Volume 9, No. 3, Art. 7 – September 2008

Rezension:

Dirk Rupnow

Hannes Heer, Walter Manoschek, Alexander Pollak & Ruth Wodak (2008). The Discursive Construction of History. Remembering the Wehrmacht's War of Annihilation. Basingstoke – New York: Palgrave Macmillan 2008, xvi+331 Seiten, ISBN 978-0-230-01323-0, £55.00 / $80.00

Zusammenfassung: Die beiden Wehrmachtsausstellungen (1995/2001) sowie die mit ihnen verbundenen Debatten stellen ein wichtiges Kapitel der deutschen und österreichischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen dar. Sie haben nicht nur die Nachkriegslegende von der "sauberen Wehrmacht" nachhaltig infrage gestellt, sondern auch das Bild vom Charakter des Völkermords und der an ihm beteiligten Täter verändert. Ruth WODAK und ihr interdisziplinäres Team beleuchten sowohl die Verbrechen der Wehrmacht selbst wie auch ihre nachfolgende Rezeption und Repräsentation. Der Band bietet einen exzellenten Überblick über diesen wichtigen Teil der Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust und kann auch von seinem Zuschnitt und Aufbau her als vorbildhaft für vergleichbare Forschungen gelten.

Keywords: Kritische Diskursanalyse; Holocaust; Zweiter Weltkrieg; Gedächtnis; Repräsentation

Inhaltsverzeichnis

1. Wehrmachtsausstellung I und II

2. Das unsichtbare Verbrechen

3. Ereignis und Erinnerung

4. Sonderfall Österreich

5. Holocaust-Erinnerung im 21. Jahrhundert

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Wehrmachtsausstellung I und II

Die Geschichte ist mittlerweile gut bekannt. Sie ist zu einem eigenständigen Kapitel dessen geworden, was man sich in Deutschland und Österreich angewöhnt hat, unsinniger-, aber durchaus entlarvenderweise "Vergangenheitsbewältigung" zu nennen, als gäbe es die Möglichkeit, das Geschehene zu meistern, mit ihm fertig zu werden und an ein Ende zu kommen: Das Hamburger Institut für Sozialforschung erarbeitete im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert eine Ausstellung über den "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944", die bei ihrer Präsentation im Jahr 1995 einige für die Nachkriegsgesellschaften der Täter durchaus zentrale Geschichtsbilder ins Wanken brachte. Es wurden nicht nur die Massenverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung am Kriegsschauplatz im Osten in den Blick gerückt, von Demütigungen über Pogrome bis zu Massenerschießungen, sondern auch die nach 1945 konstruierte säuberliche Trennung zwischen Wehrmacht auf der einen und NS-Organisationen wie der SS und der antisemitisch-rassistischen Vernichtungspolitik des Regimes auf der anderen Seite infrage gestellt. Plötzlich gab es nicht mehr nur Auschwitz mit seinen unpersönlichen Gaskammern, die keinen Einblick gewähren und den Mördern das Handwerk leicht machten, sondern auch die "killing fields" im Osten, auf denen konventionell, doch mit System getötet – und dabei erstaunlich viel fotografiert – wurde. Die von den Wehrmachtssoldaten selbst und im allgemeinen wohl in Übereinstimmung mit den abgebildeten Vorgängen "geschossenen" Aufnahmen wurden gegen sie gewendet, in ein Instrument der Anklage und Aufklärung verwandelt. [1]

