Volume 9, No. 3, Art. 4 – September 2008

Rezension:

Leyla Ciragan & Sandra Da Rin

Elfriede Löchel & Insa Härtel (Hrsg.) (2006). Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft (Psychoanalytische Blätter Band 27). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 150 Seiten, ISBN 978-3-525-46026-9, EUR 19.90

Zusammenfassung: Das Vorwort der Herausgeberinnen wirft Fragen auf, welche in die anschließende Besprechung der einzelnen Beiträge des Bandes einfließen. Es zeigt sich, dass ein auffälliger Widerspruch (ein Konflikt?) das gesamte Buch durchzieht: der im Vorwort formulierte Anspruch, mit dem Buch die Verwicklungen von Forschungssubjekt und -objekt einzubeziehen und aufzuzeigen, wird von keinem der einzelnen Beiträge wirklich eingelöst. Wie kann es zu dieser Diskrepanz kommen? Wir skizzieren weitergehende Verwicklungen, die im besprochenen Buch nicht thematisiert werden, die unserer Ansicht nach jedoch von zentraler Bedeutung sind für das Verhältnis von Psychoanalyse und Wissenschaft: Verwicklungen unter Einbeziehung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die psychoanalytische und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse bedingen und prägen.

Keywords: Erkenntnistheorie; Ethno-/Psychoanalyse; Kulturwissenschaft; Literaturwissenschaft; Methodologie; Subjektivität; Selbst-Reflexivität

Inhaltsverzeichnis

1. Ein Gegensatz mit Auslassungen

2. Die einzelnen Beiträge – von unbewussten Inszenierungen in der Textanalyse

2.1 "Anmerkungen zum freudschen Erkenntnisprozess"

2.2 Deutungslose Zeichen

2.3 Das Subjekt der Psychoanalyse in der Textanalyse

2.4 Verwicklungen im Zeichen der "Gradiva"

2.5 Moses, FREUD und die Kunstbetrachtung

3. Machtvolle Verwicklungen

4. Die eigenen subjektiven und objektiven Verwicklungen

Anmerkung

Literatur

Zu den Autorinnen

Zitation

 

1. Ein Gegensatz mit Auslassungen

Der hier besprochene Band basiert auf den Beiträgen der 2005 an der Universität Bremen veranstalteten Tagung "Objekt der Forschung – Forschung als Objekt: Methoden im Spannungsfeld von Wissenschaft und Psychoanalyse". Der immer wiederkehrende Streit um den Status der Psychoanalyse (als Wissenschaft) bzw. der Wissenschaften (als psychoanalytische Methode) sollte dort aufgegriffen, aber nicht abschließend beantwortet werden.

"Offen zu halten ist diese Frage […] aus einer historischen Perspektive. Es lässt sich sagen, dass Freuds Entdeckungen ohne den modernen Wissenschaftsdiskurs nicht denkbar sind, den sie fortführen, ausdehnen und umkehren. […] Durch den gewollten Ausschluss des Begehrens aus dem Feld der Wissenschaft kann sich aber eine ungewollte Selbsttäuschung im Verhältnis des akademisch Forschenden zum Denken und Wissen etablieren: Libidinöse und aggressive Aspekte in der Beziehung zum Objekt, Wünsche, Ängste und Abwehrmaßnahmen auf der Seite der Forschenden müssen der Verleugnung anheim fallen." (Vorwort, S.6) [1]

Die Herausgeberinnen interessiert die "Sprengkraft", die durch die Wahrnehmung der Differenzen zwischen psychoanalytischem und wissenschaftlichem Diskurs entwickelt werden könnte. Die Psychoanalyse, so LÖCHEL und HÄRTEL, verweist auf die triebhafte Grundlage der Wissenschaften und kann damit den wissenschaftlichen Prozess erweitern, indem sie auf die wechselseitige Konstituierung von Subjekt und Objekt der Forschung aufmerksam macht.

"Zugleich wird dem Denken zugetraut, durch Anerkennung seiner eigenen Verstrickungen und Verhaftungen den Weg auch in unerwünschte Realitäten zu öffnen. Vielleicht hat psychoanalytisches Denken entstehen müssen, weil das Projekt Wissenschaft im auslaufenden 19. Jahrhundert bereits eine drängende Diskrepanz zwischen einem aufgeklärten Bewusstsein und seiner verleugneten Kehrseite hervorgebracht hat. So gesehen kommt Freud gewissermaßen auch auf einen uneingelösten Anspruch von Wissenschaft zurück." (LÖCHEL & HÄRTEL, S.6) [2]

Betrachtet man die historische Entwicklung der Psychoanalyse von ihren Anfängen bei FREUD, der die kulturkritische Ausrichtung seiner Methode sehr betonte, bis hin zum heute dominierenden Medicozentrismus, der "Ausrichtung auf ein Denken in Begriffen von Krankheit, Gesundheit, Heilung und Normalität" (vgl. PARIN & PARIN-MATTHÈY 1988, S.62), dann ist der Hinweis auf die Gefahr, die einer verwissenschaftlichten – oder es müsste in Anbetracht der Geschichte wohl eher gesagt werden: einer (medizinisch) professionalisierten – Psychoanalyse droht, wohl nicht ganz unberechtigt. Gleichzeitig scheint damit aber wissenschaftlichem Denken und Handeln jegliche Sprengkraft abgesprochen zu werden, zumindest jenem Verständnis von Wissenschaft, das LÖCHEL und HÄRTEL als Differentes zur Psychoanalyse konstruieren. Um diese Differenz zwischen Psychoanalyse und Wissenschaft (letztere wird hier von den Herausgeberinnen nicht in einzelne wissenschaftliche Disziplinen ausdifferenziert) herzustellen und aufrechtzuerhalten, beziehen sie sich nämlich auf einen naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsbegriff, in dem Vorstellungen von Objektivismus, Universalismus und methodisch quantitative und experimentelle Verfahren dominieren. [3]

