Volume 3, No. 2, Art. 1 – Mai 2002

Gesellschaft als dialektischer Prozess – Victor Turner zwischen Ndembu und Bob Dylan

Volker Barth

Review Essay:

Victor Turner (2000). Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt, New York: Campus, 209 Seiten, 20 Abbildungen, EUR 24.54 / sFr 46.-, ISBN 3-593-36497-2

Zusammenfassung: In Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur untersucht der 1983 verstorbene Anthropologe Victor Witter TURNER Rituale der Ndembu im heutigen Sambia. Dabei entwickelt er das inzwischen berühmt gewordene Konzept der Communitas, die er als absolute menschliche Beziehung ansieht, die keiner geordneten Struktur mehr bedarf. Die Analyse dieser sozialen Anti-Struktur ist dabei gleichermaßen spannend wie interessant.

Keywords: Turner, Anthropologie, Ndembu, Struktur, Communitas

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die symbolische Struktur des Rituals

3. Communitas vs. Struktur

4. Ritual – Sinn und Unsinn

5. Fazit

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Victor Witter TURNER 1969 erschienenes The Ritual Process: Structure and Anti-Structure wurde erst 1989, also ganze 20 Jahre später, zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Da es seit langem im Buchhandel vergriffen war, muss dem Campus-Verlag für die hier zu besprechende Neuauflage zunächst gedankt werden. Denn, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, wie es in der deutschen Übersetzung heißt, ist, und darüber kann kein Zweifel bestehen, nicht nur ein Klassiker moderner Ethnographie, sondern über alle disziplinären Grenzen hinweg ein äußerst interessantes, intelligentes, anregendes uns kurzweiliges Buch. Der tief greifende Einfluss TURNERs auf die gesamten Geisteswissenschaften ist bereits mehrmals beschrieben worden (vgl. u.a. BRÄUNLEIN 1997), und wird auch in dem von Sylvia M. SCHOMBURG-SCHERFF geschriebenen Nachwort des vorliegenden Bandes noch einmal aufgegriffen. Dieses Nachwort liefert dem Leser nicht nur einen gut geschriebenen Einblick in die Biographie des schottischen Ethnologen, sondern resümiert auch klar verständlich die wichtigsten Forschungstendenzen TURNERs. Das etwas knappe Literaturverzeichnis sowie die eindrucksvolle Liste der Veröffentlichungen TURNERs sind hilfreiche Anknüpfungspunkte für einen tieferen Einstieg in die Arbeiten des 1983 verstorbenen Wissenschaftlers. Die Lektüre dieses Buches ist also unbedingt empfehlenswert, und daher soll im Folgenden weniger auf die Person und die Arbeiten TURNERs eingegangen, sondern vielmehr die wichtigsten Aspekte des 193 Seiten starken Textes zusammengefasst werden. [1]

Das Ritual besteht aus fünf Kapiteln, von denen die ersten drei auf die so genannten MORGAN-Vorlesungen zurückgehen, zu denen TURNER 1966 von der Universität Rochester eingeladen wurde. Dazu kommen zwei neue Kapitel, die sich hauptsächlich mit dem inzwischen berühmt gewordenen Konzept der Communitas beschäftigen. Das Buch besteht aus zwei relativ unterschiedlichen Teilen, die interessanterweise nicht mit der Kapiteleinteilung übereinstimmen. Der erste behandelt die "symbolische Struktur des Ndembu-Rituals und die Semantik dieser Struktur" (S.7). Einmal mehr entwickelt TURNER hier neue Ideen aus seinen zwischen 1950 und 1954 bei Feldforschungen unter den Ndembu im heutigen Sambia gewonnenen Ergebnissen. Diese Studien hatten bis dahin bereits zu fünf Monographien geführt, die sich explizit am Beispiel der Ndembu orientieren. Der zweite Teil des Bandes, der relativ abrupt in der Mitte des dritten Kapitels beginnt, versucht dann die "sozialen Merkmale der Schwellenphase des Rituals zu erforschen" (a.a.O.). Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei die Idee der Communitas, die als "außer oder metastrukturellen Modalität der Sozialbeziehung" vorgestellt wird (a.a.O.). [2]

