Volume 3, No. 1, Art. 21 – Januar 2002

Der große Inspirator – Ansichten aus der Werkstatt des Historikers Marc Bloch

Volker Barth

Review Essay:

Marc Bloch (2000). Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft (Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Schöttler). Frankfurt, New York: Campus, 361 Seiten, EUR 39.88 / sFr 73.-, ISBN 3-593-36279-1

Zusammenfassung: Der von Peter SCHÖTTLER herausgegebene Band Marc Bloch. Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft vereinigt 31 Schlüsseltexte des französischen Mediävisten und Mitbegründers der Annales-Schule Marc BLOCH. Das ansehnlich gestaltete und hervorragend übersetzte Buch ist somit eine ideale Einführung in die wissenschaftliche Arbeit BLOCHs. Der Leser erhält hier einen interessanten Einblick in die brillanten Forschungen BLOCHs zur Mentalitätsgeschichte, zur vergleichenden Geschichte sowie zur historischen Anthropologie.

Keywords: Bloch, Annales, Aufsatzsammlung, historische Methodologie

Inhaltsverzeichnis

1. Biographische Notizen

2. Geschichte rückwärts

3. Totale Geschichte und historischer Vergleich

4. Mentalitäten, Menschen und der Mensch Marc BLOCH

5. Fazit

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Biographische Notizen

Das Interesse an Leben und Werk des französischen Mediävisten Marc BLOCH ist auch knapp 60 Jahre nach dessen Tod ungebrochen. Gerade in der letzten Zeit häufen sich die Arbeiten über den am 6. Juli 1886 in Lyon geborenen Franzosen jüdischen Glaubens (MULLER 1994; Marc Bloch aujourd'hui 1990). Der unlängst im Campus Verlag erschienene Band Marc BLOCH: Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft bestätigt diesen Trend. Der Leser findet hier 30 Schlüsseltexte BLOCHs, die bereits in den 1920er und 30er Jahren in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht, und hier erstmals für eine deutschsprachige Ausgabe vereinigt wurden. Die französische Originalausgabe des hier zu besprechenden Bandes erschien bereits 1995 bei Armand Colin unter dem Titel Histoire et Historiens. [1]

Die Idee, des aus fünf Kapiteln bestehenden Buches, stammt dabei interessanterweise von BLOCH selbst. Dieser hatte in einem wahrscheinlich 1932 verfassten Manuskript ein Konzept für eine Aufsatzsammlung entwickelt, die den Titel Historiens à l'atelier (Historiker in der Werkstatt) tragen sollte, jedoch nie erschienen ist. Dieses bis dahin unveröffentlichte Manuskript bildet den 31. und letzten Text des vorliegenden Bandes. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen ist das Buch von Peter SCHÖTTLER, einem ausgesprochenem Spezialisten dieses Gründervaters der modernen französischen Geschichtsschreibung. SCHÖTTLER, der nicht nur Directeur de recherche am französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), sondern auch Projektleiter am Berliner Centre Marc BLOCH ist, hatte bereits 1999 mit Marc BLOCH – Historiker und Widerstandskämpfer einen Sammelband zur Person Marc BLOCHs herausgegeben. [2]

Das anhaltende Interesse an Marc BLOCH ist nicht allein auf dessen bahnbrechende wissenschaftliche Arbeit zurückzuführen. Wie die relativ zahlreichen Biographien, die ihm im Laufe der Zeit gewidmet wurden, bezeugen, geht die Faszination des Mannes mit Nickelbrille und Schnurrbart zu einem großen Teil von dessen Lebensweg selbst aus, der sich mit Ausnahme der beiden Weltkriege im wissenschaftlichen Milieu der dritten französischen Republik abspielt. Als Sohn von Gustave BLOCH, Lehrstuhlinhaber für antike Geschichte an der Universität Lyon, wird BLOCH in die Welt der Historiographie geradezu hineingeboren. Trotz der zahlreichen bissigen Kritiken, die BLOCH im Laufe seines Lebens in Bezug auf das verknöcherte und elitäre französische Bildungssystem schreiben sollte, hat BLOCH nie versucht, dieser Welt den Rücken zuzukehren. Er geht bereits in jungen Jahren nach Paris, und beginnt seine wissenschaftliche Karriere am Lycée Louis-le Grand, im 5. Arrondissement der französischen Hauptstadt. Diese noch heute zu den renommiertesten Gymnasien Frankreichs zählende Schule verhilft ihm 1904 zum Eintritt in den Tempel der Geisteswissenschaften der Grande Nation: der École Normale Supérieure. Ausgestattet mit einem Stipendium der Fondation Thiers, verbringt der angehende Historiker ein Semester in Berlin und auch eines in Leipzig, bevor der Erste Weltkrieg seiner gerade beginnenden wissenschaftlichen Karriere ein abruptes Ende setzt. BLOCH engagiert sich bereits in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 in der französischen Armee, die er erst 1918 mehrfach ausgezeichnet wieder verlässt. [3]