Da die Wehrmacht mit etwa 18 Millionen Angehörigen die bei weitem personenstärkste Organisation innerhalb des "Dritten Reichs" war, musste dies einigermaßen folgenreich sein. Die Gruppe der Beteiligten an den nationalsozialistischen Verbrechen bis hin zum systematischen Völkermord wurde so wesentlich erweitert. Heftige Diskussionen und Kritik blieben dementsprechend nicht aus. Die Debatte wurde in Deutschland bis in Stadtparlamente, Landtage und den Bundestag hinein geführt. Die Gegner und Gegnerinnen der Ausstellung, die das Bild der "sauberen Wehrmacht" grundsätzlich nicht infrage gestellt wissen wollten, versuchten die These der Ausstellung vor allem mit den in ihr präsentierten Fotografien auszuhebeln. Sie standen im Mittelpunkt der Ausstellung und gaben den Tätern ein Gesicht, das den Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern allzu bekannt vorkommen musste: es waren ihre Männer, Väter und Großväter – und teilweise noch sie selbst. Vor allem diese Fotografien waren es, die – deutsche Soldaten beim täglichen, durchaus archaischen Handwerk des Tötens abbildend – zu einer breiten Rezeption der Ausstellung, zu Schock und Skandal, ja geradezu zu einem "Bildbruch" geführt hatten. [2]

2. Das unsichtbare Verbrechen

Das direkte Morden bei Massenerschießungen war lange Zeit in den Hintergrund gedrängt und vergessen worden. Dabei waren "nur" etwa 60 Prozent der sechs Millionen ermordeten Juden und Jüdinnen in den Gaskammern der Vernichtungslager umgebracht worden. Mit dem Namen des Standorts des größten Komplexes von Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslagern im NS-Machtbereich, "Auschwitz", ist in den 1960er Jahren jedoch das fabrikmäßige Töten zum Signum des nationalsozialistischen Massenmords geworden. Die Gaskammern wurden als die spezifische Tötungstechnik der "Endlösung" herausgestellt, der Holocaust auf einen industriellen Charakter festgeschrieben. Was sich in ihnen abgespielt hat, ist nicht nur nicht sichtbar, sondern gilt auch als undarstellbar und unverstehbar. Bei der Gaskammer handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine "Black Box", um einen hermetisch abgeschlossenen Raum, dessen innere Vorgänge sich dem Blick entziehen. Die Undarstellbarkeit des Sterbens in den Gaskammern der Tötungslager wurde zum Argument für die Undarstellbarkeit des NS-Völkermords überhaupt. Auch in der Geschichtswissenschaft wurde dieses Bilderverbot lange eingehalten: Nicht nur visuelle Repräsentationen wurden gemieden, sondern auch detaillierte Beschreibungen und Darstellungen des Verbrechens. Die Auslassung konnte dabei unterschiedliche, teilweise gut nachvollziehbare Motive haben, etwa Selbstschutz der recherchierenden Historiker und Historikerinnen, ein durchaus verständliches Nicht-Ertragenkönnen der Schilderungen der Verbrechen, sie konnte begründet werden mit dem Hinweis auf Mitleid mit den Opfern, konnte bewusst einen obszönen Voyeurismus und reißerische Schilderungen vermeiden wollen – immer jedoch hat sie eine Konfrontation mit der Gewalt erspart, die konkrete Praxis der Verbrechen letztlich verschleiern geholfen. [3]

Das Überbetonen der Unvorstellbar- und Unbeschreibbarkeit kann leicht in ein entlastendes und exkulpierendes Moment umschlagen, sie spielt vor allem den Tätern in die Hände. Scheinbar paradoxerweise, doch durchaus im Sinne der Täter ermöglichte noch die Gaskammer eine Repräsentation des Verbrechens, ohne dabei Täter als unmittelbar Beteiligte erinnern zu müssen, und darüber hinaus als Symbol für die Vernichtungspolitik eine partielle Verdrängung des Massenmorde(n)s selbst. Das Symbol der Massenvernichtung konnte gleichzeitig zur Ausrede für die Deutschen und ÖsterreicherInnen werden: das Verbrechen vollzog sich fern von ihnen und war nicht einsehbar, man konnte nicht nur von den Verbrechen nichts wissen, sondern es hatte auch niemand direkt getötet – ein Verbrechen ohne Verbrecher, eine Tat ohne Täter wurde konstruiert. Die Bilder und Begriffe von Tat und Tätern nach 1945 befinden sich damit in einer eigentümlichen Kontinuität mit den Absichten der Täter, schreiben die von ihnen erzeugte Blindstelle fort. [4]

