Volume 3, No. 1, Art. 19 – Januar 2002

Aktenanalyse in der kriminologisch-geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Strafrecht. Polizeiliche Aufzeichnungen über männliche Homosexuelle im Paris des 18. Jahrhunderts

Angela Taeger

Zusammenfassung: Akten, in Serien überliefertes Schriftgut der neueren Geschichte, gelten der Geschichtswissenschaft traditionell als solideste, häufig einzige Datenbasis, um die Genese bürokratisierter Machtausübung zu erhellen. Für strafrechtsgeschichtliche Längsschnitte, für Untersuchungen von Definitionsprozessen, von Kontinuitäten und Brüchen im Zuge der Konstitution von Norm bzw. Abweichung, ist die Aktenanalyse folglich zentral. Darüber hinaus sind Akten geeignete Quellen, ist ihre kontext- und inhaltsanalytische Sichtung ein gangbarer Weg, um den monolithisch erscheinenden Komplex justitieller Definitionsmacht in seiner interaktiven Vielschichtigkeit oder Kontingenz zu erfassen: Querschnittsanalysen von Aktenbeständen aller an der Definition eines Normbruchs beteiligten Instanzen belegen zum einen höchst unterschiedliche, zuweilen konkurrierende Motive und Ziele der legislativ, jurisdiktionell und polizeilich-administrativ Definierenden. Zum anderen können Strafrechtsakten nach Prüfung ihrer rhetorischen Absichten als Ego-Dokumente re-interpretiert werden. Nicht nur in Zitaten und Paraphrasen von Selbstzeugnissen der Inkriminierten, auch durch die Rekonstruktion eines Tathergangs geben sie Aufschluss über die – ebenfalls definitionsmächtige – lebensweltliche Aneignung strafrechtlicher Normen. Am Beispiel legislativer, gerichtlicher und polizeilicher Akten zur männlichen Homosexualität im Paris des 18. Jahrhunderts erläutert der Beitrag diese drei Interpretationsmöglichkeiten strafrechtlichen Aktenmaterials.

Keywords: serielles Schrifttum, Konstitutionsanalyse im Längsschnitt, konkurrierende Definitionsmächte, Ego-Dokument, lebensweltliche Normaneignung, männliche Homosexualität

Inhaltsverzeichnis

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

"Quod non est in actis, non est in mundo." Dieser mit dem römischen Recht und der Schriftlichkeit gerichtlicher Verfahren eingeführte Grundsatz bringt die die Entwicklung des Aktenwesens seit dem Hochmittelalter befördernden Interessen in knapper Form auf einen Nenner: Akten dokumentieren obrigkeitliches Bemühen, soziale Welten zu vermessen, dauerhaft zu fixieren und zu erinnern. Was nicht in Akten festgehalten ist, existiert nicht. Geschichtswissenschaftliche Analysen, die diese Aussage ohne Einschränkung wörtlich und zum Ausgangspunkt ihrer Rekonstruktion von vermeintlichen Rekonstruktionen durch Aktenaufzeichnungen nehmen, sind Legion. Hielten Akten nur – oder auch alles – fest, was existiert, so liefe eine ihnen angemessene Interpretation auf ihre möglichst umfassende Bestandsaufnahme hinaus, und sie könnte, ja, sie sollte quantifizierend angelegt sein. "Quod non est in actis, non est in mundo" gibt jedoch einem weitergehenden Anspruch der Aktenführenden Ausdruck, als den, Welt lediglich abzubilden. Mit der Geschichte des Aktenwesens auf das Innigste verbunden ist die Genese bürokratisierter Machtausübung und das Bestreben, sich Welten machtvoll anzueignen. Was in Akten aufgezeichnet wird, existiert als dem Machtanspruch entsprechend, ihn bestätigend, ihn behindernd, ihm zuwiderlaufend – existiert mithin als in solcher Qualität als existent konstituiert. Selbst die Vollständigkeit erreichende, rein additive Erhebung eines Aktenbestands ergibt demnach nicht mehr als eine – nunmehr verdichtete – Dokumentation über nicht mehr als Konstruktionen von Dasein – oder "Deutungsmuster von der sozialen Wirklichkeit" (LEXIKON ZUR SOZIOLOGIE 1994, Stichwort "Aktenanalyse"). Wer oder was solche Konstruktionen hervorbringt, wie sie entstehen, ob interessierte Absicht oder zumindest das Bemühen um Wahrhaftigkeit ihre Urheber anleitet, in welchem Maß sie wenigstens als Verweis auf jenseits der Konstruktion oder über sie hinaus Existierendes taugen, ist nicht auszählbar, sondern kann allein durch eine Auseinandersetzung im ursprünglichen Wortsinn – durch ihre Zerlegung mit Hilfe qualitativer Verfahren ermittelt werden. Dabei behält die Behauptung, dass das, was Akten nicht erfassen, nicht existent sei, auf die Welt der Aktenführenden bezogen uneingeschränkt Gültigkeit. Lassen sich im Gegensatz dazu verlässliche Aussagen über die durch Akten explizit thematisierte Welt aus den Quellen nicht gewinnen, so verspricht die Analyse der Konstitutionsbedingungen solcher Thematisierungen immerhin Annäherungen an lebensweltliches Dasein. [1]

Auf die wenig komplexe, kleinräumige gesellschaftliche Zusammenhänge vollständig erfassenden, sie hinreichend regelnden Urkunden türmen sich seit dem 13. Jahrhundert zügig wachsende Aktenberge. Die prêt-à-porter Version der Urkunde, in der Regel seriell angefertigte Akten, sind zunächst den im Spätmittelalter sich deutlich verändernden politischen Kräfteverhältnissen und der damit einhergehenden, in immer neuen Zusammenhängen auftauchenden Notwendigkeit geschuldet, Macht oder Herrschaft in zunehmend unübersichtlichen sozialen Gefügen, gegenüber zunehmend großen Mengen von Adressaten zu artikulieren und zu realisieren. Expandierende Städte, räumlich und herrschaftsrechtlich sich konsolidierende Landeshoheiten, auf territorialer Grundlage, nach römischrechtlichen Prinzipien ausgeübte Gerichtsbarkeit – nirgendwo kann auf eine horizontal dicht vernetzte, vertikal schnell und zuverlässig greifende Verwaltung verzichtet werden. Überall werden auf singuläre Ereignisse und einzelne Personen zugeschnittene haute couture Dokumente, wie die Urkunden, und individuelle mündliche Verständigung ersetzt (SCHMID 1994, S.51). Das Substitut ist Massenware: Akten. Ab dem 15./16. Jahrhundert, so die Quellenkunde, dominierten aktenmäßige Aufzeichnungen die gesamte schriftliche Überlieferung. Im Laufe des 18. Jahrhunderts schließlich erreiche das Aktenwesen, den Umfang betreffend, einen ersten Höhepunkt und, unter dem Gesichtspunkt der Systematik betrachtet, sogar seinen Abschluss (a.a.O., S.52). Eine solche Periodisierung attachiert die Akte dem absolutistischen Fürstenstaat, mithin einem über den durch die Komplexität und die Größe frühneuzeitlicher Herrschaftsbereiche allein gebotenen Verwaltungsaufwand hinausgehenden Regelungswillen. Die Administrationen absolutistisch regierter Fürstentümer sind in der Regel von großzügigem Zuschnitt; darüber hinaus weisen sie häufig einen hohen Grad organisationeller Differenziertheit auf. Beide Merkmale vervielfachen sowohl die interne Kommunikation zwischen verschiedenen Sachabteilungen und den Instanzen einer Behörde, als auch die extern ausgerichtete Kontaktnahme der Verwaltungen mit den Verwalteten. Sie befördern somit die Ausbildung effizienter Kommunikationstechniken, die rasche Verbreitung schriftlicher Verfahren, das Aktenwesen. Die Verschriftlichung behördlicher Vorgänge trägt sodomie dem langfristigen Interesse Rechnung, Wissen und Macht für die folgenden Dynastiegenerationen vorzuhalten. All dies aber vermag den Einsatz und die schnelle Verbreitung des neuen bürokratischen Hilfsmittels nicht befriedigend zu erklären, sondern wirft weitere Fragen auf. Warum die Vervielfachung fürstlicher Behörden, wozu die immer größere Spezialisierung von Amtstätigkeit – kurz: was treibt die Metastasierung von Verwaltungsapparaten voran und deren sich deutlich ausprägende Neigung an, sehr differenzierte Daten massenhaft zu den Akten zu nehmen? [2]