Unmittelbar nach dem Krieg findet BLOCH einen Posten in der Heimatstadt seiner Familie Straßburg, und heiratet seine Frau Simone, mit der er sechs Kinder haben wird. Marc BLOCH findet in der elsässischen Hauptstadt nicht nur seine geliebte universitäre Welt wieder, sondern macht auch in der Person Lucien FEBVREs die entscheidende berufliche Begegnung seines Lebens. Die beiden schließen schnell Freundschaft, und beginnen bereits in den frühen 1920er Jahren über die Gründung einer eigenen Fachzeitschrift nachzudenken. Diese Zeitschrift erscheint hingegen erst 1929 unter dem Titel Annales d'histoire économique et sociale. Neben den Herausgebern FEBVRE und BLOCH fällt besonders ein junger Soziologe unter den Mitarbeitern auf, der 15 Jahre später, ebenso wie BLOCH, von den Nazis ermordet werden wird: Maurice HALBWACHS. Über die daraus entstehende Schule der Annales ist viel geschrieben worden. Unlängst hat sie Ulrich RAULFF (1995, S.17) als "einzige[n] Paradigmenwechsel der Historiographie des 20. Jahrhunderts" beschrieben, einer Aussage, der hier nichts mehr hinzugefügt werden soll. [4]

BLOCH geht 1936 erneut nach Paris, diesmal als Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftsgeschichte an der Sorbonne. Diese Entscheidung war keine rein wissenschaftliche, da BLOCH keinen Hehl daraus macht, dass sein wahres Karriereziel in einem Lehrstuhl am Collège de France besteht, den sein Freund FEBVRE wenige Monate zuvor im dritten Anlauf erhalten hatte. BLOCH wird dieses Ziel jedoch nie erreichen. [5]

Das Überraschungsmoment in BLOCHs Biographie ereignet sich 1943 während der deutschen Besetzung Frankreichs. Dem Juden Marc BLOCH wird unter dem Regime von Vichy das Recht entzogen, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Wegen seiner außergewöhnlichen Verdienste auf wissenschaftlicher Ebene wird ihm jedoch zugestanden, als freier Mitarbeiter weiterhin Mitglied der Universität Straßburg zu bleiben, die inzwischen nach Clermont-Ferrand exiliert worden war. Wenig später wechselt BLOCH dann an die Universität von Montpellier, wo sich seine Frau aus gesundheitlichen Gründen einer Behandlung unterzieht. Der dortige Dekan macht aus seiner antisemitischen Haltung jedoch keinen Hehl, und so gerät BLOCH in Kontakt mit der lokalen Resistance, für die er sich zu engagieren beginnt. [6]

Ab 1943 verwendet BLOCH seine gesamte Zeit für die Arbeit im französischen Widerstand. Er schließt sich der Gruppe der Franc-Tireurs in Lyon an, und arbeitet an einem Befreiungsplan für die zehn umliegenden Departements mit. Am 8. März 1944 wird BLOCH von der Gestapo verhaftet und über mehrere Wochen hinweg schwer gefoltert. Am 16. Juni desselben Jahres wird er zusammen mit mehreren anderen Häftlingen in einen Lastwagen verladen. Dieser bringt die Gefangenen zu einem Feld in der Nähe von St. Didier-de-Formans, wo Marc BLOCH als erster seiner Gruppe erschossen wird. [7]