2. Die symbolische Struktur des Rituals

Wie es sich für eine MORGAN-Vorlesung gehört, beginnt TURNER seinen Texte mit einer Hommage an Lewis Henry MORGAN, den er unumwunden als den "Leitstern meiner Studientage" bezeichnet (S.9) (vgl. auch MORGAN 1877). Verschmitzerweise dient diese Respektsbezeugung jedoch als Hintertür, für den Ausdruck der Verwunderung TURNERs, warum ausgerechnet ein brillanter Wissenschaftler wie MORGAN, dem Thema der Religion immer ausgesprochen skeptisch gegenüberstand. Eine Ansicht, die TURNER nach der Erfahrung seiner vierjährigen Feldarbeit nicht teilt. Da er als Ethnologe um die "Innensicht einer fremden Kultur" (S.10) bemüht ist, wie er unter Verweis auf Charles HOCKETT zu verstehen gibt, kann er nicht umhin, im Studium der Religion eine hervorragende Plattform für die gesuchte Insiderperspektive zu sehen. [3]

Da Religionen in allen bekannten Gesellschaften eine fundamentale Rolle spielen, sind sie in TURNERs Augen Paradebeispiele für die Untersuchung grundsätzlicher sozialer Strukturen. Zumindest dann, wenn man von der Annahme ausgeht, "daß es in Sachen Religion wie auch der Kunst keine 'einfacheren' Völker gibt, sondern höchstens Völker, die eine einfachere Technologie haben als wir" (a.a.O.). Denn TURNER, und dies ist zum Verständnis der Arbeiten des Schotten von größter Wichtigkeit, versteht sich eher als Anthropologe denn als Ethnologe. Er ist keineswegs auf der Suche nach einer fremden Denkstruktur, die sich von (einem behaupteten) europäischen Modell völlig unterscheidet. TURNER verneint die Existenz einer solchen Struktur rundheraus. Sein Anliegen ist vielmehr das Freilegen einer "identische[n] Denkstruktur, die große Unterschiede kultureller Erfahrung artikuliert" (a.a.O.) [4]

Teile dieser universellen Denkstruktur will TURNER in seinem Studium der Religion oder genauer der religiösen Rituale bei den Ndembu zum Vorschein bringen. Schließlich sind für TURNER, und hier zieht er noch einmal eine deutliche Trennungslinie zwischen ihm und Lewis Henry MORGAN,

"religiöse Vorstellungen und Praktiken, mehr als 'groteske' Widerspiegelungen und Ausdrucksformen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Beziehungen; man sieht in ihnen nun immer häufiger den entscheidenden Zugang zum Verständnis dessen, was Menschen über diese Beziehungen und die natürlichen wie sozialen Umwelten, in denen sie funktionieren, denken und was sie dabei empfinden" (S.13). [5]

TURNER denkt also vielmehr wie seine Kollegin Monica WILSON: "Ich sehe im Studium der Rituale den Schlüssel zum Verständnis der inneren Konstitution menschlicher Gesellschaften" (a.a.O.), und somit wird dem Leser schnell klar, dass TURNERs Anliegen in diesem Buch kein geringes ist (vgl. WILSON 1954). [6]

Von diesen Überlegungen ausgehend, besteht das Ziel TURNERs für sein erstes Kapitel darin, "die Semantik der rituellen Symbole eines als Isoma bezeichneten Rituals der Ndembu zu erforschen und aus den auf Beobachtung und Exegese gegründeten Daten, ein Modell der semantischen Struktur dieser Symbolik zu konstruieren" (S.17). Indem er die von den Ndembu selbst verwandten Symbole analysiert, hofft TURNER der Wesenhaftigkeit dieser Kultur auf die Spur kommen zu können. Den Begriff Symbol definiert er dabei als den elementaren Bestandteil jedes Rituals, oder mit anderen Worten, den "Molekülen" eines Rituals (S.21). Auf eine nähere theoretische Unterscheidung zwischen den Termini Symbol auf der einen, und den Begriffen Zeichen oder Signal auf der anderen Seite verzichtet TURNER in diesem Zusammenhang. Dies ist insofern unproblematisch, als er dieser Frage bereits 1967 mit The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Rituals eine eigene Monographie gewidmet hatte. Überhaupt ist darauf hinzuweisen, dass Das Ritual explizit auf den Ergebnissen dieser und anderer früherer Arbeiten aufbaut, und insofern immer im Zusammenhang mit dem gesamten Werk TURNERs gesehen werden muss. [7]