Wir stimmen mit LÖCHEL und HÄRTEL überein, dass ein solcher Wissenschaftsbegriff das universitäre und gesellschaftliche Verständnis von Wissenschaft, den Diskurs über Wissenschaft dominiert. Das ist z.B. immer wieder dann bemerkbar, wenn man mit qualitativ-interpretativen Verfahren arbeitet und dann jeweils die Kritik hört: Ja, aber mit diesen wenigen Fällen, das ist ja nicht repräsentativ! Was lässt sich damit schon aussagen?! Es ist aber u.a. auch an der zunehmenden Dominanz neurowissenschaftlichen Denkens im wissenschaftlichen Feld und der dafür zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen erkennbar. Trotzdem scheint uns die undifferenzierte Bezugnahme auf "die" Wissenschaft nicht gerechtfertigt, wenn es darum geht, das Verhältnis von Wissenschaft und Psychoanalyse zu bestimmen. [4]

Die Herausgeberinnen weisen im weiteren Verlauf selbst darauf hin, dass es in diesem wissenschaftlichen Feld auch noch Denk- und Forschungsansätze gebe, "die herkömmliche Objektivitätsvorstellungen kritisieren, das Verhältnis von Forschungssubjekt und -objekt diskutieren und empirisch wie theoretisch mit psychoanalytischen Modellen und Denkfiguren arbeiten" (S.7). In diesen anderen Ansätzen sehen sie ein großes Potenzial zur "Vervielfältigung von Erkenntnisperspektiven" und konstatieren gleichzeitig einen "aktuellen Methodenbedarf" (S.7). [5]

Mit der Psychoanalyse komme dabei ein Forschungsmodell ins Spiel, in dem in der Beziehung zwischen Forschenden und Erforschten unbewusste Beziehungsmuster, Übertragungen inszeniert würden. Als zweites seien im intentionalen Sprechen immer auch unbeabsichtigte sprachliche Verdichtungen und Verschiebungen enthalten, die auf verdrängte Triebkonflikte verwiesen. Und drittens erfordere ein psychoanalytisches Forschungsmodell auch den Einbezug und die Anerkennung von Nicht-Verstehbarem, Nicht-Wissbarem, die Anerkennung einer wissenschaftlichen Nicht-Beherrschbarkeit (S.9). [6]

LÖCHEL und HÄRTEL konstruieren also einerseits einen harten Gegensatz zwischen Psychoanalyse und Wissenschaft, um sie später wieder einander annähern zu können. Andererseits machen sie sehr wohl darauf aufmerksam, dass sich in diesen vermeintlich einheitlichen Diskursen die Spannungen gleichsam verdoppeln, wenn die Diskussionen innerhalb der Psychoanalyse von naturwissenschaftlich orientierten Modellen bis zu dekonstruktiven reichen und in den Wissenschaften immerhin so etwas wie eine Entwicklung weg vom Cartesianischen Modell hin zu einer kulturwissenschaftlich-dekonstruktiven Orientierung zugestanden wird. Die Herausgeberinnen machen selbst auf den am meisten verdrängten Umstand aufmerksam, dass es sich bei der Psychoanalyse um eine Problematisierung der Erkenntnis und des Subjekts westlicher Prägung handelt, dass sie also in Bezug auf ihren Ethnozentrismus befragt werden müsse. Das leider aber nur am Rande; so bleibt die Diskussion eines potenziellen Ethnozentrismus im Verlaufe des Bandes aus. [7]

Die festgestellten "Chancen einer Vervielfältigung von Erkenntnisperspektiven", die neue Instrumente und Herangehensweisen erfordern, sind der Fokus der Tagung, des Bandes und der Autorinnen. Für uns stellt sich die Frage, wie solche Instrumente und Methoden für die verschiedensten Disziplinen der Wissenschaften aussehen könnten: Wie lässt sich z.B. die Psychoanalyse für die Sozialwissenschaften fruchtbar machen, die auf ganz unterschiedlichen Modellen beruht? Wie für die Literaturwissenschaften, der bisher die Psychoanalyse nur als Methode des Prinzips Modell-Anwendung gegönnt war, die die Beziehungen der Figuren nur textintern oder – noch viel schlimmer – als Analyse des biografischen Autors, der biografischen Autorin untersucht? Wir stoßen hier auf starke Ablehnung in den Disziplinen, welche sich der Psychoanalyse als Erkenntnismodell, als Subjektmodell immer wieder verweigern, weil die Psychoanalyse bestimmte Denktraditionen grundsätzlich infrage stellt. [8]

Die fünf Beiträge des Bandes wollen aufzeigen, wie ein solches psychoanalytisches Forschungsmodell innerhalb von wissenschaftlicher Forschung aussehen könnte. Das Gemeinsame aller Beiträge "ist die Anerkennung von Wunsch und Angst, Konflikt und Abwehr als inhärenten Beimengungen jedweder Erkenntnis" (S.10). [9]

So wichtig und spannend wir diese einleitenden Überlegungen aus einer erkenntnistheoretischen und methodologischen Perspektive finden und ihnen im Wesentlichen zustimmen, so erzeugt das Vorwort doch gewisse Irritationen, hervorgerufen durch unseres Erachten zwei zentrale Auslassungen. [10]

