Volume 2, No. 2, Art. 6 – Mai 2001

Rezension:

Heiko Droste

Cornelia Müller (1998). Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte – Theorie – Sprachvergleich (Buchreihe: Körper, Zeichen, Kultur; Band 1). Berlin: Berlin Verlag, 314 Seiten, ISBN 3-87061-747-0, 79.00 DM

Inhaltsverzeichnis

1. Thema

2. Aufbau

3. Kritik

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Thema

Ausgangspunkt der im Jahr 1996 an der FU Berlin eingereichten Dissertation Cornelia MÜLLERs ist die Feststellung, dass Gesten – obwohl selbstverständlicher Bestandteil menschlicher Kommunikation – wissenschaftlich bisher nur ungenügend untersucht sind. Dafür sei auch der Mangel interdisziplinärer Forschung verantwortlich. MÜLLER, von ihrer universitären Ausbildung her Literaturwissenschaftlerin und Linguistin, versucht diesen Mangel durch Berücksichtigung kommunikationstheoretischer, historischer und psycholinguistischer Forschungen zu beheben. Entsprechend dem Untertitel der Untersuchung (Kulturgeschichte – Theorie – Sprachvergleich) unterteilt MÜLLER ihre Untersuchung dabei in drei Teile, eine historische bzw. kulturhistorische Übersicht zur Beschäftigung mit Gesten, eine theoretische Diskussion sowie eine ausführliche empirische Studie. [1]

2. Aufbau

Gesten erfüllen nach MÜLLER vor allem drei Funktionen, sie sind Mittel des Ausdrucks, des Appells und der Darstellung. Sie sind somit Teil zwischenmenschlicher Kommunikation und weisen sprachähnliche Strukturen auf. MÜLLER interessiert sich dabei vor allem für die darstellerische – "redebegleitende" – Funktion. In der Regel kommen alle drei Funktionen allerdings gleichzeitig vor, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. [2]

In einer kulturgeschichtlichen Übersicht (S.25-85) geht es zunächst um die Auseinandersetzung mit Gesten seit der römischen Antike. Sie war Teil der gelehrten Rhetorik bei CICERO und QUINTILLIAN, wobei bereits bei diesen Autoren die Ablehnung einer ausufernden Rhetorik – dem negativ konnotierten "Gestikulieren" – festgestellt werden kann. Diese Ablehnung wiederum wird von MÜLLER als Teil einer Triebkontrolle, im Rahmen einer sozialdisziplinierenden bzw. zivilisierenden kulturellen Entwicklung, verstanden (ELIAS 1976). Gestikulieren werde seither als Merkmal einer unkontrollierten Kommunikation verstanden und typischerweise eher mit den sogenannten primitiven Völkern in Verbindung gebracht (S.27). Ausgehend von der antiken Auseinandersetzung mit Gesten wird auch die mittelalterliche und frühneuzeitliche Beschäftigung mit Gesten referiert, die stark von den antiken Autoren geprägt war. [3]

Im zweiten Hauptteil bietet MÜLLER eine theoretische Diskussion der Gestikanalyse (S.87-130). Aufbauend auf den Studien Karl BÜHLERs (1879-1963) diskutiert MÜLLER die Auseinandersetzung mit Gesten in Semiotik, Kommunikationswissenschaft und Psycholinguistik. Sie vergleicht die Klassifikationen dieser Forschungsrichtungen, wobei der Rezensent sich eine stärkere Gewichtung gewünscht hätte. Es ist daher nicht ganz klar, ob MÜLLER in Auseinandersetzung mit BÜHLER und anderen einen eigenen Standpunkt erarbeitet oder ob sie sich auch weiterhin gänzlich dessen sprachfunktionaler Dreiteilung anschließt. [4]

