Volume 7, No. 2, Art. 14 – März 2006

Rezension:

Dirk Ducar

Gerrit Herlyn & Thomas Overdick (Hrsg.) (2003). Kassettengeschichten. Von Menschen und ihren Mixtapes. Münster: Lit, 100 Seiten, ISBN 3-8258-6932-6, EUR 10,90

Zusammenfassung: Der vorliegende Band befasst sich mit den Produktions- und Konsumptionszusammenhängen von so genannten Mixtapes, die im privaten Umfeld hergestellt und weitergegeben werden. Er möchte die Umgangsweisen und Bedeutungszuschreibungen von Produzenten und Empfängern solcher Musikkassetten erklären und einen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Medienforschung leisten. Dieses Ziel wird aus zweierlei Gründen, die miteinander in Beziehung stehen, nicht erreicht. Auf der einen Seite ist die in der überkommenen Forschungstradition verstrickte Perspektive der volkskundlichen Alltags- und Sachkulturforschung zu nennen. Sie äußert sich in notorischer Objektfixierung und latentem Utopismus, die den Blick auf die Inwertsetzung technischer Innovationen in der kulturellen Praxis des Musikkonsums behindern. Auf der anderen Seite stehen eklatante forschungspraktische Mängel, die die formulierten Ergebnisse entwerten.

Keywords: Konsum, Kultur, Musik, Audiokassetten

Inhaltsverzeichnis

1. Mixtapes als Beispiel für die kulturelle Praxis der Aneignung von Technologien

2. Individuelle Bedeutungen und kollektive Funktionen von Mixtapes

3. Von Mixtapes und ihren Menschen – Forschungspraktische Mängel und verpasste Gelegenheiten

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Mixtapes als Beispiel für die kulturelle Praxis der Aneignung von Technologien

"Kassettengeschichten" ist die Begleitpublikation zu einer Ausstellung, die sich mit Mixtapes und ihren Produzenten bzw. Besitzern befasst, und ist im Rahmen eines zweisemestrigen Projektseminars am Institut für Volkskunde an der Universität Hamburg entstanden. Mixtapes sind Audiokassetten, die Musikzusammenstellungen enthalten, die ohne kommerzielles Interesse in Kleinstauflagen im privaten Umfeld hergestellt und weitergegeben werden. Das Buch ist in der volkskundlichen Sach- und Alltagskulturforschung angesiedelt und befasst sich mit der Praxis der Produktion und Konsumption dieser Tonträger. Damit ist das Buch in den Kontext der Technologieforschung einzugliedern, die die Umsetzung technischer Neuerungen in gesellschaftliche Praxis untersucht. Insbesondere Arbeiten aus dem Bereich der Cultural Studies, die sich mit den kreativen Aspekten des Konsums, insbesondere der Personalisierung und Aneignung von Medienprodukten befassen, haben hier wichtige Vorarbeit geleistet (HERLYN & OVERDICK 2002, S.84). Das Phänomen der Mixtapes selbst, obschon immer wieder Thema der Pop-Literatur, hat bisher keinen Eingang in die wissenschaftlichen Diskussion gefunden. [1]

2. Individuelle Bedeutungen und kollektive Funktionen von Mixtapes

Neben einem Einführungskapitel der beiden Herausgeber HERLYN und OVERDICK enthält der Band zwei Methodenaufsätze und sechs Beiträge, die sich mit Herstellungs- und Verwendungszusammenhängen der Kassetten und mit den Bedeutungen befassen, die diesen Artefakten von ihren Produzenten und Empfängern zugeschrieben werden. [2]

