Volume 7, No. 2, Art. 35 – März 2006

Rezension:

Nicola Döring

Ingrid Miethe, Claudia Kajatin & Jana Pohl (Hrsg.) (2004). Geschlechterkonstruktionen in Ost und West. Biografische Perspektiven (Reihe: Soziologie: Forschung und Wissenschaft Bd. 8). Münster: Lit Taschenbuch, 352 Seiten, ISBN: 3-8258-7491-5, EUR 25,90

Zusammenfassung: Der Sammelband analysiert Geschlechterkonstruktionen in Ost und West aus biografischen Perspektiven. Im Zentrum stehen narrative Interviews mit Frauen und Männern aus Ost- und Westdeutschland. Anhand von Fallrekonstruktionen und Fallvergleichen wird herausgearbeitet, wie die Individuen die spezifischen gesellschaftlichen Geschlechtsrollen lebensgeschichtlich bearbeiten. Frauenbewegung und Feminismus in Ost und West werden in ihren historischen Differenzen kenntnisreich analysiert. Der Band rekonstruiert das soziale Geschlecht ausgesprochen vielschichtig. Dabei bleiben Männerbiografien und Männerforschung leider marginal. Männerbewegung, Lesben- und Schwulenbewegung sind blinde Flecke. Schwerpunkte setzt das Buch dafür bei geschlechterbezogenen Aspekten von Arbeit und Europäisierung.

Keywords: Gender, Biografie, gesellschaftliche Transformation, Ostdeutschland, Westdeutschland, Feminismus, Frauenbewegung, biografische Methode, narratives Interview, Fallrekonstruktion

Inhaltsverzeichnis

1. Von Ostfrauen und Westmännern

2. Von Geschlechterkonstruktionen in Ost und West

3. Biografischer Zugang zum Geschlecht

4. Stärken und Schwächen des Buches

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Von Ostfrauen und Westmännern

"Als die DDR-Frau sich nach 1990 rasch zur Ostfrau wandelte, glich ihr Bild einer postfeministischen Männerfantasie: In der Freikörperkultur hatte sie den unbefangenen Umgang mit dem eigenen Körper und im reizarmen DDR-Alltag die vollen Genüsse des Sex erlernt. Das 'böse Geld' hatte sie nicht verderben können. Dank unverändert hoher 'Erwerbsneigung' suchte sie den Freund, nicht den Ernährer. Im Glauben an Gleichstellung aufgewachsen, sah sie im Mann nicht den Gegner. Er gewann an ihr eine Partnerin, die gefiel und gab, ohne herauszufordern. [...] Westdeutsche Frauen wunderten sich sehr: Ja, die Schwestern aus dem Osten waren irgendwie emanzipiert, aber ganz und gar nicht feministisch geprägt."

Diese pointierte Darstellung der Ostfrau stammt von dem Journalisten Jens BISKY, Sohn von Lothar BISKY, und war im März 2005 in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Mehr als 15 Jahre nach dem Mauerfall sind Differenzen zwischen ost- und westdeutschen Geschlechtsidentitäten durchaus noch öffentliches Thema. BISKY betont in seinem Beitrag die gut funktionierenden Paarbeziehungen zwischen Ostfrauen und Westmännern und führt dies unter anderem auf das weniger ausgeprägte feministische Selbstverständnis der Ostfrauen bzw. auf die "Machoaugen des Westmannes" zurück. [1]

Dabei zeigt die Bevölkerungsstatistik, dass von 1990 bis 2003 die Zahl der Ostfrau-Westmann-Eheschließungen rückläufig ist, die Zahl der Westfrau-Ostmann-Eheschließungen dafür ansteigt: Auf drei Ehen in der Paarung "Westmann-Ostfrau" kam Anfang der 1990er Jahre nur eine Ehe "Westfrau-Ostmann". Im Jahr 2003 lag das Verhältnis ausgewogen eins zu eins (MDR Umschau, 2004). Der auf Angaben der statistischen Landesämter basierende MDR-Beitrag (2004, o.S.) zitiert den Leipziger Sexualwissenschaftler Kurt STARKE mit der Interpretation, der Ostmann habe nach der Wende zunächst als "schlecht gekleideter und ungepflegter Verlierer ohne Manieren" gegolten und zudem "weder teure Autos noch ein hohes Bankguthaben" zu bieten gehabt und sei deswegen weniger attraktiv als der Westmann erschienen. Mittlerweile habe aber ein Umdenken – vor allem bei den Westfrauen – eingesetzt, die nun die "natürlichen Qualitäten des Ostmannes wie Bodenständigkeit und Ehrlichkeit" zu schätzen wüssten. In DER ZEIT empfiehlt die in Leipzig geborene Autorin Jana HENSEL ("Zonenkinder") ebenfalls die Ostmänner:

"Ostdeutsche Männer könnten die westdeutsche Frau, ergo Deutschland, retten. Nicht nur diskursiv, sondern ganz pragmatisch demografisch sind sie leichter zu handeln als ihre westdeutschen Geschlechtsgenossen. Sie gehen lieber und leichter Beziehungen ein und haben nichts gegen Kinder; Frauen sind für sie keine Wesen vom anderen Stern, denn in der DDR fühlte man sich eher als Partner denn als Gegner und somit nicht bedroht; Sexualität war bekanntlich keine Ware, die man käuflich erwerben konnte, sondern Symbol des Verständnisses von Mann und Frau." (HENSEL, 2004) [2]

Es verwundert nicht, dass in den oben zitierten massenmedialen Darstellungen sowohl Mann-Frau- als auch Ost-West-Differenzen stereotyp verdichtet und zudem im emotionsträchtigen Liebes-, Sex- und Eherahmen verhandelt werden. Auf diese Weise wird die komplexe Thematik der Geschlechterkonstruktionen im Kontext des gesellschaftlichen Wandels in Ost- und Westdeutschland überhaupt erst zur berichtenswerten und aufmerksamkeitserzeugenden Nachricht. [3]

Der hier besprochene Sammelband zu "Geschlechterkonstruktionen in Ost und West" folgt anstelle der massenmedialen Nachrichtenwerte (Eindeutigkeit, Emotionalisierung etc.) einem sozialkonstruktivistischen Theorierahmen und ist auf Komplexitätserhöhung und Reflexivität ausgerichtet: "Männer" und "Frauen" bzw. "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" werden ebenso wie "Ost" und "West" als soziale Kategorien aufgefasst, die in großer Variationsbreite, Vielschichtigkeit und Ambivalenz individuell und kollektiv mit Bedeutung gefüllt werden. So muss das homogenisierende Konstrukt "die Ostfrau" hinterfragt werden, wenn man sich vor Augen hält, wie unterschiedlich und teilweise auch kontrovers verschiedene Ostfrauen die DDR und die Nachwendezeit erlebt haben. Irritiert wird das kontrastierende Konstrukt "der Ostfrau" gegenüber "der Westfrau" aber auch, wenn in der Einzelfallstudie die lebensgeschichtliche Erzählung einer ostsibirischen Bäuerin der einer Schweizer Bäuerin hinsichtlich ihrer identitätsbildenden Strukturen stark ähnelt. [4]

2. Von Geschlechterkonstruktionen in Ost und West

Dreizehn Jahre nach dem Fall der Mauer fand im September 2002 in Greifswald die Tagung "Geschlechterkonstruktionen in Ost und West – Biografische Perspektiven" statt. Veranstaltet wurde sie von dem Interdisziplinären Zentrum für Frauen und Geschlechterstudien (IZFG) der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald in Kooperation mit der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Die Vorträge der Tagung – ergänzt um weitere Beiträge – sind in den vorliegenden Sammelband eingegangen. Er umfasst 15 Beiträge von 19 Autorinnen aus West und Ost mit einem breiten Fächerspektrum (oft Soziologie, aber auch Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Politikwissenschaft, Geschichte, Literaturwissenschaft, Sozialarbeit). Alle Autorinnen sind im Zuge ihrer abgeschlossenen oder laufenden Promotionsprojekte bzw. wissenschaftlichen Positionen einschlägig in der Genderforschung tätig. [5]

Gegliedert ist der Band in vier Teile:

3. Biografischer Zugang zum Geschlecht

Dass Geschlecht nicht auf ein binäres biologisches Merkmal ("sex") zu reduzieren ist, sondern eine soziale Kategorie ("gender") darstellt, ist in den Sozialwissenschaften heute konsensfähig: Wie wir uns selbst und andere Menschen als "Frauen" und "Männer" bzw. als "weiblich" und "männlich" einordnen und interpretieren, hängt unter anderem von den historischen, wirtschaftlichen, geografischen und kulturellen Rahmenbedingungen ab und steht in Wechselwirkungen mit anderen Personenmerkmalen wie Status, Alter oder Ethnizität. Zudem variieren Geschlechterkonstruktionen situationsspezifisch (z.B. "doing gender" in der Familie, am Arbeitsplatz, in Freundschaftsbeziehungen etc.). [7]

Sozialkonstruktivistische Analysen der Geschlechterverhältnisse wurden bereits in den 1970er Jahren vorgenommen und markiert durch die begriffliche Sex-Gender-Differenzierung von der Anthropologin Gayle RUBIN (1975). In den 1990er Jahren entwickelte unter anderem die Literaturwissenschaftlerin Judith BUTLER (1990) den Geschlechterkonstruktivismus – in durchaus umstrittener Konsequenz – theoretisch weiter. Heute gilt es, den sozialkonstruktivistischen Theorieansatz noch umfassender auf die Empirie zu übertragen. Denn nach wie vor operieren zahlreiche quantitative Studien, die sich mit Geschlechterdifferenzen befassen, als abgefragte Variable letztlich doch nur mit dem binären biologischen Geschlecht. Neue und differenzierte Fragebogeninstrumente zur Erfassung des subjektiven Geschlechts fehlen weitgehend. Auch in der qualitativen Forschung werden Geschlechterbezüge oft dichotom schematisiert, etwa wenn Erfahrungen "der Frauen" den Erfahrungen "der Männer" gegenübergestellt werden. Doch es liegen auch sehr differenzierte Beiträge zu Geschlechterforschung und qualitativen Methoden vor (z.B. Behnke & Meuser, 1999; siehe dazu auch in FQS die Rezension von DÖRING 2001). [8]

Ein Ansatz, den subjektiven Geschlechterkonstruktionen – gerade auch in ihrer Dynamik – auf die Spur zu kommen, ist die biografische Methode. So stellt der hier rezensierte Sammelband erzählte Lebensgeschichten von Frauen und Männern vor, die mittels narrativer (teilweise auch themenzentrierter) Interviews erhoben und hermeneutisch in Form von Einzelfallrekonstruktionen sowie Fallvergleichen ausgewertet wurden. Kontrastiert werden bei den Vergleichen nicht nur Männer- und Frauenbiografien, sondern auch Ost- und Westbiografien. Mit letzteren sind vor allem lebensgeschichtliche Erzählungen aus der ehemaligen DDR und alten Bundesrepublik sowie den neuen und alten Bundesländern nach der Wiedervereinigung gemeint. So wichen ost- und westdeutsches Rollenmodell der Frau – wie in den Eingangsbeispielen bereits angeklungen – tatsächlich deutlich voneinander ab: Das sozialistische Frauenbild der DDR war durch die selbstverständliche und staatlich geförderte Verbindung von Werktätigkeit und Mutterschaft geprägt, so genannte Nur-Hausfrauen gab es nicht. Demgegenüber war und ist im westdeutschen, christlich-konservativ geprägten Frauenbild Mutterschaft eng mit der – zumindest zeitweise übernommenen – Hausfrauenrolle gekoppelt. [9]

Die Biografien zeigen nun, wie sich die Individuen und Paare innerhalb dieser gesellschaftlichen Erwartungen positionierten und was sie erlebten. Da ist z.B. der DDR-Vater, der sich um seinen 1987 geborenen Sohn kümmert und damit auf gesellschaftliche Ablehnung stieß:

"In der DDR sind Männer auch nicht einkaufen gegangen, die sind auch nicht mit dem Kinderwagen rumgerannt, das haben die Frauen gemacht. Wenn ich zum Fleischer gekommen bin, ich bin ja auch so behandelt worden, als wüsste ich nicht, wie Fleisch aussieht" (SCHOLZ, S.111). [10]