Sich auf diese Ergebnisse stützend, rechtfertigt TURNER auch die Behauptung, dass "die Ndembu sich der expressiven oder symbolischen Funktion der rituellen Elemente bewußt" sind (S.21). Eine Behauptung, die aus dem vorliegenden Text allein nicht schlüssig hervorgeht. Dies liegt unter anderem auch daran, dass TURNER der Frage der Geschichte der zu untersuchenden Rituale sowie der Frage nach den ursprünglichen Autoren und deren Intentionen nicht nachgeht. Ihm geht es um etwas ganz anderes: Nämlich darum, die Existenz verschiedenen Klassifikationsebenen innerhalb eines Rituals nachzuweisen. Ausgehend von der methodologischen Vorüberlegung, die im Ritual benutzten Symbole in ihrer tatsächlichen Reihenfolge zu untersuchen, weist er überzeugend ein Grundprinzip jedes Rituals nach, das seiner Meinung nach darin besteht, dass die gleichen Symbole in Abhängigkeit ihres jeweiligen Kontextes verschieden interpretierbar sind. Andererseits demonstriert er aber auch, dass gleiche Vorstellungen in verschiedenen Symbolen innerhalb eines Rituals zum Ausdruck gebracht werden können. Diese unvermeidbare Polysemie der Symbole ist der Ursprung der verschiedenen Klassifikationsebenen eines und desselben Rituals. Gleichzeitig sind diese verschiedenen Klassifikationsebenen unerlässlich, um den Beteiligten des Rituals zu erlauben, die Bedeutung der verwendeten Symbole entschlüsseln zu können. Die so konstituierten Bedeutungen können anschließend im Alltagsleben angewandt werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, und darin besteht das eigentliche Ergebnis dieses ersten Kapitels, dass jedes Symbol auf der Binärebene eindeutig wird (S.46). [8]

Das zweite Kapitel, das das unspektakulärste des vorliegenden Textes ist, bemüht sich vor allem, die Ergebnisse des ersten noch einmal zu bestätigen. Dafür wird dem Leser ein neues Ritual der Ndembu vorgestellt. Handelte es sich im ersten Kapitel um ein Ritual zur Behebung eines Mangels, der zeitweiligen Unfähigkeit einer Frau, Kinder zu gebären, geht es in diesem Teil der Arbeit um ein Ritual ganz anderer Art. Gemeint ist das so genannte Wubwang'u, das immer dann zur Anwendung kommt, wenn eine Frau der Gemeinschaft Zwillinge zur Welt bringt, oder bereits zur Welt gebracht hat. Für die Ndembu stellen Zwillinge ein Paradox dar, für das sie in ihrer auf Verwandtschaft aufgebauten Gesellschaft nur zwei Lösungen bereithalten. Sie können die Tatsache entweder leugnen, oder mit ihr umgehen. Das Wubwang'u kommt zur Anwendung, wenn die Gemeinschaft sich für die zweite Variante entschieden hat. Ziel des Rituals ist es, das Zwillingsphänomen so erscheinen zu lassen, als ob es

"mit der übrigen Kultur in Einklang stünde. Zum Beispiel kann man in bestimmten Situationen die Aufmerksamkeit auf die Dualität von Zwillingen, in anderen auf ihre Einheit richten. Oder man über die natürlichen und sozialen Vorgänge nachsinnen, durch die etwas, das ursprünglich aus zwei getrennten und sogar gegensätzlichen Elementen bestand, zu etwas Neuem und Einheitlichen verschmilzt. D.h. man kann den Prozeß, durch den aus zwei eins wird, erforschen. Oder man kann das Umgekehrte, nämlich den Prozeß der Zweiteilung erforschen. Des weiteren kann man die Zahl Zwei im Gegensatz zur Einheit als Ausdruck aller Formen der Pluralität betrachten. Die Zwei steht dann für das Viele im Gegensatz zum Einen, von dem es abstammt." (S.53, Herv. im Orig.) [9]