Zum einen gibt es keinen Bezug auf einen aktuellen Forschungsstand jener Denk- und Forschungsansätze, die vom naturwissenschaftlich geprägten Mainstream abweichen. Als Beispiele erwähnt werden lediglich drei Arbeiten aus der psychoanalytischen Literaturwissenschaft der 1990er Jahre (SCHÖNAU 1990; PIETZCKER 1992; FISCHER 1996) und zwei Arbeiten aus der psychoanalytisch orientierten Sozialpsychologie der 1980er Jahre (LORENZER 1986; LEITHÄUSER & VOLMERG 1988). Eine weitere Einbettung in das schon bestehende und ausdifferenzierte method(olog)ische Forschungsfeld dieser nicht-dominierenden Ansätze bleibt aus. Wir denken hier insbesondere an die vielfältigen und vielversprechenden Ansätze qualitativ-interpretativer Sozialforschung, in denen eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Beziehung von Forschungssubjekt und -objekt und den latenten Inhalten von Gesprochenem und Geschriebenem stattfindet und sich finden lässt in den Diskussionen um (Selbst-) Reflexivität als wesentlichem Bestandteil methodischen Denkens und Vorgehens (vgl. z.B. BREUER 2003; BROWN 2006; KING 2004; LYNCH 2000; MRUCK & MEY 2007) oder im Ansatz der Autoethnographie als eigener Form des Schreibens und Einbeziehens der Subjektivität der Forschenden (vgl. z.B. ALSOP 2002; BRETTELL 2007; WALFORD 2007). Diese Wahrnehmungslücke in Bezug auf sozialwissenschaftliche Entwicklungen und Methoden zeigt sich nicht nur im Vorwort der Herausgeberinnen, sondern durchzieht das gesamte Buch. Ebenso ist es für die ganz unterschiedlich denkenden Geisteswissenschaften. Dass sich hier vereinzelte Forschungsgemeinschaften gerade für eine Kulturwissenschaft, deren Brüche und Wünsche stets mitreflektiert werden, stark machen, gelangt nicht zur Sprache. Die Konstruktion vom Gegensatz Psychoanalyse vs. Wissenschaft dient hier vielleicht der Phantasie der Autorinnen, am Ursprung (bzw. an der Entstehung) einer neuen Denkbewegung sich positionieren zu können. [11]

Zum andern gibt es aber auch eine Wahrnehmungslücke gegenüber psychoanalytischen Ansätzen, die für die sozial- und kulturwissenschaftliche Methodendiskussion von zentraler Bedeutung (gewesen) sind. Zu nennen sind hier der Klassiker "Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften" von Georges DEVEREUX (1984, Orig. 1967) und die Forschungsmodelle der Ethnopsychoanalyse. Zwar werden ethnopsychoanalytische Verfahren im Vorwort in einer Klammerbemerkung kurz erwähnt – in Anbetracht dessen, was die Herausgeberinnen mit ihrem Sammelband thematisieren möchten, kommt dies unseres Erachtens jedoch einer fahrlässigen Nichtbeachtung gleich. Denn die Ethnopsychoanalyse setzt sich genau mit den drei Dimensionen auseinander, an die der Sammelband aus psychoanalytischer Perspektive anknüpfen möchte:

Warum gingen diese Ansätze verloren? Wurden sie vergessen oder wurden sie nur nicht beachtet? Oder mussten sie – möglicherweise – gar abgewehrt werden? Wir möchten am Schluss unseres Beitrages – nachdem wir die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt haben – versuchen, eine Antwort darauf zu finden. [13]

2. Die einzelnen Beiträge – von unbewussten Inszenierungen in der Textanalyse

2.1 "Anmerkungen zum freudschen Erkenntnisprozess"

Den Auftakt macht Lilli GAST mit ihren "Anmerkungen zum freudschen Erkenntnisprozess" (S.12). Sie moniert zunächst die mit dem empiristic turn eingeleitete Reformulierung der Psychoanalyse hin zu einer am Faktischen, Medizinischen orientierten Fachperspektive (z.B. durch die Anbindung an die Neurobiologie). Sie verortet dort einen Spannungsabbau der eigentlich im Spannungsverhältnis sich befindenden Wissenschaften und der Psychoanalyse. Besonders aber beklagt sie den möglichen Verlust dessen, was die Psychoanalyse von Beginn an am meisten revolutioniert habe: "den Verlust einer der elaboriertesten und auch aus epistemologischer Sicht komplexesten Theorien des Subjekts, über die die Humanwissenschaften verfügen" (S.13). [14]

Diese naturwissenschaftlichen Ausrichtungen der Psychoanalyse sind nach GAST einer Denkweise der Kumulation, des Fortschritts unterworfen. Es sind Wissenschaften, die neues Wissen anhäufen und generieren wollen. Die Psychoanalyse dagegen – so GAST weiter in Anlehnung an Cornelius CASTORIADIS –

"generiert […] kein, einem linearen Wissenserwerb geschuldetes, neues Wissen, welches das alte zwangsläufig obsolet werden ließe. Das ist vor allem deshalb so, weil sich aus ihren Erkenntnissen kein kategoriales Regelwerk, keine kontextunabhängigen Gesetzmäßigkeiten extrahieren lassen, sondern stattdessen Sinnbedingungen formulierbar werden. Psychoanalyse also ist keine operationelle, kategorisierende und regelgenerierende Wissenschaft im positivistischen Sinn, sondern eine Erkenntnismethode, eine Denkpraxis, die es ermöglicht, Denkräume zu öffnen, um etwas denkbar und der Analyse zugänglich zu machen […]" (GAST, S.13) [15]

