Volume 3, No. 3, Art. 8 – September 2002

Rezension:

Rudolf Schmitt

Gisela Brünner & Elisabeth Gülich (Hrsg.) (2002). Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 343 Seiten, ISBN 3-89528-360-6, kart., Euro 34,50

Zusammenfassung: Das Buch von BRÜNNER und GÜLICH versammelt aus den Perspektiven von Linguistik, Sozialwissenschaft, Literaturwissenschaft, Psychosomatik und therapeutischer Praxis unterschiedlichste Beschreibungen des Diskurses über somatische und psychische Erkrankungen. Neben begeisternden Studien stehen solche mit eingeschränkten Perspektiven. Viele Beiträge konvergieren im Begriff der Metapher bzw. der kognitiven Metapherntheorie von LAKOFF und JOHNSON, die das methodische wie theoretische Repertoire der qualitativen Sozialforschung bereichern.

Keywords: qualitative Gesundheit, Krankheit, Metapher, Experten-Laien-Kommunikation

Inhaltsverzeichnis

1. Anspruch

2. Einführung und Explikation des linguistischen Schwerpunkts

3. Andere Perspektiven

4. Zusammenfassung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Anspruch

Die in dem Buch versammelten Aufsätze beschreiben aus der Perspektive verschiedener Disziplinen (Linguistik, psychosomatische Medizin, Psychotherapie, Soziologie, Literaturwissenschaft), "wie Krankheitsverläufe und Krankheitserscheinungen, z.B. Schmerzen oder Anfälle, sprachlich dargestellt werden, wie krankheitsbezogenes Wissen und subjektives Erleben vermittelt werden und welches Bild von Gesundheit dabei zugleich aufgebaut wird" (Zitat Klappentext). Den genannten Disziplinen lässt sich in dieser Rezension eine bestimmte Forschungshaltung gegenüberstellen: Auch wenn bis auf eine Arbeit sich keine explizit dem Kontext qualitativer Forschung zurechnet, so könnten doch das Thema und vor allem die dem konversationsanalytischen Ansatz verpflichteten Linguisten Aufmerksamkeit beanspruchen. Ich werde daher das Buch auch daraufhin rezensieren, ob und wie es ein so unterschiedliches Publikum ansprechen kann. [1]

2. Einführung und Explikation des linguistischen Schwerpunkts

GÜLICH und BRÜNNER beschreiben in ihrer Einleitung die Grenzposition des Sprechens über Krankheit: Zum einen berührt es das eigene Selbst ebenso schmerzhaft wie entlastend; gleichzeitig ist das Phänomen ein leiblich erlebtes, nicht unmittelbar in Sprache gegebenes. Die häufig wiederholte Floskel, die Schmerzen eigentlich nicht beschreiben zu können, sind ein Ausgangspunkt vieler Interviews; die sprachlichen Mittel, kommunikativen Verfahren und sozialen Handlungsmuster zur Fortsetzung des Gesprächs sind Thema des Bands. Zu diesen sprachlichen Verfahren, leibliche Erfahrung mitzuteilen, gehört die Metaphorik, und so wird die kognitive Metapherntheorie nach LAKOFF und JOHNSON (1980, 1998) bereits hier als Berührungspunkt mehrerer Aufsätze genannt. [2]

Eine nicht-sprechende, technikintensive Medizin kann ihre Handlungsweisen und Wissensbestände zunehmend weniger verständlich machen. BRÜNNER und GÜLICH suchen im ersten und umfangreichsten Aufsatz des Buches nach der Antwort auf die Frage: Welche impliziten und expliziten Methoden der Veranschaulichung werden von MedizinerInnen im medialen Diskurs wie im Gespräch mit KlientInnen genutzt? Sie analysieren dazu Vorträge, Seminare für PatientInnen, Radio- und Fernsehsendungen wie auch Interviews mit Betroffenen. [3]

Bei Herzerkrankungen nutzen ExpertInnen und Laien ähnliche Metaphern (Herz als Motor oder Pumpe, Kreislaufsystem als Rohr- oder Verkehrssystem), erstere führen die Metaphern expliziter ein, sind sich des Abstands zwischen Bild und realem Phänomen bewusster und nehmen die sprachlichen Bilder seltener verdinglicht-real wahr. Nur bei den Klienten taucht die Wetter-Metapher für die Erkrankung auf: Sie sei wie ein "Blitz aus heiterem Himmel" gekommen – wobei oft begründet zu vermuten ist, dass bereits bestehende körperliche Symptome ignoriert wurden. [4]