Akten zählt WEBER zu den charakteristischen Merkmalen "moderne(r) Amtsführung", die ihrerseits das Wesen "bürokratischer Herrschaft ausmache. Sie entwickle sich mit der Geldwirtschaft, den Großstaaten und Massenparteien. "Mehr als die extensive und quantitative ist aber die intensive und qualitative Erweiterung und innere Entfaltung des Aufgabenkreises der Verwaltung Anlaß der Bürokratisierung" (WEBER 1964, S.715). Der Niedergang überkommener kirchlicher und feudaler Autoritäten auf der einen, die auf unterschiedlichen Ebenen rasch expandierenden konsumptiven Bedürfnisse auf der anderen Seite zwingen die weltlichen Zentralgewalten in Europa seit dem 17. Jahrhundert in die Verantwortung als wirtschaftliche wie soziale Koordinatoren. Sie werden zu Moderatoren eines ersten Modernisierungsschubs (RAEFF 1986, S.310ff.). Ihr Ziel ist die Zentralisierung und die Maximierung materieller und Sinnressourcen, deren Verteilung und Anwendung zum größtmöglichen Wohlergehen aller, das wiederum zurückwirken soll auf die Einsatzbereitschaft jedes Einzelnen zugunsten eines soliden, leistungsfähigen Gemeinwesens. Als für ein solches Vorhaben unerlässlich erweisen sich die systematische Ausdehnung und die Dynamisierung von Staatsfunktionen im militärischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Bereich, die Zentralisierung, die Standardisierung einschlägiger Vorgänge. Um sie einzuleiten, zweckdienlich zu gestalten, zu überprüfen und unter Umständen zu reglementieren, braucht es vermittelnde Organe, es braucht "einen besonderen Stab von Mitarbeitern und eine Sammlung neuer administrativer Techniken" (a.a.O., S.319). Absolute Herrschaft also gerät zu bürokratischer Herrschaft – in der Verfasstheit eines "wohlgeordneten Polizeistaats" (RAEFF 1986 und 1983). Über das Monopol auf gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt hinaus erreicht dieser "Prototyp eines modernen Herrschaftsmechanismus" auf administrativem Weg "die geistig-moralische und psychologische Strukturveränderung des politischen, militärischen, wirtschaftlichen Menschen" (OESTREICH 1969, S.188). Die zu Beginn der Frühen Neuzeit freigesetzten Scharen entwurzelter, verarmter Menschen, ohne Ort, Traditions- und Autoritätsbewusstsein, werden seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert planvoll in einen spezifischen Habitus gezwungen. Sie erfahren eine Neo-Sozialisierung, die ihnen "die Erkenntnis vom nützlichen gesellschaftlichen und politischen Verhalten" vermittelt (OESTREICH 1976, S.19). Solche "Sozialdisziplinierung" (OESTREICH 1969 und 1976), im 18. Jahrhundert in der "Fundamentaldisziplinierung" gipfelnd, zielt auf alle und den jeweils ganzen Menschen. Die aus dem "Vermachtungsprozess" hervorgehenden, sich als Bürger verstehenden freiwilligen Untertanen sollen "eine sittlich-rational gebundene Dynamik lebendig verkörpern" (OESTREICH 1969, S.64) – ein anspruchsvolles Erziehungsprogramm, das umfassende Kontrolltechniken und leistungsfähige Kontrollorgane braucht, die Fehlleistungen im Rahmen des erwarteten "nützlichen gesellschaftlichen Verhaltens" sicher zu identifizieren und zu korrigieren vermögen. Macht mutiert seit dem 17. Jahrhundert zu "Bio-Macht", "die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen" (FOUCAULT 1992a, S.163). Die Ausbeutung, Abschöpfung oder Konsumption von Menschenleben, deren Vernichtung billigend in Kauf nehmend, tritt zurück hinter dem nun vordringlichen Anliegen, ausbeutbares, abschöpfbares, konsumierbares Leben zu "bewirtschaften". Den Zugriff auf das Leben garantieren die "Machtprozeduren der Disziplinen: politische Anatomie des menschlichen Körpers" (a.a.O., S.166). Die Bio-Macht arbeitet mit einer geschlossenen Kette normprozessierender Apparate, die wir inzwischen gewohnt sind, Verwaltung zu nennen, ohne noch zu bemerken, auf Schritt und Tritt verwaltet, genormt, normiert oder normalisiert zu werden. Die Verwaltung liest uns "einen Nexus von Gewohnheiten" (FOUCAULT 1976, S.122) ein, der, leben wir ihn, unsere Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft ausdrückt. Leben wir ihn, gerät das System von Gewohnheiten im selben Augenblick zu einem Normenkatalog.

"Das, wodurch die Macht im 19. Jahrhundert wirkt, ist die Gewohnheit, die bestimmten Gruppen auferlegt wurde. Die Macht kann ihren Aufwand von früher aufgeben. Sie nimmt die hinterlistige, alltägliche Form der Norm an, so verbirgt sie sich als Macht und wird sich als Gesellschaft geben." (FOUCAULT 1992a, S.172) [3]

Der Weg dahin ist mühsam. Ihn ebnen ein Vielzahl von Behörden, ausgestattet mit einer Vielzahl von Funktionen, Kompetenzen, die Zugang verschaffen zu Allem, den verborgensten, intimsten, nichtigsten Details, dem Handeln wie dem Denken. Ebenso umfangreiche wie undurchschaubare Mitarbeiterstäbe arbeiten dem Willen zum Wissen um Alles zu, sammeln Wissen über Alles, halten es fest, dokumentieren es. Am Ende bleibt kein Ort, kein Schritt, kein Gedanke, den die Verwaltungen nicht kontrollieren und gegebenenfalls sanktionieren. Sie haben Teil am staatlichen Gewaltmonopol – sie üben Mikrodisziplin aus und Metadisziplin, indem sie alle und alles der disziplinierenden Gewalt und dem Willen zum Wissen unterwerfen (FOUCAULT 1992b, S.273ff.). Die Bürokratisierung, "als Instrument der 'Vergesellschaftung' der Herrschaftsbeziehungen", gilt WEBER als "Machtmittel allerersten Ranges". Einmal vollständig durchgesetzt, lasse sie die mit ihr entstandenen Herrschaftsbeziehungen dauerhaft unantastbar werden. Zwei Werkzeuge bürokratischer Herrschaft immunisieren diese, garantieren ihren endlosen Fortbestand: Akten und Disziplin (WEBER 1964, S.727). [4]

Was politikgeschichtlich als Absolutismus gefasst wird und sich als bürokratische Herrschaft oder "wohlgeordneter Polizeistaat" präsentiert, zielt auf die restlose Aneignung von Welt und Menschen. Diese Vereinnahmung ist gewaltsam nicht ohne Reibungsverluste zu bewerkstelligen. So vollzieht sie sich als sanfte Anpassungsstrategie, die sich, da sie die Dispositionen ihrer Opfer nicht nur überformen will, sondern ihrer Zielsetzung gemäß auszunutzen trachtet, der Beschaffenheit ihrer Objekte permanent rückversichern muss, neugierig, umsichtig Wissen sammelt und zu den Akten nimmt. Den Zeitgenossen gibt das Aktenwesen Auskunft über das, was an der Bio-Macht verfügbaren, aber auch an widerständigen Potentialen vorhanden ist, also Anhaltspunkte für Überlegungen darüber, welche Gewohnheiten bestätigt, welche normend, normierend, normalisierend erst ausgeprägt oder modifiziert werden müssen. Rückblickenden vermitteln sie folglich ein durch historisch wechselnde Dokumentations- und Gestaltungsabsichten verzerrtes, gefiltertes oder segmentiertes Bild dessen, was existiert. Akten belegen in erster Linie an spezifischen Relevanzkriterien orientierte, selektive Wahrnehmungen von Welt derer, die damit befasst sind, sie zu gestalten – oder zu regieren. [5]