GAST nimmt nun ihren Weg entlang der Entwicklung des Freudschen Denkens, um zu zeigen, wie sie dort eine Reflexivität auf die Zirkularität und Dialektik "jeden wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses" (S.17) vorfindet. Ein solcher Erkenntnisprozess komme nicht umhin, seine eigenen Konstitutionsbedingungen zu hinterfragen, also dekonstruktiv zu verfahren. Diese "Pendelbewegung" (S.18) ist es denn auch, die Lilli GAST zu ihrer These führt (wie übrigens auch am Satzbau ebendieser These zu erkennen ist!):

"Denkmethode und Gegenstand der Psychoanalyse ereignen sich nicht nur in denselben Registern, sondern sie bedingen einander, sie gehen auseinander hervor, denn das, was den Gegenstand hervorbringt, jenes Netz dialektischer Gegenläufigkeiten, jene Bewegung in Antinomien und Gleichzeitigkeiten, jenes Denken in Aporien und Widersprüchlichkeiten, markiert ihn zugleich, graviert sich unauslöschlich ein in seine innerste Textur, wiederholt sich dort, setzt sich dort fort und strukturiert seinerseits den Prozess der Erkenntnis und auch, wie in Parenthese anzufügen bliebe, den diesen Prozess anstiftenden Wunsch." (S.18) [16]

Für GAST ist es also eben jener berühmte "Zauderrhythmus" FREUDs, der die Erkenntnis vor-, aber auch zurückschlagen lässt und nur in seinem Verlauf – dem Prozess – erst wirklich Erkenntnis bringt. Der Zauderrhythmus ist es auch, der den Wunsch ins Register der Erkenntnis einführt. Denn das "gleichzeitige Vorwärtsstürmen der Libido und das gegenläufige Zurückschnellen der Todestriebe" (S.19) ergeben nach FREUD den Zauderrhythmus. Und dieser ist Konstitutionsbedingung jedes Erkenntnisprozesses. [17]

Erst wenn die Dialektik von Erkenntniswunsch, -methode und -gegenstand anerkannt wird, kann begonnen werden, sich Denkräume zu erschließen. Interessant wäre hier nun eine Übersetzung dieser FREUD-Lektüre, dieses Freudschen Erkenntnisprozesses auf die Methodologien und Erkenntnisprozesse verschiedener Disziplinen. Doch es scheint, als ob die im Band versammelten AnalytikerInnen lieber unter sich bzw. in der FREUD-Lektüre bleiben wollten. Überlegungen zu Übersetzungsleistungen werden hier und auch in anderen Beiträgen nicht angesprochen. Die Konzeption des Sammelbandes hätte da unseres Erachtens verlangt, Fachleute aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammenzubringen und mit dieser Dialektik der Erkenntnis kurzzuschließen. Denn: Trotz der vielgelobten Inter- und Transdisziplinarität wissen immer noch die Forschenden des je eigenen Fachs am Besten, wo Problematisierungen der eigenen Methodologien nötig wären, wo es Lücken gibt, wie der Stand der Diskussion ist. [18]

2.2 Deutungslose Zeichen

Auch der nächste Aufsatz konzentriert sich vornehmlich auf die Perspektive der Psychoanalyse und die psychoanalytische Erfahrung und Methodologie und kann diese nur schwer mit anderen Wissenschaften verbinden. Dies zeigen bereits die ersten Sätze von Rolf-Peter WARSITZ:

"Hölderlins späte Zeilen über die Erinnerung eignen sich als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur psychoanalytischen Erfahrung und Methodologie, weil sie in einer anderen Sprache als der des trockenen wissenschafts-theoretischen Diskurses auch eine Spur des methodologisch Sperrigen und Metatheoretisch-Anthropologischen andeuten, ohne welches das epistemische Begründungsproblem der psychoanalytischen Erkenntnis nicht angegangen werden kann." (WARSITZ, S.31) [19]

Geht WARSITZ zwar von einem literarischen Text aus, folgt er damit aber eigentlich nur FREUDs Wegen, dessen Lektüren literarischer Texte einen wichtigen Grundstein seiner Theorieentwicklung legten. In solch gleichsam anerkannten Bahnen sich bewegend, macht WARSITZ nun im ersten Satz seines Aufsatzes wieder eine Opposition zwischen Psychoanalyse und "den" Wissenschaften auf, indem er die Literatur in die Nähe der Psychoanalyse rückt: Sind die Wissenschaften "trocken", so muss die Psychoanalyse als Methode und Erkenntnistheorie – wie die Literatur – lustvoll sein und, durch die "andere" Sprache, "andere" Erkenntnismodelle bieten. Als Literaturwissenschaftlerin sage ich [L. CIRAGAN] hier natürlich nicht nein. Als Kulturwissenschaftlerin muss ich aber gleichzeitig darauf aufmerksam machen, dass es sich hier um einen bekannten Topos handelt, der sich liebend gern fortzuschreiben scheint: Der Topos der Psychoanalyse (und der Literatur) als einzig wahrem Ort "lustvoller" Erkenntnis ist es, der sich hier – wie bereits im letzten Aufsatz gezeigt – breit macht. Worüber wir aber nachdenken wollen, ist die Möglichkeit der Resonanz von Psychoanalyse und Wissenschaften: Wo können sie einander nahegebracht werden? Wo können ähnlich gelagerte Erkenntnisprozesse für die Disziplinen entwickelt werden? [20]