Bei den Betroffenen einer Epilepsie zeigt sich, dass das Wort vom "Anfall" ein leeres Konzept ist, das die Überwältigung des Bewusstseins den Betroffenen nicht verständlich macht. BRÜNNER und GÜLICH unterscheiden verschiedene Formen von Formulierungsschwierigkeiten; die Betroffenen suchen nach Metaphern, jedoch sind Beispielerzählungen stärker als Modus der Veranschaulichung. Am Material können sie sehr schön anhand der von den ÄrztInnen geforderten Konkretisierung des Anfallsgeschehens die gemeinsame Entwicklung von Bildern für den Bewusstseinsverlust beschreiben. [5]

Die AutorInnen differenzieren zwischen Metaphern, Vergleichen, Szenarien, Analogien, Beispielen, Beispielerzählungen und Konkretisierungen, die jeweils auf ihre konversationellen Aufgaben untersucht und rekonstruiert wurden. Sie fassen Metaphern und verwandte Form der Veranschaulichung als "Ethno-Methoden" (S.82f.) auf, über die Laien und ExpertInnen gleichermaßen verfügen, auch wenn sie diese unterschiedlich einsetzen. Natürlich haben solche "Methoden" des Sprechens und Denkens auch ihre blinden Flecken – im Fazit wird Linguistik als Möglichkeit beschrieben, solche Grenzen zu beschreiben und vielleicht auch bessere Veranschaulichungen zu entwickeln. [6]

Dieser umfangreichste Aufsatz des Buches besticht durch Materialreichtum. Die Fallgeschichten bzw. Originaltextstellen werden zum Teil aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet – für qualitative Forschung unmittelbar anregend, da die Funktion des linguistisch interpretierten kommunikativen Phänomens in der sozialen Interaktion rekonstruiert wird. Aufgrund der Materialfülle und Lesbarkeit ist der Aufsatz auch für PraktikerInnen der medizinischen und psychosozialen Disziplinen empfehlenswert – auch wenn man sich anhand unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen, disparater Theoriebezüge und völlig verschiedener Relevanzsysteme diesen Transfer nicht zu leicht vorstellen darf. [7]

Man kann darüber diskutieren, ob man die von den AutorInnen vorgenommene Trennung zwischen Metapher und narrativen Formaten folgt – jede Narration ist ja nicht das Ereignete selbst, sondern die von einem Subjekt fokussierte, verdichtete, mit allgemeinen Strukturen (metaphorischen Konzepten!) versehene Äußerung. Und man könnte skeptisch anmerken, dass die Experten zu sehr in der Funktion der "Veranschaulichung" von Wissen gesehen werden – das war zwar der Tenor der Untersuchungsfrage, es fördert aber das Missverständnis, wir hätten es in der Medizin mit nicht-metaphorischen "reinem" Wissen zu tun. Die zitierte Christina SCHACHTNER (1999) hat dagegen eindrucksvoll belegt, dass ärztliches Denken und Handeln sich einer vielgestaltigen Metaphorik bedient, welche die Komplexität des medizinischen Wissens wie die der sozialen Interaktion ordnet und fokussiert. Hier wurde die Radikalität des LAKOFFschen Metaphernbegriffs (noch?) nicht genutzt – aber das sind Kleinigkeiten. [8]

SURMANN nutzt das Material aus der oben beschriebenen Epilepsie-Teilstudie, hier aber nicht unter dem Aspekt der Veranschaulichung in der Experten-Laien-Kommunikation, sondern unter dem expliziten Fokus der Analyse der Metaphern, die Betroffene zur Beschreibung ihres Anfallserlebens verwenden. Im Vergleich mit der Sprache der Medien und Experten fällt auf, dass die Metapher der Epilepsie als "Gewitter im Gehirn" von den Betroffenen kaum genutzt wird. Eine Frau berichtet dagegen, es sei ihr, "als ob einer so'ne heiße Flüssigkeit durchkippt", eine andere, als ob sie "so'n Baseballschläger vorgekricht" habe, weitere: "als hätt ich noch ne zweite Person in mir", "das war "wie Aquarium, ... als würde man drinne sitzen und nach draußen gucken, so ... verschwommen", "is auch wie'n nervöser Magen, den ich dann im Kopf hab". Unmittelbar einsichtig, dass Behandlung bei diesen Formulierungen ansetzen muss, damit die Betroffenen sich angenommen fühlen. [9]

