsdestotrotz verwendet die 60-jährige Bäuerin im Gespräch mit den alteingesessenen Dorfbewohnern den slowenischen Code. Später wird dann ausführlich erzählt, der slowenische Dialekt klinge in jedem Dorf anders. Jedes Dorfkollektiv hat somit seinen eigenen Code und grenzt sich damit von anderen Dörfern ab. [43]

Durch den Zuzug von "Neubürgern" und den Wegzug der jüngeren Generation auf Arbeitssuche verwischen sich die einst klaren Konturen der Dorfidentität immer mehr: Nach dem Krieg waren die zugewanderten Italiener und Friulaner Außenseiter im Dorf. Sie wurden in der Regel erst nach vielen Jahren in die Dorfgemeinschaft aufgenommen bzw. sind bis heute Außenseiter geblieben. Die Zersplitterung der dörflichen Gemeinschaft und der Verlust von gemeinsamen Gebräuchen ("durch die Italiener") macht vielen älteren Dorfbewohnern zu schaffen, die Jungen können hingegen damit ganz gut leben – zumindest wird ihnen das hier aus der Fremdperspektive zugeschrieben:

"Bei den Jungen ist des schon onders, wir, in meinem Olter, do ist noch, … wos soll i sogn? Wenn einer holt nit so offen zu dir ist, und wenn er mich so onschaut, … wie soll i des sogn, damit Sie des verstehn? Es sind holt monche, auch in Uggowitz, de das Italienische überhaupt nit akzeptieren, des Denken und Mochn der Italiener. Durch die Italiener sind holt viele Bräuche verschwunden, die wos früher schön worn (hmhm), sehr viel Bräuche, … früher wor Gsongsverein, Blechmusik, die Prozessionen do worn die Kirchenfeste, wie Fronleichnam, dos wor alles so feierlich (betont), die Männer worn olle schworz angezogen, (jojo), so, de hom des gholtn die gonzen Feiertoge und des fehlt uns jetzt irgendwie. Wir worn des gegwöhnt, jetzt ist grod ein Tog wie der ondere …" (Int. 20:6). [44]

Den Verlust der alten Gebräuche beklagt auch eine junge Akademikerin, wobei sie "intermarriage" als Begründung anführt:

"… Da gab es sehr viel Mischehen, zwischen Österreicherinnen und Italienern, aus Neapel und so, die vom Markt und die haben auf die Kinder nicht Deutsch gesprochen, die haben Italienisch gesprochen, d.h. diese ganze Kultur, Bräuche, die ja mit der deutschen Sprache zu tun haben, die sind dann weggefallen, die wurden nicht einmal übertragen, ja und deshalb haben wir fast eine ganze Generation, die mit diesem Brauchtum nicht aufgewachsen ist und nicht kennt (betont). Ich habe jetzt auch die neuen Mitglieder, die jetzt zum Kulturverein dazugekommen sind, sind ja alle zwischen 30 und 40 Jahre alt, aber ich hab ja diese Lücke so unter 20, bis 30, da hab ich eine Lücke (betont), (hm), die sprechen auch nicht Deutsch …" (Int. 21:3). [45]

Durch solche Verlusterfahrungen wird im Dorf Monotonie erlebt: Das gemeinsame Brauchtum strukturierte auch den Jahresablauf und sorgte für Abwechslung. Der Assimilationsprozess bei den Jüngeren wird als Bedrohung der ethnischen Vielfalt im Kanaltal erlebt.36) Anpassungen an die Sprachmehrheit sind Folge von "intermarriage" in den Herkunftsfamilien, auswärtigen Schulbesuchen und Beschäftigung in größeren italienischen Städten sowie sprachlichen Veränderungen und Verlusterfahrungen in den Dörfern. Zugleich gibt es in den Erzählungen vereinzelt Hinweise auf Annäherungen seitens der Italiener: Sie beginnen sich für die alten Gebräuche zu interessieren und machen bei Nikolo und Krampus37), Weihnachtszeremonien, Fleischweihe zu Ostern, Kirchtagsritualen u.ä. mit. Selbst die Sprachkurse, die der deutsche Kanaltaler Kulturverein anbietet, werden meistens nur mehr von Italienern besucht. Junge Alteingesessene seien daran nicht interessiert, auch wenn die Kenntnis der autochthonen Sprachen verloren geht.38) [46]

Die Kontakte zu anderen Dörfern des Tales erfolgen nach pragmatischen Gesichtspunkten: Beziehungen zu den Nachbardörfern sind enger, die Menschen aus entfernteren Dörfern trifft man meist nur mehr bei Begräbnissen, Hochzeiten und ähnlichen familiären Anlässen. Engere Verbindungen gibt es zu jenen Dörfern jenseits der Grenzen (Österreich, Slowenien), in denen Verwandte und Bekannte leben. Die Kontakte entwickelten sich aufgrund des Heiratsverhaltens und der Umsiedlungen von Kanaltaler Familien nach Kärnten (Option). Das Dorf, wie es früher einmal war, wird in den meisten lebensgeschichtlichen Erzählungen als von Armut gezeichnet beschrieben. Dennoch – oder gerade deshalb – wurden Gemeinschaft und Hilfestellung besonders intensiv gelebt und erlebt; sie waren überlebensnotwendig für den funktionierenden Dorfalltag. Im Frühjahr verlagerte sich das gesamte Dorfleben auf die bewirtschafteten Almen39); da gab es sogar eine Kapelle und eine Schule. Aus dieser Zeit werden Nachbarschaftshilfe, ein reger Zusammenhalt, viele gemeinsame Gebräuche und gemeinsame Rechte (wie Servitutsrechte, Nachbarschaft40)) erinnert, die das Dorf zusammenschweißten. Die Modernisierung brachte mit modernen Geräten zwar Erleichterungen bei der bäuerlichen Arbeit, zugleich aber auch strukturelle Veränderungen, die sich nachteilig auf das Zusammenleben auswirkten: Direkte Kontakte mit den Nachbarn sind seltener geworden, es wird mehr Egoismus erlebt, z.B. gibt es Hilfestellung unter Nachbarn teilweise nur mehr gegen Bezahlung. [47]

