Volume 3, No. 4, Art. 24 – November 2002

Rezension:

Werner Vogd

Rainer Wettreck (1998). "Arzt sein – Mensch bleiben": Eine Qualitative Psychologie des Handelns und Erlebens in der modernen Medizin. Münster: LIT Verlag, 416 Seiten, ISBN 3-8258-4134-0, EUR 30,90

Zusammenfassung: Das Buch "Arzt sein – Mensch bleiben": Eine Qualitative Psychologie des Handelns und Erlebens in der modernen Medizin von Rainer Wettreck liefert eine umfassende Beschreibung der Bedingungen ärztlichen professionellen Handelns an der Grenze von Tod und prekären Entscheidungssituationen. Das Material hierzu liefern zum einen Beobachtungsprotokolle im Krankenhaus, zum anderen Interviews mit Ärzten verschiedener Disziplinen. Die leitenden Kategorien der Analyse stellen dabei zum einen der entpersonalisierende "medizinische Blick", zum anderen der Biografisches und Persönliches integrierende "ärztliche Blick" dar.

Keywords: Krankenhaus, Ärzte, Professionalisierung, teilnehmende Beobachtung, Interviews, qualitative Sozialforschung

Inhaltsverzeichnis

1. Fragestellung und Methodik

2. Eine Untersuchung über den "medizinischen und ärztlichen Blick"

3. Eine kritische Würdigung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Fragestellung und Methodik

Der Klinikseelsorger und Psychologe Rainer WETTRECK stellt mit seinem Buch "Arzt sein – Mensch bleiben": Eine Qualitative Psychologie des Handelns und Erlebens in der modernen Medizin eine umfassende Analyse ärztlichen Seins und Handelns vor. Nicht nur die mehr als vierhundert eng beschriebenen Seiten, auch ein Blick in das aufgefächerte Inhaltsverzeichnis zeigt, dass der Autor hier versucht, sowohl in die Breite als auch in die Tiefe zu gehen, um der systemischen Komplexität des Phänomens gerecht werden zu können. Die Datengrundlage ist zum einen eine fünfjährige Feldforschungsphase, in der der Autor neben seelsorgerischer Tätigkeit Beobachtungs- und Gesprächsprotokolle erstellt hat, zum anderen sind es 20 Interviews mit Ärzten aus verschiedensten Bereichen. Mit den Worten des Autors begann die Arbeit unter der Fragestellung "Sterben und Tod im Erleben von Pflegenden und Ärzten", wurde aber dann in Richtung "schwierige Situationen und Entscheidungen" erweitert. Im "Zuge der Kontrastierung von Arbeits-Orten, Hierarchie-Ebenen und Berufserfahrung vervielfältigte sich die Perspektivität" (S.347), um dann schließlich in der "Schlüsselkategorie" des "medizinischen Blicks" wieder eine Bündelung zu erfahren. [1]

Forschungspraktisch nähert sich WETTRECK seinem Gegenstand einerseits mittels einer Grounded Theory-Methodik innerhalb eines Feldforschungs-Ansatzes, andererseits über die reflexive Thematisierung der eigenen Position im Feld. Als Klinikpfarrer oszilliert WETTRECK gewissermaßen zwischen der beobachtenden Distanz der Forschertätigkeit und der aktiven Teilnehmerschaft im System, innerhalb der die eigenen Wahrnehmungen selbst in die seelsorgerische Arbeit ins Feld einfließen. Im Hinblick auf die Qualität der erhobenen Daten ist die ausgewiesene Feldkompetenz des Forschers hier eher als Vorteil anzusehen, zumal hierdurch auch der schwierige Zugang zum ärztlichen Feld erleichtert wird. Die Frage einer möglichen, mit der Rolle des Seelsorgers verbundenen Gegenübertragung, mit den Gesprächspartnern über existenzielle Dinge reden zu können (zu müssen?) wird erst in der Datenanalyse virulent. Inwieweit es dem Autor gelungen ist, seinen eigenen Standort in der Analyse des Datenmaterials angemessen zu reflektieren, wird in der Diskussion thematisiert; zunächst folgt eine Darstellung der wesentlichen Inhalte der Arbeit. [2]