Die Kritik an den Bildern der Wehrmachtsausstellung führte im November 1999 zur Verhängung eines Moratoriums und zur Einrichtung einer HistorikerInnenkommission, die die Ausstellung und die in ihr gezeigten Fotografien überprüfen sollte. Sie war vor allem von osteuropäischen Historikern und Historikerinnen initiiert worden, gehörte aber zum Allgemeingut der ursprünglicheren konservativen Gegner: bestimmte Fotos würden nicht Opfer der großdeutschen Wehrmacht, sondern des sowjetischen Geheimdienstes NKWD zeigen. Doch obwohl die grundlegende These einer Einbindung der Wehrmacht in die Vernichtungspolitik des NS-Regimes im kommissionellen Bericht bestätigt und darüber hinaus festgehalten wurde, dass dies bereits seit den Nürnberger Prozessen eine für die Wissenschaft gesicherte Tatsache darstellt, schließlich weniger als 20 von über 1.400 Fotos identifiziert wurden, die nicht Verbrechen der Wehrmacht zeigten, zog Jan Philipp REEMTSMA die Ausstellung zurück – kurz bevor eine englischsprachige Version in New York durch die USA zu wandern begonnen hätte – und gab bei einem anderen Team von HistorikerInnen eine Neubearbeitung in Auftrag. Die zweite Wehrmachtsausstellung mit dem Titel "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" (2001) stellte allerdings eher eine Rücknahme ihrer Vorgängerin aus dem Geiste der Staatsräson dar als ihre Fortsetzung. Die Thesen waren nun auch für ihre KritikerInnen erträglich. Ihre Vorgängerin und die von ihr hervorgerufenen Diskussionen wurden von ihr bereits historisiert. [5]

3. Ereignis und Erinnerung

Ein interdisziplinäres Team um die Wiener Sprachwissenschaftlerin Ruth WODAK (derzeit an der Lancaster University), bestehend aus weiteren VertreterInnen einer kritischen Diskursanalyse, HistorikerInnen und PolitologInnen (darunter auch zwei MitarbeiterInnen der ersten Wehrmachtsausstellung), hat sich mit der Konstruktion von Erinnerungen an den Vernichtungskrieg der Wehrmacht beschäftigt. Das zugrundeliegende mehrjährige Forschungsprojekt geht auf WODAKs Wittgenstein-Preis zurück, der höchsten Auszeichnung für WissenschaftlerInnen in Österreich, die ihr 1996 verliehen wurde. Im nun erschienenen Band "The Discursive Construction of History" schlagen die AutorInnen in elf Kapiteln einen weiten Bogen und liefern so eine dichte Beschreibung: von den Verbrechen der Wehrmacht selbst und der Selbstwahrnehmung der Kriegsgeneration (Walter MANOSCHEK, Hannes HEER) über die Nachkriegskonstruktion einer "sauberen" Wehrmacht und die Stilisierung der Soldaten zu Opfern (Günther SANDNER, Walter MANOSCHEK, Alexander POLLAK, Sabine LOITFELLNER) bis hin zu den beiden Wehrmachtsausstellungen und ihrem Widerhall in Deutschland und Österreich (Alexander POLLAK, Ruth WODAK, Hannes HEER, Heidemarie UHL). [6]