Es folgt ein grundlagentheoretischer Abschnitt zu LAKOFF und JOHNSON, bevor wieder das sprachliche Material in den Vordergrund rückt. Sehr überzeugend ist SURMANNs Herleitung, dass die literaturwissenschaftliche Unterscheidung, ob ein Vergleich oder eine Metapher vorliegt, anhand der gesprochenen Sprache nicht gelingen kann. Ebenso belegt er, dass konventionelle Metaphern psychologisch relevant sind – gerade in der Formulierungsarbeit am Nichtfassbaren sind sie eine wichtige Ressource. SURMANN beschreibt, wie auch die Kommunikation mit Metaphern scheitern kann, sei es, weil der Transport des sinnlichen Gehalts nicht gelingt, oder zu viele und zu schnell wechselnde Metaphern gebraucht werden, und die Betroffenen somit ihr Erleben den Zuhörenden nicht plausibel machen können. Und er belegt, dass Metapherngebrauch nicht konsistent ist, aber seine Kohärenz nachgewiesen werden kann: Unterschiedliche metaphorische Konzepte ergänzen sich in ihrer Beschreibung des Erlebens. [10]

Anhand des Materials wird eine differentialdiagnostische Hypothese gut belegt: Eine dissoziative Epilepsie (also nicht organisch begründbare, früher auch "hysterisch" genannt) wird in ihrer Metaphorik weniger kohärent geschildert als eine fokale Epilepsie (per EEG organisch diagnostizierbar), die Metaphorik wird eher verhüllend eingesetzt, die Symptomatik eher ich-synton geschildert. Bei einer fokalen Epilepsie schildern die Betroffenen ihre Erkrankung als Kampf gegen einen externen Feind und versuchen, das beginnende Geschehen zu unterbrechen. [11]

SURMANN diskutiert die Rolle der Metaphern in der Beschreibung des Grenzphänomens mit dem Hinweis, dass Metaphern bzw. metaphorisch brauchbare Schemata im Sinne von LAKOFF und JOHNSON (1999) präoperational erworben werden, in einer Phase also, in der eine Objektkonstanz gerade sich entwickelt – was sie als Kommunikationsmittel für diesen Grenzfall des Bewusstseinsverlusts prädisponiert; Metaphern ragten in Perioden des konkreten und formalen Operierens hinein und transportierten frühes Erleben. – Solche linguistischen Steilpässe von der Klinischen Psychologie in die Entwicklungspsychologie lassen das Potential aufscheinen, welches für qualitative Forschung, verschiedene Bereiche der Psychologie und natürlich auch der Linguistik von der Theorie von LAKOFF und JOHNSON erwartet werden kann. Allerdings zeigt das Kurzreferat die bei LAKOFF und JOHNSON aufscheinende Gefahr, die Analyse der Metaphern in der Hirnforschung begründen zu wollen. Dagegen belegt SURMANNs Arbeit am Text, dass die Analyse der Metaphern ein hermeneutisches Unterfangen ist. Hier könnte man über ein beginnendes biologistisches Selbstmissverständnis der Begründer der kognitiven Linguistik diskutieren. [12]

Die dritte Arbeit, die auf dem Corpus der Interviews mit Betroffenen einer Epilepsie basiert, konzentriert sich darauf, wie der Bewusstseinsverlust selbst (und nicht das ganze Anfallsgeschehen) thematisiert wird. Ingrid FURCHNER rekonstruiert drei Möglichkeiten, diesen zu benennen:

Auch hier gibt es ein differentialdiagnostisches Resümee: Möglichst differenzierte Beschreibungen, Versuche der Rekonstruktion der "verlorenen" Zeit und die Einbettung in ein länger dauerndes Geschehen (Schilderung einer Aura) deutet eher auf fokal-epileptische Anfälle, während die Betonung des Bewusstseinsverlusts ohne Rekonstruktionsversuch eher einen dissoziativen Anfall nahelegt. [14]

Deutlich und schön ist wie bei den bisherigen zwei Aufsätzen zu bemerken, dass zur Sicherung der Interpretation immer auf den pragmatischen Gesprächskontext rekurriert wird. Damit enden die Aufsätze, die einen Korpus von Interviews gemeinsam nutzten; sie umfassen knapp die Hälfte des Buches. [15]

3. Andere Perspektiven

STOLLBERGs Aufsatz über "Heterodoxe Medizin, Weltgesellschaft und Globalisierung: Asiatische Medizinformen in Westeuropa" ist eher begrifflich als empirisch orientiert; er stellt Überlegungen zur Pluralisierung von medizinischen Handlungsformen an. In der Moderne sieht er einen unterschiedlich begründbaren Bedarf nach alternativen ("heterodoxen") Medizinkonzepten, er skizziert deren "Hybridisierung", d.h. ihre Über- und Umformungen durch lokale Kulturen. Eingestreute Zahlen über "heterodox" praktizierende ÄrztInnen und tabellarische Übersichten zu Homöopathie, galenische Traditionen, Ayurveda und traditioneller chinesischer Medizin sind ein informativer Einstieg in diesen Diskurs. [16]