2. Geschichte rückwärts

Bereits der Titel des vorliegenden Bandes, der ja auf BLOCH selbst zurückgeht, bringt das Selbstverständnis dieses Ausnahmewissenschaftlers klar zum Ausdruck. Für Marc BLOCH war Geschichte in erster Linie ein Handwerk. Sein ständiges Insistieren auf die Quellenkritik, das heute ein wenig pedantisch daherkommt, macht dies sehr deutlich. Für ihn war eine solide Quellenanalyse die selbstverständliche Voraussetzung jeder historischen Arbeit. So war er sich auch überhaupt nicht zu schade, der Frage nach der richtigen Zitierweise mittelalterlicher Urkunden einen eigenen Text zu widmen (Zeit ist kostbar, S.96-98). Für ihn, dessen Werk zum Großteil aus den über 1000 Buchkritiken besteht, die er verfasste, handelte es sich zweifellos um ein wissenschaftliches Problem ersten Ranges. [8]

Trotz allem ist sich BLOCH der Grenzen des Handwerks in der Geschichtsschreibung sehr bewusst. Obwohl er immer wieder auf seiner geliebten Quellenkritik beharrt, verschleiert er jedoch keinesfalls, dass es für einen guten Historiker mehr braucht, als eine solide handwerkliche Grundlage. Genauer gesagt ein "Gespür für menschliche Lebenswelten, wie es die historische Bildung und die fortwährende Beschäftigung mit den Quellen zwar – Gott sei dank! – in hohem Maße schärft, aber allein niemals vermitteln kann" (Die "Große Angst" als kollektiver Irrtum und Symptom gesellschaftlicher Verhältnisse, S.259). [9]

BLOCHs Denken unterscheidet sich daher grundlegend vom Historizismus deutscher Prägung, der der Überzeugung war, mit Hilfe einer genauen Quellenanalyse eine vergangene historische Realität ("so wie es denn gewesen sei") rekonstruieren zu können. Er geht vielmehr von der Grundannahme aus, dass Geschichte immer nur rückwärts gelesen werden könne, oder mit anderen Worten, dass jedes historische Phänomen nur aus der Gegenwart des Historikers beurteilt werden kann, und nicht aus einer anderen, früheren Zeit (BURKE 1990, S.27). Die Geschichte als "beschreibende Methode" ("Historische Methodologie", S.11) erfindet somit ihren Gegenstand aus der Ich-Perspektive des Historikers immer wieder neu. Der zu beschreibende Sachverhalt wird dabei durch den Historiker erst eigentlich erschaffen. BLOCH, der "sprachliche Grundkenntnisse" als Voraussetzung für jedes historische Arbeiten ansieht, legt daher sehr viel wert auf seinen sprachlichen Ausdruck, der dann auch ein Gutteil seines wissenschaftlichen Renommees ausmachte, und in der hervorragenden Übersetzung des vorliegenden Bandes gut zum Ausdruck kommt. So sieht auch SCHÖTTLER einen Verdienst BLOCHs darin, "die teils erfinderischen, teils aber auch banalen Arbeitsschritte der Geschichtswissenschaft durch seine Sprache zum Leben erweckt" zu haben (Späne aus der Werkstatt eines Historikers. Nachwort von Peter SCHÖTTLER, S. 355). [10]