Ausgangspunkt ist die Frage, wie Gesellschaften mit traumatischen Erinnerungen umgehen und Bilder der Vergangenheit konstruieren. Die AutorInnen umkreisen diese Frage mit quellengesättigten Einzelstudien, die sich wie ein Mosaik zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Dabei beziehen sie ein breites Spektrum von Quellen ein und machen es für die Beantwortung der zentralen Fragestellung fruchtbar: die Feldpostbriefe deutscher Soldaten ebenso wie die Antworten ehemaliger österreichischer Wehrmachtssoldaten vom Anfang der 1980er Jahre aus einer Umfrage über ihre damaligen Werte und Anschauungen oder auch die Interviews von Zeitzeugen nach der Konfrontation mit der ersten Wehrmachtsausstellung in Wien 1995, die von der österreichischen Filmemacherin Ruth BECKERMANN aufgezeichnet wurden. Neben österreichischen Printmedien, Parlamentsdebatten und der Gesetzgebung werden auch Schulbücher, TV-Dokumentationen und sogar eine Folge der Krimiserie "Tatort" des deutschen Fernsehens analysiert, die sich um eine fiktive Fotoausstellung mit dem Titel "Verbrannte Erde" über Verbrechen der deutschen Wehrmacht dreht. Eine grundlegende Einführung von Hannes HEER und Ruth WODAK in den theoretischen Rahmen aus Gedächtnis- und Diskurstheorien, eine Darstellung der Vorgänge und Debatten um die erste Wehrmachtsausstellung sowie eine Analyse der zweiten, der Veränderungen und ihrer Rezeption vervollständigen das Bild. [7]

Jenseits einer Vielzahl von wohlfundierten und interessanten Einsichten zeichnen vor allem zwei Besonderheiten den Band aus. Beide erscheinen naheliegend, für eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema vielleicht sogar unabdingbar, können aber keinesfalls als selbstverständlich in der heutigen Forschung gelten. Sie hätten im Band selbst dementsprechend noch deutlicher programmatisch hervorgehoben und erörtert werden können: Zum einen werden die Vorgänge während des Zweiten Weltkriegs und ihre nachträgliche Rezeption und Repräsentation zusammen betrachtet. So entsteht nicht nur ein facettenreiches, sondern vor allem auch ein abgerundetes Bild, denn die Verbrechen sind aus der heutigen Warte ohne die nachfolgenden Wege von Erinnerung und Repräsentation genausowenig zu verstehen wie die Nachkriegserinnerung ohne eine detaillierte Kenntnis der ihnen vorausgehenden Ereignisse eingeschätzt und beurteilt werden kann. Bedauerlicherweise scheinen gerade im deutschen Sprachraum die Analyse des Holocaust und der an ihn geknüpften Erinnerung und Repräsentation immer weiter auseinanderzudriften, sodass sich zunehmend zwei völlig voneinander getrennte Forschungsbereiche etabliert haben, die kaum miteinander ins Gespräch kommen. Der vorliegende Band steuert erfreulicherweise genau in die entgegengesetzte Richtung und weist den Weg zu einer Engführung der ereignisgeschichtlichen Perspektive mit einer kulturwissenschaftlichen Analyse. [8]

Zum anderen verfolgen WODAK und ihre MitautorInnen implizit weitgefaßte und integrative Begriffe von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, die die Geschichtswissenschaft ebenso einschließen wie den Schulunterricht oder massenmediale Darstellungen. Auf der einen Seite wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit häufig immer noch von nicht-wissenschaftlichen Repräsentations- und Rezeptionsformen abgegrenzt. Während die Geschichtswissenschaft fraglos besonderen Regeln gehorcht und spezifische Funktionen erfüllt, so ist sie dennoch Teil der Erinnerungskultur einer Gesellschaft und keineswegs grundsätzlich von ihr unterschieden oder getrennt. Sie ist zwar nicht mit Gedenken zu verwechseln, aber damit noch lange kein Widerpart von Gedächtnis und Erinnerung, sondern vielmehr eine spezifische Form von beidem. Auf der anderen Seite wird der Blick oft auf öffentliche Rituale, Ausstellungen, Museen, Denkmäler und Gedenkstätten – also ein sehr spezifisches Feld absichts- und großteils auch weihevoller Erinnerungskonstruktionen – verengt, während andere Bereiche wie etwa die Populärkultur häufig unbeachtet bleiben, obwohl diese möglicherweise viel nachhaltiger das Bild breiter Bevölkerungsschichten von der Vergangenheit beeinflussen. Nicht zuletzt an diesem Punkt wird auch deutlich, wie gewinnbringend die interdisziplinäre Zusammenarbeit für dieses Themenfeld ist. [9]