Umgekehrt wird in der Erzählung eines westdeutschen Ehepaares (im Beitrag von Stefanie SAUER) deutlich, wie die Frau einerseits darunter leidet, ihren Beruf aufgeben zu müssen und die gesellschaftlich und von ihrem Mann erwartete Hausfrauenrolle einzunehmen, wie sie andererseits aber auch private Gegenstrategien entwickelt. [11]

Sehr erhellend sind die von Ost- und Westfrauen – teils im direkten Dialog – verfassten Beiträge zu Frauenbewegung und Feminismus in Ost und West, ihren zentralen Begriffen, Symbolen und politischen Strategien. Während für die Frauenbewegung West die Forderung nach mehr Kinderbetreuungseinrichtungen ein wichtiges politisches Ziel war und ist, war es für DDR-Frauen eine hochpolitische Entscheidung, ihre Kinder gerade nicht in den Kindergarten oder die Krippe zu geben, etwa um sie dem ideologischen Einfluss des Systems zu entziehen (GERHARD & MIETHE, S.331). [12]

Dass Ostfrauen sich zuweilen ohne Umschweife mit "Ich bin Vorarbeiter" oder "Ich bin Ingenieur" etikettieren, fällt Westfrauen im Alltag zuweilen auf. Die Studie von Kristina REISS zeigt, dass ostdeutsche Abiturientinnen und Abiturienten maskuline Personen- und Berufsreferenzen tatsächlich als geschlechtsneutral betrachten und Feminisierungen zum Teil rigoros ablehnen, etwa als "übertriebenes Emanzengehabe". Dies gilt überwiegend aber auch für westdeutsche Jugendliche. Interessant ist jedoch die Nuance, dass westdeutsche männliche Jugendliche einen geschlechterinklusiven Sprachgebrauch etwas stärker unterstützen als ostdeutsche weibliche Jugendliche (REISS, S.172). Damit wird wieder deutlich, dass Einstellungen zu Geschlechterthemen nicht eindimensional durch das biologische Geschlecht vorhersagbar sind, sondern auch durch den gesellschaftlichen Kontext mitbeeinflusst werden. [13]

Der Geschlechterkonstruktivismus sieht Menschen nicht fixiert in jeweils einer biologisch und/oder sozial definierten Geschlechtsrolle verhaftet, sondern betont das aktive und situative Herstellen von unterschiedlichen Geschlechterinszenierungen (doing gender). Die Interview-Studie von Jutta WERGEN geht der Frage nach, wie westdeutsche LKW-Fahrerinnen sich als Frauen in einem Männerberuf positionieren. Die Erfahrung als Frauen in diesem Beruf nicht anerkannt zu werden, führte bei den Befragten zur Ausbildung eines "professionellen Geschlechts", wobei Weiblichkeit negiert und Männlichkeit in Kleidung, Sprache, Umgangsformen besonders betont wird (doing masculinity). Nach Feierabend wird dann in das "private Geschlecht" gewechselt (doing feminity). Verschiedene Geschlechtsidentitäten auszuleben bzw. ausfüllen zu müssen erweist sich dabei aus Sicht der Akteurinnen weniger als interessante Horizonterweiterung oder als bereicherndes Identitäts-Patchwork, sondern als teilweise belastende Anforderung. In ihrem männlichen Berufs-Geschlecht kultivieren die Fahrerinnen eine demonstrative Distanz gegenüber "anderen Frauen", die sich dann auch im Privatleben fortsetzt (WERGEN, S.228). [14]

4. Stärken und Schwächen des Buches

Dem Sammelband gelingt es, das Konstrukt des sozialen Geschlechts aufzufächern, biografisch und gleichzeitig gesellschaftlich einzubetten. Überzeugend ist auch der Ansatz, die Ost-West-Thematik von Deutschland auf den europäischen Kontext zu erweitern. Mit einer Ausdifferenzierung des Gender-Konzeptes und einer Dekonstruktion "der Frauen" als homogene Gruppe, geht auch die Notwendigkeit einher, feministische Zielsetzungen zu reformulieren. So prognostiziert FERREE (S.322), dass auf der feministischen Agenda des 21. Jahrhunderts das Formulieren von Themen steht, "die es ermöglichen, dass Menschen eher zusammen kommen als geteilt werden – auch über nationale Grenzen und Geschichten hinweg". [15]

