Volume 3, No. 1, Art. 26 – Januar 2002

Rezension:

Martin Welker

Michael Häder & Sabine Häder (Hrsg.) (2000). Die Delphi-Technik in den Sozialwissenschaften. Methodische Forschungen und innovative Anwendungen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 236 Seiten, ISBN 3-531-13523-6, EUR 27.-

Zusammenfassung: Das Buch Die Delphi-Technik in den Sozialwissenschaften von HÄDER und HÄDER ist eine lesenswerte Einführung in die methodische Breite und Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten dieser immer häufiger eingesetzten Methode. Im vorliegenden Band diskutiert die internationale Autorenschaft methodische Innovationen, insbesondere den Einsatz des Internet zur Rekrutierung von Experten.

Keywords: Delphi, Prognose, Zukunft, Internet

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Methodische und inhaltliche Breite

3. Methodische Probleme

4. Online-Delphi

5. Zusammenfassung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Nicht nur in Deutschland, sondern auch international, erfreut sich der Delphi-Ansatz, eine Rückkopplungsmethode, um Expertenmeinungen für Problemlösungen und -steuerung nutzbar zu machen, seit den 90er Jahren wachsender Beliebtheit. In Deutschland werden seit Anfang der 90er Jahre auf nationaler Ebene Vorausschau-Studien mit breiter Themenorientierung eingesetzt. Das mag damit zusammenhängen, dass technische und gesellschaftliche Entwicklungen offenbar immer komplexer werden und somit politisch-weltanschauliche Beurteilungen nicht mehr ausreichen. Verschärfter Wettbewerb auf den Weltmärkten, Globalisierung von Wirtschaftsunternehmen und rasanter technischer Fortschritt zwingen dazu, nach Orientierungswissen zu suchen (BLIND & CUHLS 2001, S.57). Der Rat von weit verstreuten Spezialisten in den unterschiedlichsten Disziplinen kann mit dieser Methode eingeholt und beispielsweise zu Konsensmeinungen verdichtet werden. Damit erschöpft sich die Delphi-Methode allerdings noch nicht. Die mit ihrer vermehrten Anwendung einhergehende methodische Diversifikation und Ausdifferenzierung hat das Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen in Mannheim (ZUMA) im März 1999 dazu veranlasst, ein internationales Delphi-Symposium zu veranstalten. Das vorliegende Buch fasst die Tagungsbeiträge zusammen. In zwölf Aufsätzen und einem ergänzend-einleitenden Beitrag wird nicht nur die gesamte aktuelle Breite der Delphi-Methode jeweils praktisch vorgeführt, sondern auch methodische Fundierung und Weiterentwicklung betrieben. Dabei werden verschiedentlich innovative Anwendungsfälle und Methodentests verschränkt (HÄDER & HÄDER 2000, S.27). Verschiedene Designs von Delphi-Studien werden ebenso diskutiert, wie die daraus gewonnenen Ergebnisse. [1]

Die internationale Autorenschaft des Bandes kommt überwiegend aus einschlägigen Instituten: Neben den Herausgebern, Michael und Sabine HÄDER, die beide bei ZUMA beschäftigt sind, finden sich Mitarbeiter von Technikfolgenabschätzungsinstituten aus Deutschland und Österreich, Sozialforscher aus der Schweiz sowie Delphi-Projektleiter aus Ungarn und Südafrika. Das Buch gibt im Abspann jeweils einen kurzen Hinweis auf die Autoren. [2]

2. Methodische und inhaltliche Breite

Die derzeitige methodische Breite von Delphi ist beachtlich. Sie reicht vom Einsatz zur Beobachtung und prospektiven Bewertung in großen und international angelegten Mehrthemenbefragungen zur Technikentwicklung über den Einsatz als Entscheidungsinstrument sowie Methode zur Entwicklung von Produkten bis hin zur Anwendung als Sensibilisierungsmethode in jungen demokratischen Staaten wie Südafrika oder Ungarn. Zur Anwendung kommen sowohl standardisierte als auch nicht-standardisierte Befragungsmethoden, quantitative und qualitative Ansätze und off- aber auch online erhobene Einschätzungen. Gerade Computer und Internet eröffnen dem Verfahren neue Möglichkeiten. [3]

Ganz deutlich machen die Autoren, dass es sich bei der Delphi-Methode nicht um ein Orakel handelt, das Ratsuchenden die Zukunft weissagt. Weil im forschungslogischen Prozess niemand die Zukunft vorhersehen kann, muss es vielmehr den Forschern darum gehen, mehr oder minder valide Prognosen für eine prinzipiell offene Zukunft zu erstellen bzw. die Methode als Instrument zur Meinungsbildung einzusetzen. Dieser Einsatz verweist allerdings auf das sogenannte Prognose-Dilemma: Wird zu einem Thema ein Konsens für die Zukunft ermittelt, kann dieses Ergebnis das Handeln der Akteure in der Zukunft selbst beeinflussen und zu einer Veränderung im Zeitverlauf führen. [4]