Beide Aspekte scheinen nicht nur sinnvoll, sondern durchaus notwendig zu sein, um zu einem detaillierten Verständnis der Vergangenheit und des Umgangs mit ihr zu kommen. Nur so werden wir vielleicht auch jemals verstehen können, wie es möglich war, dass in der deutschen und österreichischen Gesellschaft zunächst sehr schnell Verbrechen bis hin zum Mord als legitimiert umgedeutet werden konnten, und wie sich diese Gesellschaften noch schneller, zumindest oberflächlich, daraufhin wieder von diesem mörderischen Wertesystem verabschiedet haben. [10]

4. Sonderfall Österreich

Mit dem Band liegt die Übersetzung einer 2003 im Wiener Czernin-Verlag erschienenen Originalausgabe vor. Er gewährt nun auch einem englischsprachigen Publikum Einblicke in die geschichtspolitischen Debatten und erinnerungskulturellen Entwicklungen rund um die zwei Wehrmachtsausstellungen. Dies ist umso mehr zu begrüßen, als damit auch ein differenzierter Blick auf die Besonderheiten der österreichische Nachkriegserinnerung präsentiert wird, die allzu häufig hinter der dominierenden deutschen Erinnerungskultur verschwindet oder ihr leichtfertig subsumiert wird. Dabei kann die österreichische Situation nur mit dem Blick auf ihre sehr spezifische, von Deutschland durchaus unterschiedene Ausgangslage verstanden werden: Während das Land staatsrechtlich ein Opfer Hitler-Deutschlands war, waren es die Österreicher und Österreicherinnen wohl nicht mehr oder weniger als die Deutschen selbst. Natürlich gab es Widerstand, nicht selten resultierte er vermutlich aus einer Enttäuschung über die ausgebliebene Aufwertung innerhalb des "Dritten Reichs". Viel häufiger aber kam es zu einer Beteiligung am System und seinen Verbrechen, die sich nicht von dem Verhalten von BerlinerInnen, BayerInnen oder WestfalInnen unterschied. Nach Kriegsende konnte sich das wiedererstandene Österreich allerdings auf die Rolle des Opfers zurückziehen – eine Option, die zumindest dem westdeutschen Teilstaat nicht offen stand. Dieser Opfermythos konnte bisher, trotz aller Diskussionen und unleugbarer Fortschritte, immer noch nicht nachhaltig revidiert werden. Eigentümlich gewendet existiert er fort, indem auch im Jahr 2008 – 70 Jahre nach dem "Anschluss" – ausschließlich der österreichischen Opfer gedacht wird, inzwischen freilich einschließlich der 65.000 ermordeten einheimischen Jüdinnen und Juden, nicht aber der Millionen jüdischer und nicht-jüdischer Opfer in ganz Europa, die von und mithilfe von Österreichern getötet wurden. [11]

Wie ambivalent die österreichische Situation ist, wird im Blick auf die Wahrnehmung der Wehrmachtssoldaten deutlich: während sie, der Logik des "ersten Opfers" folgend, zum Dienst in einer fremden Besatzungsarmee gezwungen worden seien, wurden sie nach dem Krieg als Helden gefeiert, die ihre Pflicht getan und ihre Heimat gegen die Gefahr des Kommunismus aus dem Osten verteidigt hatten. Auch wird man im Rückblick wohl zugestehen müssen, dass der Opfermythos einen Beitrag zur erfolgreichen Etablierung einer eigenständigen österreichischen Identität leistete – immerhin eine Entwicklung, die nach den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit keineswegs als vorprogrammiert gelten konnte. [12]