Wiederum eine empirische Studie: KONITZER, SCHEMM, FREUDENBERG und FISCHER analysieren an zwei Beispielen die Interventionsfindung in der Homöopathie als Versuch, zwischen Selbstinszenierung der KlientInnen und körperbezogenen Informationen einerseits und der metaphorisch beschriebenen Mittel andererseits eine (wiederum metaphorische) Passung zu finden. [17]

So spannend diese Idee ist, verliert die Studie viel von der möglichen Klarheit durch eine Mischung mehrerer (und unklarer) Metaphernverständnisse, den Einbezug von JAKOBSONs Semiotik, dem kursorischen Bezug auf GLASER und STRAUSS, einem Ausflug zur Alchimie etc. Sie zitieren "homöopathisch" in dem Sinn, dass ein "Simile", d.h. HAHNEMANNs "Ähnlichkeit" zwischen Symptom und Arznei, hier zwischen Themen aus unterschiedlichsten Textsorten, als Beweggrund für die Zitation ausreicht. Die zwei Fallbeispiele wirken eher als Aufhänger für die Ausbreitung heterogenster Lesefrüchte und sind damit überinterpretiert. Allerdings muss ich hinzufügen, dass dies ein häufiges (und vielleicht gegenstandsinduziertes?) Problem metaphernanalytischer Veröffentlichungen ist, die manchmal eher verwirren als aufklären. [18]

KÜTEMEYER interessiert sich für Metaphorik in der Schmerzbeschreibung; leider führt sie nur in ein psychoanalytisches verkürztes Schmerzverständnis ein – (chronischer) Schmerz diene dazu, vergangenes oder gegenwärtiges Leiden auszudrücken, das sonst keinen Ausdruck fände. Mit dieser Prämisse, der dann alle Fallvignetten gehorchen, gerät die Sinnkonstruktion der InterpretInnen aus dem Blick. Diese Sinnfindung ist vor allem vergangenheitsorientiert. Der mögliche Sinn von Schmerzen für die Gegenwart (Schonung, sekundärer Krankheitsgewinn/operante Belohnung), für die Zukunft (was soll vermieden werden?), für ein Familiensystem, für eine Kultur wird damit unsichtbar. Im Lichte dieses Schmerzverständnisses werden KlientInnen nur als Opfer von Zumutungen gesehen: Die Opfer-Geschichte ist zwar eine breit genutzte, aber nicht immer die von allen an der Situation Beteiligten geteilte und für eine Intervention auch nicht immer die sinnvollste Konstruktion. Die Opfer-Geschichte blendet den handelnden Anteil aus. Sie übersieht, wie Betroffenen seit dem möglichen Trauma mit sich selbst und anderen umgegangen sind, welche Sinndeutungen und (auch maladaptiven) Copingstrategien von ihnen entwickelt wurden. Natürlich kann man zu Recht einwenden, dass alle Behandlungsansätze bestimmte Sinndeutungen im Rahmen ihrer Theorie nahelegen und damit Komplexität reduzieren, um handlungsfähig zu werden. Für einen Forschungskontext sollten aber vorgängige Sinnkonstruktionen explizit benannt werden – hier ist jedoch keine Rede von alternativen Deutungs- und (Be-) Handlungsweisen, der Duktus lautet: Das ist so. [19]

Der Metaphernbegriff ist unklar: Ein "pochender" oder "elektrisierender" Schmerz sei keine Metapher, dagegen "ein Schwert im Rücken" (S.193), und dann steht "Metapher" wiederum für alle Formen bildhafter Schilderung (S.196). Es finden sich keine Hinweise auf systematische Interviewauswertungen; es sind eher Erzählungen aus der klinischen Praxis mit zum Teil sehr pragmatischen Hinweisen, warum das Weglassen wie das Gebrauchen des ärztlichen weißen Kittels wechselweise sinnvoll ist. [20]