Ob solche Konstitutionsprozesse auf dem Weg gewalttätiger Akkulturation durch Eliten mit "Zwang und Überwachung" vorangetrieben werden (MUCHEMBLED 1990, S.141), ob sie als präventive soziale Kontrolle, als planmäßige "Sozialisation" stattfinden, die abweichendes Verhalten antizipiert und zu unterbinden sucht (BREUER 1986, S.62), ob sie das kontingente Ergebnis von "produktiven Machtverhältnissen" oder "Machtspielen" sind (FOUCAULT 1976), in welchem Maß ihr Erfolg endlich von lebensweltlicher Aneignung und "sozialer Praxis" abhängt (LÜDTKE 1991), lässt sich allein nach eingehender qualitativer Analyse der sie belegenden Quellen, der Akten, entscheiden. Dass der Überlieferung aus dem Bereich der strafrechtlichen Sozialkontrolle in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung zukommt, ist evident. In solchen Quellen erfährt die eigenwillige Weltsicht derer, die sie regieren oder sozial kontrollieren, auf unterschiedlichen Ebenen eine Verdichtung und explizite Konkretion. Mehrere Instanzen, im Idealfall legislative, polizeilich-administrative und jurisdiktionelle, legen Normalität fest, konstituieren mithin Abweichung – nach Maßgabe des jeweils favorisierten "nützlichen gesellschaftlichen Verhaltens". Die Affinität historisch-kriminologischer Forschung zur interaktionistischen Ausrichtung der neueren Kriminalsoziologie, dem "Kontrollparadigma" oder "labeling-approach", muss nicht erst zu einer aus der Not geborenen Tugend erklärt werden. Nicht "Quellenarmut", nicht das genuine Interesse der "Historiker" "an fremden Wirklichkeiten und an historischen Wandlungsprozessen", wie SCHWERHOFF (1999, S.78) behauptet, lenken die historisch-kriminologische Aufmerksamkeit in jüngster Zeit so gut wie vollständig an ätiologischen Fragen und ausschließlich quantifizierenden Verfahren vorbei. Nicht forschungsstrategische oder Opportunitätserwägungen schränken die Wahl theoretischer und methodischer Orientierung historisch-kriminologischer Forschung zu Modernisierungsverläufen ein. Vielmehr verlangt die Eigenart der im Zuge der Entfaltung von bürokratischer Herrschaft, polizeistaatlicher Verwaltung, von Sozialdisziplinierung oder Bio-Macht sich ausbildenden, bis in die Gegenwart fortwirkenden schriftlichen Fixierung strafrechtlicher Sozialkontrolle nach theoretischer Eindeutigkeit und eindeutiger methodischer Festlegung. [6]

Akten und Disziplin kennzeichnen und flankieren nach WEBER den take-off bürokratischer Herrschaft. Sie stellen sie auf Dauer; die Disziplin wirkt dabei nachhaltiger und zuverlässiger als die Aktenmäßigkeit. In erster Linie und unmittelbar auf die Herstellung von Disziplin heben strafrechtliche Sozialkontrolle dokumentierende Akten ab. Ihr Aufkommen wird einerseits beeinflusst durch prozessrechtliche Neuerungen im Spätmittelalter, die Verschriftlichung von Verfahren mit Einführung des Inquisitionsprozesses, sowie durch die Vervielfältigung auch justitieller Vorgänge mit Hilfe der Drucktechnik seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert. (SCHWERHOFF 1999, Kapitel 3) Andererseits und grundsätzlich aber hängt das Volumen auch dieser Quellengattung, wie bereits für den gesamten Bestand aktenmäßiger Überlieferung dargelegt, mit der Verdichtung, Entpersonalisierung und Territorialisierung von Herrschaft in Europa zusammen. Mit der Verstädterung ebenso wie im Zuge der Etablierung von Monarchien oder Landesherrschaften wachsen die Bestände der Kriminalakten deutlich an. Diesen Befund nach dem "challenge-response-Theorem" als zunehmendes obrigkeitliches Pazifizierungsbemühen angesichts der mit Bevölkerungszahl und –dichte sich vervielfältigenden kriminellen Energien zu interpretieren, liegt nahe, erbringt indes, erfolgt die Interpretation ausschließlich quantifizierend, keinen, über die Bestätigung der erkenntnisleitenden Hypothese hinausgehenden, Erkenntnisgewinn. Nichts erfahren wir unmittelbar über Kriminelle, über die mikro-, alltags- oder kulturgeschichtliche Verortung des Phänomens Kriminalität. So lautet die post-strukturalistische Kritik in der Geschichtswissenschaft an solchen modernisierungstheoretisch abgeleiteten Konstruktionen und Korrelationen (cf. BLASIUS 1981, 1988). Nicht viel mehr erfahren wir über Herrschaft, nichts über Macht. Allein in ihrer Dimension als defensive Reaktion vermessene Herrschaft gerät zu er- und berechenbaren Größe. Sie erscheint als abhängige Variable und zugleich als Monopol über Macht, als monolithischer Machtapparat, der konkurrenzlos und einsinnig Gemeinwesen – und wohl gegen destabilisierende Fehlentwicklungen – zu verteidigen sucht. Historisch-kriminologische Konstruktionen solcher defensiver Modernisierungsstrategie stoßen auf Quellen- und Kontinuitätsprobleme, setzen sie nach der Sattelzeit ein. Nicht allein die mitteilsamen Verfahrensakten versiegen nach Beseitigung des Inquisitionsprozesses um die Mitte des 19. Jahrhunderts (in den deutschen Territorien); die gerichtliche Buchführung nimmt mehr und mehr tabellarischen Charakter an. Darüber hinaus finde endlich eine Entdeckung, die bereits aus dem 17. Jahrhundert datiert, verbreitet praktische Anwendung. "Die Auffassung, 'Recht beruhe auf einem hoheitlichen Befehlsakt'", schon im Absolutismus entwickelt, bereite die Wende in die Moderne, zu offensiver und konstruktiver Kriminalpolitik vor. "Erst für die neuere Geschichte kommt so in voller Breite ein Phänomen in den Blick, das sich als 'gesellschaftlicher Diskurs über Kriminalität' bezeichnen ließe" (SCHWERHOFF 1999, S.40f.). Erst in jüngerer Vergangenheit also wird Kriminalität nicht mehr nur obrigkeitlich rezipiert und von Fall zu Fall beantwortet, wird die Legislative zu einer produktiven, Recht schöpfenden, Norm und Normabweichung gestaltenden, Kriminalität konstituierenden Macht? Erst in neuerer Zeit löst sich die einstimmige, eintönige Widerrede gegen die Faktizität sozialer Unordnung auf in eine vielstimmige, diskursive, kreative Auseinandersetzung über geeignete präventive Mittel zur Herrschafts- und Weltordnung? Erst jetzt kommt Macht von überall? (FOUCAULT 1992a, I, S.114) Erst jetzt schaffen "gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch (...), daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln"? (BECKER 1981, S.8) Wie kommt es zu einem solchen Kontinuitätsbruch? Die letzte Frage ist leicht zu umgehen, wenn der Bruch als historischer Wandel interpretiert und außerdem von dem "an historischen Wandlungsprozessen" interessierten Historiker dazu genutzt wird, zu dem seinen Interessen und den gewandelten Verhältnissen entgegenkommenden Paradigma des labeling-approach überzugehen. Manöver dieser Art sind überflüssig. Akten einerseits, soziale Disziplinierung und Kontrolle andererseits folgen über weite Strecken einer gemeinsamen Chronologie, die gar keinen Bruch aufweist. Akten, Manifestationen und lange Zeit Mittel von Disziplinierung und Kontrolle, geben seit ihrem Aufkommen und selbst über ihr Versiegen hinaus, ob von städtischen, landesherrlichen oder staatlichen Agenten angelegt, ob in gesellschaftlich verbreiteten Vorstellungen über Normalität weitergeführt, in erster Linie einem offiziellen Herrschaftswillen zur Formulierung und Durchsetzung von Normen Ausdruck. Sie tragen überdies disparaten Mächten oder Ermächtigungen, mithin unter Umständen höchst eigenwilligen, von dem obwaltenden Herrschaftsanspruch abweichenden Interessen Rechnung. Keinesfalls lassen sich Akten als kriminelle Aktionen aus- und als obrigkeitliche Reaktion darauf zusammenzählen. Akten, Akte der Etikettierung als kriminell, Register, nicht von Verhalten, sondern von komplexen Vorgängen der Verhaltenszuschreibung, sind mit Hilfe quantifizierender Verfahren nicht erschöpfend zu erfassen. Um die Vielschichtigkeit der Zuschreibungen, die differenzierte Beschaffenheit der sie anleitenden unterschiedlichen Interessen – kurz: um die die Konstitution von Kriminalität beeinflussenden und in Fluss haltenden Machtverhältnisse auszuloten, bedarf es mehrerer inhaltlich analysierender Durchgänge durch einschlägige Vorgänge. [7]