Häufig erwähnte Träger der Dorfkultur sind: die Feuerwehr, bei der das Kommando noch immer in deutscher Sprache erfolgt; die Kirche, zugleich häufig kritisiert, weil sie "Sprachenpolitik betreibt" – sie steht dem Slowenischen näher41) und ist eng mit den Dorftraditionen wie dem Kirchtag und damit verknüpften alten Gebräuchen verbunden. Die strukturellen Veränderungen bewirkten einen Kulturwechsel bei der jüngeren Generation: Auto, sichere Arbeit, das Leben in modernen Häusern, vielleicht sogar in der größeren Stadt oder im Ausland, stehen im Hinblick auf Lebensqualität an vorderster Stelle. Um diese zu gewährleisten und abzusichern, sehen sich viele junge Dorfbewohner gezwungen, abzuwandern oder täglich zu pendeln. Die alten Werte und Traditionen – das gilt auch für die beiden autochthonen Sprachen – gehen dadurch verloren. Die Dorfkultur und die Vielfalt der Dorfsprachen aber sind gerade für ältere Dorfbewohner existentiell wichtig. Das Festhalten an den Traditionen wird von diesen letztlich auch befürwortet, um ihre Sprachen am Leben zu erhalten. [48]

Wie bereits angedeutet, dominiert mittlerweile in den meisten Dörfern das Italienische: Die Altersgruppe unter Vierzig wurden schwerpunktmäßig italienisch sozialisiert und spricht mit Gleichaltrigen, vor allem aber mit jüngeren Dorfbewohnern, nur mehr die Staatssprache. Viele Orte des Zusammentreffens, eine Art Mikrokosmos, in dem sich die alltäglich gelebte Kultur des Zusammenlebens manifestiert, sind verloren gegangen. In einigen Gasthöfen werden fallweise noch Sprachkonflikte "geschürt"42) und auf Friedhöfen die alten Dorfsprachen gesprochen, vor allem sind sie aber auf Grabinschriften stark vertreten. Das Fehlen von "Orten des Zusammentreffens" wirkt sich freilich auf die sprachliche Vielfalt aus: Im Vergleich zu früher, als das Dorfleben noch "pulsierte", gibt es jetzt deutlich weniger Gelegenheit, die alten Dorfsprachen aktiv zu gebrauchen. Die kommunikativen Zentren, vor allem für jüngere Menschen, entstehen mittlerweile überlokal, in größeren Städten oder im benachbarten Ausland.43) Eine veränderte Handlungslandschaft ist die Folge: Immer mehr junge Menschen orientieren sich überlokal, auch im Hinblick auf ihre Freizeitaktivitäten. [49]

5.2 "Wir sind Kanaltaler…" – die Betonung der regionalen Zugehörigkeit

Im folgenden Abschnitt wird anhand von Erzählausschnitten das Verhältnis von regionaler, nationaler und ethnischer Identität betrachtet. Überdies werden Verlusterfahrungen regionaler Identität und multiple Selbstidentifikationen dokumentiert. Die regionale Zugehörigkeit wird häufig von deutschsprachigen Kanaltalern in den Vordergrund gerückt: "Wir Kanaltaler" steht hier für das Kollektiv der Altösterreicher. Das Zurückgreifen auf regionale Selbstidentifikationen ist auch hier als eine Art Ausweichmanöver zu interpretieren, um mit klaren ethnischen Bekenntnissen zum Deutschtum nicht anzuecken. Es geht durchaus auch um widersprüchliche Loyalitäten, die ihre Wurzeln in der wechselhaften Geschichte des Tales und entsprechenden Kategorisierungen durch jeweilige Machthaber haben.44)

"Wissens wos i Ihnen mecht sogn, i fühl mi als ane Kanoltolerin, (lacht), nicht, nicht Österreich und nicht Italien, i fühl mi do zu Hause, i konn Ihnen ka richtige Antwort gebn, i fühl mi als Kanoltolerin, (lacht), wenn a so a schmoles Tol ist, i bin holt do daham" (Int. 20:4). [50]

Die ältere Frau fühlt sich weder als Italienerin noch als Österreicherin: Passen die nationalen Grenzziehungen nicht zur ethnisch bunten Lebenswirklichkeit im Kanaltal? Oder aber will sie sich darauf aufgrund traumatischer Erfahrungen in der Geschichte nicht mehr einlassen? Jedenfalls wird hier ein Nahverhältnis in den Vordergrund gerückt, die regionale Zugehörigkeit der "Kanoltolerin."45) [51]