Das einleitende Kapitel besteht in einer kurzen Vorstellung des Projektes, bei dem 80 "Taper" zu ihren Kassetten-Karrieren befragt wurden, und einer Beschreibung der Exponate der betreffenden Ausstellung im Museum für Kommunikation in Hamburg. Das erste Theoriekapitel von Caroline KIKISCH geht auf die äußere und innere Interviewsituation, die Rahmenbedingungen der geführten Interviews und den sinnstiftenden Prozess des biographischen Erzählens ein. Das zweite, von Ove SUTTER verfasste, stellt die verwendeten Transkripte als auswertbare Abbildungen der Interviewsituation in Frage und rekurriert dabei umständlich auf DERRIDAs Dekonstruktion von Sprache und Bedeutung. Beide Autoren verweisen implizit immer wieder auf mögliche Quellen für systematische Verzerrungen und grundlegende Probleme bei der Interpretation der erhobenen Daten. Sie enthalten sich aber, genau wie das Einleitungskapitel, einer Darlegung der angewandten Methoden und der theoretischen und methodologischen Überlegungen, auf denen diese beruhen. [3]

Die thematischen Aufsätze befassen sich mit den ungeschriebenen Regeln der Produktion von Kassettenhüllen und der Komposition von Musikzusammenstellungen (GRÖSCH, HÜNERS & RÜTZEL), der Funktion von Mixkassetten als Erinnerungsobjekte (MEISTER, MENZEL & ORBITZ), der Bedeutung der musikalischen Sozialisation für die Praxis des Mixtapens (PEISELER, RADZUWEIT & TSITSIGIAS), der sozialen Funktion der Weitergabe der Kassetten (HASBARGEN & KRÄMER), geschlechtsspezifischen Unterschieden im Umgang mit Mixtapes (HESSE & TIEMANN) und mit der Aufarbeitung des Themas Mixtapes in der Popliteratur (AUSSERLECHNER, KOSSEN & STAACK). [4]

3. Von Mixtapes und ihren Menschen – Forschungspraktische Mängel und verpasste Gelegenheiten

Die Beiträge zu den genannten Themen basieren auf der Auswertung von leitfadengestützten narrativen Interviews und der Analyse von Sekundärliteratur. Eine übergeordnete analytische Fragestellung ist in keinem der Beiträge erkennbar, genauso wenig wie im einleitenden Kapitel. Vielmehr war wohl ein generelles deskriptives Interesse ausschlaggebend und die einzelnen Aufsätze stellen eine thematische Strukturierung von Informationen aus Interviewtexten und Sekundärquellen dar. Anscheinend wurden im Vorfeld der Auswertung interessante Themen überlegt und dann anhand dieser Quellen bearbeitet. Ein deutlicher Hinweis hierauf ergibt sich aus dem Fazit jener Arbeitsgruppe, die sich mit Geschlechterunterschieden befassen sollte oder wollte. Sie schreiben: "Eine Unterteilung in männliche und weibliche Mixtaper zeigt, dass es innerhalb dieser zwei gewählten Kategorien mehr Unterschiede beim Mixtapen gibt als zwischen den Kategorien selbst" (HESSE & THIEMANN, S.87). Da hier wenig zu holen ist, werden Lesende mit Informationen zu "Geschlechterrollen im Musikbusiness" vertröstet – eine Themaverfehlung. [5]

Das eben zitierte Fazit verweist nicht nur auf die – in Anbetracht der Erhebungsmethode etwas verwunderliche – Chronologie der Arbeitsschritte im Rahmen des Projektseminars, sondern auch auf das angewendete, vermutlich quanitifizierende Analyseverfahren. Andere Anhaltspunkte für die Auswertungspraxis ergeben sich aus der Struktur der Texte. Hier wechseln sich Abschnitte, die anhand von Interviewzitaten anekdotenhaft die Praxis der Produktion und Konsumption der Mixtapes schildern, mit solchen ab, die eine – vergleichsweise selektive, teils fast willkürlich wirkende – Aufarbeitung von philosophischer, soziologischer und kulturwissenschaftlicher Literatur enthalten, deren Relevanz und Erklärungsreichweite für das Phänomen Mixtapes anhand von Interviewtextstellen "belegt" wird. Gelegentlich tauchen auch Passagen auf, in denen Kategorisierungen vorgestellt werden, die sich auf unterschiedliche Formen von Mixtapes und verschiedene Typen von Produzenten und Empfängern beziehen. [6]

