Volume 2, No. 2, Art. 27 – Mai 2001

Rezension:

Oliver Geden

Rolf Lindner (2000). Die Stunde der Cultural Studies. Wien: Universitätsverlag Wien, 126 Seiten, ISBN 3-85114-509-7, 23.- DM

Inhaltsverzeichnis

1. Streifzüge durch die Cultural Studies

2. Resümee

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Streifzüge durch die Cultural Studies

Die Cultural Studies haben im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren einen nicht zu übersehenden Boom erfahren. Theoreme und TheoretikerInnen, deren Kenntnis lange Jahre nur "Eingeweihten" vorbehalten schien, sind dabei, zur unverzichtbaren Grundausstattung des kulturwissenschaftlichen Mainstreams zu werden. Die Stunde der Cultural Studies kann durchaus im Kontext des noch anhaltenden Booms verortet werden, stellt aber keineswegs eine weitere – und mittlerweile wohl auch überflüssige – "Einführung in die theoretischen Grundlagen" dar. Vielmehr nimmt LINDNER die verstärkte Rezeption der Cultural Studies zum Anlaß, die Entwicklung dieses Forschungsfeldes – dem er selbst angehört – in seiner sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingtheit zu reflektieren. [1]

Dabei konzentriert er sich zunächst auf den Prozess der Entstehung und Etablierung der Cultural Studies in Großbritannien. Im Rückgriff auf Karl MANNHEIMs Terminus der "Generation" begreift LINDNER diesen als Projekt einer "Scholarship-boy-Generation" (S.27) aus den ersten Arbeiterkindern, denen in den 50ern der Zugang zu den renommierten Universitäten eröffnet wurde. Aus ihrer Herkunftskultur ausgebrochen, war es ihnen zugleich unmöglich, habituell vollständig in der bildungsbürgerlichen Kultur aufzugehen. Die Konfrontation mit der Hochkultur als symbolischem Gewaltverhältnis, die gemeinsame Erfahrung der "hidden injuries of class" (SENNETT & COBB) ließ somit ein spezifisches Theorieprojekt entstehen, das (Alltags-) Kultur zur Schlüsselkategorie der Gesellschaftsanalyse erhob: "to understand this society, we have to look at its culture, even for political answers" (HOGGART & WILLIAMS 1960, S.29; zit. n. LINDNER, S.28). LINDNER zeichnet den idealtypischen Vertreter der intellektuellen Gründergeneration als "cultural hybrid" (S.25), der kulturelle Unterschiede und kulturellen Wandel kritisch thematisiert, und er verortet die Genese der Cultural Studies dabei ausdrücklich im Kontext einer "Politik der Anerkennung" (S.22). [2]

Am Beispiel der frühen Forschungen zu "Jugendkulturen" arbeitet LINDNER den unaufgeregten und "unmoralischen" Blick heraus, mit der die Gründergeneration Phänomene der Alltagskultur analysierte. Selbst mit der im Nachkriegseuropa sich durchsetzenden Populärkultur aufgewachsen, wiesen sie die These von den der Kulturindustrie beinahe widerstandslos verfallenden Massen zurück und konzentrierten sich auf die Formen der Aneignung und Rezeption, auf eine Perspektive "from within". LINDNER verweist dabei insbesondere auf die "Homologie von Lebensform und Wissensform" (S.12), der von den Forschenden häufig genutzten Möglichkeit der Verwandlung von eigenem Erfahrungswissen in wissenschaftliches Kapital und der dadurch ermöglichten Versöhnung von politischen, biographischen und akademischen Interessen. [3]

Die damit einhergehende Privilegierung einer "Insider"-Perspektive macht LINDNER als den zentralen Faktor der in den Folgejahren zunehmenden Popularität der Cultural Studies und zugleich als ihr größtes Problem aus. Auf die Akademisierung des Popkulturdiskurses sei die zunehmende Popkulturalisierung des akademischen Diskurses über Populärkultur gefolgt, Kulturanalyse und Kulturproduktion verschränkten sich zunehmend. Damit aber würden die Cultural Studies hochanfällig für Prozesse der massenmedialen (und damit wissenschaftsexternen) Durch- und Absetzung von Fragestellungen und Zugangsweisen, Theorien und Themenfelder unterlägen zunehmend der in/out-Logik der Kulturindustrie, einzelnen WissenschaftlerInnen komme mittlerweile gar der Status von Popstars zu. LINDNER warnt im Rückgriff auf BOURDIEU ausdrücklich davor, dass diese Tendenz der Orientierung an Modethemen und -theorien langfristige intellektuelle Vorhaben zunehmend verunmögliche. Sein Gegenrezept zielt auf die methodische Befremdung des Selbstverständlichen, sowohl in der Untersuchung alltagskultureller Phänomene als auch in der Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Alltagspraxen. [4]

LINDNER wendet sich damit vor allem gegen die Position des intellektuellen "native speaker", dessen Aussagen qua (sub-) kultureller Herkunft eine höhere, weil scheinbar "authentischere" Aussagekraft zugesprochen wird und die somit von "außen" kaum noch hinterfragt werden können, weder bezogen auf dessen Interessen noch auf die spezifischen Produktionsbedingungen dieser Wissensform. Aus einer kulturanthropologischen Perspektive kritisiert er zudem die zunehmende Beschränkung der Cultural Studies auf textanalytische Zugänge, die eine Tendenz zur Reproduktion unhinterfragter Vorannahmen befördere. [5]

2. Resümee

Die Stunde der Cultural Studies stellt keine wissens- bzw. wissenschaftssoziologische Studie dar, die den Anspruch erheben würde, das Feld der Cultural Studies umfassend zu analysieren. Sie liefert dennoch wichtige Beiträge zur in den Cultural Studies noch relativ marginalen methodologischen Diskussion (vgl. WINTER 2000, S.212f.). Damit bringt LINDNER zum einen Theoriebestände der qualitativen Sozialforschung produktiv in die Cultural Studies ein. Zum anderen geht er in der Reflexion der strukturellen Rahmenbedingungen seines Forschungsfeldes über die Standards qualitativer Sozialforschung noch hinaus, da diese zumeist bei der Reflexion von Vorannahmen sowie der Subjektivität der Forschenden stehen bleibt (vgl. KNOBLAUCH 2000, S.629f.). [6]

Literatur

Knoblauch, Hubert (2000). Zukunft und Perspektiven qualitativer Forschung. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S.623-632). Reinbek: Rowohlt.

Winter, Rainer (2000). Cultural Studies. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S.204-213). Reinbek: Rowohlt.

Zum Autor

Oliver GEDEN ist Student der Gender Studies und der Europäischen Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Männlichkeits-, Rechtsextremismus- sowie Wissenschaftsforschung.

Kontakt:

Oliver Geden

E-Mail: oliver.geden@rz.hu-berlin.de

Zitation

Geden, Oliver (2001). Rezension zu: Rolf Lindner (2000). Die Stunde der Cultural Studies [6 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102277.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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