Bei genauer Betrachtung geben Akten im weitesten Sinne, gibt die mit strafrechtlicher Sozialkontrolle befasste Überlieferung Auskunft über drei Kriminalität konstituierende Schritte: die Normschöpfung oder -aushandlung, die Normanwendung bzw. -auslegung, die Normaneignung. Vor der Kodifizierung von Recht ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert vermitteln ausschließlich Kriminalakten zuverlässige Informationen über den Prozess der Schöpfung von Normen, mithin auch über den der Aushandlung von legislativer Kompetenz und deren Rückwirkung auf die Gestalt normativer Setzungen. Einige Primärquellen, Weistümer etwa, Spruchsammlungen in jeder Form, lassen, unabhängig von ihrer Herkunft, ebenso wie sekundär zusammengestellte Reihen über strafrechtliche Entscheidungen, Schlüsse zu über Konjunkturen zumindest bei der Thematisierung von Verhalten im Zusammenhang mit Kriminalität. Solche Längsschnitte liefern außerdem über die Hintergründe der Problematisierung von Verhalten sowie über die mit seiner Regulierung verfolgten Ziele erste Anhaltspunkte. Zu diesen gehören offensichtlich Veränderungen in der Strafbegründung oder -bemessung für ein Delikt. Weiterhin zählen konkurrierende, konfligierende, einander schließlich ablösende Spruchtätigkeiten unterschiedlicher Instanzen zu einem Delikt oder einer Deliktgruppe dazu. Normative Einlassungen partikularer Gerichtsbarkeit etwa haben einen gänzlich anderen Bezugsrahmen als die von staatlichen Instanzen zum gleichen Sachverhalt, die kirchlicher Gerichte einen anderen als die weltlicher. Konkurrenz um die Normgestaltung auf bestimmten Handlungsfeldern, dem der Wirtschaft zum Beispiel oder dem der Sittlichkeit, schließlich die Umschichtung von Definitionskompetenz, weg von überkommenen, hin zu neuen Gewalten, indizieren wohl immer einen erheblichen Wandel der Normsetzungs- und Regulierungsbemühungen begleitenden Interessen. [8]

Unter der Voraussetzung, dass Recht grundsätzlich als "hoheitlicher Befehlsakt" wahr-, dass Strafrechtsetzung im Sinne von Etikettierung als Kriminalitätsbeschaffungsmaßnahme vorgenommen wird, sind ihre in Akten sich niederschlagenden Produkte, Norm und Abweichung, bei oberflächlicher Betrachtung die Ergebnisse von Herrschaft, bei genauerem Hinsehen die von Macht. Die bei der Fixierung von Recht und Unrecht verantwortlich zeichnende Obrigkeit oder Herrschaft, nach FOUCAULT (o.J., S.47) "eine strategische Situation, die in einer historisch langwährenden Auseinandersetzung zustande gekommen und auf Dauer gestellt worden ist", gibt bestenfalls ihren Namen her für schlagwortartige Bezeichnungen säkularer Trends bei der Konstitution von Kriminalität. Den Prozess der Konstitution in Gang zu setzen, ist dagegen eine Angelegenheit von Macht, besser: Mächten. Ihn voran zu treiben, ist Mittel zum Zweck in Machtspielen, die sich in Akten als Normanwendung oder -auslegung sowie als Normaneignung darstellen. Während Herrschaft gewissermaßen eine Ausnahmesituation beschreibt, ein zur "Machtstruktur" geronnenes "Machtverhältnis", sind flüchtige Machtverhältnisse die Regel und Grundlage gesellschaftlichen Seins und historischer Dynamik. Macht hat keinen Ort, "weder in bestimmten Institutionen, noch im Staatsapparat", und erst recht kein Zentrum (FOUCAULT 1976, S.38). Niemand hat sie inne, niemandem eignet sie nicht. "Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall" (FOUCAULT 1992a, I, S.114). FOUCAULT beschreibt Macht als eine jeder Interaktion innewohnende Fatalität. Sobald ein Subjekt auf einem bestimmten Handlungsfeld auf ein anderes trifft, üben beide Macht, nehmen beide ein Machtspiel auf, gehen ein Machtverhältnis ein, indem sie versuchen, auf den Handlungsspielraum des jeweils anderen strukturierend Einfluss zu nehmen. Jede Bezugnahme von Subjekten aufeinander bringt Macht in ein Spiel, das, selbst wenn es mit der eingesetzten Macht verloren geht, in der Regel nicht dauerhaft in erstarrender Machtstruktur ein Ende findet. Denn, so wenig wie Macht besessen werden kann, so grenzenlos ist sie verfügbar als "permanente Strategie", als unaufhörliche Provokation – Stoff für unausgesetzte Bürgerkriege (FOUCAULT 1978, S.71f.). Diese Macht verdichtet das Szenario, mit dem eine Analyse von Kriminalakten sich auseinandersetzen muss; sie vervielfacht die Zahl der Akteure, die Interpretationen solcher Überlieferung in Betracht zu ziehen haben. Die auf Normschöpfung und -aushandlung abhebenden Längsschnitte durch aktenmäßiges Schrifttum gehen in erster Linie auf die eher raren Manifestationen herrschaftlicher Einflussnahme bei der Schaffung von Kriminalität ein. Die Macht verlangt demgegenüber nach ebenso tiefen wie feinen Querschnitten, um allen am Machtspiel um Norm und Abweichung Beteiligten, allen Verästelungen der Machtverhältnisse auf diesem Handlungsfeld, dem ganzen Spektrum der darin verflochtenen Interessen und Zielen auf die Spur zu kommen. Der vermeintlich monolithische Apparat von Normdefinierern ist zu zerlegen in alle einzelnen Handlungs-, mithin Machtträger. In Rechnung zu stellen sind dabei, neben denjenigen, die Normen anwenden oder auslegen, die sie durch eigene Beweggründe und Ziele bei der Problematisierung bestimmten Verhaltens unter Umständen revidieren, zumindest verfremden, auch die als Abweichler Etikettierten. Werden sie in der Regel in solche Machtspiele auch gezwungen, nimmt sich ihr Part als Objekte, Exempel oder Provozierte darin auch wie der von Statisten aus, sie üben doch Macht. Ihre Reaktion auf Versuche der Strukturierung ihres Verhaltensspielraums hat, unabhängig davon, ob sie offensiv verläuft oder duldsam ausfällt, einen Effekt, der sie als machtvoll ausweist: sie strukturiert ihrerseits den Handlungsspielraum der Etikettierungsmächte. Insofern sind sie konstitutiv für den Konstitutionsvorgang von Kriminalität, sind Kriminalakten immer auch Belege für Aneignungsvorgänge, also Ego-Dokumente.1) [9]