Vereinzelt findet man eine Mischung aus regionaler und nationaler Selbstidentifikation:

"Ich bin natürlich Italiener, italienischer Staatsbürger, unter Italien aufgewachsen, aber wir sind immer, aber wir fühlen viel zu Kärnten, viel zu Kärnten, obwohl i gerne noch nach Slowenien umme fohr, Slowenien, oba wir hom viele Verwandte, und Bekannte und Freunde in Kärnten und die gonzen Feste, fahren wir noch Kärnten, Friaul viel weniger, weil zu weit ist, wenn Konzerte sind, wir fohrn noch Kärnten, unser Herz ist zu Kärnten gebunden. I konn nit sogn: 'I bin a Deitscher', weil die Deitschn sind in Deitschlond. ... (Lachen), die Slowener sind in Jugoslawien (lacht), i bin Italiener natürlich, aber fühle viel zu Kärnten" (Int. 13:9). [52]

Auffallend ist einerseits das klare Bekenntnis (Ich-Form) zum Italiener-Sein, andererseits die Betonung (Wir-Form) des gefühlsmäßigen Nahverhältnisses zur ethnischen und historischen Kärntner Herkunft. In weiterer Folge wird das Slowenische einbezogen, schließlich gipfelt sein Bekenntnis in: "Unser Herz ist zu Kärnten gebunden". Die ethnische Herkunft und die ehemalige Zugehörigkeit des Gebietes zu Österreich wirken in der Generation der über 60-Jährigen nach wie vor sehr stark auf die (ethnische) Identität. Die kollektive Ebene kommt vor allem in Bezug auf Kärnten zur Geltung: die Wir-Form, das Sich zugehörig Fühlen, der regionale Bezug mit überlokaler Orientierung. Im Gegensatz dazu spricht der Befragte beim Italienischen in der Ich-Form und beim Slowenischen von "die" – eine Abgrenzung von den "anderen". [53]

Ein Beispiel für die Betonung der regionalen Zugehörigkeit, mit geschichtlich-traditionalen Bezügen, präsentiert ein 50-jähriger Gemeindefunktionär:

"Ma, ich fühle mich als Kanaltaler. Das stimmt schon, jetzt reden wir viel italienisch, aber, … das ist das offizielle System, ... ja, ich fühle mich einen Teil als Slowenisch und zu einem Teil auch als Deutscher, als Habsburger, ja, wie die alten Leute, die Großmutter, die waren unter dem System der Maria Theresia, und das ist noch immer irgendwie da, (mhm). Als Kanaltaler fühlen wir, es ist blöd, aber man fühlt das noch irgendwie, weil die Alten haben uns das gelehrt und das fühlt man irgendwie noch, (mhm), also zu einem Teil als Slowene, wir sprechen nach Unserigem, unsere Sprache, eh, auf der anderen Seite, alles was so offizielle Dinge sind, da fühlt man sich auch deutsch, deshalb fühle ich mich auch mit diesem System irgendwie verbunden" (Int. 16:6). [54]

Hier zeigt sich, welchen Einfluss über Generationen hinweg vermittelte Erfahrungen auf die Identität in der mittleren Generation (bei 40- bis 50-Jährigen) ausüben. Ihre Identität beinhaltet somit "dauerhafte", von der Tradition geprägte Elemente ("ist noch immer irgendwie da"), auch wenn sich mittlerweile die Rahmenbedingungen grundlegend verändert haben. [55]

Demgegenüber sind bei jüngeren Kanaltalern lokalräumliche, kollektive Identitäten in den Hintergrund getreten. Die transnationalen und überlokalen Orientierungen, im auswärtigen "Job" oder Schulbesuch46) begründet, lassen kein Wir-Gefühl mehr aufkommen, wie es bei den Älteren noch selbstverständlich ist. Dies zeigt sich vor allem im Wegfall der Wir-Ebene in den Erzählungen. [56]

Das Gemischtsein, regionale Zugehörigkeiten und die Vermeidung von Konflikten thematisiert ein junger Akademiker:

"… Wahrscheinlich gab es Konflikte, aber ich, ich weiß nicht, ich habe nicht den Eindruck, persönlich, dass ich einmal einen Konflikt, wegen des Slowenischsprechens, weil ich italienischer Slowene bin. Ich kann nicht sagen, dass ich 100% Slowene bin, auch jetzt sind wir alle gemischt, der Mann meiner Schwester ist Italiener, der eine Friulaner, meine Neffen sind gemischt, deshalb ich kann nicht sagen, ich bin 100% Slowene, ich bin auch italienischer Slowene, oder friulanischer Slowene oder Kärntner Slowene, ich kann nicht sagen, dass ich, wie ein Aborigin in Australien, dass ich reinrassig bin. Ich bin gemischt, ich spreche aber slowenisch, auch mit Neffen, deshalb, ... oder meine heimatliche Sprache (Anm: im slowenischen Original: domač jezik) ist Slowenisch und ich glaube, da sollte es keine Konflikte geben, ich denke, ich kann nicht sagen, dass es da Konflikte gab, Konflikte gab es weiter unten, Triester Gegend, ... da bei uns ist alles gemischt, es war immer alles gemischt und es soll gemischt bleiben, eh …" (Int. 11:3, übersetzt aus dem Slowenischen). [57]