Es geht unseres Erachtens nicht darum, nochmals zu festigen, dass die Unterschiede zwischen Psychoanalyse und Wissenschaften unüberbrückbar sind (und dass die Psychoanalyse gewinnt!), sondern zu zeigen, wie sie füreinander fruchtbar gemacht werden können. Diese einseitige Perspektive des Sammelbandes entsteht wohl gerade auch dadurch, dass alle Autorinnen und Autoren (auch) aus der analytischen Praxis kommen. Dringend nötig wäre eine Tagung zur selben Frage, die Fachleute aus allen Fakultäten und analytischen Praktiken versammeln würde. So kann auch eine Besprechung des Bandes in der Zeitschrift Psyche (SOLDT 2008) diese "blinden Flecken" nicht erkennen, sondern bewegt sich einzig auf der Ebene der Psychoanalyse und der systemimmanenten Kritik. [21]

2.3 Das Subjekt der Psychoanalyse in der Textanalyse

Auch der Beitrag von Karin DAHLKE eröffnet – wieder dem Tagungstitel verdankend – die Opposition Psychoanalyse und Wissenschaft und geht einer Methode "zur Textanalyse für qualitative Forschungsinterviews" nach (S.64). Diese Methode möchte nicht die Frage nach dem Subjekt der Wissenschaften produktiv machen, sondern die Frage nach dem Subjekt für die Wissenschaften. Es kann somit nicht um die Beziehung der WissenschaftlerInnen zu ihren Objekten und Subjekten gehen, sondern wiederum um eine Methode, die unbewusste Diskurse anderer lesbar machen soll. [22]

Dazu werden am Beispiel von Interviews mit deutschen Studierenden die Nachwirkungen und Fortschreibungen des 2. Weltkriegs in deren Rede untersucht. Mit LACAN denkt DAHLKE die Beziehung von Forschungssubjekt zum "großen Anderen" und bedenkt so die Konsequenzen für die Interviewsituation:

"Die Abhängigkeit des Subjekts vom Andern eröffnet also nicht nur das Feld des Unbewussten und damit auch die Möglichkeit seiner Entzifferung, sondern mit ihr steht unweigerlich die erwünschte Objektivität des Forschungsinterviews auf dem Spiel. Wie mit dieser Herausforderung an den wissenschaftlichen Anspruch umgehen? Lässt sich die Bedeutung und Funktion des Andern einfach eliminieren? Das ist kaum möglich, denn das Sprechen im Interview ist zwar einmalig, aber zugleich auch Aktualisierung der subjektiven Strukturen, die sich im Subjekt immer schon in Bezug auf das Begehren des Andern eingeschrieben haben." (S.70) [23]

Wird an eine solche Subjektstruktur "geglaubt", muss das Verständnis von Wissenschaft erschüttert werden. Gerade deshalb erscheint die Psychoanalyse als gefährliches Moment, wenn die Wissenschaften sich über ihre eigene Logik verständigen und dadurch kanonisieren. Doch auch auf eine andere Weise gerät die Wissenschaft unter Beschuss: Gerade in jenem Moment, in dem die Autorin vom Begehren und seiner Funktion im Wissensprozess spricht, die Psychoanalyse also im Feld der wissenschaftlichen Methodologien einführen will, kommt eine neue Abwehr zum Vorschein. So wird dieses Begehren nun auf gerade jene gemünzt, die die "Wissenschaften" als Objekte hervorbringen. Es sollen hier Texte und Interviews gelesen, entziffert, analysiert werden. Doch wo bleibt die Wissenschaftlerin/der Wissenschaftler? Kann sie/er sich aus der Beziehung ausnehmen? [24]

So gefragt, sagen wir: nein. Das könnte höchstens über eine Abwehr funktionieren. Müsste man sich selbst als begehrendes Forschungssubjekt wahrnehmen, wie könnte da eine Methodologie noch für andere nachvollziehbare Ergebnisse bringen? So wird denn diese Frage dem eigenen Begehen geopfert, das Begehren dem Anderen übertragen und so das wissenschaftliche Objekt erneut gefestigt. [25]

Aber:

"Die anspruchsvolle Handhabung des dazugehörigen szenischen Verstehens zur Deutung der Übertragung als Methode der Forschung führt Löchel (1997) eindringlich für ihr Forschungsprojekt vor Augen. Das Verfahren, das ich hier vorstellen möchte, deutet das Sprechen des Subjekts und den daraus produzierten Interviewtext ebenfalls als Übertragungsgeschehen." (S.72) [26]

Mit dieser Methode rückt die Interviewerin, der Interviewer quasi an die Stelle der Analytikerin, des Analytikers. Er/sie soll sich jegliche kommunikative Rückmeldung versagen, um an den Diskurs des Unbewussten des Anderen gelangen zu können:

"Die Intervention des Analytikers besteht darin, dem Anspruch nicht nachzugeben, sondern dafür zu sorgen, dass das Sprechen durch die Enttäuschung seines Anspruchs in Bewegung gerät, so dass der Diskurs des Subjekts sich zu drehen beginnt. […] Auch die Intervention im Interview sollte vor allem die Öffnung des Sprechens anvisieren. Zu diesem Zweck wird sie sich insbesondere jeder spiegelnden Resonanz versagen. Diese Versagung stellt zweifellos eine große Herausforderung dar, da sie an tief eingeschliffene Gewohnheiten rührt. In der alltäglichen Konversation werden unendlich viele Signale der Bestätigung gegeben." (S.73-74) [27]

Hier hören wir bereits den leisen, aber bestimmten Aufschrei mancher AnalytikerInnen. Ist diese "Übertragung" der analytischen Situation wirklich möglich, oder handelt es sich wieder einmal um einen Fall von "wilder Analyse"? Natürlich ist es Letzteres, doch gerade deshalb müssten die Grenzen einer solchen Übersetzung aus dem analytischen Kontext mitgedacht werden. [28]