Es folgt eine eigene Systematik von Schmerztypen mit den jeweiligen Metaphern mit kasuistischen und nicht immer ganz überzeugenden Kurzbeispielen. Es wäre spannend, diese Einteilung empirisch zu validieren. Es bleibt auch Skepsis im Einzelnen, ob eine neurologische Erkrankung vom Typ der "restless legs" psychosomatisch interpretiert werden kann. Insofern ist der Rezensent skeptisch, ob mit dieser Systematik ein "Alphabet der Affekte" (S.206) vorliegt. – Ironisch möchte man dem alten Bonmot – dass es für eine nur somatisch orientierte Medizin keine Gesunden gibt, nur solche, die noch nicht genügend untersucht worden sind – durch diesen Aufsatz angeregt eine komplementäre Variante gegenüberstellen: Es gibt keine Kranken, nur noch nicht richtig verstandene Opfer. [21]

LALOUSCHEK hat sich auf die kulturelle Symptomatik und mediale Präsentation des Chronischen Erschöpfungssyndroms konzentriert. Die Autorin beschreibt zunächst das Aufkommen neuer "Krankheiten" von der "multiplen Persönlichkeitsstörung" bis zum "Sissi-Syndrom" (einer Variante einer Anorexie) und folgert, dass die westliche Kultur zum Somatisieren einlade und nahelege, die kulturell anerkannten medizinischen Symptome zu produzieren. [22]

Nach der pauschalisierenden Beschreibung der sog. "Schulmedizin" folgen kühne Thesen, dass "ganzheitliche" (was immer damit gemeint sein kann) und systemische Ansätze ähnlich den psychoanalytischen Theorien von "unbewussten seelischen Prozessen" ausgingen. Deutlich wird, dass der Exkurs der Autorin in den Bereich psychotherapeutischer Behandlungsansätze ausbaufähig ist – es bleibt bei einem an psychoanalytische Ansätze angelehnten Verständnis von Psychosomatik, das sich mit dem behaupteten sozialen und kulturellen Aspekt der Erkrankung nicht verbindet (auf Showalter wird häufig verwiesen). Ihre These lautet, dass das Chronische Erschöpfungssyndrom der Gegenpol zu einer extrovertierten und beschleunigten "24-Stunden-Gesellschaft" darstellt. Aber das ist nicht der spannendste Teil des Aufsatzes, sehr viel interessanter wird es in dem etwas kurz geratenen empirischen Teil. Die Autorin hat Fernsehsendungen daraufhin ausgewertet, welche sprachlichen Mittel sowohl vom moderierenden Arzt wie von den Betroffenen genutzt werden, um für ihr Leiden nicht nur Verständnis zu wecken, sondern auch Identifikationsangebote zu machen, fast zu missionieren. Diese Detailanalysen beeindrucken. Es fällt auf, wie sehr vor allem die Betroffenen soziale und psychische Möglichkeiten der Veranlassung und Formung des Beschwerdebilds abwerten und auf einem organischen Befund bestehen. Die vorher aufgestellte These, dass das chronische Erschöpfungssyndrom der Gegenpol zur Gegenwartskultur darstelle, wird nicht am Material belegt. Man wird in psychosozialen Sinnzusammenhängen darüber hinaus ebenso häufig oder selten eine wirkliche "Heilung des Leidens" (S.216) finden – Formulierungen, mit denen die Autorin freizügig und unkritisch umgeht. Die Verbindung zu kulturellen Rahmentheorien, die man aufgrund des Bezugs auf "Kultur" erwartet hätte, fehlt; GIDDENS wird kurz erwähnt, MOSCOVICI (1995) hätte wunderbar gepasst. [23]

SCHEMM fragt in ihrem Aufsatz im Titel nach der Macht von Metaphern und geht von einer engen Verwandtschaft und Sprechen und Stöhnen aus. Beide gelten als uneigentliche, ungenaue Redeweisen, die jedoch "immer auch emotionale Volltreffer sein können" (S.239). Da schockiert der Gebrauch der letzten Metapher doch ein wenig, und der Rezensent hofft, dass diese kriegerische Metaphorik nicht die Interaktion zwischen KörpertherapeutIn und KlientIn beschreibt. Die Themenwahl verstört etwas: über die Schwerkraft des Unterkiefers, seine Bemuskelung und das Sprechen als gestaltetes Ausatmen, aber auch als "Ausscheidungsvorgang nach oben" (S.240). Es ginge um das "leibliche Unbewusste", um "Körperresonanz", Stöhnen als "innere Sprechblase" und Sprache als "äußere Sprechblase", "vegetative Ordnung" und eine nicht weiter empirisch belegte "salutogenetische Wirkung" der Veranstaltung (S.241). Es folgen eher anekdotische Berichte aus der Praxis, welche die vorhergehenden Darstellungen erläutern sollen. Diese Empirie ist also kein unabhängiges Forschen, das dazu beitragen könnte, die Begriffe zu ordnen und die theoretischen Ansprüche zu fundieren. [24]