Gerade weil der Impetus des Buches so stark auf Differenzierung und Horizontöffnung ausgerichtet ist, fallen die Lücken besonders negativ auf. Insbesondere, wenn sie an keiner Stelle explizit benannt, begründet und reflektiert werden: Nur zwei von 15 Beiträgen fokussieren allein auf Männerbiografien (Sylka SCHOLZ: ostdeutsche Männer; Mechthild BERESWILL: ost- und westdeutsche Männer), kein einziger Beitrag stammt von einem Mann (siehe zu Perspektiven von Männern z.B. ROHNSTOCK, 1995). Konzepte wie Männerforschung oder Männerbewegung tauchen überhaupt nicht auf. Dabei hat sich die Männerforschung in den letzten Jahren deutlich etabliert, wie etwa an Buchreihen in renommierten Wissenschaftsverlagen (UNIVERSITY OF CALIFORNIA PRESS: Book series on Men and Masculinity; SAGE Series on Men and Masculinities) und peer-reviewed Fachzeitschriften (z.B. seit 1999 Men and Masculinities, http://jmm.sagepub.com/) abzulesen ist. Einen Überblick über das Forschungsfeld bietet beispielsweise das aktuelle Handbuch des Soziologen und international anerkannten Männerforschers Michael KIMMEL (KIMMEL, HEARN & CONNELL, 2004). Auch liegen bereits einschlägige Arbeiten zu wechselseitigen Bezügen zwischen feministischer Forschung einerseits und Männerforschung andererseits vor (z.B. GARDINER, 2000). Vor diesem Hintergrund ist der hier besprochene Sammelband doch stärker der Frauenforschung als der Genderforschung zuzuordnen. Sicherlich hätte es den Rahmen des Bandes gesprengt, die angesprochenen Aspekte ausführlich zu behandeln – die Lücken explizit zu würdigen, wäre aber doch wünschenswert gewesen. [16]

Nicht zuletzt im Kontrast mit den eingangs vorgestellten öffentlichen Diskursen, die Ostfrau und Westmann, Westrau und Ostmann als potenzielle Liebes- und Sexualpartner präsentieren, verblüfft die Asexualität der im Buch rekonstruierten Lebensgeschichten. Die intime und romantische Beziehungsebene bleibt weitgehend ausgeblendet und ebenso die eng mit der Geschlechterpolitik verknüpfte Sexualitätspolitik: Keine Hinweise auf die Schwulen- und Lesbenbewegung in Ost und West, keine Fallrekonstruktionen jenseits der heterosexuellen Paarbeziehung. Gerade weil das Buch das Konzept der Normalbiografie schon auf der ersten Seite hinterfragt und hegemoniale Normalitätsfolien kritisiert, sticht seine hegemoniale Heterosexualitätsfolie umso deutlicher hervor. [17]

Teilweise werden Generalisierungen präsentiert, die vom Datenmaterial nicht gestützt – oder im Licht anderer Beiträge des Bandes sogar teilweise in Frage gestellt – werden. So arbeitet beispielsweise SCHOLZ aus 24 lebensgeschichtlichen Interviews mit ausschließlich ostdeutschen Männern (1950er bis 1960er Generation) eine systematische "Dethematisierung der Familie" und eine "merkwürdige Absenz von Frauen" heraus, die sie als Folge von DDR- sowie Männlichkeits-Sozialisation interpretiert (siehe dazu auch die Rezension in FQS von DREKE 2005). Aber ohne Vergleiche mit den lebensgeschichtlichen Erzählungen von westdeutschen Männern sowie mit Frauen wirkt dieser Rückschluss fragwürdig. Und tatsächlich resümiert FISCHER (S.208) für die von ihr erhobenen lebensgeschichtlichen Erzählungen von ostdeutschen Frauen: "in vielen Interviews wurde die Familie, auch die Beziehung zum Ehepartner entweder gar nicht oder als Belastung thematisiert". Eine Dethematisierung der Familie im Forschungsinterview ist also nicht vorschnell als Merkmal männlicher Biografien zu deuten. Bedauerlich ist, dass die methodischen Details der Studien oft nicht berichtet werden. Ganz selten wird beispielsweise das Verhältnis zwischen Interviewer/in und Interviewten beschrieben (z.B. hinsichtlich Geschlechter- oder Ost-West-Konstellation) und in seiner möglichen Beeinflussung der biografischen Narrationen reflektiert. [18]