2.4 Verwicklungen im Zeichen der "Gradiva"

Der wohl titelgebende Aufsatz von Elfriede LÖCHEL beginnt nun endlich mit einer Anmerkung zu den Dimensionen von Verwicklungen, die sich in einem Forschungszusammenhang ergeben können. So wird nicht nur vom wissenschaftlichen "Objekt" und dessen unbewussten Diskursen gesprochen, sondern die wissenschaftliche Tätigkeit selbst kommt zur Sprache:

"Die spontane Reaktion auf Unbewusstes ist Flucht. Es bedarf einer methodisch gestützten und reflektierten – dennoch stets gefährdeten – Haltung, dieser Fluchtbewegung im Inneren nicht nachzugeben. Das gilt für die analytische Situation ebenso wie für die Begegnung mit Unbewusstem in literarischen Texten und Kunstwerken und nicht zuletzt auch in der wissenschaftlichen Forschung." (LÖCHEL, S.93) [29]

In einer parallelen Lektüre von JENSENs Gradiva und FREUDs Lektüre von JENSENs Gradiva1) gelingt es LÖCHEL, einige Umstände ihrer Forschungstätigkeit zu nennen und damit transparent zu machen. Nach einer ersten Ablehnung, sich näher mit der "Gradiva" zu befassen, weckt die "Diskrepanz zwischen nachträglicher Entwertung und anfänglich so offen bekundeter Idealisierung" im Urteil FREUDs ihre Neugier. Sie bemerkt dabei, dass – sie meint: "erstaunlicherweise" – ihr Urteil sich mit demjenigen FREUDs decke: "Ich fand das Ganze 'nicht besonders wertvoll' – und das ist erstaunlicherweise auch das Urteil, das Freud selbst, fast 20 Jahre später, über Jensens Novelle trifft." (LÖCHEL, S.95) [30]

20 Jahre später sind hier 20 Jahre Wissenschaftsgeschichte. Der frühe FREUD, noch voller Lob für die Novelle, sieht sich in der Zeit seiner kulturtheoretischen Entwicklungen eher enttäuscht. LÖCHEL fragt sich schließlich: "Sollte ich mit meiner spontan ablehnenden Reaktion schon auf ein unbewusstes Beziehungsangebot des Textes eingestiegen sein, so fragte ich mich, und wenn ja, in welchen Konflikt hatte ich mich verwickeln lassen?" (S.95) [31]

Diese Frage führt sie nun dazu, genau der Frage nach Idealisierung und Entwertung in den Texten JENSENs und den Texten FREUDs nachzugehen. Dies tut sie nicht nur anhand der Beziehung von FREUD und JUNG, sondern auch theoriegeschichtlich, über eine Verortung der "Wissenschaftsgeschichte" FREUDs. Sie schließt nach ihrer ausführlichen Lektüre mit der "Selbstanalyse", mit der FREUD das "erstarrte Subjekt-Objekt-Verhältnis der klassischen Wissenschaft revolutioniert hat" (S.119) und möchte wohl so – implizit – die Selbstanalyse als zukünftiges Modell für wissenschaftliche Tätigkeiten vorschlagen. [32]

2.5 Moses, FREUD und die Kunstbetrachtung

Insa HÄRTEL befasst sich nun mit FREUDs "Moses"-Studie. Auch sie möchte FREUDs "Methode" aus dem klinischen Umfeld lösen, um sie für die Kunst- und Kulturwissenschaft fruchtbar zu machen. Dabei spricht sie die Gefahr von wilden Analysen an ("unfriendly takeovers", S.124), die, so HÄRTEL, sich psychoanalytisches Denken aneignen und es dabei doch völlig verfehlen. HÄRTEL sieht dagegen in jenen Praktiken Sinn, die die psychoanalytischen Denkformen reflektieren und "ihren Hervorbringungskontext" (S.124) überschreiten. [33]

Dabei scheint es auch für HÄRTEL so zu sein, dass sich ein Aufsatz FREUDs besonders eignet, der nicht aus dem klinischen Rahmen stammt: "Der Moses des Michelangelo" von 1914, eine "kunstwissenschaftliche" Abhandlung, die jedoch psychoanalytischer Methodik folge. [34]

Sie entwickelt ihr Argument im Spannungsfeld von Autorschaft und Begehren. Publiziert FREUD die Abhandlung zunächst anonym, sieht HÄRTEL darin vor allem den Versuch, ein bestimmtes Begehren in seinem Text zu verankern: das Begehren des Anderen nach dem Autor. Doch auch ein anderes scheint sich darin zu finden. FREUD packt angesichts der Statue eine Ergriffenheit, die er sich nicht erklären kann und die ihn buchstäblich be"fremdet": "Eine rationalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warum ich es bin, und was mich ergreift." (FREUD, "Moses des Michelangelo", GW, 172, zitiert nach HÄRTEL, S.128) [35]

Wichtig wird hier vor allem, dass der Moment des Rationalisierens durch einen Affekt ausgelöst wird: "dass die affektive Wirkung an Prozesse des Symbolisierens oder Theoretisierens zu binden ist. Ohne eine Bindung 'verwandelt sich jeder Affekt in Angst' (Kofman, 1985/1993, S.28) und wird jede Form der Repräsentation ungenießbar." (HÄRTEL, S.128) [36]

Deutlich wird während der Lektüre von HÄRTELs Text, dass Interpretation immer schon Rationalisierung ist. Jede Theoretisierung müsste daher transparent machen – so HÄRTEL –, welche Affekte hier "gebunden" werden (sollen):

"[T]he interpretive gesture [...] is always based upon a prior rebellion against the object's power. It is the aggression and the desire in that rebellion which constitute the most authentic encounter with the object's power, where we experience not only the object's force but equally our own powerful drive to understand, to possess, that which moves us so intensely." (GALLOP 1988, S.141, zitiert nach HÄRTEL, S.128) [37]