Dennoch wird etwas bei diesen Berichten deutlich: Körpertherapeutische Arbeit in dieser Form ermöglicht es sicherlich, auch lange "festgehaltene" Affekte kommunizierbar zu machen. Ebenso deutlich wird, dass das bioenergetische Theoriegebäude in seinen unreflektierten Metaphern und ungeklärten Begriffen eher ein Angebot für mystisch Interessierte als für empirische Wissenschaften ist. Qualitative Forschungen, wie sie z.B. in den Aufsätzen der beiden Themenhefte "Sprechen vom Körper – Sprechen mit dem Körper" von "Psychotherapie und Sozialwissenschaften" (BERGMANN & STREECK 2001, 2002) könnten diesem Desiderat abhelfen, der Rekurs auf LORENZERs "szenische Hermeneutik" (1976) könnte eine vertrauenswürdigere Begrifflichkeit bereitstellen. Der unstrittige praktische Gehalt der Körpertherapie ließe sich auch mit Rückgriff auf die Vorstellungen über die Rolle des Körpers, die insbesondere Mark JOHNSON (1987) in die neuere Metapherntheorie eingebracht hat, neu formulieren, und daher ist es schade, dass der Kernbegriff ihrer Überschrift unbegriffen geblieben ist. [25]

Körper und Sprache sind ebenfalls Thema im Aufsatz von BUCHHOLZ, hier jedoch über ein Drittes aufeinander bezogen: Wie wird "Kontakt" in der Psychotherapie erfahren und metaphorisch "verwortet"? Der Aufsatz stellt die wichtigsten Ergebnisse der schon an anderer Stelle publizierten Studie zusammen (BUCHHOLZ & von KLEIST 1997): In einer psychotherapeutischen Klinik wurden 30 Klienten, ihre EinzeltherapeutInnen und KomplementärtherapeutInnen (Atem-, KörpertherapeutInnen, Krankenpflegende) zu dem Verlauf der stationären Behandlung befragt, also 90 Interviews erhoben. BUCHHOLZ geht mit LAKOFF und JOHNSON über die Stufen manifester, einzelner Metaphern und deren sinnhaften Clusterung zu metaphorischen Konzepten hinaus und rekonstruiert metaphorische "Szenarien" des Kontakts: kulturell übliche, komplexe Verlaufsfiguren des Erlebens wie gemeinsamen Herstellens einer sozialen Begegnung. Er stellt vier Szenarien mit Beispielmaterialien vor:

Ich hatte in einer früheren Besprechung (SCHMITT 2000) gefragt, ob nicht die Metaphorik des Gebens und Nehmens ("in Beziehung investieren", "etwas von jemand wollen", "sich austauschen") zu finden war. Cornelia von KLEIST hat dies in ihrer Antwort verneint (v. KLEIST 2001). Im Hinblick darauf, dass diese Metaphorik u. a. von MAUSS (1990) und STAROBINSKI (1994) in ganz unterschiedlichen Kontexten dokumentiert worden ist, wäre dies ein interpretationsbedürftiges Fehlen einer Metaphorik: Was war in den Therapien anders, so dass diese Bildlichkeit fehlen kann? [27]

Für jedes Szenario werden unterschiedliche Verlaufsmöglichkeiten, Risiken und Fehlentwicklungen diskutiert. Hier zeigt sich, dass eine prozessuale interaktive Diagnostik einer nosologisch orientierten (z.B. ICD 10) nicht immer folgt. Der Wert der Szenarien liegt darin, den Zusammenhang auch zwischen unterschiedlichen konzeptuellen Metaphern zu studieren, um damit komplexe, aber typische Ablaufmuster der Interaktion rekonstruieren zu können: Das ist erfolgreich betretenes Neuland. [28]

Zwei Fallbeispiele folgen: In einem wird exemplarisch gezeigt, wie sich die Metaphern des Klienten und des Therapeuten verfehlen, die Behandlung vom Klienten auch als misslungen bewertet wird. Im zweiten Beispiel treffen sich die (im Laufe der Behandlung verändernden) Metaphoriken des Kontakts einer Klientin und einer Therapeutin, erstere beschreibt abschließend auch die Therapie als nutzvoll. BUCHHOLZ kann anschließend prognostische Kriterien für einen erfolgreichen Therapieverlauf davon ableiten. Er plädiert dafür, das kommunikative Wechselspiel und seine innere Bebilderung durch KlientIn und TherapeutIn als prozessuale Diagnostik wichtiger zu nehmen als eine klassifizierende Systematik – in der Tat ist er hier einer handlungsleitenden Diagnostik wie einer psychotherapeutischen Behandlung auf metaphernanalytischer Grundlage auf der Spur. [29]