Im Folgenden werden die Ergebnisse einer an solchen umfassenden Machtverhältnissen orientierten Analyse von Kriminalakten vorgestellt. Es handelt sich um die zusammenfassende Skizzierung einer bereits abgeschlossenen Untersuchung (TAEGER 1999, 2000) über die Kriminalisierung und Entpönalisierung mann-männlicher Sexualität – sodomie im zeitgenössischen Sprachgebrauch – während des 18. Jahrhunderts in Paris: Im Normalfall gerät ein Sodomit in Paris im 18. Jahrhundert, sei es durch die Ermittlungstätigkeit polizeilicher Kräfte, sei es durch Beschwerde oder Denunziation Dritter, vor einen Untersuchungsrichter, den für ein Quartier, bestimmte öffentliche Ressorts oder einzelne Delikte zuständigen commissaire. Dem obliegt es, den ihm angezeigten Sachverhalt aufzuzeichnen, den Tatbestand zu sichern und den Delinquenten in Gewahrsam zu nehmen. Auf der Grundlage seiner Recherchen erhebt der die Funktion eines Kronanwalts ausübende procureur général du roi Anklage und leitet damit ein Gerichtsverfahren gegen den Festgenommenen ein. Als in erster Instanz zuständiges Gericht tritt daraufhin die Strafkammer des Châtelet zusammen. Kapitalverbrechen müssen nach dem im 18. Jahrhundert geltenden Verfahrensrecht zwingend eine zweite Instanz passieren. Die Tournelle des Pariser Parlement führt diese Appellationsverfahren. Ein solcher Normalfall findet sich zwar unter vielen Registraturen, jedoch nicht ausführlich dokumentiert. Die im Detail über einen Prozesses berichtenden Akten, der mit Schuldspruch und Todesurteil endet, werden gewöhnlich gemeinsam mit dem Delinquenten verbrannt, um das Vergehen, seine Schuld spurlos zu tilgen. Überliefert und weitgehend geschlossen erhalten sind jedoch solche Quellen, die in relativ knapper, formalisierter Form den Instanzenweg beschreiben. Der hier als Normalfall bezeichnete und skizzierte Umgang mit der sodomie ist im Paris des 18. Jahrhunderts keineswegs die Regel. Den an einer Hand abzuzählenden, gerichtlich aktenkundigen Sodomiten steht ein Heer desselben Delikts beschuldigter Männer gegenüber, die dem Pariser Polizeichef vorgeführt, aber nie an ein ordentliches Gericht überstellt werden. Ein polizeilicher Ermittler fahndet nach einem Sodomiten, entdeckt ihn; ein Polizeiinspecteur trägt für seine Verhaftung, Vernehmung und Verwahrung Sorge; ein lieutenant général de police spricht Recht über ihn. Die Polizei handelt dabei nicht im Auftrag gerichtlicher Instanzen, nicht als Exekutive eines öffentlichen Anklägers, nicht als nur ermittelnde Kriminalpolizei. Folglich finden sich von ihrem Vorgehen keine Spuren unter denjenigen Registraturen, die einen ordentlichen Gerichtsgang und Strafvollzug dokumentieren. Das gesamte polizeiliche Schrifttum lagert ab 1717 in den "archives secrètes de la Maison du Roi et de la Lieutenance de police" (FUNCK-BRENTANO 1895, S.4); der für Sittlichkeitsdelikte einschlägige Bestand, 2°Bureau de police – "Discipline des moeurs", ist nunmehr zugänglich in der Bibliothèque de l'Arsenal (Ms. 10.234ff.). Alles ab etwa 1715 von der Pariser Polizei zur Sittlichkeitsdelinquenz aufgebrachte Material ist hier enthalten – so auch die Akten der ausschließlich polizeilich behandelten Sodomiten: Rapports der beobachtenden Ermittler, Verhörprotokolle, z.T. kommentiert, Urteilsspruch, Verweise auf frühere Vorgänge, Eingaben von Fürsprechern zu Gunsten des Inkriminierten. [10]

Die Untersuchung der strafrechtlichen Behandlung von sodomie im Paris des 18. Jahrhunderts geht zunächst in einem Längsschnitt dem Prozess der Normschöpfung nach. Berücksichtigung finden die Tätigkeiten aller im einschlägigen Rechtsraum mit abweichender Sexualität befassten Institutionen. Das im herkömmlichen Sinn Rechtsgeschichte dokumentierende Schrifttum von römisch-rechtlicher Zeit an bis zum Code pénal, Erlasse sowie gerichtliches Aktenmaterial zur sodomie, wird unter dem Gesichtspunkt des Charakters der normschöpfenden Instanzen, der jeweiligen Strafzumessung und der unterschiedlichen Begründungen der Pönalisierung ausgewertet. Diese Analyse ergibt einen Überblick über die Genese der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit mann-männlicher Sexualität bis in das 18. Jahrhundert, mithin eine Zusammenschau des zur Verfügung stehenden Diskursrepertoires, das die Aktenlage zur sodomie im Untersuchungszeitraum prägen könnte. In einem zweiten Schritt, dem Hauptteil der Untersuchung, wird mit Hilfe von Querschnitten durch das gesamte Aktenaufkommen zur mann-männlichen Sexualität während des 18. Jahrhunderts ermittelt, welche Herrschaftsträger an der Konstitution des Straftatbestands sodomie beteiligt sind, ob die im Zuge des Konstitutionsprozesses artikulierten Argumentationsgänge sich ergänzen oder konkurrieren, in welchem Maß sie tradierte Muster fortschreiben oder ob neue Anwender der Norm deren Auslegung schöpferisch betreiben, schließlich, welchem Impetus, welchen Interessen solche Innovationen geschuldet sind. Jede dieser Fragen unterstellt Kontinuitätsbrüche, so dass die Sichtung aller Akten, gleich welcher Provenienz, zunächst Bruchstellen ausmachen und dokumentieren muss. Signifikante Änderungen im Aktenkorpus, ob sie die verfolgende Instanz, den Umfang des einschlägigen Aktenaufkommens, den Duktus der Aktenführung oder den Inhalt der Akten selbst betreffen, markieren sodann die Ausgangspunkte für eine weitergehende Analyse. Sie diskutiert die mit solchen Brüchen angezeigten, dem Quellenmaterial immanenten Befunde in Zusammenhang mit der jeweiligen Situation im administrativ-justiziellen Arrangement sowie vor dem Hintergrund der Herrschafts- und der Machtverhältnisse. Ziel dieses Durchgangs ist die Erhellung von Logiken der jeweils wirksamen, als Institution fassbaren Normdefinierer oder Konstitutionsvorgänge sowie ihre historische Verortung. Endlich ist zu prüfen, in welchem Maß es sich dabei um selbstreferentielle, monologisch oder bestenfalls dialogisch verfahrende Logiken von Herrschaftsträgern auf dem engen Machtfeld strafrechtlicher Institutionen handelt. Um zu ermitteln, ob und in welcher Weise die als sexuell abweichend Etikettierten Stellung nehmen zu ihrem Tun und dessen Interpretationen, wird die aktenkundliche Rede und das in Akten protokollierte Handeln der Inkriminierten zusammengetragen. Diese Aufzeichnungen bedürfen dann zunächst einer detaillierten Quellenkritik auf der Folie der Interessiertheit und der Zielsetzung, der Logik, der sie anfertigenden Behörde, bevor sie als Belege für Aneignungsprozesse zum Tragen kommen können. [11]