Hier zeigt sich ein weiteres Manko der Veröffentlichung, das aus dem für die Volkskunde spezifischen Interesse an der strukturellen und sozialen Bedeutung von Artefakten resultiert (vgl. MEISTER, MENZEL & ORBITZ, S.45). Diese Objektbezogene Perspektive erweist sich, wie die folgenden Beispiele zeigen, immer wieder als wenig geeignet, den kulturellen Hintergrund der Produktion und Weitergabe von Mixtapes zu erhellen. So nimmt der Aufsatz über Kassetten als Erinnerungsobjekte zwar zur Kenntnis, "dass der Erinnerungsvorgang stets als individuelle und individualisierende Gedächtnisleistung gesehen werden muss" (a.a.O., S.47). Dennoch wird hier eine Systematisierung von Mixtapes nach der Art und Weise unternommen, in der diese Objekte mit Erinnerungen aufgeladen sind. Zwangsläufig kommen die Autoren zu dem Schluss, dass eine "stringente Systematisierung" unterschiedlicher Kassettentypen nicht geleistet werden kann, da die einzelnen Tapes bei ihren Besitzern unterschiedliche Arten von Erinnerungen auslösen (a.a.O.). Ähnlich verfährt der Beitrag zur Produktion von Mixkassetten, der darauf hinweist, dass der "Wunsch nach Individualität und Abgrenzung, gleichzeitig aber auch der nach sozialer Positionierung innerhalb der Gesellschaft", im Zusammenhang mit Mixtapes von entscheidender Bedeutung ist (GRÖSCH, HÜNERS & RÜTZEL, S.39). Anstatt sich mit den unterschiedlichen Motiven und Vorstellungen der Mixtaper und den psychologischen, sozialpsychologischen und sozialen Funktionen zu befassen, die Mixkassetten für ihre Produzenten erfüllen, nehmen die Autoren eine Kategorisierung der Tapes nach Gestaltung der Verpackung und Stil der Musikzusammenstellung vor. [7]

Hier zeigt sich auch, dass aufgrund der Schwerpunktlegung der Aufsätze, ihrer Obsession für das technische Artefakt Mixkassette, relevante Themen nicht in der gebotenen Gründlichkeit behandelt wurden. Eine weitere Fragestellung, die im Rahmen des Bändchens zwar implizit angesprochen wird, dann aber keine Beachtung findet, ist die Rolle des Mixtapes im biographischen Prozess. Nicht nur im Beitrag zur Interviewsituation wird auf den kreativen Prozess der Selbstkonstruktion im Rahmen des biografischen Erzählens hingewiesen (KIKISCH, S.16). Aus dem vermutlich über weite Strecken historischen Material – die Leerkassette ist seit etwa einer Dekade weitgehend vom Markt verschwunden und viele der zitierten Aussagen beziehen sich auf längst Vergangenes – werden dann aber Aussagen über die Alltagspraxis der Taper abgeleitet. Das ist nicht nur methodisch bedenklich, sondern es wird die Chance vergeben zu ergründen, wie mit Hilfe der Musikkassetten Kontinuität im biographischen Prozess erzeugt wird. Hier schließt sich ein weiterer Kritikpunkt an, der sich auch auf die Affinität des Faches für vom Aussterben bedrohte Bräuche, Techniken und Praktiken bezieht, bei der immer ein wenig der offiziell abgelegte Glaube an das Authentische anklingt. Die Tatsache, dass der technologische Wandel die kulturelle Praxis des Musikkonsums verändert, wird systematisch ausgeblendet, da die "Zerstörung der Mixtape-Romantik" einfach kein volkskundliches Thema ist. [8]