Trotz der genannten Monita ist der Sammelband inspirierend. Er mag dazu beitragen, Verständnis und Verständigung zwischen Forschenden in Ost und West zu fördern (siehe PFITZNER [2000] zu einem verständnisfördernden Seminarkonzept). Viele Anschlussmöglichkeiten für weitere Studien an der Schnittstelle von Gender-, Biografie- und Transformationsforschung werden deutlich. Interessant wäre es beispielsweise, neben Interviewdaten auch Tagebuchdaten (z.B. Online-Tagebücher und Weblogs) in biografische Geschlechter- und Ost-West-Analysen einzubeziehen. [19]

Literatur

Behnke, Cornelia & Meuser, Michael (1999). Geschlechterforschung und qualitative Methoden. Opladen: Leske + Budrich.

Bisky, Jens (2005). Mutti steht ihren Mann. Ungegrenzt belastungsfähig, multifunktional: Die Ostfrau. Süddeutsche Zeitung, 22.3.2005. Verfügbar über: http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/923/49874/print.html [Zugriff: 18.9.2005].

Butler, Judith (1990). Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London: Routledge.

Dreke, Claudia (2005, April). Rezension zu: Sylka Scholz (2004). Männlichkeit erzählen. Lebensgeschichtliche Identitätskonstruktionen ostdeutscher Männer [36 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 6(2), Art. 25. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-05/05-2-25-d.htm [Zugriff: 18.9.2005].

Gardiner, Judith Kegan (2002). Masculinity Studies and Feminist Theory. New York, NY: Columbia University Press.

Hensel, Jana (2004). Paar für Paar zur Einsicht. Wie steht es um das Liebesleben zwischen Ost und West im Jahre 15 der deutschen Einheit? DIE ZEIT, 45/2005. Verfügbar über: http://zeus.zeit.de/text/2004/45/Hensel [Zugriff: 18.9.2005].

Kimmel, Michael, Hearn, Jeff & Connell, Robert (Hrsg.) (2004). Handbook of Studies on Men and Masculinities. Thousand Oaks, CA: Sage.

MDR Umschau (2004). Westfrauen entdecken den Ostmann. 09. November 2004. Verfügbar über: http://www.mdr.de/umschau/1679747.html [Zugriff: 18.9.2005].

Pfitzner, Heike (2000). Auf dem Wege zueinander – Praxiserfahrungen aus einem Seminar zu Problemen in der Kommunikation von Frauen aus Ost- und Westdeutschland. Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 54, 23-30.

Rohnstock, Katrin (Hrsg.) (1995). Stiefbrüder. Was Ostmänner und Westmänner voneinander denken. Berlin: Elefanten Press.

Rubin, Gayle (1975). The Traffic in Women: Notes on the "Political Economy" of Sex. In Rayna Reiter (Hrsg.), Toward an Anthropology of Women (S.187-210). New York: Monthly Review Press.

Zur Autorin

Nicola DÖRING, Dr. phil. habil., Dipl.-Psych., arbeitet als Professorin für Medienkonzeption und Medienpsychologie an der TU Ilmenau. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die sozialen und psychologischen Aspekte der Online- und Mobilkommunikation, Genderfragen, Lernen und Lehren mit neuen Medien sowie Evaluationsforschung.

Nicola DÖRING hat in FQS bereits besprochen:

Kontakt:

Prof. Dr. Nicola Döring

TU Ilmenau, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft
Fachgebiet Medienkonzeption / Medienpsychologie
PF 10 05 65
D-98684 Ilmenau

E-Mail: nicola.doering@tu-ilmenau.de
URL: http://www.nicola-doering.de/

Zitation

Döring, Nicola (2006). Rezension: Ingrid Miethe, Claudia Kajatin & Jana Pohl (Hrsg.) (2004). Geschlechterkonstruktionen in Ost und West. Biografische Perspektiven [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(2), Art. 35, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0602353.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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