Der Hinweis auf die slowenische Herkunft und ethnische Zugehörigkeit ist hier klar. Dennoch wird auch relativiert, etwa durch die Betonung des Gemischtseins. Selbst bei den Konflikten gibt es Widersprüche: Zuerst gab es keine Konflikte, dann kommt der Erzähler auf verschiedene Konflikte zurück und datiert sie in den 1950er-, 1960er-Jahren, verschiebt sie schließlich in die Triester Gegend oder begegnet ihnen gar moralisierend: "Da sollte es keine Konflikte geben!" Konflikte sind jedenfalls in diesem Gebiet nicht gefragt und werden umgangen, indem man sich zum bunten Gemisch bekennt oder aber die regionale oder lokale Zugehörigkeit vor die ethnische Selbstzuordnung setzt. [58]

Zur selbstverständlichen Vielfalt im Tal erzählt eine 40-jährige Angestellte:

"Ich hatte keine Probleme, weil, wir sind immer vielseitig aufgewachsen, viersprachig, wir hatten trotzdem alles in uns, es wird vielleicht jetzt versucht: 'Du bist Slowenin, Italienerin, Friulanerin'. Aber wir im Kanaltal, also ich persönlich finde das nicht, … ich fühle mich schon als Kanaltalerin, Kärntnerin, aber, aber, aber, auch Italienerin, es ist halt etwas drinnen, … hab ich, fürs Deutsche im Herzen, ich höre gern die Sendungen, spreche auch mit den Kindern, bin auch kulturell, aktiv mit dem Deutschen, beim Verein dabei" (Int. 10:2). [59]

In diesem Ausschnitt wird die Vielseitigkeit, die Viersprachigkeit, das Multiple in der Region und in ihr selber, angesprochen. Die Frau springt von der Wir-Ebene zur Ich-Ebene: Sie fühlt sich als Kanaltalerin und Kärntnerin, zugleich betont sie die nationale Zugehörigkeit als Italienerin und verweist auf eine besonders intensive Bindung zum Deutschen: "Es ist halt etwas, drinnen, … hab ich, fürs Deutsche im Herzen". [60]

Demgegenüber wird von jüngeren Kanaltalern gelegentlich die überstaatliche Ebene, die Zugehörigkeit zur Europäischen Union, angesprochen. [61]

In Einzelfällen gibt es allerdings auch bei den jungen Kanaltalern Rückbesinnungstendenzen auf alte regionale oder lokale Traditionen, wie im folgenden Auszug dokumentiert wird:

 "… Überhaupt ganz die Jungen, die Mischlinge, die sagen, wir sind Kanaltaler, im Sinne: mehr als nur Italien, was Tradition und Brauchtum und so, (hmhm), … und wie das weiter gehen wird, weiß ich nicht, ich glaube die nächste Generation nicht, aber die ganz Jungen, werden bewusster sein, was sie sind, dass sie aus dieser gemischten Gruppe heraus kommen und z.B. schönes Beispiel ist Goggau, wo die Jungen die alten Traditionen wieder aufgefrischt haben und neu bringen, auch wenn es nicht mehr so ist, dass sie strikt die alte Tradition, behalten wird, sondern mit Varianten (hm), … sie bezeichnen sich Schweinvonger […] Schweine einfangen, das ist von einer.. alten Legende, wo Schweine von einem … importiert und die sind dort davongelaufen und die haben sie eingefangen. Ja die Schweinvonger, das sind die Jungen aus Goggau. Die Ortschaft, an der Grenze. Das ist die wichtigste Organisation, auch; sie bezeichnen sich auch auf Deutsch, auch wenn das nicht das richtige Deutsch ist, vonger, mit V" (Int. 18:2f.). [62]

Wenngleich die hier angesprochenen Jungen nicht mehr Deutsch sprechen, wie später vermerkt wird, geht es ihnen um den Erhalt der alten Gebräuche des Kanaltales. Es geht um die Selbstidentifikation, ein Kanaltaler und somit "mehr als nur Italiener" zu sein. Entsprechende Entwicklungen zeigen sich in einigen Dörfern: Die "Schweinvonger" von Goggau sind ein Beispiel dafür, wo interessanterweise auch junge Italiener mitmachen. Es geht dabei also nicht um den Erhalt der deutschen Sprache, sondern um die Wiederbelebung einer Legende, als Symbol für die Dorfidentität des altösterreichischen, nunmehr italienischen Goggau. Dies könnte im weitesten Sinne auch als ein Ausdruck der "symbolischen Ethnizität" (GANS 1979) verstanden werden: "People can of course give up their identity, but if they continue to feel it, they must make it more explicit than it was in the past, and must even look for ways of expressing it" (GANS 1979, S.203). Die jungen Menschen haben sich zwar an die neue Realität angepasst: Sie sind Italiener. Zugleich fühlen sie noch immer die in der Erziehung (mit)vermittelte Zugehörigkeit zu einer der beiden autochthonen Sprachgruppen im Tal oder einfach nur zur Talschaft selber – diese strahlt sogar auf so genannte "richtige" Italiener aus, die hier leben und sich beginnen für die alten Gebräuche zu interessieren – und suchen nach Wegen, dieses "Mehr als nur Italiener Sein" entsprechend auszudrücken. Es geht dabei letztendlich weniger um den Inhalt, wie z.B. das Lernen und der Gebrauch der autochthonen Sprachen im Alltag, als um den Erhalt einer äußeren Form, eines Symbols für diese Zugehörigkeit, im vorliegenden Fall etwa die Namensgebung "Schweinvonger" nach einer alten Legende. [63]