Da BLOCH sich des Unterschiedes zwischen Realität der Historie und Realität des Historikers sehr bewusst ist, und dies ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen in der Zwischenkriegszeit, wird er nicht müde davor zu warnen, die Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtswissenschaft zu überschätzen. Denn obwohl oder gerade weil BLOCH Geschichte ausdrücklich aus der Gegenwartsperspektive betreibt, ist er sich der Problematik dieses "unfreiwilligen Methodenzwangs" im Klaren. So beschreibt er das Gefühl für das Exotische, also den fundamentalen Unterschied zwischen eigener Gegenwart und historischer Vergangenheit, als eine "unverzichtbare Voraussetzung für jede vernünftige Auffassung von Vergangenheit" (Für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften, S.126). BLOCH warnt ständig davor, beim Übertragen von geschichtlichen Erkenntnissen von der Vergangenheit auf die Gegenwart das "nahezu" nicht zu vergessen (Historische Kultur und wirtschaftliches Handeln, S.41). Einer irgendwie gearteten Prognosefähigkeit des Historikers für die Zukunft spricht er völlig den Rang ab. So ist für ihn die wichtigste Lehre aus einer Beschäftigung mit der Vergangenheit die, dass die Zukunft völlig anders werde (Historische Kultur und wirtschaftliches Handeln, S.49). Gerade weil BLOCH keine Alternative dazu sieht, Geschichte rückwärts zu betreiben, und daher von einer sich ständig verändernden Gegenwart Erklärungsmuster für menschliches Handeln in der Vergangenheit zu suchen, ist Geschichte für ihn eine "Wissenschaft der Bewegung" (Henri PIRENNE als Historiker Belgiens, S.314), eine Wissenschaft, die sich im ständigen Werden befindet (Konzept für eine Aufsatzsammlung, S.318). Die Aufgabe des Historikers kann demzufolge nicht darin liegen, eine endgültige Erklärung für bestimmte Phänomene zu finden, sondern nur darin, seinen Teil zu dem Prozess des ständigen Werdens beizutragen. Das Lehrreiche an der Geschichtswissenschaft sind für BLOCH nicht ihre Ergebnisse, sondern der wissenschaftliche Prozess selbst, der diese Ergebnisse hervorbringt. Er plädiert für eine "experimentelle" Historiographie, die in der Lage ist, sich immer wieder selbst in Frage zu stellen (RAULFF 1995, S.26). [11]

Als Leser dieses Bandes fragt man sich warum ein interessanter Aspekt der BLOCHschen Arbeit in der Forschung bis heute völlig vernachlässigt wurde, nämlich die Beeinflussung BLOCHs durch das Medium Film. BLOCH selbst gibt darauf einige Hinweise: Er spricht des Öfteren davon, dass der Historiker den Film der Vergangenheit rückwärts laufen lassen müsste, um den Gegenstand seines Interesses analysieren zu können (Projekt für einen Lehrstuhl für vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften, S.166). Zudem kommt dies auch in der BLOCHschen Sprachstruktur selbst zum Ausdruck. So in seinem Aufsatz Die "Große Angst" als kollektiver Irrtum und Symptom gesellschaftlicher Verhältnisse (S.257-262), dessen Anfang sich wie das Drehbuch eines Spielfilms liest. [12]

3. Totale Geschichte und historischer Vergleich

Marc BLOCH war Wissenschaftler aus Überzeugung. Und obwohl er in vielem seiner Zeit weit voraus war, hielt er doch an einem sehr strengen wissenschaftlichen Ideal fest, so wie es sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts gebildet hatte. BLOCH, der als Mensch nicht gezögert hatte, seine Überzeugungen mit seinem Leben zu verteidigen, lehnte jede Form von engagierter Geschichtsschreibung, also einer Geschichtsschreibung, die politische, wirtschaftliche oder soziale Interessen vertritt, rundheraus ab. Er ist der festen Überzeugung, dass die Geschichtsschreibung keine Werturteile abgeben dürfe (Wozu Geschichtswissenschaft, S.53). BLOCH behauptet dabei jedoch nicht, dass dies ohne weiteres möglich sei, und war sich wohl bewusst, dass ein Werturteil nicht nur in einer wertenden Aussage besteht, sondern dass bereits die Wahl eines Forschungsgegenstandes ein Werturteil in sich selbst darstellt. Die Auswahl eines Themas aus einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten, ist für ihn bereits zwangsläufig wertend und daher wissenschaftlich problematisch. [13]