Der dritte und bei weitem ausführlichste Hauptteil (S.131-237) bietet einen eingehenden Vergleich des Gestengebrauchs im Spanischen und Deutschen bei der sprachlichen und gestischen Darstellung von Bewegungen. Dabei bietet MÜLLER sowohl eine semantische Analyse der sprachlichen Darstellung von Bewegungen als auch eine Analyse der diese Bewegungen begleitenden Gesten. Damit soll einerseits die Funktion der Gesten bei der Beschreibung von Bewegungen ermittelt werden. Andererseits geht es um die Frage, ob der Gebrauch von bestimmten Sprachen mit einem spezifischen Gebrauch von Gesten einhergeht. Dieser Gebrauch weist nun deutliche Unterschiede auf, indem ein spanischer Sprecher Gesten eher zur Darstellung des Weges verwendet, während ein deutscher Sprecher Gesten eher zur Darstellung der Art und Weise der Bewegung nutzt. Beiden gemeinsam ist hingegen der Gebrauch bestimmter Gestentypen, die im einzelnen detailliert vorgestellt werden. Leider nicht mehr Teil der Untersuchung war die von MÜLLER im Forschungsausblick erwähnte Frage, ob das Erlernen von Spanisch bzw. Deutsch als Fremdsprache auch zur Übernahme der für beide Sprachen typischen Gesten führt (S.239). [5]

In einem umfangreichen Anhang (S.243-287) werden die untersuchten Verbformen mitsamt einer Beschreibung der sie begleitenden Gesten angeführt. Diese empirischen Kapitel machen mitsamt der Anhänge einen sehr durchdachten und gelungenen Eindruck. [6]

3. Kritik

Anzumerken ist allerdings, dass die erwähnten drei Hauptteile nicht konsequent aufeinander verweisen; so kommt es zu Wiederholungen. Da es MÜLLER in ihrer empirischen Untersuchung nicht um eine historische Betrachtungsweise geht, bleibt zudem unklar, warum sie einen so ausführlichen kulturhistorischen Überblick bietet. Ihre bereits in der Einleitung geäußerte Kritik an einer historisch bedingten Vernachlässigung der Gesten bzw. ihrer Abwertung gegenüber der Sprache als einer unterlegenen Kommunikationsform wäre auch ohne diesen Teil glaubwürdig gewesen. Zudem überzeugt die auf ELIAS zurückgehende These von der fortschreitenden Sozialdisziplinierung und Zivilisierung der Gesten nicht. Wie MÜLLER selber zeigt, geht die Ablehnung des Gestikulierens bereits auf die ersten Gestentheoretiker zurück. Davon unberührt bleibt die kulturhistorische Übersicht aufgrund der präsentierten Materialfülle interessant. [7]

Die Lesefreude gerade auch für den fachfremden Leser wird durch die mit linguistischen Begrifflichkeiten durchsetzte Darstellung eingeschränkt. Sie hätte zudem durch eine deutlichere Positionierung der Autorin innerhalb der theoretischen Diskussion gewonnen. [8]

Literatur

Elias, Norbert (1976). Über den Prozeß der Zivilisation, Band 1-2. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Zum Autor

Heiko DROSTE, Historisches Seminar, Universität Kiel, geb. 1963, Studium der Geschichte, Bibliothekswissenschaft und Politischen Wissenschaft in Köln, Hamburg und Münster. Dissertation im Bereich der spätmittelalterlichen Stadthistoriographie (Lüneburg). Anschließend mehrjähriger Forschungsaufenthalt in Stockholm, Arbeit an einem Habilitationsprojekt zur Sozialgeschichte der Diplomaten Schwedens im 17. Jahrhundert, das im Frühjahr 2001 an der Universität Kiel eingereicht wird.

Wissenschaftliche Interessen gelten der schwedischen und deutschen Geschichte der Frühen Neuzeit, der Historiographie in Mittelalter und Neuzeit, literaturwissenschaftlichen Forschungen (Gattungsfragen) sowie soziologischen und sprachphilosophischen Theorien.

Kontakt:

Dr. Heiko Droste

Horner Weg 195
D-22111 Hamburg

E-Mail: heiko.droste@t-online.de
URL: http://home.t-online.de/home/heiko.droste

Zitation

Droste, Heiko (2001). Rezension zu: Cornelia Müller (1998). Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte – Theorie – Sprachvergleich [8 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 6, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs010268.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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