6. Zusammenfassung

Anhand von Erzählausschnitten konnte dokumentiert werden, dass lokale und regionale Identitäten noch im Bewusstsein von älteren Menschen im Kanaltal verankert und z.T. der ethnischen Identität übergeordnet sind. So wird fallweise die Dorfzugehörigkeit betont, um Konflikte zu vermeiden und sich ethnisch nicht festlegen zu müssen. In der traditionalen Gesellschaft sozialisiert, ist das Individuum hinter die Dorfgemeinschaft ("wir Saifnitzer") oder die Talschaft ("wir Kanaltaler") zurückgetreten. Diese kollektive, lokale Orientierung ist gerade bei der Agrarbevölkerung noch immer vorhanden. Das dörfliche Umfeld spielt hier, allein schon durch den Besitz des landwirtschaftlichen Hofes mit allen damit verbundenen Rechten47), Abhängigkeiten und Kontrollinstrumentarien im Alltag, eine bedeutende Rolle. Ein Beispiel dafür ist das traditionell eher slowenische, noch immer agrarisch geprägte Dorf Uggowitz/Ukve, welches bis heute an den alten Traditionen und dem Dorfdialekt festhält und auch aus der Fremdperspektive, von Bewohnern anderer Dörfer, als "geschlossener Kreis" gesehen wird. [64]

Ein ganz besonderes Augenmerk wurde auf das Zusammenleben in den Dörfern gelegt, wobei sich hier viele Widersprüche zwischen dem gewünschten und häufig artikulierten Ideal des guten Zusammenlebens und den latent vorhandenen Grenzen und Abgrenzungen zeigen. Die in den Erzählungen (aber auch im Rahmen der Sozialisation nachfolgender Generationen) immer wieder artikulierten geschichtlichen Traumatisierungen der älteren Alteingesessenen wirken in den nachfolgenden Generationen nach. Erst bei den Jüngeren zeigt sich eine Entspannung und Annäherung: zum einen aufgrund vieler Mischehen, in deren Rahmen das so genannte "fremde Andere" in die eigene Familie hineingeholt wurde, zum anderen wegen der verstärkten Orientierung nach außen durch auswärtigen Schulbesuch und Beschäftigung. [65]

In den Narrationen der älteren Dorfbewohner zeigen sich deutliche Brüche aufgrund von Modernisierungserfahrungen: Die Zersplitterung der Dorfgemeinschaft durch den Wegzug der jungen Generation auf Arbeitssuche und den Zuzug von Italienern und Friulanern wird beklagt, Entsolidarisierungserfahrungen und Verluste von alten Gebräuchen und der Sprachenvielfalt werden thematisiert. Im Gegensatz dazu ist die jüngere Generation von der Moderne nachhaltig geprägt: Lokale und regionale Identitäten werden von den Jüngeren nicht mehr als verbindlich erlebt48), sondern sie sind im Hinblick auf Übereinstimmungen der Lebenswelten, des Arbeitens im selben Ort und des existentiell Aufeinander-angewiesen-Seins in der dörflichen Gemeinschaft brüchig geworden. So ist auch die so genannte Dorföffentlichkeit heute nur mehr punktuell, etwa bei Kirchtag und Feuerwehrwettbewerb, vorhanden. Die Alltagswelt der jungen Menschen ist – nicht zuletzt aufgrund der sozialstrukturellen Veränderungen – zunehmend überlokal und überregional ausgerichtet. [66]

Gerade bei jungen Kanaltalern sind Mobilität, Flexibilität und Kreativität mittlerweile in allen Lebensbereichen gefragt und notwendig. Entsprechend erweitert sich ihr Erfahrungshorizont: So zeigen sich da, wo Sprachkenntnisse noch vorhanden sind, multiple Identitätsmuster, z.B.: "Wir haben alle Sprachen in uns" oder "Alle Sprachen sind wichtig". Jüngere Alteingesessene haben auch weniger Probleme damit, sich national, als Italiener, zu definieren. Dennoch fühlen sie sich als "mehr als nur Italiener". Dieses "Mehr" drückt sich etwa in Rückbesinnungen auf alte Kanaltaler Traditionen aus. So gibt es vereinzelt Versuche, altes Brauchtum wieder neu zu beleben; ein symbolischer Akt, denn die Traditionen sind nicht mehr "strikt die alten, sondern mit Variationen". Hier könnte man durchaus mit GANS (1979) von einer nur mehr "symbolischen Ethnizität" sprechen, wobei die alten Gebräuche eine Art Hülle darstellen, deren Inhalt (etwa die Sprachen der Herkunftsfamilien) allerdings mittlerweile z.T. schon verloren gegangen ist. [67]

Anmerkungen

1) Der Beitrag zeigt Teilergebnisse des derzeit an der Universität Innsbruck (Institut für Geographie) unter der Leitung von Univ. Prof. Dr. Ernst STEINICKE durchgeführten FWF-Projekts (FWF = Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Österreich) "Die Bedrohung der ethnischen Vielfalt im Kanaltal (Italien)" (P16664-G03), Laufzeit 2004-2007. <zurück>