Diese Kritikpunkte beziehen sich zugegebenermaßen nicht nur auf die durchgeführte Studie, sondern auch auf volkskundliche Forschung, die in überkommenen Forschungstraditionen und Menschenbildern verhaftet ist und beispielsweise davon ausgeht, dass es eine Kultur des Mixtapens gibt und die Frage nach milieuspezifischen, altersspezifischen oder generationsspezifischen Unterschieden beim Tapen, wie sie die konstatierten starken Unterschiede zwischen den einzelnen Interviewpartnern nahe legt, nicht stellt, nicht stellen kann. [9]

Abgesehen davon, müssen aber noch weitere Defizite der Publikation genannt werden. Die miserable Herstellungsqualität des Bändchens, das über weite Strecken nur mit Mühe zu entziffern ist und unter der Hand zu einer Lose-Blätter-Sammlung zerfällt, ist nur ärgerlich. Unerträglich hingegen muss die ungenügende Darlegung der ontologischen und epistemologischen Prämissen und die des auf ihnen basierenden Forschungsdesigns genannt werden. Natürlich geben die Aufsätze immer wieder Hinweise auf ihre Forschungstheoretischen und -praktischen Fundamente, und die legen nahe, dass hier auf Sand gebaut wurde. Offenbar hat man Studierende mit mangelhaften theoretischen und methodischen Vorkenntnissen mit einer Aufgabe betraut, an der sie mehr oder weniger grandios scheitern mussten. Das Hamburger Institut ist für seine (freundlich formuliert) praxisnahe Studentenausbildung bekannt. Besonders deutlich wird dies an den theoretischen Beiträgen, die schlicht nicht leisten, was man von ihnen erwarten muss. So zeigt sich die mangelnde Qualifikation der Studierenden etwa in der Umschreibung der Aufgabe, die dem Transkribieren im Forschungsprozess zukommt: "Die Aussagen sollen von anderen möglichst so verstanden werden, wie die Interviewte es damals meinte und wie ich es damals verstand" (SUTTER, S.24). [10]

Das alles wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre, denn die beteiligten Studenten und Studentinnen, die zweifelsohne viel Energie und Enthusiasmus in das Projekt gesteckt haben, können für die vielfältigen Defizite ihrer Aufsätze schwerlich verantwortlich gemacht werden. Diese fallen auf die wissenschaftlichen Leiter des Projektes, die Herausgeber der Veröffentlichung zurück. [11]

Literatur

Herlyn, Gerrit & Thomas Overdick (2002). C90: Vom Umgang mit einem technischen Speichermedium. Seminarbericht. Vokus. volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften, 2, 84-93.

Zum Autor

Dirk DUCAR ist freischaffender Musikjournalist in München und als Doktorand und Lehrbeauftragter am Seminar für Sozialwissenschaftliche Geographie an der LMU München tätig. Seine Dissertation befasst sich mit neuen Konsumformen und ihrem Einfluss auf die Musikwirtschaft. Dirk DUCAR hat in einer zurückliegenden Ausgabe von FQS Computergestützte Analyse qualitativer Daten. Eine Einführung in die Methoden und Arbeitstechniken (KUCKARTZ 1999) besprochen.

Kontakt:

Dipl.-Geogr. Dirk Ducar

Seminar für Sozialwissenschaftliche Geographie
Department für Geo- und Umweltwissenschaften
Ludwig-Maximilians-Universität München
Luisenstr. 37
D-80333 München

Tel.: ++49 / (0) 89 / 289-25437

E-Mail: Dirk.Ducar@LMU.de

Zitation

Ducar, Dirk (2006). Rezension: Gerrit Herlyn & Thomas Overdick (Hrsg.) (2003). Kassettengeschichten. Von Menschen und ihren Mixtapes [11 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(2), Art. 14, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0602146.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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