2. Eine Untersuchung über den "medizinischen und ärztlichen Blick"

Im ersten Teil der Arbeit entfaltet WETTRECK die den Aufbau und die Argumentation seiner Arbeit leitenden Analysekategorien "medizinischer Blick" und "ärztlicher Blick". Mit dem ersteren ist – durchaus in Anlehnung an FOUCAULT (siehe auch S.353) – das in "unserer Gesellschaft vorherrschende – technologisch-wissenschaftliche, institutionelle, anthropologisch-ideologische – Gesamt medizinischer Perspektivierung" (S.9) gemeint. Der zu behandelnde Mensch wird in der "normativen Grundhaltung" der "Medizinität" als Körper objektiviert. Subjektives oder Intersubjektives wird hier getilgt zugunsten naturwissenschaftlicher, etwa biostatistischer Rationalitäten (S.9). Demgegenüber meint der "ärztliche Blick" im Rekurs auf die traditionellen ärztlichen Tugenden eine Grundorientierung, in dem der "biotechnologisch erhobenen Krankheitsstatus und die daraus abzuleitenden, medizinisch normierten Handlungsstandards idealtypisch mit dem wahrgenommenen Wertsystem und Sinn-Erleben, dem Lebens-Umfeld und Lebensverlauf des Patienten", aber auch mit den Werten und der Person des behandelnden Arztes in Beziehung gesetzt werden (S.9). Im "medizinischen Blick" findet eine "Depersonalisierung, Neutralisierung des Persönlichen von Patient und Arzt" statt. Der Entscheidungsstil ist statistisch kollektivierend. Währenddessen wird im "ärztlichen Blick" eine "kontrollierte Thematisierung des Persönlichen von Patient (und Arzt)" (S.13) möglich. Entscheidungen werden – wenngleich auf der Grundlage medizinischer Standards – biografisch und personenbezogen getroffen (S.13). [3]

Im zweiten, mit über zweihundertdreißig Seiten umfangreichsten Teil versucht WETTRECK die professionelle Perspektive des medizinischen Blicks zu rekonstruieren. Unter den Bedingungsfaktoren erscheinen zunächst die Sozialisation des Mediziners, angefangen mit dem Studium, dem Präparierkurs, bei dem die "Faszination des medizinisch-biologischen Durchblicks" (S.34) beginnt, dann später die überflutende Konfrontation der jungen Ärzte mit der Last medizinischer Verantwortung. Als gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen des Medizinsystems beschreibt WETTRECK etwa ein "Überlebens- und Leidens-Ideal" (S.47) – und die daraus resultierende "Kampf-Kultur" (S.53). WETTRECK zeigt dabei auf, dass die biomedizinischen Handlungs- und Bewertungsschemata selbst eine Vielzahl von Glaubensätzen beinhalten und dabei gar eine eigene "Spiritualität", nämlich den "biomedizinischen Vitalismus" konstituieren (S.56). Auf der Grundlage dieser gesellschaftlichen und sozialisatorischen Bedingungen arbeitet WETTRECK nun die spezifische Behandlungs- und Entscheidungslogik des medizinischen Blicks heraus. Standardisierung und Routinisierung (etwa ein "statistischer Entscheidungs-Modus", S.84), Formen der "Verantwortungs-Diffusion im Medizin-System", rituelle Formen der "Fehler-Regulation" (S.90) und die systemische Vermeidung von kritischer, d.h. potenziell belastender Reflexivität gestalten die medizinische Handlungspraxis und schaffen so einen Raum der vermeintlich "naturwissenschaftlichen Neutralität des medizinischen Blicks" (S.99). [4]

Im anschließenden Kapitel "Patienten-Führung: Patienten-Betreuung im medizinischen Blick" wird die Behandlungslogik an verschiedenen medizinischen Feldern wie Innere Medizin und Chirurgie konkretisiert. Insbesondere am Beispiel des Übergangs von "kurativer Phase" zur "Palliation" und dem Management sterbender Patienten entfaltet WETTRECK die These, dass "[ä]rztliche Patienten-Führung als Führung durch den modernen Todes-Schrecken" zu verstehen sei (S.162). [5]

Das folgende Kapitel thematisiert die psychologischen Dimensionen ärztlicher Arbeit unter dem Blickwinkel von Belastung und Verarbeitung. Der Autor rekonstruiert dabei das Belastungsprofil zum einen in den expliziten organisatorischen Bedingungen ärztlicher Arbeit, zum anderen aber auch in den impliziten Bedingungen ärztlicher Verantwortung: einer immer vorhandenen Restunsicherheit im ärztlichen Handeln und nicht zuletzt in einer "philosophisch-spirituellen Belastung" (S.194), die durch die Konfrontation mit Tod und Trostlosigkeit entsteht und durch die immer währende Möglichkeit der Identifikation mit dem leidenden Patienten zusätzlich verstärkt wird. Die Summe dieser immensen Belastungen – so WETTRECKs abschließende These – wird im distanzierten und entpersonalisierten medizinischen Blick bewältigbar:

"Der medizinische Blick organisiert medizinisches Erleben und Bewältigen angesichts vielfältiger, für das normale Alltagsleben hoch belastender Erfahrungen in einem Gefühlsspektrum, das neben weitgehender Handlungsstabilität und Funktionalität das Gefühl von Bedeutung und Macht, Spannung, Spaß, implizite Freiräume und vielfältige Kompensationen einer normalen Berufswelt erfährt. Dies geschieht insbesondere durch Neutralisierung, Banalisierung und delegatorischer Kanalisierung existenzieller Betroffenheiten und Erlebnisweisen; durch Sozialisation eines Habitus der heroischen Problemlosigkeit; durch stützende, virtualisierende, reflexions-entlastende systemische 'Draperien' und Regularien. System-inkompatible, traumatisierende und irrationale 'Reste' werden ins Privatleben 'verschoben'"(S.198)". [6]

Der medizinische Blick wird bei WETTRECK zu einer zentralen "moderierenden Variablen", die den "gesamten medizinischen Handlungs- und Erlebens-Bereich" erklärt (S.198). Im anschließenden Kapitel werden diese Thesen anhand ausgewählter empirischer Beispiele konkretisiert und begründet. So wird etwa am Protokoll einer Intensivbehandlung eines Frühgeborenen aufgezeigt, wie die Verantwortung depersonalisiert wird, indem die letztliche Entscheidung über den Tod dem Kind vitalisierend reattribuiert wird ("Und letztlich entscheidet das Kind", S.199ff.). In einem anderen Fall zeigt WETTRECK etwa auf, dass die Obduktion nach einem Operationsfehler auch als eine rituelle "Exkulpation" und Wiederherstellung der naturwissenschaftlichen Rationalität des medizinischen Blicks zu verstehen ist. Ein anderes Beispiel zeigt auf, dass die aussichtslose Reanimation im normalen Stationsalltag sehr wohl Sinn macht: nämlich als routinisierende und entlastende Geschäftigkeit, demgegenüber das Unterlassen eine über die medizinischen Routinen hinausgehende Reflexion der beteiligten Akteure erfordern würde. [7]

Der dritte Teil der Arbeit schließlich thematisiert die "Transzendenz" des medizinischen Blicks in den "ärztlichen Blick". Der ärztliche Blick setzt den Meisterstatus ärztlicher Kompetenz und Sicherheit – den entwickelten medizinischen Blick – voraus, überschreitet diesen jedoch durch Reflexion und kritische Distanz, wodurch die Wiedereinführung des Biografischen und Persönlichen möglich wird. Der Rekurs auf persönliche Werte und Erfahrungen bringt es mit sich, dass vielfältige Variationen des ärztlichen Blicks bestehen können (wohingegen nur ein medizinischer Blick existiert). WETTRECK führt verschiedene empirische Beispiele konkreter Ärzte an, die jeweils ihre eigene individuelle Form gefunden haben, ärztlich-integrativ und nicht nur depersonalisierend-medizinal zu handeln. So werden unter anderem ein Oberarzt einer universitären Palliativstation, ein Onkologe, ein internistischer Hausarzt und ein anthroposophischer Klinikarzt zitiert, um aufzuzeigen, dass es unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, den engen Rahmen des medizinischen Blicks in Richtung eines erweiterten professionellen Verständnisses zu transzendieren. Im ärztlichen Blick wird Reflexion und damit eine persönliche ethische Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis möglich:

"Dabei erweist sich auch der Ärztliche Blick in seiner kontrollierten, partiellen Durchlässigkeit und Integrationsmöglichkeit persönlichen Erlebens als eine auf Handlungsfähigkeit, Zielerreichung und Legitimationsfähigkeit ausgerichtete professionelle Zugangsweise. Allerdings ist der Versuch einer Fundierung der beruflichen 'Einstellung' im persönlichen Wertsystem und in persönlicher Lebensphilosophie deutlich: Berufliche Begleitung von Patienten soll mit eigener Lebenseinstellung verbunden, teilweise sogar authentisch integriert sein. Zur veränderten 'Einstellung' gehören eine Modifizierung der medizinischen Kampf-Kultur hin zu einer Grenzen-annehmenden Akzeptanz-Kultur, eine Normalisierung des Todes und der Grundsatz der Reflexivität und Identitäts-Arbeit, der begleitungs- und entscheidungs-orientierte Ansatz bei der Lebenssituation und dem Wert-Erleben des Patienten" (S.329). [8]