TURNER weist hier erneut sowohl mit Nachdruck als auch mit Erfolg die Mehrdeutigkeit der angewandten Symbole nach. Das Phänomen der Bipolarität ritueller Symbole wird dabei besonders hervorgehoben. Außerdem widmet er den sozialen Referenten der Symbole, die auch sexuelle Bedeutung haben, verstärkte Aufmerksamkeit. Einmal mehr wird dabei TURNERs Überzeugung deutlich, dass die Verwendung jedes Symbols innerhalb des Rituals ein bewusster Akt der Ndembu ist. Auch wenn der Schotte zu vorsichtig ist, um dies als entschlossene These zu formulieren, scheint es doch so, als ob er davon ausgeht, dass die Signifikanz der innerhalb eines Rituals auftauchenden Zeichen jedem oder zumindest den meisten Mitgliedern der Gemeinschaft vertraut ist. Für TURNER haben sich die Ndembu für die Verwendung bestimmter Symbole unter Ausschluss von anderen "entschieden" (a.a.O.). Dies ist insofern folgerichtig, als TURNER jedes Ritual, auch das religiöse, als im Dienst der Sozialordnung stehend auffasst. [10]

Rituale sind für TURNER, und dies nicht nur im Hinblick auf afrikanische Stammesgemeinschaften, Werkzeuge zum Kitten sozialer Bruchstellen.

"Diese Riten verdeutlichen einen wichtigen Aspekt des Rituals: Es ist ein Mittel, gerade die in der biologischen Konstitution des Menschen begründeten und gegen die Ordnung gerichteten Kräfte in den Dienst der Sozialordnung zu stellen. Biologie und Struktur werden durch die Aktivierung einer geordneten Abfolge von Symbolen, die die Doppelfunktion der Kommunikation und der Effektivität erfüllen, ins rechte Verhältnis gerückt." (S.93) [11]

3. Communitas vs. Struktur

Das dritte Kapitel ist ohne Zweifel das entscheidende des Buches. Hier demonstriert TURNER nicht nur sein enormes Abstraktionsvermögen, sondern vor allem die Innovationskraft seines wissenschaftlichen Ansatzes. Dabei macht er keinen Hehl daraus, dass seine Fallstudien der Ndembu-Rituale für ihn lediglich Einstiegspunkte in die Erforschung des allgemeinen Zusammenhangs zwischen Kultur und Gesellschaft sind, um die es ihm eigentlich geht, und die er als universelle Menschheitsphänome versteht. Als Ausgangspunkt dient ihm dabei das Werk, das sein wissenschaftliches Denken wahrscheinlich am meisten beeinflusst hat: Annold van GENNEPs Les rites de passage von 1909. Dieser hatte Übergangsriten als "Riten, die einen Orts-, Zustands-, Positions- oder Altersgruppenwechsel begleiten" bezeichnet (S.94). Zudem definierte van GENNEP die drei Phasen, aus denen jedes Übergangsritus besteht, als die Trennungs-, die Schwellen- und die Angliederungsphase. [12]

TURNER geht es dabei einzig und allein um die mittlere, also die Schwellenphase, die er auch als Schwellenzustand bezeichnet. In dieser Phase wird das rituelle Subjekt symbolisch aus der Gemeinschaft ausgegliedert und in einen Übergangsraum befördert, der sich durch eine generelle Ambiguität und Unbestimmtheit auszeichnet. Ziel ist es, das rituelle Subjekt in einem Zustand zwischen den Welten zu zeigen, nämlich der Welt, von der es in der Trennungsphase separiert wurde, und der Welt, in die es in der Angliederungsphase eingeführt werden soll. Deswegen werden in der Schwellenphase des Rituals ausschließlich Symbole verwendet, die keinerlei Rückschluss auf die Stellung des rituellen Subjekts in der dominanten Sozialstruktur zulassen. Dieses Subjekt oder auch diese Subjekte verwandeln sich in der Schwellenphase eines Übergangsrituals deshalb in Neophyten, d.h. neutrale Wesen ohne soziale Bindungen. [13]