Die Geschichte der sodomie als Straftatbestand verläuft über weite Strecken unspektakulär, ohne Brüche. Eine für Frankreich unspezifische Kulisse oder größter gemeinsamer Nenner von Strafrechtsgeschichte in weiten Teilen der europäischen Welt sind das kanonische und das römische Recht. Beide Rechtsordnungen lassen an Eindeutigkeit bei ihrer Beurteilung von mann-männlicher Sexualität nichts zu wünschen übrig: Das römische Recht belegt solche Handlungen mit der Todesstrafe. Im Kirchenrecht gilt die Homosexualität als eines der "clamantia peccata", der "crimes de majesté contre le roy céleste". In ihrer Verurteilung parallelisiert die kirchliche Rechtsdogmatik theologische und sexuelle Unorthodoxie. Sie fasst abweichende Sexualität als Häresie – und Häretikern gebührt der Tod. Häresie gehört ratione materiae unter die kirchliche Gerichtsbarkeit. In diesen Fällen wird der ratione personae auf den Klerus begrenzte Zugriff der kirchlichen Instanzen auf Laien ausgedehnt – allerdings nur, um die Ermittlungen gegen sie durchzuführen und ein Urteil zu finden. Dem Grundsatz folgend: "ecclesia abhorret a sanguine", bleibt die Vollstreckung von Todesurteilen – so auch gegen Homosexuelle – der weltlichen Gewalt überlassen. Hier liegt nicht zuletzt der Grund für den Erfolg, mit dem die gerichtlichen Instanzen der Zentralgewalt seit dem hohen Mittelalter die Kompetenzen der Kirche in Strafrechtsangelegenheiten Stück für Stück usurpieren. Der Feuertod für Homosexuelle setzt sich durch – auch im weltlichen Strafrecht. Von einem nicht datierten karolingischen Erlass (De peccatoribus diversorum malorum) abgesehen, bleiben strafrechtliche Initiativen der Zentralgewalt allerdings für lange Zeit aus. Deren geringes legislatives Engagement hat strukturelle Gründe: Das vorrevolutionäre Strafrecht besteht im wesentlichen nicht aus gesetztem Recht, sondern entwickelt sich während des Mittelalters neben dem römischen und dem kanonischen als arbiträres, als Konglomerat von Urteilssprüchen. Sie fließen zusammen in den "coutumes", regional verbindlichen Urteilssammlungen. Eine Vielzahl von Partikularrechten also regelt die Strafverfolgung in Frankreich über einen langen Zeitraum und in großen Bereichen. Eine Vielzahl, die sich indes in wichtigen Punkten als weitgehend homogen erweist. Als besonders schwerwiegend werden überall die gleichen Rechtsbrüche eingeordnet; die coutumes behandeln sie in ähnlicher Weise und belegen sie mit Strafen, deren Bemessungen kaum voneinander abweichen. Der nivellierende Einfluss kirchenrechtlicher Dogmatik und weniger, als Vorlagen dienender, coutumes ist unübersehbar. Alle Spruchsammlungen statuieren: der homosexuelle Ketzer verdient den Feuertod. Bis zur ersten Kodifikation des französischen Strafrechts während der Revolution bleibt der droit coutumier weitgehend unangefochten in Kraft, im Prinzip unangetastet von der Legislative der Zentralgewalt. Denn Recht zu statuieren, obliegt ihr allein unter der Bedingung, dass ein Delikt den im Grunde ja privatrechtlichen Rahmen des droit coutumier überschreitet. Wendet sich eine Handlung gegen état oder pouvoir, verletzt sie also königliches Regalrecht oder gefährdet sie die Öffentlichkeit, so kann sich die Zentralgewalt ihrer als cas royal annehmen. Die erste solche Fälle ausführlich spezifizierende Quelle ist die Ordonnance criminelle von 1670; und sie zählt die sodomie zu den cas royaux (Recueil général des anciennes lois françaises, XVIII, S.371ff.). Spätestens seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts also macht die traditionell religiöse Verurteilung mann-männlicher Sexualität einer rationalen Beurteilung als Verstoß gegen öffentliche Interessen Platz. Sie mutiert vom Fehdehandschuh zu Gottes Füßen zu einer unmittelbaren Bedrohung – unter anderen der öffentlichen, staatlichen und Macht-Ordnung. Die Zentralgewalt nimmt 1670 ihr Recht wahr, im eigenen und/oder im Interesse der öffentlichen Ordnung legislativ tätig zu werden und Partikularrecht zu suspendieren. Um der öffentlichen Ruhe und Sicherheit willen beauftragt sie ihre Jurisdiktion mit der Kontrolle und Sanktion sodomitischen Verhaltens. Dabei ändert sie zwar nichts an dem für homosexuelle Handlungen üblichen Strafmaß, jedenfalls nicht auf legislativem Weg. Durch die Umverteilung der prozessrechtlichen Kompetenzen aber bewegt der Erlass doch Grundsätzliches; dies offensichtlich im institutionell-justiziellen Arrangement und möglicherweise auch im strafrechtlichen Verständnis von Homosexualität. Andere Instanzen als in erster Linie der christlichen Sexualethik verpflichtete bemessen nach Maßgabe neuer Gefahrenabwägungen, an den Erfordernissen der öffentlichen Ordnung, die Strafwürdigkeit abweichender Sexualität. Es ist eine besondere Abteilung der königlichen Gerichtsbarkeit, die außerordentliche: die Polizei, die mit diesem Rechtsbruch und anderen Fällen der Bedrohung von sûreté und tranquillité publique befasst wird. In ihrer Eigenschaft als abweichendes Verhalten führt die Homosexualität seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert somit ein Doppelleben. Sie beschäftigt auch weiterhin als Straftatbestand die Jurisdiktion. Deren Bemühungen, ihr rechtliche Grenzen zu setzen, bleiben indes in Routinen stecken und erscheinen obsolet vor dem Hintergrund, dass zur gleichen Zeit eine konkurrierende Definitionsmacht am Werk ist: die königliche Legislative – mittels der polizeilichen Exekutive. Sie ist die an homosexuellen Handlungen, dies deutet die ordonnance von 1670 an, viel stärker interessierte und, in Hinblick auf die Regulierung gleichgeschlechtlicher Sexualität, innovative Kraft. [12]

Ohne maßgebliches Zutun französischer Aufklärer endet die lange Kontinuität kompromisslos harter Strafverfolgung der Homosexualität 1791 scheinbar abrupt. Wie alle anderen "crimes contre nature" wird gleichgeschlechtliche Sexualität als Grundtatbestand getilgt (Archives parlementaires 19 septembre 1791) – und bleibt dem französischen Strafrecht bis in jüngste Zeit unbekannt. Als Herausforderung Gottes, als Verstoß gegen die Bestimmung der Menschheit, als ketzerische Todsünde setzt die sodomie zunächst Himmel und Hölle in Bewegung. Menschliche Richter und Sanktionssysteme vermögen nichts angesichts dieser dreisten Provokation, außer der apokalyptischen Genugtuung Gottes durch die Vernichtung des Übeltäters zuvorzukommen. Ein umfassendes Rechtsgut gilt es zu schützen: die göttliche Weltordnung, die universale christliche Moral. Als weitaus bescheidener erweist sich das Rechtsgut derer, die sodomie als Verstoß gegen die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung ahnden wollen. Aus ihrer Perspektive stört der sexuell Abweichende menschliche Normalität – hier im Sinne eines von Menschen für Menschen erlassenen Regelwerks. Schließlich scheint dieser Normenkatalog an Verbindlichkeit zu verlieren – oder ist er bereits implementiert, gelebte Normalität? Das Bemühen, eine in ihrer Moral offensichtlich als homogen gedachte, zeitlich und örtlich begrenzte Öffentlichkeit vor destabilisierender Abweichung zu bewahren, lässt nach dem Ende des Ancien Régime nach. Die Sittlichkeitsdelikte erhalten während der Revolution gemeinsam mit Straftaten wie Mord oder Totschlag die zusammenfassende Überschrift "crimes contre les personnes" (Code pénal 1791), bzw. "crimes et délits contre les personnes" (Code criminel an XI). Daneben schafft die Commission des Projet de Code criminel an XI eine Sektion mit dem Titel "Crimes et Délits contre la Paix Publique" und bildet hier einen Untertitel: "Attentats publics aux moeurs". Darunter fällt ein dem alten Recht nur scheinbar unbekannter Straftatbestand, nämlich "outrage public à la pudeur". Die Bestimmungen der Ordonnance criminelle zur Homosexualität nehmen die Überlegungen der Strafrechtskommission des Jahres XI aber schon vorweg. Wegen der Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Sodomiten verursachten, nimmt sich die königliche Gewalt ihrer an. Das vorrevolutionäre Recht kennt also den Straftatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses – frühzeitig, wie es eine säkulare Moral und Ordnung kennt. Offen ist, ob diese Kenntnisse praxisrelevant werden, wann und auf welchem Weg sie sich durchsetzen. [13]

Den das Strafrecht im 18. Jahrhundert statuierenden Quellen folgend, kann sodomie von mehreren Instanzen, unter verschiedenen Titeln, mit höchst unterschiedlichen Konsequenzen verfolgt werden. Ab 1670 kontrolliert grundsätzlich die Polizei die sodomie als einen cas royal. Sie darf sie jedoch nur als Ordnungswidrigkeit behandeln und strafen. Wird ein Fall von sodomie als Kapitalverbrechen identifiziert, so muss er an die ordentlichen Gerichte überwiesen werden. Nur sie sind berechtigt und durch das gewohnte Recht immer noch gehalten, Strafen an Leib und Leben, in diesem Fall die Todesstrafe, auszusprechen. Welche Auffassung prägt die strafrechtliche Praxis im 18. Jahrhundert? – die anachronistisch-traditionale der coutumes und der ordentlichen Gerichte oder die anachronistisch-revolutionäre der königlichen Legislative? [14]

Sodomie ist keine Marginalie im Paris des 18. Jahrhunderts. Vielmehr handelt es sich hier um ein Phänomen von einiger gesellschaftlicher Bedeutung, dem das sanktionsbewehrte Recht als Normbruch nicht geringe Aufmerksamkeit widmet. Die Zahl der Fälle, die nicht gerichtlich behandelt, sondern nur polizeilich ermittelt werden, beträgt für den Zeitraum von 1700 bis 1780 schätzungsweise 40.000. [15]