2) Die narrativen Interviews sind nur ein Teil der Erhebungen im Rahmen des in der Anmerkung 1 beschriebenen Forschungsprojektes. Die Einstiegsfrage legt besonderen Wert auf das Leben und Zusammenleben in den Dörfern und bedeutet so gesehen eine Einschränkung der Narration: Nicht aus dem Leben soll erzählt werden, sondern über das Leben und Zusammenleben, wie die befragten Individuen es im Tal erlebt haben. Vgl. dazu auch die Einstiegsfrage im Rahmen des Forschungsdesigns in Abschnitt 3. <zurück>

3) Bei den Ortsbezeichnungen werden in weiterer Folge nur die deutsche und/oder in einzelnen Dörfern die deutsche und slowenische Version gewählt, um eine Überladung des Textes zu vermeiden. <zurück>

4) Durch den Autobahnausbau werden potentielle Kunden in Geschäften, Gasthäusern und Restaurants durch das Tal "hindurchgeschleust". Von der Autobahn aus sieht man auch nicht viel von den Dörfern. In mehreren Erzählungen wurde angesprochen, dass es vor der Autobahneröffnung in den Dörfern regen Betrieb gegeben habe: Durchreisende hätten dort gegessen, eingekauft und z.T. sogar ihren Urlaub verbracht. <zurück>

5) Das Forschungsdesign wird hier nicht zur Gänze thematisiert. <zurück>

6) Die Problematik der Retrospektive ist durchaus bekannt. Vgl. dazu die angeführte Literatur. <zurück>

7) Die Einstiegsfrage: "Wir interessieren uns für das Leben und Zusammenleben der Menschen hier im Kanaltal, im Dorf, wo Sie aufgewachsen sind, in der Familie, in der Schule und später am Arbeitsplatz. Versuchen Sie sich zurückzuerinnern an ihre Kindheit, wie es damals war, was waren für Sie wichtige Ereignisse, dann weiter herauf, bis heute. Wenn Sie einfach beginnen zu erzählen, was Ihnen dazu so einfällt und wichtig ist." Die lange Einstiegsfrage ist bewusst gewählt, um den Erzählern etwas Zeit für die Vorbereitung zu geben und eine für beide Seiten belastende Pause zu Gesprächsbeginn möglichst zu vermeiden. Vgl. dazu auch GUGGENBERGER, HOLZINGER, PÖLLAUER und VAVTI 1994. <zurück>

8) Der Leitfaden beinhaltet folgende Themenbereiche:

9) Beim Slowenischen konnte die Schriftsprache oder aber der jeweilige Dorfdialekt gewählt werden. Dies war notwendig, weil nicht alle Interviewpartner die Schriftsprache beherrschten. <zurück>

10) So wurde etwa der Zugang zu Slowenischsprachigen subjektiv als "leichter" erlebt. Der in Kärnten noch immer schwelende Sprachenkonflikt, aktuell in Form des Ortstafelkonfliktes, wirkt zweifelsohne auch ins benachbarte Kanaltal hinein. Die Problematik ist vielschichtig und kann im Rahmen des Beitrages nicht aufgearbeitet werden. Zu ethnischen Identitäten und Assimilation in Südkärnten vgl. GUGGENBERGER, HOLZINGER, PÖLLAUER und VAVTI (1994). <zurück>

11) Z.B. in Uggowitz, Wolfsbach, Malborgeth, Saifnitz, Tarvis. <zurück>

12) Sie ist, wie bereits angemerkt wurde, auch eine Minderheitenangehörige, wobei jedoch die Situation der slowenischen Sprachgruppe in Südkärnten mit der Situation der beiden autochthonen Sprachgruppen im Kanaltal keinesfalls vergleichbar ist. Auf die Unterschiede detaillierter einzugehen würde den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen, sie sind z.T. bei MINNICH (1998) thematisiert. <zurück>

13) Eine erste Interviewphase wurde im Sommer und Herbst 2004 durchgeführt, dazwischen liegen Transkriptions-, Übersetzungs- und Auswertungsarbeiten sowie Literaturrecherchen; die zweite Interviewphase läuft seit dem Sommer 2005. Bis Herbst wurden insgesamt 30 narrative Interviews und vier Experteninterviews durchgeführt. In einigen Dörfern zeigt sich bereits eine gewisse Sättigung. Zusätzliche Interviews und Experteninterviews sind geplant, vor allem, wenn sich in der Auswertungsphase noch Lücken zeigen sollten. <zurück>

14) In diesem Zusammenhang wird noch einmal darauf hingewiesen, dass der Forschungsprozess nicht abgeschlossen ist und weitere narrative Interviews durchgeführt und ausgewertet werden. Dementsprechend sind die Ergebnisse weder als "endgültig" noch als "vollständig" anzusehen. <zurück>