Für TURNER werden in diesem Moment des Rituals zwei Systeme, die er als Hauptmodelle menschlicher Sozialstruktur ansieht, deutlich. Zum einen der Archetyp einer Gesellschaft als "strukturiertes, differenziertes und oft hierarchisch gegliedertes System politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Positionen mit vielen Arten der Bewertung" (S.96). Hier bezieht sich TURNER ausdrücklich auf die klassische Schule der britischen Soziologie, und nicht auf den Strukturbegriff LÉVI-STRAUSS', dessen Thesen nichtsdestotrotz das gesamte Buch nachhaltig mitgeprägt haben (vgl. insbesondere LÉVI-STRAUSS 1964). TURNER macht aber in der Schwellenphase noch einen zweiten Typ gesellschaftlicher Struktur aus, den er als Communitas bezeichnet, und auf den es ihm in diesem Zusammenhang ankommt. Als Arbeitshypothese definiert er dieses Alternativmodell zunächst als "unstrukturierte oder rudimentär strukturierte Gemeinschaft" (S.96). Der später als Professor an der Universität von Chicago lehrende Ethnologe weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass er den Gegensatz von Struktur und Communitas keineswegs mit der Opposition säkular oder sakral bzw. mit einer Zweiteilung in Politik und Religion verwechselt wissen will. Ihm geht es um das Verständnis eines bipolaren Systems menschlicher Gemeinschaft im Generellen, in dem die Existenz des Einen ohne den Anderen nicht denkbar ist. "Aus all dem schließe ich, dass für Individuen wie für Gruppen das Leben eine Art dialektischer Prozess ist, der die sukzessive Erfahrung von Oben und Unten, Communitas und Struktur, Homogenität und Differenzierung, Gleichheit und Ungleichheit beinhaltet." (S.97) [14]

Diesem dialektischen Prozess geht TURNER dann anhand eines Amtseinsetzungsritus, wie er ihn in Bezug auf den Ndembu-Häuptling KANONGESHA erleben konnte, nach. Mit der Entwicklung binärer Begriffspaare (S.105) zieht er anschließend das Netz um seine Idee der Communitas enger und enger (Totalität/Partialität, Besitzlosigkeit/Besitz, Statuslosigkeit/Status, Schweigen/Sprechen, Selbstlosigkeit/Selbstsucht etc.). Communitas erscheint dabei als eine emotionell geprägte zwischenmenschliche Beziehung absoluter Art, die sich durch Reinheit, Gleichheit und Gegensatzlosigkeit auszeichnet. Indem er sich unter anderem auf Martin BUBER und Henri BERGSON stützt, gelingt es ihm, den Leser die prinzipielle Aufgabe von Communitas-Phänomenen in gesellschaftlichen Gruppen zu verdeutlichen, die darin besteht, die "universelle[n] menschliche[n] Werte" (S.109) auf denen jede Sozialstruktur aufbauen muss, zu symbolisieren. TURNER, der Struktur genauso wie wenig später Michel FOUCAULT als "normatives System" (S.109) versteht, untersucht weitere Erscheinungsformen der Struktur-Communitas-Opposition, die seiner Meinung nach "auf allen Stufen und Ebenen der Kultur und der Gesellschaft vorhanden" ist, am Beispiel der Tallensi (S.112ff), der Nuer (S.117f) und der Aschanti (S.118ff). [15]

Dabei wird deutlich, dass für ihn Communitas in erster Linie eine existentielle Qualität besitzt, da sie den ganzen Menschen in seiner Beziehung zu anderen Menschen, betrifft. Der Struktur schreibt TURNER hingegen vor allem eine kognitive Qualität zu, die in der Entwicklung funktionstüchtiger Denk- und Ordnungsmodelle besteht. Außerdem arbeitet er verschiedene Typen von Communitas heraus, die auf verschiedene Art versuchen, in die dauerhafte und dominante Struktur einzudringen. "Communitas dringt in der Liminalität durch die Lücken der Struktur, in der Marginalität an den Rändern der Struktur und in der Inferiorität von unterhalb der Struktur ein" (S.125). [16]