BLOCH sieht als einzige Möglichkeit diesem methodologischen Dilemma aus dem Weg zu gehen, eine Form der Geschichtsschreibung, die er als "totale Geschichte" bezeichnet. Die Suche nach den Möglichkeiten bzw. den Existenzbedingungen dieser totalen Geschichte, prägen seine historische Arbeit. "Tout la démarche de BLOCH comporte ce souci du global [BLOCHs gesamter Ansatz enthält ein globales Element]" (GEREMEK 1986, S.1100). Sein großes historiographisches Ziel ist eine Wissenschaft der Geschichte, die versucht die Vergangenheit als historische Einheit zu beschreiben. So misstraut BLOCH jeder Form von bewusster Grenzziehung zwischen historischen Phänomenen, die er immer als künstlich im Sinne eines zwangsläufig ungenügenden wissenschaftlichen Hilfsmittels empfand. BLOCH versteht solche Grenzen immer auch als Grenzen des Denkens, denen er als Wissenschaftsidealist entgegenzuarbeiten versucht. Für ihn ist jede Art von Grenze zwangsläufig zu eng gezogen. [14]

Deswegen besteht für BLOCH keinerlei Zweifel an der "fundamentalen Einheit von Epochen und Entwicklungen" (Internationale Historikerkongresse, S.68), und er sieht ein Idealziel der Geschichtswissenschaft darin, diese historische Ganzheit in ihren Texten zu repräsentieren. Er, der die Geschichtswissenschaft experimentell will, lehnt jede "dogmatische Abschottung" (Kollektives Gedächtnis, Tradition und Brauchtum, S.251) ab, und plädiert dafür "überholte topographische Einteilungen" aufzubrechen (Für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften, S.153). Schließlich ist es "gänzlich unbestreitbar, dass die großen zivilisatorischen Phänomene, die die Menschheitsgeschichte ausmachen, nicht innerhalb der heute bestehenden politischen Grenzen erforscht werden können" (ein Studienzentrum im Aufbau, S.76). In seinen Arbeiten versucht er, diese Grenzen dann auch bewusst zu überschreiten. Dies spiegelt sich bereits in seinem generellen Forschungsschwerpunkt, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, wieder. So wie er diese beiden Begriffe versteht, arbeiteten sie schon in ihrer theoretischen Konzeption künstlichen Grenzziehungen entgegen. Eines seiner wichtigsten Werke ist dann auch die 1939 und 1940 erschienene zweibändige Studie zur Feudalgesellschaft, die noch heute den Charakter eines Standardwerks innehat (BLOCH 1994). Genauso kategorisch wie in seiner Ablehnung räumlicher Grenzen ist BLOCH in seinem Unbehagen gegenüber zeitlichen Grenzen. Er versteht Historiographie gerade nicht als den Versuch die Menschheitsgeschichte in verschiedene Epochen aufzuspalten. Sich in seiner historischen Arbeit auf eine Epoche zu beschränken, scheint BLOCH "wenn man darüber nachdenkt, in einer Wissenschaft der Entwicklung auch eine völlig künstliche Einschränkung" zu sein (George UNWIN: Leben und Werk, S.294). [15]

Deswegen blickt Marc BLOCH, weit davon entfernt zu behaupten, die von ihm angestrebte totale Geschichte leisten zu können, auf die andere Seite bestehender Grenzen, um so das Bild einer größeren Einheit zeichnen zu können. Der Mann, der zum Begründer vergleichender Geschichtsschreibung wurde, wie sie bis heute und in ansteigender Zahl betrieben wird, sieht im Vergleich eine ausgezeichnete Möglichkeit die Wirkungsmechanismen hinter den historischen Phänomen zu untersuchen. Für BLOCH ist der Vergleich der "Königsweg einer problemorientierten, ihre Gegenstände bewusst konstruierenden Geschichtswissenschaft" (RAPHAEL 1994, S.511) [16]