5. Holocaust-Erinnerung im 21. Jahrhundert

Die Erinnerungskultur hat seit den beiden Wehrmachtsausstellung einige weitere Wendungen genommen. Von Fortschritten kann kaum gesprochen werden, denn – unbeschadet der jeweils unterschiedlichen Kontexte – handelt es sich doch wesentlich um symptomatische Wiederholungen, die vor allem in der periodischen Wiederkehr des bereits Bekannten als vermeintlich Neuem ihren Niederschlag finden. So muss immer noch mit Erstaunen konstatiert und diskutiert werden, dass die NS-Täter, abwärts vom "Führer" selbst, keine Psychopathen und Sadisten waren, sondern normale Männer, die dem Durchschnitt der deutschen Gesellschaft entsprachen, bis hin zu Akademikern und Wissenschaftlern – sei es anlässlich des Films "Der Untergang" (2004), der Hitlers letzte Tage im Bunker der Reichskanzlei auf die Leinwand brachte; anlässlich der Entdeckung eines privaten Fotoalbums des Adjutanten des letzten Lagerkommandanten von Auschwitz, das SS-Männer und -Frauen beim Entspannen von ihrer belastenden Tätigkeit in Auschwitz zeigt (2007); oder des Erscheinens von Jonathan LITTELLs Roman "Les Bienveillantes" (2006; dt. "Die Wohlgesinnten", 2008), der den Holocaust aus dem Blickwinkel eines fiktiven SS-Offiziers erzählt. Deutlich wird durch diese Zirkularität – neben der Oberflächlichkeit der öffentlichen Debatten und der Lernunfähigkeit von Kollektiven – vor allem, wie brisant, aktuell und gegenwartsrelevant das Thema immer noch ist. Dies ist eine Geschichte, die von jeder Generation neu geschrieben werden muss, die als geschichtliches Ereignis noch unabgeschlossen und noch nicht zu Ende gedacht ist. [13]

Die zweite Wehrmachtsausstellung mit ihrem Gestus der Versachlichung und Verwissenschaftlichung und mit ihrer sterilen Inszenierung sowie ihrem weitgehenden Verzicht auf die schockauslösenden Fotos, ohne die es vermutlich überhaupt nie zu einer breiten Diskussion über den Charakter des Krieges im Osten und die Beteiligung "ganz normaler Männer" an den NS-Verbrechen gekommen, nie beharrliche Bilder und landläufige Vorstellungen infrage gestellt worden wären, konnte 2001 durchaus als repräsentativ für ein Deutschland gelten, das sich nach dem Beschluss des Bundestages zur Errichtung eines zentralen "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" in Berlin und mit der Verhandlung der Zwangsarbeiterentschädigungen zunehmend von der Last der Vergangenheit befreite: keinesfalls im Sinne einer Leugnung oder Ausblendung, sondern vielmehr einer Historisierung und Normalisierung, die gleichzeitig Argumente für eine neue Rolle Deutschlands in der Welt bot. [14]

Dem Holocaust wird mittlerweile eine zentrale Bedeutung für die Konstitution einer europäischen Identität zugewiesen. Zusammen mit dem Zweiten Weltkrieg ist "Auschwitz" zum negativen Gründungsereignis Europas avanciert. Und selbst über die Grenzen Europas hinaus hat der von Deutschen und Österreichern mit ihren Komplizen europaweit betriebene Völkermord am Judentum den Status einer negativen politischen und kulturellen Norm erlangt. Längst ist er zum Gegenstand einer transnationalen Geschichtspolitik geworden. Die forcierte Universalisierung des Holocaust-Gedenkens scheint aber nur sehr begrenzt zu einer Homogenisierung der nationalen Erinnerungskulturen und keineswegs zu einer weltweiten Anerkennung der Singularität des von Deutschen, Österreichern und ihren europäischen Komplizen verübten Genozids am Judentum zu führen. So ist etwa die französische Erinnerungskultur – nicht zuletzt unter dem Einfluss von Claude LANZMANN und seinem filmischen Meisterwerk (1985) – immer noch ganz auf die Gaskammern als quasi-sakrale Räume und eine bilderlose "Shoah" fixiert. Die in Deutschland und Österreich aus der Wehrmachtsausstellung bekannten Bilder haben in ihr keinen Platz. [15]