In den Kapiteln vier (Communitas: Modell und Prozeß, S.128-158) und fünf (Demut und Hierarchie: Der Schwellenzustand der Statuserhöhung und Statusumkehrung, S.159-193) wird das Konzept der Communitas präzisiert und erweitert. TURNER versucht hier der Communitas etwas von ihrer Abstraktheit zu nehmen, und sie "im wesentlichen [als] eine Beziehung zwischen konkreten, historischen, idiosynkratischen Individuen" zu charakterisieren (S.128). In diesen Kapiteln wird dann auch viel von der späteren Berühmtheit TURNERs verständlich, die unter anderem aus der Vielfältigkeit seiner Beispiele resultierte. Geradezu schwindelerregend führt TURNER den Leser durch SHAKESPEAREs Sturm mit besonderer Betonung der Figur Gonzalos. Anschließend geht es vom Franziskanerorden (S.136ff) zur Sahajîyâ-Bewegung der Bengalen (S.148ff), von da zu Bob DYLAN und seinem Verhältnis zu den Bâuls (S.157ff), und abschließend kommen auch noch die Hell's Angels zu Wort. Zudem werden Communitas-Phänomene bei BUDDHA (S.186f), GANDHI (S.187f.), einigen christlichen Führern (S.188) sowie Lev TOLSTOJ (S.189) angesprochen. [17]

Mit Hilfe all dieser Beispiele definiert TURNER drei Formen von Communitas. Die erste ist die existentielle oder spontane Communitas, die er, den Zeichen seiner Zeit folgend, am besten in der Hippie-Bewegung verwirklicht sieht. Die zweite Form von Communitas bezeichnet TURNER als normative Communitas, also als ein dauerhaftes System, das sich aus der existentiellen Communitas entwickelt. Die dritte Form schließlich ist die ideologische Communitas, "ein Etikett, das man für eine Vielzahl utopischer Gesellschaftsmodelle verwenden kann, die von der existentiellen Communitas ausgehen" (S.129). Seiner generellen Abneigung gegen strikte Systemgrenzen folgend, entwickelt TURNER hier also ein Modell ständiger Bewegung, in dem sich die einzelnen Formen sukzessive aus ihrer Prozesshaftigkeit selbst ergeben. Und so wie er nur fließende Grenzen zwischen den einzelnen Communitasformen zulässt, verweigert er sich auch einer zu kategorischen Abgrenzung zwischen Communitas und Struktur. Schließlich gehören, wie er sofort selber einräumt, die normative sowie die ideologische Communitas zumindest teilweise bereits der Struktur an. [18]

Denn laut TURNER verwandelt sich Communitas immer und unweigerlich in Struktur. Die einzige Chance einer beständigeren Form von Communitas sieht TURNER darin, einen "permanenten Schwellenzustand" (S.140) zu erzeugen, der einer strukturellen Erstarrung aus sich selbst heraus entgegen arbeitet. Die Unberührtheit, Reinheit, Aufrichtigkeit, Unmittelbarkeit und Herzlichkeit einer Communitas-Gesellschaft, die sich nur im direkten zwischenmenschlichen Umgang manifestieren kann, sind für TURNER zu vergänglich, zu einzigartig, zu emotionell und zu unkontrolliert, um auf lange Sicht bestehen zu können. [19]

Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen ist Communitas für TURNER elementar für das Bestehen jeder menschlichen Gemeinschaft. Gerade ihre Liminalität, ihre Marginalität und ihre Inferiorität machen sie dabei für jede Gesellschaft zu einem existentiellen sozialen Phänomen. Der Versuchung zwischen Struktur auf der einen und Communitas auf der anderen Seite auszuwählen, ist dabei die Falle in der der Sozialwissenschaftler, sowie jedes andere Gesellschaftsmitglied, gerade nicht tappen darf. Jede Entscheidung für die eine oder die andere Seite ist – und dies scheint die wahre These von Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur zu sein – die Falsche.

"Gesellschaft scheint eher ein Prozeß als eine Sache zu sein – ein dialektischer Prozeß mit aufeinanderfolgenden Struktur- und Communitasphasen. Die Teilnahme an beiden Modalitäten scheint ein menschliches 'Bedürfnis' zu sein [...] Menschen, die in ihren funktionalen Alltagshandlungen eine der beiden Modalitäten entbehren, suchen sie im rituellen Schwellendasein. Die strukturell Inferioren streben im Ritual nach symbolischer Superiorität; die strukturell Superioren dagegen verlangt es nach symbolischer Communitas, und um sie zu erreichen nehmen sie selbst Qualen auf sich." (S.193) [20]