BLOCH will dabei die vergleichende Geschichte weniger als eigenständige Disziplin, sondern vielmehr als Denkmethode (GEREMEK 1986, S.1103). Die vergleichende Methode, wie er es dann auch selbst nennt, bemüht sich also, "nach Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei analogen Reihen aus unterschiedlichen sozialen Bereichen zu suchen, um sie zu erklären" (Vergleich, S.116). Diese vergleichende Methode, von der laut BLOCH "vielleicht sogar die Zukunft unserer Wissenschaft" abhängt (Für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften, S.123), ist für ihn jedoch weit mehr als ein einfacher Vergleich. Zum einen analysiert er natürlich die zu vergleichenden Objekte getrennt voneinander, um sie anschließend im Hinblick auf bestimmte Gesichtspunkte, also auf ein tertium comperationis, miteinander zu vergleichen. Da es BLOCH jedoch in erster Linie darum geht, bestehende Grenzen jeder Art zu überwinden, um zu einer generellen geschichtlichen Einheit vorzudringen, gehen seine Überlegungen zur vergleichenden Methode weit darüber hinaus. Er ist bestrebt, die synthetische Trennung in zwei separierte Untersuchungsgegenstände dadurch zu überwinden, indem er den Phänomenen der "wechselseitigen Einflüsse" besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt (Für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften, S.131). Für ihn gilt es dabei vor allem die "Kanäle" (a.a.O, S.133) dieser gegenseitigen Beeinflussung zu erkunden. Indem er mit Hilfe des Vergleichs einen Blick auf die andere Seite einer zwangsläufig künstlichen Grenze wirft, überwindet er diese Grenze, und zeigt ihre Durchlässigkeit auf. Damit wird der Gründervater der vergleichenden Methode auch zum Initiator einer Forschungsrichtung, die sich erst in den letzten Jahren ihren Weg geebnet hat: der Transferforschung. [17]

So überrascht es nicht, dass BLOCH ein Großteil seines historischen Interesses außerfranzösischer Geschichtsschreibung widmet. Er selbst geht zwei Semester nach Deutschland (Leipzig, Berlin), ist ein profunder Kenner englischer Historiographie, nimmt am Aufbau des Instituts für vergleichende Kulturforschung in Oslo regen Anteil und versucht generell der nicht französischen Historiographie in seiner Annales-Zeitung ein Forum zu geben. Insofern ist es auch kein Zufall, dass die École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), der institutionelle Langzeitnachfolger der Annales-Schule, ein angenehm offenes internationales Institut ist. [18]

4. Mentalitäten, Menschen und der Mensch Marc BLOCH

Ein weiterer wichtiger Aspekt in BLOCHs Arbeiten, und auch dieser kommt im vorliegenden Band gut zum Ausdruck, liegt in BLOCHs ständigem "interest in psychology" (BURKE 1990, S.23). Dieses Interesse hat jedoch nichts FREUDsches, und die Arbeiten des Wieners kommen im Werk BLOCHs nicht vor. Es entsteht vielmehr aus der grundsätzlicheren Fragestellung, inwieweit menschliches Handeln von der Außenwelt beeinflusst ist, bzw. welchen Anteil das innere Befinden des Menschen für sein Handeln hat. "In der Regel bewegen wir uns nahezu blind und taub in einer Außenwelt, die wir nur durch einen Nebel wahrnehmen" (Augenzeugenberichte und Quellenkritik, S.25) meint BLOCH und ist deswegen eher skeptisch, was Erklärungen anbelangt, die Handeln allein als eine Reaktion auf äußere Einflüsse auslegen. Er versucht vielmehr den "großen kollektiven Stimmungen" (Falschmeldungen im Krieg – Überlegungen eines Historikers, S.191) auf die Spur zu kommen, oder anders gesagt: er betreibt Mentalitätsgeschichte und zwar als Erster mit einer sicheren methodologischen Grundlage. [19]

So ist einer seiner wichtigsten Texte "Falschmeldungen im Krieg – Überlegungen eines Historikers" (S.187-211) betitelt, und bildet das Auftaktkapitel des vierten und spannendsten Teils dieses Buches, der den "Kollektiven Vorstellungen" gewidmet ist. BLOCH, der Krieg als ein "riesiges sozialpsychologisches Instrument" (S.211) ansieht, schildert hier ausgehend von einer Buchbesprechung ein persönliches Erlebnis, das er im September 1917 als Frontsoldat hatte. Er verfolgt die Wirkungskreise einer sich schnell ausbreitenden Falschmeldung, die aus einer Verwechslung der französischen Stadt Braisne mit dem deutschen Brême (Bremen) entstanden ist. Dabei gelingt es ihm aufzuzeigen, dass eine Falschmeldung "immer auf der Grundlage kollektiver Vorstellungen, die es schon vor ihrer Entstehung gab" entsteht. (S.207) Diese kollektiven Vorstellungen oder eben Mentalitäten sind es, die BLOCH interessieren, und denen er auf den Grund gehen will. Um sie zu untersuchen, ist er Sozialhistoriker geworden. [20]