Darüber hinaus wird deutlich, dass der vermeintlich einfachen Delphi-Methode sorgsame Vorüberlegungen vorausgehen sollten, um einen unprofessionellen Gebrauch zu vermeiden. Die Delphi-Methode ist inzwischen in der Forschung zwar fest etabliert, aber keinesfalls völlig ausgearbeitet, wie alle am Band beteiligten Autoren betonen. [5]

Außerdem machen die Beiträge klar, dass gerade bei der Delphi-Methode das Erkenntnisinteresse entscheidend für die Ausprägung der Methode sein kann: Aus welchem Grund und mit welcher Zielrichtung soll die Methode eingesetzt werden? Leitfragen sind hier, ob es gilt

Die inhaltliche Breite für den Einsatz von Delphi, die in dem vorliegenden Band vorgeführt wird, ist ebenfalls beeindruckend: Sie umfasst die Anwendung der Methode in Technologie (Werner H. GRIES; Hariolf GRUPP, Knut BLIND und Kerstin CUHLS; Georg AICHHOLZER; Attila HAVAS), Bildung (Matthias DRILLING) und Medizin (Anke KIRSCH), den Einsatz als Instrument zur Stadtforschung und -planung (Bernhard STRATMANN) bis hin zum betriebswirtschaftlichen Forschungsinstrument zur Feststellung der Einflussfaktoren bei Geschäftsbeziehungen (Kurt KINAST). Anwendungsgebiete und -methode müssen dabei nicht zwangsläufig in Verbindung miteinander stehen. [7]

3. Methodische Probleme

Die Delphi-Methode ist zwar relativ transparent, valide Ergebnisse liefert sie aber offenbar nur unter bestimmten Bedingungen. Diese sind nach HÄDER und HÄDER (2000, S.15, 21) in bestimmten Grenzen bestimmt, aber innerhalb dieser umstritten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen insbesondere bei

Die Festlegung auf bestimmte Werte erfolgt nicht nur nach theoretischen Überlegungen (eine Panelgröße von drei Experten gilt als zu gering), sondern auch nach praktischen Erwägungen. Dem Punkt 1 der Liste gilt dabei besondere Aufmerksamkeit: Wenn bereits zu Beginn der Studie die Panelteilnehmer knapp oder falsch ausgewählt werden, verschärft sich das Problem mit jeder zusätzlichen Runde. Das machen auch die Einzelbeiträge von Kurt KINAST und Michael FLORIAN in drastischer Weise deutlich. Matthias DRILLING musste für seinen Beitrag zum Einsatz von nicht-standardisierten Befragungsmethoden in der zweiten Runde noch nachträglich Experten anfragen (2000, S.172). Ein starkes Absinken der Teilnehmerzahl von der ersten zur zweiten Runde wird in der Delphi-Literatur öfter vermerkt (ebd. sowie HÄDER & HÄDER 2000, S.19). [9]

Um u.a. diesen Effekt des Ausstiegs aus den Befragungsrunden besser steuern zu können, sollten nach Michael HÄDER (2000, S.179) die kognitiven Prozesse, die bei der Beantwortung der Delphi-Fragen ablaufen, verstanden werden. Diese sind noch weitgehend unerforscht. In seinem Beitrag legt Michael HÄDER einige Ergebnisse vor, die mittels eines Testdesigns gewonnen wurden, so etwa dass

Nach HÄDER und HÄDER liegt ein künftiges methodisches Forschungsfeld bei Delphi ferner darin, zu untersuchen, für welche Fragestellungen sich Delphi optimal eignet bzw. welche anderen Methoden zu Delphi in Konkurrenz treten können. So ist das Verhältnis von Gruppendiskussion und Delphi bislang noch kaum erforscht. Alles in allem ist also noch offen, welche Methode bei bestimmten Fragestellungen die besseren Ergebnisse bringt. [11]

4. Online-Delphi

Einen besonderen Block bilden zwei Aufsätze am Ende des Bandes, die sich mit online durchgeführten Delphi-Befragungen beschäftigen. Hier zeigt sich, dass die Probleme der empirischen Online-Forschung (BATINIC, WERNER, GRÄF & BANDILLA 1999; THEOBALD, DREYER & STARSETZKI 2001) auch deutlich bei der Delphi-Methode zutage treten. Oder anders ausgedrückt: Ein Online-Delphi kann einige Probleme (wie die Rekrutierung der Experten oder die Abgabe eines anonymen Urteil) entschärfen, führt aber beim undifferenzierten Einsatz zu neuen Schwierigkeiten. Allerdings generiert ein Online-Delphi beim überlegten Einsatz m.E. zunächst einmal keine besonderen Problematiken, also keine, die über die von "normalen" Online-Befragungen hinausgehen. [12]

Das zeigt der Beitrag von Michael FLORIAN zum Ladenburger Tele-Delphi. Hier wurde ein HTML-Dokument per E-Mail an die Experten distribuiert. Die im Beitrag formulierte Skepsis und das Unbehagen gegenüber der multimedialen HTML-Technik war offenbar berechtigt: Es gab zu viele Unbekannte, die hier nicht kontrolliert wurden. Technische Probleme, die bei der Befragung zusätzlich auftraten, werden von FLORIAN nur in einer kurzen Fußnote angesprochen. Die Darstellung von Unterschieden zwischen HTML- und Papier-Befragung ist gut, aber leider etwas unsystematisch geraten. Ferner werden vom Autor die technischen Nachteile ausführlich diskutiert, nicht aber Vorteile der Online-Methode: Gerade unter Rekrutierungsgesichtspunkten sind hier Kosten- und Zeitvorteile zu erzielen. [13]