Im vierten Teil wird zunächst der Forschungsprozess reflektiert, die zugrunde liegende Methodik vorgestellt, um dann die Ergebnisse der empirischen Rekonstruktion in Beziehung zu den übergreifenden gesundheitswissenschaftlichen Diskursen zu setzen. Im Verhältnis zum Gesamtumfang der Arbeit ist dieser Teil eher kurz gehalten. Methodisch hält sich WETTRECK an eine Grounded-Theory-Methodik, erweitert durch eine "Selbstreflexivitäts-Thematisierung" über die er versucht, seiner eigenen Rolle im Feld als "Fehlerquelle" Rechnung zu tragen (S.355.). Dies geschieht insbesondere über die Analyse seiner besonderen Beziehung zum Feld, aber auch indem die Brüche in der Geschichte des Forschungsprozesses betrachtet werden. In der abschließenden Diskussion formuliert WETTRECK einige Implikationen seiner Arbeit für die ärztliche Ausbildung: Als "kompetenz-theoretische Konsequenzen in einer bewusst "ärztlichen" Ausbildungszielsetzung" stünde zunächst die "personell-existentielle Kompetenzerhöhung" im Vordergrund (S.369). Dies könne etwa dadurch geschehen, dass "die bestehenden medizin-psychologischen und -soziologischen, kommunikativen und selbstreflexiven Herangehensweisen (in Studium und Supervision)" eine "konstruktive und inhaltlich zu vertiefende Bedeutung" bekämen (S.369). Die Entwicklung zur Ärztlichkeit setze "Identitäts-Arbeit", "Occupational und Personal Growth", "Selbstreflexivität" und "Empathie-Fähigkeit" voraus, und diese Tugenden seien durch Berufs- und Lebenserfahrung zu speisen (S.372f.). Ziel müsse es sein, dass die Ärzte gleichsam aus ihrem medizinalen Korsett aussteigen können, um die ihnen in der medizinischen Maschinerie abtrainierte Reflexionsfähigkeit wieder zu erlangen. WETTRECK hält dabei einen "strategischen Verzicht auf vorschnelle Kritik-, Veränderungs- oder gar Reformversuche" (S.374) für unabdingbar, denn

"mit Hilfe der typologischen Perspektivierung des medizinischen Blicks ist es möglich, die Funktionalität, Logik und Notwendigkeit des Bestehenden und Ablaufenden zu verstehen: Gerade auch was als störend, irrational, inhuman, dekonstruktiv bewertet werden könnte, hat seine Funktion. Besonders auch dieser 'Logik' nachgegangen zu sein, ist ein entscheidender Erkenntnisschritt dieser Arbeit" (S.374). [9]

3. Eine kritische Würdigung

Vor dem Mangel an qualitativ empirischen Studien zur ärztlichen Praxis erscheint die Arbeit von WETTRECK als eine reiche Fundgrube an Material, in der vielfältige Aspekte ärztlichen Handelns und Erlebens auf hohem Niveau reflektiert werden. Dabei lohnt es sich durchaus wieder, ins Detail zu gehen und sich nicht verführen zu lassen, die Dinge zu schnell über die recht allgemeinen Kategorien "medizinischer" und "ärztlicher Blick" begreifen zu wollen. Insbesondere die teilweise im Text versteckten Subkategorien sind hilfreich, um dann den vorschnellen Abstraktionen zu entgehen und wieder mehr zur Rekonstruktion zu gelangen. So scheint mir die Beschreibung der gängigen medizinischen Praxis als alpha-Kampf-Kultur ein hilfreiches Konstrukt zu sein, um viele auf den ersten Blick unmenschlich erscheinende ärztliche Praktiken verstehen zu können:

"[Z]ur Vermeidung von ß-Fehlern (noch Therapierbare werden nicht therapiert, Chancen werden versäumt) werden eher alpha-Fehler in Kauf genommen: Hoffnungslos Untherapierbare werden zur Sicherheit dennoch therapiert, Schädigungen von Menschenwürde durch sinnlose Therapie-Torturen und Verluste an autonomer Sterbegestaltung werden gegenüber übergangenen möglichen Therapie-Chancen billigend in Kauf genommen" (S.54). [10]