HÄRTEL schreitet so FREUDs Text entlang, der schließlich die Gegenübertragung als Erkenntnismoment einführt. Erst so – und durch die Lektüre "vernachlässigter Formdetails" (S.146), die nun der Aufmerksamkeit zugänglich werden, wird das Objekt auf gewisse Weise erzählbar. [38]

3. Machtvolle Verwicklungen

Was im Vorwort propagiert wird – der Einbezug des Forschungssubjektes mit seinem Begehren und seinen Konflikten, die unbewussten Inszenierungen in der Forschungsbeziehung – wird leider und erstaunlicherweise in keinem der Artikel eingelöst. Nur E. LÖCHEL bringt sich selbst als Forscherin am Anfang ihres Beitrages ganz kurz ein. Das ist nicht nur schade, weil wir das damit verbundene Forschungsverständnis und die Reflexionen darüber grundlegend wichtig finden, sondern es wirft auch Fragen auf: Wie kann es zu einem solchen Widerspruch zwischen Anspruch und Nichteinlösung kommen? [39]

Wir gehen davon aus, dass in dieser auffälligen Wahrnehmungs- und Reflexionslücke Verwicklungen verborgen bleiben, die nicht aufgedeckt werden können, dürfen oder wollen, weil sie auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse hinweisen. Die Ethnopsychoanalyse spricht in diesem Zusammenhang von gesellschaftlicher Produktion von Unbewusstheit (vgl. ERDHEIM 1982): "Der Widerspruch in der Gesellschaft ist zum Widerspruch im Subjekt geworden. Das Ich erscheint nun nicht mehr allein als Widerpart der gesellschaftlichen Umwelt; es trägt auch die gesellschaftlichen Widersprüche als Rollenidentifikationen in sich." (PARIN 1983, S.120) Der Soziologe Pierre BOURDIEU verweist auch auf die Wirksamkeit und Anerkennung symbolischer Macht, einer Macht, "die auf der unbewussten Anpassung der subjektiven an die objektiven Strukturen beruht, […] die über einen sozialen Akteur unter Mittäterschaft dieses Akteurs ausgeübt wird" (BOURDIEU & WACQUANT 2006, S.203f.). [40]

Im Vordergrund des besprochenen Buches stehen nicht Forschungsergebnisse und Verwertungszusammenhänge, sondern der jeweilige Forschungsprozess. Es braucht aber nicht nur neue Methoden, sondern grundlegend auch neue wissenschafts- und erkenntnistheoretische Positionierungen. Und dies ist quasi eine wissenschaftspolitische Entscheidung. Politisch deshalb, weil es um die Wahrnehmung und Legitimierung von sozialer Wirklichkeit und sozialer, aber auch wissenschaftlicher Praxis geht. Da hinein spielen immer gesellschaftliche und als ein Ausdruck davon wissenschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, dominierende und dominierte Positionen; ein Zusammenhang, der nur in seltenen Fällen direkt erkennbar und bewusst ist – und deshalb als gesellschaftliches, wissenschafts- und erkenntnistheoretisches Unbewusstes wirksam wird, das es aufzudecken gilt. [41]

Die Lösung, um dies zu tun, ist jedoch nicht einfach, Psychoanalyse nicht als Wissenschaft zu denken, um der Gefahr zu entgehen, "in eine defensive Erstarrung oder opportunistische Selbstauflösung zu geraten" und "die spezifische Eigenart psychoanalytischen Denkens" zu verlieren, wofür die Herausgeberinnen im Vorwort plädieren (vgl. S.5). Sondern es geht zum einen darum, Psychoanalyse als Wissenschaft zu denken, und zwar als subjekt-, gesellschafts- und erkenntniskritische Wissenschaft. Und zum anderen geht es darum, Wissenschaft als (gesellschafts-) politisches Feld zu verstehen, eingebunden in gesellschaftliche Machtverhältnisse, in dem herrschendes und beherrschtes Wissen produziert wird. Dabei ist es unumgänglich, sich mit der Angst vor einem sozialen Sterben auseinanderzusetzen: "Das soziale Sterben ist jener Prozess, in welchem die sozialen und kulturspezifischen Rollen zerfallen, die unbewussten Werte und Identitätsstützen ins Wanken kommen und damit auch die diesen Verhältnissen angepassten Wahrnehmungsformen" (ERDHEIM & NADIG 1987, zitiert nach ERDHEIM 1988, S.74). [42]

Sich auf solche Prozesse einzulassen, ist weniger eine Frage des Mutes als vielmehr mit der Frage verbunden, was wir mit unserer wissenschaftlichen Tätigkeit wollen. Denn es ist "weder wissenschaftlich gleich gültig noch gesellschaftlich gleichgültig, welche Forschungsfrage gestellt und in welcher Perspektive verfolgt wird" (MARKARD 2007, S.9). [43]

Hier geht es nicht nur um einen Einbezug des Forschungssubjektes in den Erkenntnisprozess, sondern um die gesellschaftliche Verortung dieses Forschungssubjektes in und über diesen Erkenntnisprozess hinaus. Denn die vielfältigen Verwicklungen von Forschungssubjekt und Forschungsobjekt müssen nicht nur als Bedingung von, sondern auch als potenzielle Grenze für wissenschaftliche Erkenntnisprozesse reflektiert werden. Nur wenn man versteht, welches die gesellschaftlichen Bedingungen von (wissenschaftlichem) Verstehen und (wissenschaftlicher) Erkenntnis sind, werden auch die gesellschaftlichen Grenzen dieses Verstehens erkennbar, reflektierbar und potenziell veränderbar. [44]