Einen anderen Aspekt des Redens über Gesundheit und Krankheit beschreibt TSAPOS, der aus einer Sammlung von ca. 3000 Akten einer Frauen-Abteilung der Anstalt Bethel ab der Jahrhundertwende mehr als dreißig davon exemplarisch konversationsanalytisch untersucht hat. Diese Form des Redens, besser: Schreibens über Krankheit zeigt viele Facetten: Betroffene tauchen nur in entsubjektivierter Form in den Akten auf ("Die Pat."); sie werden vor allem in ihren Handlungen, sofern sie pflegerisch relevant sind, wahrgenommen (vom Essen bis zum Schreien); einmal beschriebene Auffälligkeiten kehren in den Akten immer wieder ("Pat. glaubt, sie habe Krebsschaden im Kopf") – und es ist zu vermuten, dass alte Aktennotizen die Wahrnehmung der Schreibenden immer wieder darauf fokussiert haben. Natürlich sind die Texte in hohem Maß auch kontextbezogen: Briefwechsel mit den Angehörigen, die eigentlichen Akteneinträge und Briefe an die Krankenkasse widersprechen sich auch dann, wenn sie aus dem gleichen Zeitraum sind – je nach Funktion der textlichen Äußerung des Arztes. Im letzten Abschnitt bezieht TSAPOS historisches Hintergrundwissen über die Wechsel der Anstaltsleitung, die Ziele der Anstalt und auch Zahlenverhältnisse zwischen Patientinnen und Schwestern ein – Konstituenten der Textentstehung, die in einer konversationsanalytischen Untersuchung nicht fehlen dürfen. Als ehemaligem Praktiker wurde dem Rezensenten deutlich, wie sehr die interaktionell relevanten Kontexte die klinischen Aktennotizen prägen – das dürfte sich wenig geändert haben, ein deja-vu. Methodisch zeigt der Aufsatz die Möglichkeiten einer erweiterten Konversationsanalyse sehr schön auf. [30]

HERMANN notiert das Erscheinen von Krankheit und seine Ästhetik, Rhetorik und Selbstinszenierung in der Literatur, von den Nierensteinen MONTAIGNEs über PAUL, KAFKA und BECKETT bis hin zur AIDS-Erkrankung BRODKEYs. Sie spannt auf knappem Raum den Bogen zwischen extrem unterschiedlichen Darstellungsweisen. Sie oszillieren zwischen dem Phänomen der Krankheit als erlittenem Faktum und der Krankheit als Metapher. Der literaturwissenschaftliche Zugang zeigt, wie sehr das Schreiben über Krankheit auch geformt ist als ästhetische, selbstreferentielle Inszenierung. Der Aufsatz nimmt zwar auf RezipientInnen aus dem oben angesprochenen interdisziplinären Diskurs wenig Bezug – handelnde PraktikerInnen der psychosozialen Versorgung wie VertreterInnen sozialwissenschaftlicher Forschung werden in der Wahl der Hintergrundtheorien nicht unmittelbar angesprochen. Dennoch lädt die Präsentation ausgewählter Texte dazu ein, den eigenen fachlichen Rahmen zu suspendieren, um die Unabschließbarkeit der Beschäftigung mit dem Thema Krankheit lesend zu erfahren, einmal Abstand zu nehmen von der Frage nach Erfolg oder Misserfolg einer Behandlung. Für qualitative Forschungen könnte sich die Frage nach dem ästhetischen Eigenwert von Krankheitsdarstellungen auch in anderen Kontexten anschließen – z.B. Interviews nicht nur im Hinblick auf soziologisch oder psychologisch relevante Kategorien zu interpretieren, sondern auch in ihrer auf sich selbst und ihren ästhetischen Ausdruckswert gerichteten Perspektive. [31]

4. Zusammenfassung

Die Darstellung der einzelnen Artikel zeigt, dass eine extrem heterogene Sammlung vorliegt – heterogen nicht nur in ihrem disziplinären Hintergrund oder den theoretischen Referenzen, sondern auch in ihrem wissenschaftlichen Anspruch, ihrem Verhältnis zu empirischer Forschung. [32]