15) Die Einzelpassagen wurden somit immer auch im Gesamtkontext der Narration verortet, denn Einzeläußerungen sind ja oft erst im Gesamtkontext der Erzählung verständlich (vgl. BOHNSACK 1991, S.19-20). In weiterer Folge ist geplant (bzw. sind einige Schritte schon erfolgt), Lebenswelten (mit strukturellem Kontext) zu rekonstruieren, wobei vor allem die ethnische Identität näher beschrieben wird. Auf einer höheren Abstraktionsstufe werden charakteristische Identitätsverläufe zu Identitätstypen zusammengefasst, wobei die entsprechenden "ethnischen Befindlichkeiten" detaillierter herausgearbeitet werden. Prägnante Typenbezeichnungen (z.B. "Traditionalist", "Kämpfer", "Angepasste", "Kosmopolit" u.a.m.) werden Abgrenzungen zwischen den einzelnen Identitätstypen erleichtern. In der Zusammenschau mehrerer Fälle, die einem Identitätstypus zugeordnet werden können, sollen schließlich noch jene "Lebenswelten" skizziert werden, die einen bestimmten Identitätstypus hervorbringen. Diese geplanten Schritte werden bei Bedarf noch modifiziert und sind deshalb nicht als "endgültig" und "vollständig" anzusehen. <zurück>

16) GOFFMAN (1975) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der "sozialen" und der "personalen" Identität: Die soziale Identität wird hiernach dem Individuum in einem sozialen System aufgrund bestimmter Merkmale, Symbole und Mitgliedschaften (z.B. Kleidung, Ehering) zugeschrieben: Mitglieder des Kanaltaler Kulturvereins, welche zu festlichen Anlässen ihre Trachten tragen, werden von außen als deutschsprachige Kanaltaler bewertet. In einem weiteren Bedeutungszusammenhang sind aber nicht nur einzelne Personen Objekt der Identifizierung, sondern auch Gruppen, Organisationen oder ganze Kulturen. Individuen zeigen sich folglich als Angehörige eines bestimmten Systems – "wir (alteingesessenen) Kanaltaler" (Deutsch- und Slowenischsprachige) bzw. "wir waren immer Saifnitzer" – und bewerten die anderen als "Außenstehende" (spätere Zuwanderer: Italiener und Friulaner). Vgl. dazu auch MINNICHs (1998) Unterscheidung in "Insider" und "Outsider". "Wir Kanaltaler" oder "wir Saifnitzer" ist der Ausdruck einer kollektiven Zugehörigkeit, die Anderen, die Fremden und Außenstehenden, dienen der Abgrenzung. Die Mitglieder eines Kollektivs fühlen sich jedenfalls einander zugehörig und verpflichtet und teilen eine gemeinsame kulturelle Wertordnung (kollektive Identität). <zurück>

17) Vgl. dazu etwa die Ausführungen bei GIESEN (1999), besonders die Codes kollektiver Identität, wobei für die vorliegende Arbeit vor allem die traditionalen Codes von Bedeutung sein dürften. <zurück>

18) BAUMAN (1997) beklagt den zunehmenden Verlust von dauerhaften und verlässlichen Gemeinschaften unter den Individualisierungsbedingungen. <zurück>

19) SENNETT (1996) beschreibt eine Besonderheit der Moderne, dass nämlich die Menschen die Verantwortung für ihr Leben übernehmen, weil sie den Eindruck haben, es hänge von ihnen ab. <zurück>

20) Das wird etwa in Erzählungen von älteren Dorfbewohnern beklagt, vgl. Int. 28:3. <zurück>

21) Der Begriff ist kritisch zu hinterfragen: Auf die Gefahren bei der Ausdehnung des Identitätsbegriffs auf Nation, Ethnien hat etwa KEUPP (1998, S.30) hingewiesen. <zurück>

22) Beispiele dafür gibt es in mehreren Erzählungen, z.B. in Int. 10. <zurück>

23) Vgl. die Aussagen in verschiedenen Interviews, Int. 1; Int. 3; Int. 5; Int. 19; Int. 20 u.a.m. <zurück>

24) Wie etwa Versuche seitens Italiens, die Servitutsrechte – z.B. mit dem Besitz von Haus und Hof verknüpfte Holzbezugs- und Weiderechte, die unter Kaiserin Maria Theresia eingeführt wurden und bis heute erhalten geblieben sind – abzuschaffen, vgl. MINNICH (1998); zu den Servitutsrechten allgemein vgl. STEINICKE (1984). <zurück>

25) Den Ausschnitten aus den narrativen Interviews wird die Bezeichnung des Interviews und die Seite hinzugefügt, z.B.: Int. 2:1 (Interview Nr. 2, Seite 1). <zurück>

26) Diese äußern sich in den bereits angesprochenen "Heiratsgrenzen", wie: "Man heiratet keinen Italiener!" Weitere Abgrenzungsstrategien sind diverse Schuldzuweisungen, z.B.: "Die Italiener sind schuld, dass alte Bräuche verloren gegangen sind!" oder diverse Formen des "Code-Switching", z.B. der Gebrauch des heimischen Dorfdialekts, um von den Italienern und Friulanern nicht verstanden zu werden u.a.m. <zurück>

27) Z.B. durch den gemeinsamen Besuch von Kindergarten und Schule im Dorf, z.T. aber auch durch die gemeinsame Sprache Italienisch. <zurück>

28) Hier etwa die Entscheidung nicht mehr Slowene, sondern Italiener sein zu wollen. <zurück>

29) Z.B. das Infragestellen der Servitutsrechte durch italienische Behörden, vgl. dazu auch MINNICH (1998). <zurück>

30) Vgl. auch bei MINNICH (1998). <zurück>

31) Uggowitz/Ukve ist ein traditionsverbundenes, noch immer stark agrarisch geprägtes Dorf. Gerade in diesem Dorf ist etwa der Identitätstyp des Traditionalisten besonders häufig anzutreffen. In vielen Interviews wird darauf hingewiesen, dass dies das einzige Dorf sei, in dem viele alte Gebräuche bis heute erhalten geblieben sind, z.B. gerade weil das Dorf ein "geschlossener Kreis" sei, vgl. etwa Int. 20. <zurück>