Ebenso scheint mir das von WETTRECK durchaus treffend so bezeichnete Phänomen des "biomedizinischen Vitalismus" eine überzeugende Rekonstruktion metaphysischer Dimensionen innerhalb der ärztlichen Entscheidungspraxis zu sein. Denn indem dem Körper ein verborgener Eigenwille zugerechnet wird, wird ärztliches Scheitern an der Grenze zum Tode entlastet. Nicht der Arzt muss entscheiden, ob eine Maßnahme abzubrechen ist oder nicht, sondern das undurchschaubare Orakel des Patienten wird zum vermeintlichen Entscheidungsgeber (S.57). [11]

Lesenswert sind auch die Ausführungen über die "medizinisch-systemischen Strategien im Umgang mit medizinischen Fehlern", der "große" und "'kleine Ritus' zur Exkulpierung" (S.96), indem Kunstfehler etwa durch das Instrument der Obduktion wieder in entlastendes unpersönliches Wissen reintegriert werden können. [12]

Insbesondere auch die Kategorie der Reflexivität bzw. der medizin-systemischen Vermeidung von Reflexivität hat eine erhebliche Erklärungskraft. Sie hilft etwa den Befund zu erklären, dass Ärzte sich zugleich sowohl als die potenten Macher als auch in einem "Strudel" bzw. einem "anonymen Entwicklungsprozess" empfinden, der durch eine "überindividuelle, organisationsbedingte Eigendynamik" geprägt "und von niemandem direkt verantwortet" wird (S.91). Diese in Gesprächen mit Ärzten vielfach anzutreffende Dissonanz im Selbstbild findet nun einfach darin eine Erklärung, dass der "ständige systemimmanente Handlungsdruck" das "Nachdenken" verhindert (S.91). Denn wenn der Mediziner in weiten Teilen ein Akteur ohne Reflexivität ist – ein Befund, den übrigens schon LUHMANN (1983) diagnostiziert hat –, dann verpuffen Forderungen an das Gewissen der Ärzte bezüglich mehr Menschlichkeit gleichsam im luftleeren Raum. [13]

Gerade auch im Hinblick auf die eigentliche "Zentralkategorie" Reflexivität erscheint mir jedoch das nach mehr als 160 Seiten Ausführungen über die Logik des medizinischen Blick gezogene Fazit, dass Patienten-Führung als Führung durch den modernen Todesschrecken zu verstehen ist, wenig überzeugend. Gerade die zitierte Empirie scheint ja vielfach eher darauf hinzuweisen, dass für die Ärzte nicht der Tod das Problem darstellt – Ärzte sind gewissermaßen routinierte Profis. So stellt in einem von WETTRECK angeführten Beispiel nicht der plötzliche Tod einer Patientin für den Arzt das Problem dar – dieser ist eben nur ein schicksalhafter Verlauf unter anderen. Erst die Vorwürfe der Angehörigen stellen die Arzt-Identität in Frage (S.299). Dieses und anderes angeführte empirische Material braucht aus soziologischer Perspektive nicht unbedingt unter der Brille einer existenziellen Schuld gesehen werden, sondern kann einfach nur als Problem einer überzeugenden Selbstdarstellung gelesen werden. Unter dieser einfacheren Erklärung würden dann auch die Riten auf den Visiten und Abteilungsbesprechungen nicht, wie WETTRECK vermutet, eine Schuldbearbeitung darstellen, sondern einfach nur eine rekursive Bestätigung von Praxis unter der Bedingung sein, dass der Sinn derselben nicht für sich selbst spricht, sondern nur sozial vermittelt werden kann. WETTRECKs "theologisches Bias" lässt hier in ärztlicher Praxis mehr an existenzieller Tiefe (und damit verbunden: Schuld!) aufscheinen, als dies vermutlich in vielen Fällen real der Fall sein wird. CSIKSZENTMIHALYI (1985) etwa analysiert im Rahmen seiner Forschung über Glückszustände die Erfahrungen von Chirurgen und kommt dabei zu dem Schluss, dass hier eher von einer intrinsischen Motivation zum Handeln ausgegangen werden muss – das Operieren macht einfach Spaß –, während das Schicksal des Patienten und damit auch die Gefahr von Schuldgefühlen kaum eine Bedeutung zu haben scheint. [14]

Die auch an anderen Stellen etwas überzogen erscheinende "Theologisierung" der Medizin schmälert jedoch auf keinen Fall die Leistung von WETTRECKs Arbeit, die Bedingungen moderner Medizinität in ihrer Bedingungsvielfalt darzustellen und dabei der Komplexität des Themas einigermaßen gerecht zu werden. [15]