4. Ritual – Sinn und Unsinn

In den letzten Jahren hat sich die Ritualforschung mehr und mehr dem zugewandt, was man als die Sinnfrage bezeichnen könnte. Die Frage lautete dabei jedoch keineswegs "Wozu dienen Rituale?" oder "Worin liegt der Sinn von Ritualen?". Es geht vielmehr darum die generelle Grundannahme, dass Rituale einen Sinn haben, also grundsätzlich sinnvoll sind, zu hinterfragen. Auslöser dieser immer noch anhaltenden Entwicklung war der in Kalifornien lehrende Indologe Frits STAAL, der bereits 1979 in einem Aufsehen erregenden Artikel dem Ritual jeden Sinngehalt absprach. Sobald von dem gebürtigen Holländer die Rede ist, wird dieser dann auch mit folgendem Satz zitiert: "Ritual is pure activity, without meaning or goal." (BELL 1992, S.1) [21]

In Bezug auf Victor TURNER fällt dabei zunächst auf, dass sich dieser eben jene Sinnfrage nie gestellt hat. Seine gesamte Forschung zum Problemkomplex des Rituals beruht stillschweigend auf der Hypothese, dass Rituale nicht nur in sich sinnvoll sind, sondern auch selbst Sinn produzieren. Laut TURNER kommen Rituale (zumindest bei den Ndembu) nur dann zur Anwendung, wenn seitens der Gesellschaft ein konkretes Bedürfnis besteht. Im gesellschaftlichen Zusammenleben tauchen nämlich zwangsläufig Situationen auf, die ohne die Symbolik des Rituals nicht mehr gelöst werden können. Die Stärke des Rituals liegt dabei in seiner Fähigkeit, komplexe Problemstellungen in ein vorgegebenes Handlungsmuster übersetzen zu können. Dieses Handlungsmuster ist nichts anderes als der Ablauf des Rituals an sich. Da das Ritual aufgrund seiner Tradition und seiner Überlieferung über alle sozialen Grenzen hinweg anerkannt ist, verhilft es der Gesellschaft dazu, die Problemsituation auf symbolischer Ebene zu überwinden, und den entstandenen Riss in der Gesellschaft zu kitten. Aus TURNERs Sicht kann also an der Sinnhaftigkeit des Rituals kein Zweifel bestehen. [22]

Auch aus dem TURNERschen Ansatz heraus kann man sich jedoch die Frage stellen, ob diese Bedeutung, dieser Sinn, nicht durch eine historische Entwicklung veränderbar ist. Wie schon weiter oben angedeutet geht TURNER nicht auf die Historizität der von ihm beschriebenen Rituale ein. Er stellt sie vielmehr als ohne Geschichte, und damit als zeitlos dar. Es wäre durchaus denkbar, dass das Wissen über die Bedeutung eines Rituals im Laufe der Zeit aus dem Gedächtnis der Gemeinschaft verschwindet. Damit würde das Ritual seinen (ursprünglichen) Sinn verlieren, und müsste gegebenenfalls durch die Gesellschaft mit einem neuen, anderen Sinn ausgefüllt werden. Dies stellt wiederum die Frage nach den Autoren des Rituals. Welche Teile der Gemeinschaft sind für die Sinnbestimmung eines Rituals zuständig? Wer besitzt die notwendige Autorität den verloren gegangenen Sinn eines Rituals neu herzustellen? [23]

Auch auf diese Fragen findet der Leser bei TURNER keine Antwort. Hier blitzt stattdessen immer wieder die zweite grundlegende Hypothese TURNERs auf, nämlich die, dass sich alle am Ritual teilnehmenden Personen über den Sinn des Rituals bewusst sind. Abgesehen davon, dass diese Behauptung nur schwer überprüfbar ist, scheint auch die damit verbundene Annahme, Rituale haben zwangsläufig für alle Teilnehmer den gleichen Sinn, fragwürdig. Gerade in Bezug auf religiöse Praktiken sollte die kreative Kraft des individuellen Glaubens nicht vergessen werden. Bietet die Abstraktheit des Rituals nicht vielmehr mögliche Sinnalternativen an? Oder anders gesagt: Liegt nicht eine der Stärken des Rituals darin, dass es als Mittel zur Überwindung von Konfliktsituation auf gesellschaftlicher Ebene jedem Mitglied genug Interpretationsspielraum offen lässt, um seine individuellen Vorstellungen mit der vorgeschlagenen sozialen Lösung in Einklang zu bringen? Auf diese Weise taucht hinter der Frage nach Sinn und Unsinn des Rituals, die Idee einer Sinnpluralität des Rituals als dritte Alternative auf. Insofern besteht auch hier die Notwendigkeit, bei aller Suche nach den gesellschaftlichen Strukturen, das dahinter stehende Individuum nicht aus dem Auge zu verlieren. [24]