Während ich noch zu Beginn der Lektüre mir gewünscht hätte, dass der Gebrauchswert des Buches erhöht worden wäre durch einheitliche Darstellung der Belegliteratur, ein gemeinsames Literaturverzeichnis, ein Stichwort- oder Autorenverzeichnis, so wurde gegen Ende der Lektüre deutlich, dass dies eine Einheitlichkeit vorgetäuscht hätte, die hier nicht vorliegt. Für die an Entwicklungen qualitativer Methodik interessierten LeserInnen von FQS sind die Aufsätze von GÜLICH und BRÜNNER, SURMANN, FURCHNER, BUCHHOLZ sowie TSAPOS unbedingt zu empfehlen, Anregungspotential bergen die Aufsätze von STOLLBERG, KONITZER et al., LALOUSCHEK sowie HERMANN. [33]

Reden über Gesundheit und Krankheit: Manche Mystifikationen und Metaphorisierungen werden erhellt, einige noch (unfreiwillig?) transportiert. So könnten kommunikative Phänomene, wie die Nähe von Krankheit zur Opfer-Erzählung, oder die Idee einer "Heilung", die vorgibt, biologische und soziale Kränkungen ungeschehen zu machen, Themen weiterer Analysen sein. [34]

Literatur

Bergmann, Jörg & Streeck, Ulrich (Hrsg.) (2001, 2002) Sprechen vom Körper – Sprechen mit dem Körper (Themenhefte 1, 2). Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung. Bd. 3, Heft 4/2001, Band 4, Heft 1/2002).

Buchholz, Michael B. & Kleist, Cornelia von (1997). Szenarien des Kontakts. Eine metaphernanalytische Untersuchung stationärer Psychotherapie. Gießen: Psychosozial Verlag.

Johnson, Mark (1987). The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason. Chicago: The University of Chicago Press.

Kleist, Cornelia von (2001). Metaphernforschung in der Psychologie – ein psychoanalytischer Blickwinkel. Journal für Psychologie, 9(4), 49-60.

Lakoff, George & Johnson, Mark (1998). Leben in Metaphern (übersetzt von Astrid Hildenbrand). Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. [Original: Metaphors we live by. The University of Chicago Press (1980)].

Lakoff, George & Johnson, Mark (1999). Philosophy In The Flesh: The Embodied Mind And Its Challenge To Western Thought. New York: Basic Books.

Lorenzer, Alfred (1976). Sprachzerstörung und Rekonstruktion (2. Aufl.). Frankfurt/M.: edition suhrkamp.

Mauss, Marcel (1990). Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Moscovici, Serge (1995). Geschichte und Aktualität sozialer Repräsentationen. In Flick, Uwe (Hrsg.), Die Psychologie des Sozialen. Repräsentationen in Wissen und Sprache (S.266-314). Hamburg: Rowohlt.

Schachtner, Christina (1999). Ärztliche Praxis: Die gestaltende Kraft der Metapher. Frankfurt/M., Suhrkamp.

Schmitt, Rudolf (2000). Rezension zu: Michael B. Buchholz, Cornelia von Kleist: Szenarien des Kontakts. Eine metaphernanalytische Untersuchung von stationärer Psychotherapie. Journal für Psychologie, 8(1) 86-88.

Starobinski, Jean (1994). Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten (Aus dem Französischen von Horst Günther). Frankfurt/M.: Fischer.

Zum Autor

Rudolf Schmitt, Studium von Psychologie und Germanistik in Marburg und Berlin, jeweils mehrere Jahre in Einzelfall- und Familienhilfe und Psychiatrie beschäftigt, seit 1997 Professur für Psychologie am FB Sozialwesen der HTWS Zittau-Görlitz, wissenschaftlicher Schwerpunkt: Metaphernanalyse als sozialwissenschaftliches Forschungsverfahren; siehe seinen Beitrag in FQS: Skizzen zur Metaphernanalyse. Rudolf SCHMITT hat in zurückliegenden Ausgaben von FQS eine Besprechung zu Qualitative Forschung. Ein Handbuch und ein Rezensionsaufsatz Von der Schwierigkeit, Verstehen zu verstehen zu "Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung" verfasst.

Kontakt:

Prof. Dr. Rudolf Schmitt

Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Fachbereich Sozialwesen
Brückenstr. 1
D-02826 Görlitz

E-Mail: r.schmitt@hs-zigr.de
URL: http://www.hs-zigr.de/~schmitt/

Zitation

Schmitt, Rudolf (2002). Rezension zu: Gisela Brünner & Elisabeth Gülich (Hrsg.) (2002). Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen [34 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(3), Art. 8, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020382.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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