Dies darf allerdings keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass für BLOCH der eigentliche Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaft der Mensch selbst ist. Ausgehend von der "Neigung des menschlichen Geistes, unter analogen Umständen auf etwa gleiche Weise zu reagieren" (Vergleich, S.117) zielt er auf das Individuum, das sich hinter der Gesellschaft verbirgt. Die Gesellschaft ist für BLOCH letzten Endes "nur ein Ensemble von Individuen" ("Historische Methodologie", S.13). Aus dieser Überzeugung heraus hat Marc BLOCH dann auch sein vielleicht wichtigstes Buch geschrieben. Gemeint ist das bereits 1924 erschienene Les rois thaumaturges. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale, particulièrement en France et en Angleterre, das als Gründerwerk der historischen Anthropologie gelten kann (RAULFF 1995, S.458). Wiederum ausdrücklich vergleichend konzipiert, geht es, wie der Untertitel bereits andeutet, nicht um das Konkrete, um die "harten Fakten", sondern vielmehr um das Übernatürliche, das Spirituelle, also um Dinge, die dazu geeignet sind, die "grundlegende Einheit des menschlichen Geistes" deutlich zu machen (Für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften, S.126). [21]

Aus den Arbeiten des "Karrieremenschen" (DUMOULIN 2000, S.292) Marc BLOCH, der sein eigentliches Karriereziel nicht erreichte, meint man oft so etwas wie eine innere Unzufriedenheit oder besser gesagt, einen inneren Zwiespalt, herauslesen zu können. Darauf gibt bereits BLOCHs Biographie einige Hinweise. Er heiratet 1919 unmittelbar nach seiner vierjährigen Kriegserfahrung, und seine Frau Simone bringt sechs Kinder zur Welt. Obwohl der Wert, den BLOCH einem stabilen familiären Hintergrund zuspricht außer Frage steht, gibt er sein Leben jedoch nicht für seine Familie, sondern für seine Überzeugungen. Diese Überzeugungen scheinen sich ebenfalls in einigen Punkten mit dem zu widersprechen, was als die BLOCHsche Auffassung von Geschichtsschreibung bezeichnet werden kann. Er ist bereit, für den Nationalstaat zu sterben, und bekämpft ihn gleichzeitig in seiner wissenschaftlichen Arbeit; er schreibt Gesellschaftsgeschichte, und doch gilt sein wahres Interesse dem Mensch als Individuum. Das alles gibt Anlass, sich zu wundern, wenn man Sätze wie den folgenden liest: "Die psychologische Konstanz des Menschen ist, wenn man es recht bedenkt, vielleicht das eigentümlichste Postulat unserer Wissenschaften." (Ein soziales Symptom: der Selbstmord, S.253) [22]

Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass BLOCH sich bewusst war, dass seine eigentlichen Forschungsziele nicht erreichbar sind, er jedoch trotzdem oder gerade deswegen versucht, sie zu realisieren. Gerade dies war vielleicht das Innovativste an BLOCH. Seine Vielfältigkeit und sein Ideenreichtum, die in diesem Sammelband gut zum Ausdruck kommen, waren aber, und dies sollte nicht vergessen werden, mit unglaublicher Fachkenntnis gebündelt. BLOCH schrieb über alle Epochen- und Territorialgrenzen hinweg, und gerade das ständige Versuchen über diese Grenzen hinaus zu gehen, ist das eigentliche Charakteristikum seiner wissenschaftlichen Arbeit. [23]