5. Fazit

Die Arbeiten Victor TURNERs erfreuen sich gerade in jüngster Zeit großer Beliebtheit. Über alle disziplinären Grenzen hinweg wird er sowohl als Beispiel als auch als Gegenbeispiel für alles Mögliche und Unmögliche herangezogen. Sein weitläufiges, grenzüberschreitendes und kreatives Denken, das sich eine übergenaue und letztendlich selbsteinschränkende Begrifflichkeit immer wieder verweigert, machen es auch ausgesprochen leicht, Verbindungspunkte zu anderen Fragestellungen herzustellen. So erfreut sich das politische Ritual sowohl in den Geschichtswissenschaften als auch in der Politologie zunehmender Aufmerksamkeit. Und auch die deutsche Volkskunde scheint sich in Bezug auf Zeremonien und Bräuchen ähnlichen Fragestellungen anzunähern. Die Vielzahl unterschiedlichster Beispiele, die TURNER selbst verwendet, ermutigen zudem solche Vorhaben. Dies allein ist bereits eine große Qualität der TURNERschen Arbeiten, auch wenn manche Wissenschaftler vor allem aus den historischen und soziologischen Disziplinen allzu schnell von Beliebigkeit sprechen. Bei all diesen Überlegungen sollte jedoch nie die ausgesprochen breite und solide empirische Grundlage der Werke TURNERs übersehen werden, auf die selbst Clifford GEERTZ vor kurzem wieder hingewiesen hat (GEERTZ 2001, S.93). Erst die Fähigkeit aus den gesammelten Daten abstrakte Modelle zu entwickeln, die über das benutzte Fallbeispiel hinausgehen, machen einen großen Wissenschaftler aus, wie es TURNER ohne jeden Zweifel war. Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Prozess. Allein schon deswegen kann seine Lektüre nur wärmstens empfohlen werden. [25]

Literatur

Bell, Cathrine (1992). Ritual Theory, Ritual Practice. New York, Oxford: Oxford University Press.

Bräunlein, Peter B. (1997). Victor Witter Turner (1920-1983). In Axel Michaels (Hrsg.), Klassiker der Religionswissenschaft (S.324-341). München: Beck.

Geertz, Clifford (2001). Available Light. Anthropological Reflections on Philosophical Topics. Princeton: Princeton University Press.

Gennep, Arnold van (1909). Les rites de passage. Paris: Erny.

Lévi-Strauss, Claude (1964). Le cru et le cuit. Paris: Plon.

Morgan, Lewis H. (1877). Ancient Society. London: Macmillan.

Staal, Frits (1979). The Meaninglessness of Ritual. Numen, 26(1), 2-22.

Turner, Victor W. (1967). The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Rituals. Ithaca: Cornell University Press.

Wilson, Monica (1954). Nyakyusa ritual and symbolism. American Anthropologist, 56(2), 228-241.

Zum Autor

Volker BARTH ist Doktorant in Neuerer Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris. Seine Themenschwerpunkte sind u.a. französiche Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, Repräsentationsformen des Fremden und Konsumforschung. Er ist Mitglied der DFG-Forschergruppe 390 "Kulturelle Inszenierung von Fremdheit im 19. Jahrhundert" sowie Herausgeber des Bulletin 2001 des Bureau International des Expositions (B.I.E.). In zurückliegenden Ausgaben von FQS finden sich weitere Rezensionen von Volker Barth; zu Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt und zu Marc BLOCH. Aus der Werkstatt des Historikers.

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Zitation

Barth, Volker (2002). Gesellschaft als dialektischer Prozess – Victor Turner zwischen Ndembu und Bob Dylan. Review Essay: Victor Turner (2000). Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(2), Art. 1, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020218.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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