Das eigentliche Anliegen WETTRECKs, nämlich die Rekonstruktion des "ärztlichen Blicks" als einem ethischen Gegenentwurf zum "medizinischen Blick" ist meines Erachtens jedoch nicht überzeugend gelungen. Wenngleich die Gegenüberstellung dieser beiden Sichtweisen eine gewisse Plausibilität hat, so lässt sie sich in der vorliegenden Form nicht aus dem vorgestellten empirischen Material nachvollziehen. Inwieweit etwa der zitierte Arzt aus der Palliativstation oder gar der anthroposophische Arzt ihrer Arbeit mit erhöhter Reflexivität nachgehen, oder ob beide nicht auch stereotypen Praxisformen folgen, die zwar anders als die schulmedizinischen sind, jedoch ebenso mechanisch angewendet werden können, bleibt eine offene Frage. Auch erscheint es methodologisch nicht ganz korrekt, nur die Ärzte, welche den ärztlichen Blick repräsentieren, in der Darstellung mit Hinweisen zur jeweiligen Biografie auszustatten, während die "medizinalen" Ärzte in den Schilderungen unpersönlich bleiben. Hier scheint in der komparativen Analyse unterschiedliches Material miteinander verglichen. Möglicherweise würde ein "ärztlicher" Mediziner im konkreten Krankenhausalltag beobachtet weitaus "medizinaler" erscheinen, während ein Arzt, dem Wettreck einen überwiegend "medizinischen Blick" zurechnet, im persönlichen Interview sich vielleicht "menschlicher" zeigen könnte (was immer das auch heißen mag). Da in der Arbeit auf komparative biografische Analysen verzichtet wurde, bleibt auch die Frage der Bedingungsfaktoren für den ärztlichen Blick verschwommen. Nichtsdestotrotz geben die Fallbeispiele für den ärztlichen Blick interessante Hinweise für eine "Typologie" ärztlicher Praxis, die sich dann allerdings nicht nur im Begriff "ärztlicher Blick" erschöpfen, sondern recht verschiedenartige professionelle Ideologien repräsentieren würde. Unabhängig von diesen methodologischen "Mängeln" stellt die Arbeit dennoch insgesamt einen überzeugenden Beitrag zum Verständnis ärztlichen Seins und ärztlicher Arbeit dar. Im Gegensatz zu den in den gesundheitswissenschaftlichen Diskursen anzutreffenden normativen Modellen ärztlichen Handelns wird hier der Versuch einer umfassenden Rekonstruktion gewagt. WETTRECKs Programm seiner Arbeit, die "Wiederentdeckung der Ärztlichkeit – neue Ärztlichkeit im Kontext moderner Medizin" (S.379) könnte dann auch abschließend so gelesen werden, dass die eigentliche Leistung des Buches darin besteht, die Bedingungen ärztlichen Seins überhaupt erst in den Diskurs einzubringen. Gerade vor dem Hintergrund der vermehrten Abwertung der Ärzte in gesundheitspolitischen Debatten, aber auch im Hinblick auf eine Reihe neuerer Veröffentlichungen, die zwar den "guten Arzt" thematisieren, den realen Arzt jedoch mehr oder weniger draußen lassen (siehe etwa DÖRNER 2000 und von TROSCHKE 2001), ist diese Arbeit von kaum zu überschätzendem Wert. [16]

Literatur

Csikszentmihalyi, Mihaly (1985). Das Flow-Erlebnis: Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Dörner, Klaus (2000). Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart: Schattauer.

Luhmann, Niklas (1983). Medizin und Gesellschaftstheorie. Medizin Mensch Gesellschaft, 8, 168-175.

Troschke, Jürgen (2001). Die Kunst, ein guter Arzt zu werden: Anregungen zum Nach- und Weiterdenken. Bern: Huber.

Zum Autor

Werner VOGD, Dr. hum. biol., Studium der Biologie, Promotion in der Abteilung Anthropologie der Universität Ulm. Seit Januar 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité Berlin im Institut für Medizinische Soziologie des ZHGB (Zentrum der Human und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin).

Kontakt:

Werner Vogd

Institut für Medizinische Soziologie
Thielallee 47
D-14195 Berlin

E-Mail: vogd@zedat.fu-berlin.de

Zitation

Vogd, Werner (2002). Rezension zu: Rainer Wettreck (1998). "Arzt sein – Mensch bleiben": Eine Qualitative Psychologie des Handelns und Erlebens in der modernen Medizin [16 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(4), Art. 24, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0204240.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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