32) "Die lassen keinen anderen herein!" ist eine gängige Aussage über die Uggowitzer. <zurück>

33) Malborgeth, Weißenfels, Tarvis u.a. werden der deutschen, Uggowitz/Ukve, Saifnitz/Žabnice u.a. der slowenischen Sprache zugeordnet. <zurück>

34) Darauf gibt es viele Hinweise auch in anderen Interviews, umfassend etwa im Int. 30. <zurück>

35) In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, dass sich umgekehrt viele Menschen den sprachlichen Gegebenheiten anpassen und auf den Gebrauch des heimischen Dialektes verzichten, nur um von Italienern und Friulanern im Dorf verstanden zu werden, vgl. dazu Int. 16:3 u.a.m. <zurück>

36) Das trifft vor allem für einzelne Dörfer westlich von Malborgeth zu. Aber auch das ehemals "deutsche" Malborgeth ist schwerpunktmäßig bereits italienisch, vgl. Int. 19.; Int. 20. <zurück>

37) Ein alter Brauch in Österreich: Am Vorabend des Nikolaustages (6. Dezember) besucht der Nikolo brave Kinder und bringt ihnen Geschenke mit. In seiner Gefolgschaft ist oft der Krampus, der schlimme Kinder bestrafen soll. Diesen Brauch gibt es auch noch im Kanaltal. <zurück>

38) Vgl. dazu Aussagen in Int. 21, Int. 23, Int. 24. <zurück>

39) Vgl. Int. 5; Int. 13; Int. 2; Int. 20. Umfassend wurde das Leben auf den Almen von MINNICH (1993, 1998, 2002) beschrieben, z.T. auch von STEINICKE (1984). Die Almen werden von einigen Bauern auch jetzt noch bewirtschaftet. <zurück>

40) Diese sind z.T. bis heute erhalten geblieben. Dasselbe gilt auch für die "Nachbarschaft" als Dorfinstitution, vgl. Int. 28; Int. 4. und MINNICH (1993, 1998, 2002). <zurück>

41) So gibt es in Uggowitz/Ukve und in Saifnitz/Žabnice auch noch slowenische Gottesdienste. <zurück>

42) So sehen es zumindest einige Betroffene; vgl. dazu Int. 17 mit dem Hinweis, dass es Sprachkonflikte lediglich unter Alkoholeinfluss in Gasthäusern gebe, mit dem Zusatz "in vino veritas". Auf entsprechende Beispiele verweist auch MINNICH (1998). In Gasthäusern und anderen Lokalitäten (z.B. Friedhof) wurden z.T. auch Sprachgebrauch und die Praxis des Sprachenwechsels beobachtet. <zurück>

43) Häufig wurden in den Interviews Villach und der Faaker See erwähnt. <zurück>

44) Zum Beispiel die Zugehörigkeit zur Österreich-Ungarischen Monarchie bis 1919, später dann zu Italien; die Option im Zweiten Weltkrieg mit Umsiedlungen vieler Kanaltaler nach Kärnten und schließlich die Zuwanderungen von Italienern und Friulanern ab dem Ersten Weltkrieg u.ä.m. <zurück>

45) Frederic BARTH (1969) betont die Bedeutung der Grenze und des Übertritts der Grenze für die Konstituierung von ethnischer Identität. Man sollte, so BARTH, bei entsprechenden Forschungen die Betonung auf die ethnische Grenze legen, die die jeweilige Gruppe selber definiert. Die älteren Kanaltaler betonen fast ausnahmslos lokale oder regionale Zugehörigkeiten (Dorf, Talschaft, Kärnten) und nicht die nationalen Grenzziehungen und ihnen entsprechende Zugehörigkeiten. <zurück>

46) Zum Beispiel in Tolmezzo, Udine, Triest, aber auch im benachbarten Kärnten. Entsprechende Hinweise gibt es in den meisten Erzählungen, besonders im Int. 18 – junge Menschen mit höherer Bildung seien davon häufig betroffen. Vgl. auch Int. 20, Int. 21, Int. 23 und Int. 24. <zurück>

47) Vgl. die bereits angeführten Servitutsrechte und die Dorfinstitution "Nachbarschaft". <zurück>

48) Das äußert sich nicht zuletzt im seltenen oder fehlenden Gebrauch von Wir-Formen. <zurück>

Literatur

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Zur Autorin

Stefanie VAVTI, Dr. phil. (Politikwissenschaften und Publizistik), derzeit: Projektmitarbeiterin an der Universität Innsbruck, Institut für Geographie.

(Empirische) Forschungsschwerpunkte: ethnische Minderheiten, soziale Fragen, Biographieforschung und Identität.

Kontakt:

Dr. Stefanie Vavti

Khevenhüllerstraße 27/2
9020 Klagenfurt
Österreich

E-Mail: Stefanie.Vavti@uibk.ac.at

Zitation

Vavti, Stefanie (2005). "Wir sind Kanaltaler!" – Regionale und lokale Identitäten im viersprachigen Valcanale in Italien [67 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(1), Art. 34,http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0601344.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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