Die klinisch therapeutische Expertenbefragung zu Traumapatienten von Anke KIRSCH wurde in zwei Runden kombiniert mittels Telefon und Internet realisiert. Hier wurden Vorteile des Netzes genutzt, um die internationale Rekrutierung von Experten schneller und kostengünstiger zu realisieren als dies offline möglich gewesen wäre. [14]

Etwas verwunderlich erscheint in diesem Beitrag aber die Validierung des Rücklaufs (S.223) mit Hilfe der Logfile-Analyse – mit der sich kein Rücklauf ermitteln lässt. Leider gibt KIRSCH keine Erklärungen für einige Besonderheiten, die sich im Zusammenhang mit der Online-Methode ergaben, so bleibt etwa das Faktum, dass die Nutzung des Internet durch Frauen höher als angenommen ausfällt, unbeantwortet. [15]

Als "schade" ist auch die Tatsache zu bewerten, dass in zwei Beiträgen nur ganz unzulängliche Hinweise auf das Internet als eingesetzte Methode gegeben werden. Attila HAVAS (Ungarisches Delphi-Programm) und Mohammed S. JEENAH (Südafrika) erwähnen jeweils nur in einem Nebensatz, dass das Internet eingesetzt wurde. Wie und mit welchem methodischen Ertrag, bleibt dabei im Dunkeln. [16]

5. Zusammenfassung

Der Band von HÄDER und HÄDER bietet einen guten Einstieg in neuere Entwicklungen der Delphi-Methode. Die Beiträge sind dabei von ganz unterschiedlicher Qualität und Tiefe. Deutsche und englische Aufsätze wurden gemischt, der Aufsatz eines deutschen Autors wurde in Englisch abgedruckt. [17]

Instruktiv ist v.a. der Aufsatz zu den Grundelementen und variablen Teilen von Delphi. Wünschbar wäre hier eventuell noch eine klarere und ausführlichere Formulierung von Forschungslücken und -desideraten auch in Bezug auf die vorliegende Publikation. Die Literaturhinweise am Ende des Beitrags stellen ein gutes Sprungbrett dar und bilden eine kleine Bibliografie zum Thema Delphi. [18]

Das Internet als Medium und Methode hätte in Bezug auf Probleme und Ergebnisse durchaus noch etwas ausführlicher erläutert werden können, vor allem weil einschlägige Sammelbände (BATINIC et al. 1999, THEOBALD et al. 2001) Online-Delphi bisher nicht oder nur am Rande behandelten. Auch BECK, GLOTZ und VOGELSANG (2000) erwähnten in ihrer internationalen Studie zur Zukunft des Internet nur wenig Methodisches zum Einsatz des Internet und den Unterschieden bspw. des Antwortverhaltens der "Offline-" im Vergleich zu den "Online-Experten". [19]

Literatur

Batinic, Bernad; Werner, Andreas; Gräft, Lorenz & Bandilla, Wolfgang (Hrsg.) (1999). Online research: Methoden, Anwendungen und Ergebnisse. Göttingen: Hogrefe.

Beck, Klaus; Glotz, Peter & Vogelsang, Gregor (2000). Die Zukunft des Internet: internationale Delphi-Befragung zur Entwicklung der Online-Kommunikation. Konstanz: UVK.

Blind, Knut & Cuhls, Kerstin (2001). Der Einfluss der Expertise auf das Antwortverhalten in Delphi-Studien: Ein Hypothesentest. ZUMA-Nachrichten, 49, 57-80.

Theobald, Axel; Dreyer, Marcus & Starsetzki, Thomas (Hrsg.) (2001). Online-Marktforschung: theoretische Grundlagen und praktische Erfahrungen. Wiesbaden: Gabler.

Zum Autor

Martin WELKER, 1996-2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Lehreinheit für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Mannheim; Promotion mit einer Arbeit über die "Determinanten der Internet-Nutzung" (Verlag Reinhard Fischer); seit 2000 Projektleiter bei der MFG Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg mbH. In FQS findet sich eine weitere Rezensionen von Martin WELKER zu Die Zukunft des Internet: internationale Delphi-Befragung zur Entwicklung der Online-Kommunikation.

Kontakt:

Dr. Martin Welker

MFG Medienentwicklung Baden-Württemberg
Informationszentrum
Breitscheidstr. 4
D-70174 Stuttgart

E-Mail: welker@mfg.de
URL: http://www.mfg.de

Zitation

Welker, Martin (2002). Rezension zu: Michael Häder & Sabine Häder (Hrsg.) (2000). Die Delphi-Technik in den Sozialwissenschaften. Methodische Forschungen und innovative Anwendungen [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(1), Art. 26, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0201265.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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