5. Fazit

Peter SCHÖTTLER hat eine gute herausgeberische Arbeit abgeleistet. Der Band ist ansehnlich gestaltet, wie schon erwähnt hervorragend übersetzt, und orientiert sich vor allem an einem Konzept, das von Marc BLOCH selbst stammt, was natürlich ein editorischer Glücksfall ist. Es gibt nur wenige offene Fragen, die insbesondere zwei Aufsätze betreffen, deren Weglassen in SCHÖTTLERs "editorischer Notiz" nicht ausreichend begründet wird. Das Hinzufügen zweier anderer Artikel überzeugt hingegen beim Lesen des gesamten Textes. Vor allem hat SCHÖTTLER das Verdienst, das Originalmanuskript BLOCHs für diese Ausatzsammlung als 31. Text dieses Bandes mitveröffentlicht zu haben, und zwar, wie er in einer Fußnote nicht ohne Stolz anmerkt, als Erster. [24]

Ein möglicher Einwand liegt in SCHÖTTLERs Nachwort, das, obwohl interessant geschrieben, sich nicht ganz sicher ist, welche Leserschicht es ansprechen will. In einem Band, der sich selbst als Einführung in das Werk BLOCHs verstanden wissen will, hätte man sich etwas mehr zu dessen Biographie, sowie zur Stellung der Annales in der französischen und internationalen Historiographie gewünscht. Den Spezialisten BLOCHs und der Annales-Schule waren die allesamt schon an anderen Orten veröffentlichten Texte, von denen viele ohne Zweifel zu den Schlüsseltexten moderner Geschichtsschreibung gehören, immerhin schon länger bekannt. Nichtsdestotrotz ist SCHÖTTLERs Buch ein hervorragender Einstieg in die überreiche Ideenwelt Marc BLOCHs, dessen Lektüre ein Muss für jeden Historiker bleibt. Schade nur, dass der Band – wie immer – viel zu teuer ist. [25]

Literatur

Bloch, Etienne (Hrsg.) (1995). Histoire et historiens. Paris: Armand Colin.

Bloch, Marc (1994). La société féodale. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale, particulièrement en France et en Angleterre (2 Bde). Paris: Albin Michel.

Burke, Peter (1990). The French Historical Revolution. The Annales School, 1929-89. Cambridge, Oxford: Polity Press.

Dumoulin, Olivier (2000). Marc Bloch. Paris: Presses de Sciences Po.

Geremek, Bronislaw (1986). Marc Bloch. Historien et Résistant. Annales ESC, 41, 1091-1105.

Marc Bloch aujourd'hui. Histoire comparée & Sciences sociales. Textes réunis et présentés par Hartmut Atsma et André Burguière (1990). Paris: Éditions de l'EHESS.

Muller, Bertrand (1994). Marc Bloch, Historien, Citoyen et Resistant. In Les Facs sous Vichy. Textes rassemblés et présentés par André Gueslin. Actes du colloque des Universités de Clermont-Ferrand et de Strasbourg – Novembre 1993. Etudiants, Universitaires et Universités de France pendant la Second Guerre Mondiale (S.39-50). Clermont-Ferrand: Publications de l'Institut d'Etudes du Massif Central.

Raphael, Lutz (1994). Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980. Stuttgart: Klett-Cotta.

Raulff, Ulrich (1995). Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch. Frankfurt/M.: Fischer.

Schöttler, Peter (Hrsg.) (1999). Marc Bloch – Historiker und Widerstandskämpfer. Frankfurt: Campus.

Zum Autor

Volker BARTH ist Doktorant an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris. Seine Themenschwerpunkte sind u.a. französiche Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, Repräsentationsformen des Fremden und Konsumforschung. Er gehört der DFG-Forschergruppe 390 "Kulturelle Inszenierung von Fremdheit im 19. Jahrhundert" an und ist Herausgeber des Bulletin 2001 des Bureau International des Expositions (B.I.E.). Von Volker BARTH findet sich in FQS auch eine Rezension zu Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt.

Kontakt:

Volker Barth

4 Impasse du Talus
75018 Paris, Frankreich

E-Mail: barth@sensomatic.com

Zitation

Barth, Volker (2002). Der große Inspirator – Ansichten aus der Werkstatt des Historikers Marc Bloch. Review Essay: Marc Bloch (2000). Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Schöttler [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(1), Art. 21, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0201219.

Revised 2/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

Creative Common License

Creative Commons Attribution 4.0 International License