Die Delinquenten werden lange beobachtet, festgenommen, erkennungsdienstlich behandelt, verhört und erhalten dann, mit oder ohne Intervention einflussreicher Fürsprecher, in der Regel umstandslos ihre Freiheit zurück. Der Vielzahl administrativer Aktivitäten stehen im ganzen 18. Jahrhundert nur 9 ordentliche Gerichtsprozesse gegen Sodomiten gegenüber. In fünf dieser Verfahren werden Todesurteile verhängt. Aber ein einziges Mal nur spricht ein Pariser Gericht ein Todesurteil wegen sodomie aus. In den vier anderen angeführten Fällen, die mit Hinrichtungen enden, kommen erschwerende, die Todesstrafe begründende Tatumstände dazu: Mord, Vergewaltigung, Handel mit Kindern, Erpressung, Raub oder Gotteslästerung. 1750 werden Jean Diot und Bruno Lenoir in Paris von ordentlichen Gerichten wegen sodomie zum Tode verurteilt. 234 Männer verhaftet die Polizei im Jahr zuvor wegen sodomie. Sie vernimmt sie immer, manchmal verwahrt sie sie kurzfristig – oder sie setzt sie sofort wieder auf freien Fuß. Im Verfahren Diot/Lenoir bündeln sich die überkommenen und überlebten Perspektiven auf die sodomie als eines des Todes würdigen Bruchs mit einer ebenso universellen wie unerbittlichen Moral – einmal noch. In der Rechtswirklichkeit haben sie ansonsten keine profilierten Spuren mehr hinterlassen. Der Weg durch die königlichen Gerichtsinstanzen ist um 1750 obsolet, die rigide Bemessung der Strafe, ja, jegliche Strafmaßnahme – ein Antagonismus. Beides hat einer administrativen Bewältigung des Normbruchs sodomie Platz gemacht. Die säkulare Moral der Ordonnance criminelle hat sich also durchgesetzt. sodomie gilt als Verstoß gegen die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit – ein Polizeidelikt, das zwar intensiv verfolgt, aber kaum mehr geahndet wird. Warum die intensive Verfolgung von Sodomiten im 18. Jahrhundert, wenn doch offensichtlich gleichzeitig das der sodomie innewohnende Gefahrenmoment als so gering erachtet wird, dass solche Handlungen ungestraft bleiben? Welchen Auftrag verfolgt die Polizei bei ihrem Vorgehen gegen Sodomiten, wenn offensichtlich nicht den, die Ordnung verletzende Moralverstöße zu ahnden? [16]

Die Pariser Polizei ist das Produkt einer königlichen Willenserklärung vom 15. März 1667 (Bibliothèque Nationale de France, Fonds français 21.573, f°271f.). Diese gebietet die Einrichtung eines neuen Amtes, der Lieutenance générale de police de Paris, unterstellt seinem Inhaber den gesamten Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Capitale und stattet ihn mit umfassenden richterlichen Kompetenzen aus. Langfristig soll die Polizei die merkantile Selbsterneuerung der absoluten Monarchie flankieren, die Sozialdisziplinierung vorantreiben. Sie hat den Auftrag, für eine rationale Sichtung und die rationelle Abschöpfung verfügbarer oder erschließbarer Ressourcen Sorge zu tragen. Im Rahmen dieses Auftrags hat sie sich mit Allem und Jedem zu befassen, Alltägliches, scheinbar Nichtiges auszukundschaften und zu registrieren, um es der zentralen Disziplinierungsgewalt zugänglich zu machen (FARGE & FOUCAULT 1982; PIAZENSA 1990). Im Rahmen dieses Auftrags nimmt sie sich auch der sodomie an. Sexuelle Gewohnheiten zählen im 18. Jahrhundert zu den wichtigen Alltäglichkeiten und sexuelle Besonderheiten nicht mehr zu den Angelegenheiten, die einer nonchalanten, nach anachronistischen Beurteilungskriterien verfahrenden Magistratur überlassen bleiben könnten. Die Rechtspraxis und die Lebenswelt der als sexuell abweichend etikettierten und verfolgten Männer gestaltet fortan die Pariser Polizei – nach einem eigenwilligen Konzept zu Ordnung, Sicherheit, Normalität und neo-absolutistischer Wohlfahrt: Ausschließlich mit der sodomie befasste Sonderstaffeln werden gebildet, die nur zum Teil auf den institutionalisierten Strukturen des Polizeiapparats aufruhen. Ein Heer freier Mitarbeiter wird angeworben und als Spitzel in einschlägige Kreise eingeschleust. Sie tragen Informationen zusammen, verdichten sie in Akten. Sie arrangieren Verhaftungen und damit die Voraussetzung für ausgedehnte Verhöre, ihrerseits Ausgangspunkte für neue Recherchen. Sonderermittler koordinieren diese umfangreichen Fahndungen und organisieren das von den Beobachtern und Provokateuren aufgebrachte Material in umfangreichen Aktenbeständen. Die Pariser Polizei tut alles ihr Mögliche, um der sodomie und den Sodomiten auf die Spur zu kommen – eines tut sie nur ganz selten: Strafen. Ihr Ziel ist offensichtlich nicht die Beseitigung als deviant etikettierter Sexualität, sondern die Entlarvung, der aktenkundige, ja, schließlich nur noch der statistische Nachweis möglichst vieler Sodomiten. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verzichtet die Polizei nicht allein auf Sanktionen, sondern selbst auf individuelle Fahndungen, Verhaftungen, Verhöre. Ab den 70er Jahren beschränken sich ihre Ermittlungstätigkeiten auf den allabendlichen Rundgang eines Mitarbeiters, der zu den bekannten Treffpunkten von Sodomiten und in der Regel zu nur einem Ergebnis, einer Aktennotiz führt: Keine besonderen Vorkommnisse! (Archives Nationales Y 13.408) Das Interesse der Ordnungsmacht an Sodomiten also expandiert, das, deren Verhalten strafend zu unterbinden, tendiert dagegen gegen Null. An diese, unmittelbar den Akten zu entnehmende, Beobachtung knüpft sich eine zweite: Je geringer das Engagement der Polizei, restriktiv gegen den Normbruch sodomie vorzugehen, desto etablierter die Position ihrer mit dieser Materie befassten Vertreter. Wie diese selbst in Aktenvermerken darlegen, nehmen sie zunächst lediglich privat mit dem Lieutenant général de police, dem Pariser Polizeichef, abgeschlossene Verträge wahr. Dann bekleiden sie das offiziöse Amt eines inspecteur par commission, um schließlich etatisierte Planstellen zu besetzen. Je geringer das Engagement der Polizei, restriktiv gegen den Normbruch sodomie vorzugehen, desto etablierter die Position ihrer mit dieser Materie befassten Vertreter: werden Ursache und Wirkung, wie sie diese Formulierung insinuiert, ausgetauscht, so ergibt sich ein unmittelbar einleuchtender Befund. Die Initiative der Polizei geht in dem Maß zurück, wie der Apparat an Anerkennung und Profil gewinnt. Solchen Gewinn erwirtschaftet sich die Lieutenance générale planvoll: Systematisch sucht sie den Konflikt mit der etablierten Magistratur, Unregelmäßigkeiten dramatisiert sie gerade in solchen Bereichen, die sowohl gerichtlicher als auch polizeilicher Kontrolle unterstehen. Hier bietet sich die sodomie an. Die zahlreichen, akribischen Ermittlungsberichte, die Akten der Polizei belegen ebenso eindrucksvoll die Popularität hedonistischer, unproduktiver, merkantiler Menschenproduktion sich verweigernder, anarchischer Sexualität, wie die staatsgefährdende Untätigkeit und Unfähigkeit der ordentlichen Gerichte. Vor diesem Szenario gewinnt die Polizei, nur scheinbar ohne eigenes Zutun, Profil als zuverlässige Kontrollmacht, als rationale und rationelle Ordnungsmacht. [17]