Nachdem unsere Besprechung vor allem die Lücken und Defizite hervorgehoben und kritisiert hat, möchten wir doch auch noch jene äußerst positive Seite des Buches herausstreichen, die uns überhaupt dazu verführt hat, es zu lesen. So schließen wir uns der Meinung von Philipp SOLDT an, der schreibt: "Jeder Beitrag lässt sich auch als Kommentar zur wissenschaftspolitischen Lage der Psychoanalyse lesen, als selbstreflexiver Einspruch gegen die eilfertige Bereitschaft von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, sich auf ihren Fachtagungen von Studien zum evidenzbasierten Outcome bestimmter Therapiemodule" vereinnahmen zu lassen (vgl. SOLDT 2008, S.321). Und wir ergänzen: Jeder Beitrag lässt sich auch als Versuch verstehen, die Wirkungsmacht dominierender Wissensformen zu unterlaufen. Diese Versuche sind es durchaus wert, fortgesetzt zu werden. [45]

4. Die eigenen subjektiven und objektiven Verwicklungen

Abschließend möchten wir noch kurz unsere eigenen Verwicklungen mit unserem Forschungsgegenstand – dem zu besprechenden Buch – skizzieren. Es ist ein Entwurf der möglichen Gründe, warum wir in unserer Rezension vor allem die Lücken und Defizite hervorgehoben haben. [46]

Zum einen sind wir mit gewissen Erwartungen und Vorstellungen an die Lektüre des Buches gegangen, die zum Teil enttäuscht oder irritiert wurden. Das hat sicher gewisse Aggressionen ausgelöst, die wir in der kritischen Besprechung sublimiert haben. [47]

Zum andern pendeln wir beide immer wieder zwischen den Polen sehr großer Verunsicherung und gewisser Allmachtsphantasien, was unsere intellektuelle Leistung(sfähigkeit) anbelangt. Dadurch stellen wir auch immer wieder unsere Verortung und grundsätzlicher unsere Teilnahme im wissenschaftlichen Feld infrage. Dies so offen zuzugeben, macht uns nicht nur sehr angreifbar, sondern widerspricht auch dem wissenschaftlichen Habitus, der Souveränität im wissenschaftlichen Feld suggerieren muss: WissenschaftlerInnen haben sich in der Wissenschaft wie ein Fisch im Wasser zu bewegen. Verunsicherungen und Allmachtsphantasien gehören nicht in dieses Bild, sondern werden als individuelle "Schwächen" abgespalten. Darüber öffentlich (nicht nur im Freundeskreis) zu sprechen, bedeutet, sich eine Blöße zu geben – wenn man es aus einer individualisierten Perspektive heraus betrachtet. Es kann aber auch bedeuten, an einem Tabu zu rühren, eine Art wissenschaftliches Schweigegebot zu brechen. Nämlich das Schweigen darüber, dass es keine freischwebende wissenschaftliche Leistung(sfähigkeit) gibt, sondern diese einem komplexen Zusammenspiel von Darstellungs-, Zuschreibungs- und Anerkennungsprozessen unterliegt, welche wiederum eng verwoben sind mit Machtpositionen, die die Beteiligten innerhalb und/oder außerhalb des wissenschaftlichen Feldes inne haben (vgl. dazu exemplarisch BOURDIEU 1988). [48]

Anmerkung

1) "Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück" von Wilhelm JENSEN ist eine Novelle, die FREUD zu einer Lektüre und Interpretation dieses literarischen Textes veranlasste. FREUD war zu der Zeit gerade dabei, seine Theorie des Unbewussten und der Libido weiter zu stärken. LÖCHEL liest nun JENSENs Gradiva parallel zu FREUDs Interpretation, um so einige Auslassungen FREUDs für eine neue Interpretation stark zu machen. <zurück>

Literatur

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Zu den Autorinnen

Leyla CIRAGAN promovierte am Deutschen Seminar der Universität Zürich mit der Arbeit "Konversion(en) – Performanz und Tradierung bei Rahel Levin/Varnhagen". Sie ist Mitglied des interdisziplinären Graduiertenkollegs "Gedächtnis, Körper und Geschlecht" 2005-2008 der Universität Zürich. Ihre Forschungsinteressen liegen in der – diskursanalytischen – Untersuchung "deutsch-jüdischer Kulturgeschichte" um 1800, poststrukturalistischer (Literatur-) Theorie, der Frage nach den Geschichtsbildern und den damit verbundenen Erzählweisen der Gegenwartsliteratur sowie der Fruchtbarmachung von Widerständen für eine Methode der Literaturwissenschaften. Publikationen: Konversion(en) – Performanz und Tradierung bei Rahel Levin Varnhagen. Erscheint 2009 bei Fink.

Kontakt:

Dr. des. Leyla Ciragan

E-Mail: laley@gmx.net
URL: http://www.ciragan.ch/

 

Sandra DA RIN hat Soziologie, Pädagogik und Philosophie studiert. Sie arbeitet als wissenschaftliche Bibliothekarin an der Universität Zürich und als freischaffende Forscherin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungssoziologie, Soziale Ungleichheiten, Geschlechterforschung, Ethno-/Psychoanalyse, Methoden und Methodologien interpretativer Sozialforschung.

Kontakt:

lic. phil. Sandra Da Rin

Rieterstrasse 33
8002 Zürich
Schweiz

Tel.: +41 43 344 53 19

E-Mail: sdarin@bluewin.ch

Zitation

Ciragan, Leyla & Da Rin, Sandra (2008). Rezension zu: Elfriede Löchel & Insa Härtel (Hrsg.) (2006). Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft (Psychoanalytische Blätter Band 27) [48 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(3), Art. 4, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs080341.

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