Wenn auch die Erinnerung an den Holocaust mittlerweile immer weniger gegen Leugnung, Verdrängen und Beschweigen verteidigt werden muss, so wird sie doch zunehmend gegen Trivialisierung, Analogisierung und eine vereinfachende Instrumentalisierung in staatstragenden Gedenkritualen in Schutz zu nehmen sein. Schließlich können inzwischen sogar Deutsche und Österreicher als Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg neben "Auschwitz" gestellt werden. Individuelles Leiden, das natürlich bei Kriegsende massenhaft auch auf deutscher Seite und auch unter NS-Tätern zu beobachten ist, wird gegen individuelles Leiden auf Seiten der Opfer ausgespielt. Indem der Blick auf das Leiden selbst fokussiert wird, findet eine Entkontextualisierung statt, die Täter- und Komplizenschaft im NS-System weitgehend ausblendet. Routine und Ritualisierung des Gedenkens haben so indirekt zu einer Einebnung und Normalisierung geführt, die vorher häufig krampfhaft zu erreichen versucht, aber regelmäßig verfehlt wurde. Ohnehin spielen die historischen Details in den öffentlichen Gedenkritualen höchstens noch am Rande eine Rolle, um einen wohligen Schrecken zu erzeugen, notwendig zur kathartischen Reinigung. Schließlich zielen diese auch nicht auf Erkenntnis und Aufklärung, sondern vielmehr auf Erlösung und Erbauung ab. [16]

Diese Entwicklung werden auch kommende Forschungsarbeiten zu berücksichtigen haben. Wie die zeitgenössischen Dokumente selbst, die noch etwas von der Schockhaftigkeit der damaligen Erfahrung bewahren, müssen sie ein Korrektiv sein zu unseren Rationalisierungen und Glättungen, unseren abstrahierenden Begriffen und beschwichtigenden Ritualen. Sie müssen eine Beunruhigung erzeugen und ein "Verweilen beim Grauen" (Hannah ARENDT) erzwingen, die beide zur Erkenntnis der Vorgänge des Holocaust notwendig sind, die aber in der eingeübten Erinnerungs- und Betroffenheitsroutine üblicherweise keinen Platz haben. Der Sammelband von Ruth WODAK, Hannes HEER, Walter MANOSCHEK und Alexander POLLAK bietet nicht nur einen exzellenten Überblick über einen wichtigen Teil der Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust, sondern durch den besonderen Zuschnitt und Aufbau auch ein Vorbild und zahlreiche Anregungen für vergleichbare Projekte und Studien. Er wird in Zukunft einen wichtigen Referenzpunkt darstellen für deutsch- und englischsprachige Forschungen. [17]

Literatur

Arendt, Hannah (2000). Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft (7. Aufl.). München: Piper. [engl. Original 1951, New York: Harcourt Brace Jovanovich]

Heer, Hannes; Manoschek, Walter; Pollak, Alexander & Wodak, Ruth (Hrdg.) (2003). Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerung an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg. Wien: Czernin.

Hirschbiegel, Oliver (2004). Der Untergang. Deutschland.

Lanzmann, Claude (1985). Shoah. Frankreich.

Littell, Jonathan (2008). Die Wohlgesinnten. Berlin: Berlin.

Zum Autor

Dirk RUPNOW, geboren in Berlin, lebt und arbeitet als Historiker in Wien, derzeit als Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) sowie als Lektor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Er ist Mitglied der Jungen Kurie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seine Arbeitsgebiete sind Holocaust Studies, Memory Studies, Jewish Studies, Zeitgeschichte und Wissenschaftsgeschichte.

Kontakt:

Dr. Dirk Rupnow

Institut für die Wissenschaften vom Menschen IWM
Spittelauer Lände 3
A-1090 Wien

Tel.: ++43 1 31358 401
Fax: ++43 1 31358 30

E-Mail: rupnow@iwm.at
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Zitation

Rupnow, Dirk (2008). Rezension zu: Hannes Heer, Walter Manoschek, Alexander Pollak & Ruth Wodak (2008). The Discursive Construction of History. Remembering the Wehrmacht's War of Annihilation [17 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(3), Art. 7, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs080378.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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