Während des Macht-Kampfs zwischen etablierten und sich etablierenden Herrschaftseliten erfährt die männliche Homosexualität eine Aufwertung als soziales Problem, zugleich und in dem Maß, wie die Selbstinszenierung der Polizei verfängt, eine Abwertung als Rechtsbruch. Am 18. Januar 1781 verhaftet der die allabendlichen "patrouilles de pédérastie" leitende inspecteur Noël drei als Sodomiten identifizierte Männer, lässt sie jedoch sofort wieder frei; "il n'y a à notre connaissance aucune charge directe contre les trois particuliers", hält er in den Akten fest. "Sur la clameur publique" nimmt Noël am 11. April vier Sodomiten fest, "poursuivis par la populace." Die "charge directe", die er gegenüber den drei Männern im Januar vermisst, in diesem Fall liegt sie vor: eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ruhe und Ordnung wird den vier Festgenommenen zu Last gelegt (Archives Nationales Y 13.408). Ihre sexuelle Orientierung spielt für die Intervention der Polizei offensichtlich nur insofern eine Rolle, als sie der Anlass ist für Aufruhr und öffentliches Ärgernis. Sexuell abweichende Männer, die sich diskret verhalten, bleiben zwar nicht unbehelligt, aber sicher straflos. Aus politischem Machtkalkül, um der Disziplin, der Ordnung – um der Selbstbehauptung willen nimmt sich die Zentralgewalt beiläufig, die Polizei zielbewusst der sodomie an. Unter beider Einfluss wird aus der Todsünde schließlich eine Ordnungswidrigkeit. Geben die Aufzeichnungen der Pariser Polizei über die sodomie also ein wesentliches rhetorisches Mittel ihrer Selbstinszenierung ab, so stellt sich die Frage nach ihrer Aussagekraft als sozialhistorische Quelle, nach der Authentizität polizeilicher Protokolle und mithin nach der Verwertbarkeit der Akten als lebensweltliche oder Ego-Dokumente. Sind sie Fiktion, dramatisierte Dokumentation oder doch Produkte einer unideologisch verfahrenden Registratur? Was die Verbreitung der sodomie anbelangt, kann das Bemühen um Wahrheit im polizeilichen Schrifttum nicht gering genug geschätzt werden. Nicht allein für die Legitimation des gesamten Apparats ist der Nachweis umfangreicher sodomitischer Umtriebe bedeutsam, sondern auch für das einträgliche Auskommen jedes Sonderermittlers, der, wie alle seine Mitarbeiter, Akkordarbeit leistet, eine Prämie für jeden entlarvten Sodomiten erhält. Die in den Akten festgehaltenen Klagen über Willkür, Nötigung, Falschaussagen, Provokationen und gegenstandslose Verhaftungen der Sonderstaffel "sodomie" reißen bis über die Jahrhundertmitte hinaus nicht ab. Eine andere Facette der Polizeiakten indes eröffnet doch einen, zwar umwegigen, aber nicht bewusst irreführenden Zugang zu der Lebenswelt von Sodomiten: das von den Spitzeln der Polizei sorgfältig recherchierte, in den Dossiers häufig ausführlich und detailliert dokumentierte Verhalten der Betroffenen, ihre unvorsichtigen Annäherungsversuche sowie die unzweideutige Formulierung ihres Begehrens Fremden, selbst den häufig als agents provocateurs tätigen Polizisten gegenüber, die sexuelle Interaktion an öffentlichen, auch von Unbekannten frequentierten Orten, die harmlosen Schilderungen ihrer Karrieren als Sodomiten bei den Vernehmungen – all dies sind glaubwürdige Indizien für den Mangel an Problem- oder gar Schuldbewusstsein. Es sind eher Hinweise auf das Beharrungsvermögen einer Kultur des regellosen Sexuellen, als Belege für eine unter vermeintlichen Sexualitätsdiktaten sich formierende Sub-Kultur. Die aktenmäßigen Paraphrasen von Selbstzeugnissen homosexueller Männer im Paris des 18. Jahrhunderts verweisen auf den Fortbestand eines selbstbewussten oder selbstverständlichen Auslebens des triebhaft Sexuellen. Und was sich in den Observationsberichten der Pariser Polizei als historischer Sachverhalt abzeichnet, leuchtet in Anbetracht der nonchalanten polizeilichen Strafpraxis gegenüber den eigensinnigen Männern unmittelbar ein: ihr "unangestrengtes Bei-sich-selbst-Sein" (LÜDTKE 1984, S.332), ziviler Ungehorsam gegenüber der strengen aber kraftlosen Macht des Strafrechts. Demnach berührt die selbstgefällige Rede der Pariser Polizei über die Ineffizienz der überkommenen Verurteilungsprozeduren und Moralunternehmer Wahrheiten – ohne wahrhaftig zu sein. [18]

"Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall" (FOUCAULT 1992a, S.114) – und es zeigt sich, dass bei der Konstitution von Kriminalität nicht nur sehr unterschiedliche Interessenten mitwirken und disparate Interessen zum Tragen kommen, sondern dass auch die vermeintlich Machtlosen allein durch ihr Bei-sich-selbst-Bleiben von Kraftproben um die Macht profitieren. Ihr beharrlicher Ungehorsam, in ungewolltem und unkoordiniertem Zusammenspiel mit dem Professionalisierungsstreben der Polizei und dem Ringen um Machterhalt der Zentralgewalt, lässt am Ende das Gegenkonzept zum lebensweltlichen Deutungsmuster "Sexualität", das Eindeutigkeit verlangende traditioneller Herrschaftseliten, als unterlegenes ausscheiden. In der "Organisation eines instabilen, sich stets neu ordnenden Kraftfeldes", die BURGUIERE (1994, S.114) seiner "Definition des Politischen" zugrunde legt, erscheint "die Ausübung der Macht (als) der Lohn für die, die die Möglichkeiten einer Situation auszunutzen verstehen und aus den Widersprüchen und Spannungen, die das soziale Geschehen kennzeichnen, Vorteile ziehen." Zu den Belohnten unter den Männern im Paris des 18. Jahrhunderts, die ihre Kräfte messen auf dem Feld der Normierung des Sexuellen, zählen die vielen Sodomiten, die ungestraft davonkommen, ebenso wie die gegenüber der Magistratur sich profilierende Pariser Polizei. Ohne die geringsten Berührungspunkte in ihrem Tun und Wollen, finden sich beide Gruppierungen unversehens in einem auf lange Sicht obsiegenden Zweckbündnis: Die Sodomiten geraten zur Argumentationshilfe der Polizei; die wiederum, angewiesen auf den Fortbestand solcher Argumentationshilfe, lässt die Eigensinnigen gewähren. Ohne Absicht bereitet sie so mit der Anwendung von Normen einer Legalisierung von Abweichung den Weg, die aufruht auf im Zuge der polizeilichen Praxis sich langsam verändernden Wahrnehmungsgewohnheiten. Die zahlreichen Sodomiten, die die Polizei nur an geeigneter Stelle als Schwerverbrecher vorführt, routinemäßig jedoch als bloße Ordnungsstörer behandelt, sind nach dem 18. Jahrhundert im Strafrecht nicht mehr an prominenter Stelle unterzubringen. Wie heterosexuelles Verhalten auch, wird gleichgeschlechtliche Sexualität seit der Wende zum 19. Jahrhundert in Frankreich nur noch dann strafrechtlich verfolgt, wenn sie sich gegen die Ehre, die Freiheit oder die Unversehrtheit von Personen richtet, also öffentlich und Unbeteiligte provozierend, gewaltsam oder mit Minderjährigen vollzogen wird.2) Als einfacher Straftatbestand findet die Homosexualität im nachrevolutionären französischen Strafrecht keine Berücksichtigung mehr. Allerdings gilt sie lange als ein Tatbestand, der eine Klage wegen "outrage public à la pudeur" grundsätzlich rechtfertigt. Das Recht definiert sie also als eine sexuelle Variante, die, realisiert sie sich öffentlich und wird angezeigt, immer als Normbruch verfolgt und zwingend mit Strafe belegt werden muss.3) Das Strafrecht zeichnet auf, was lange geübte polizeiliche Praxis und unterdessen gelebte Gewohnheit ist. Die Pariser Polizei macht aus gelebter normwidriger Gewohnheit eine im Prinzip zulässige Variante sexuellen Verhaltens; allerdings wird die Lebenswelt der Gewohnheitstäter eingeengt auf die Privatheit. [19]

Anmerkungen

1) Winfried SCHULZE (1996a, S.319ff.) gibt einen Überblick "Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören" als Ego-Dokumente. Im selben Band (SCHULZE 1996b) belegen Fallstudien von Helga SCHNABEL-SCHÜLE und Wolfgang BEHRINGER die mit der Suche nach Ego-Dokumenten in Kriminalakten verbundene Mühsal. <zurück>

2) Code pénal 25.9./6.10.1791; Projet de Code criminel de correction et de police an XI; Code pénal 22.2.1810. <zurück>

3) Code pénal 1810, Artikel 330; ordonnance royale 28.4.1832; loi 13.5.1863; loi 29.7.1881; loi 11.4.1908. <zurück>

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Zur Autorin

Angela TAEGER ist Oberassistentin am Historischen Seminar der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.

Arbeitsbereiche: Frühe Neuzeit, Neuere Geschichte

Schwerpunkte: Geschichte der Familie, der Sexualität, des Strafrechts

Kontakt:

Dr. Angela Taeger

Historisches Seminar
Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg

E-Mail: angela.taeger@uni-oldenburg.de

Zitation

Taeger, Angela (2002). Aktenanalyse in der kriminologisch-geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Strafrecht. Polizeiliche Aufzeichnungen über männliche Homosexuelle im Paris des 18. Jahrhunderts [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(1), Art. 19, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0201190.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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