Volume 10, No. 2, Art. 6 – Mai 2009

Rezension:

Boris Traue

Gregory C. Stanczak (Hrsg.) (2007). Visual Research Methods. London: Sage, 366 Seiten, ISBN 1-4129-3958-2, EUR 33

Zusammenfassung: Im Sammelband werden zum einen Forschungsstrategien und -methoden vorgestellt, die sich der Fotografie und Videografie als Dokumentationsmedium vor allem im Rahmen ethnografischer Forschung bedienen. Zum anderen werden – in geringerem Umfang — Forschungsstrategien diskutiert, die sich mit der Produktion von Bildmaterial durch gesellschaftliche Akteure befassen. Insbesondere der kommunikationsstiftenden Rolle der Kamera im ethnografischen Forschungsprozess wird in dem hier besprochenen Methodenband breiter Raum geschenkt. Forschende, die insbesondere im Rahmen ethnografischer Forschungen grundlegende Orientierung, praktische Anleitung und Anregungen für den Einsatz der Kamera suchen, finden eine Fülle an Hinweisen. Kultur- und sozialtheoretische Fragen zu Visualität und visueller Performanz als Strukturmerkmal (post-) moderner Gesellschaft werden zwar angesprochen, aber methodologisch und methodisch nicht ausführlich diskutiert und exemplifiziert.

Keywords: Ethnografie; Fotografie; Videoanalyse; Aktionsforschung; qualitative Methoden; Wissenschaftstheorie; visuelle Soziologie; Videointeraktionsanalyse

Inhaltsverzeichnis

1. Methodologien der sozial- und kulturwissenschaftlichen Erforschung von (Bewegungs-) Bildern

2. Wissenspolitiken der Bilder

3. Fotografie in der Ethnografie

4. Ethnografie der Bilder

5. Fazit: Visualität in der ethnografischen Forschung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Methodologien der sozial- und kulturwissenschaftlichen Erforschung von (Bewegungs-) Bildern

Der von Gregory STANCZAK herausgegebene Band steht in einer ganzen Reihe von Sammelbänden und Monografien, mit denen in den letzten Jahren eine Kanonisierung der Methodologie und Methoden der sozialwissenschaftlichen Analyse visueller Phänomene vorangetrieben wurde. Dabei kann im Allgemeinen zwischen einem naturalistisch-interaktionsanalytischen und einem kulturanalytischen Ansatz unterschieden werden. Während in der interaktionsanalytischen Perspektive ("Videointeraktionsanalyse") die Kamera vor allem als Aufzeichnungsmedium verwendet wird, das neben den hörbaren die gestischen und räumlichen Dimensionen von Interaktionen registriert und dadurch einer Interpretation zugänglich macht, werden in der kulturanalytischen Perspektive von Akteuren produzierte Bilder verwendet; die Formen und die "Politiken" der gesellschaftlichen Bilderproduktion stehen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Diese erkenntnispolitischen und forschungspraktischen Lager sind relativ stark getrennt; durch die disziplinäre Trennung zwischen kulturwissenschaftlicher Film- und Bildforschung einerseits und einer im Bezug auf Bildlichkeit naturalistischen Videointeraktionsanalyse andererseits wird allerdings ein breiter sozial- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnisbereich ausgeklammert, der auf eine Reflektion auf das Verhältnis von bildhafter Repräsentation und sozialer Praxis abzielt: Wie verweisen visuell vermittelte Erfahrungsweisen und institutionalisierte Bilderproduktion aufeinander, und wie hat sich dieses Verweisungsverhältnis historisch entwickelt? Eine Reihe von aktuellen Veröffentlichungen ist in verschiedener Weise diesem Interesse an (Bewegungs-) Bildern im Verwendungszusammenhang gewidmet. Innerhalb dieser dritten Perspektive lassen sich zwei Strömungen unterscheiden: während die eine sich mit der interaktiven Performanz der Bildverwendung befasst, z.B. beim Einsatz von Visualisierungstechniken (SCHNETTLER & KNOBLAUCH 2007, vgl. auch KNOBLAUCH, BAER, LAURIER, PETSCHKE & SCHNETTLER 2008) oder im Rahmen der Videoproduktion von Laien (exemplarisch: Raab 2008), thematisiert eine weitere Strömung, die ihre Stichworte verstärkt aus der Gouvernementalitätstheorie oder der Medientheorie bezieht, das Verhältnis von "Aufzeichnung" und ihrer Verwendung in Industrie, Bildung und Wissenschaft (z.B. REICHERTZ 2000; MAASEN, MAYERHAUSER & RENGGLI 2006; REICHERT 2007). Der rezensierte Band lässt sich ebenfalls dieser dritten Perspektive zuordnen; die Autorinnen und Autoren sind allerdings in der Mehrzahl in der angelsächsischen social anthropology und cultural anthropology verortet – und beziehen sich dementsprechend forschungspraktisch auf die gewissermaßen im Kern zunächst naturalistische ethnografische Forschungspraxis. [1]

Im Sammelband wird in zwölf Aufsätzen vor allem nordamerikanischer Autorinnen und Autoren ein Überblick über visuelle, insbesondere fotografiegestützte Forschungsmethodologie und ihre konkrete Anwendung vermittelt. Nach STANCZAKs Einleitung, die eine knappe, aber instruktive Darstellung der im Buch verhandelten epistemologischen und praktischen Probleme leistet, wird in drei Aufsätzen das Verhältnis von fotografischem Archivmaterial und Fotografie als Element ethnografischer Feldforschung gegenübergestellt. Dabei wird insbesondere der sogenannten Foto-Elizitations-Methode breiter Raum geschenkt. In den letzten drei Aufsätzen wird ein Schwenk zu foto- und videografischen Aufzeichnungen vollzogen, die die untersuchten Personen und Gruppen selbst unternehmen: Straßenkunst und Video-Tagebücher sind empirische Beispiele für diese Analyseperspektive. Im Band wird hauptsächlich Fotografie thematisiert; nur zwei Aufsätze (HERNANDEZ-ALBUJAR sowie HOLLIDAY) beschäftigen sich mit der Analyse von Videomaterial, ein Aufsatz (jener von PAPSON, GOLDMANMIT & KERSEY) mit Websites. [2]

2. Wissenspolitiken der Bilder

Ein Schwerpunkt des Bands liegt auf der Auseinandersetzung mit der Politik und Wissenspolitik der Bilder: "Instead of a 'how to' compilation of visual methods or an exploration of substantive findings alone, this text is an interactive epistemological odyssey engaging the authors, the readers and various disciplines" (S.4). Besonderes Augenmerk wird in der Einleitung und in vielen Beiträgen einer Diskussion des Verhältnisses vom Bild als Abbildung des Realen ("realist position"), als Mittel der erzählenden, wissenschaftlichen Darstellung ("narrative approaches") und als Strategie, die Reflexivität der Akteure in Bezug auf ihre eigene Bildproduktion einzubeziehen ("reflexive position"), geschenkt. [3]

Die ersten drei Aufsätze von Jon WAGNER, Barry M. GOLDSTEIN und Jon MILLER beschäftigen sich mit grundlegenden (sozial-) epistemologischen Fragen nach dem Verhältnis von Sozialwissenschaft und Dokumentation, Bild und Medium sowie Zentrum und Peripherie (etwa in der kolonialen Missionarsfotografie). Erina DUGANNE nimmt das Problem der Repräsentation von Gesellschaft auf, indem sie sich mit der publizistischen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit im Rahmen von politischen Bildkampagnen beschäftigt. So wählte der amerikanische Präsident Lyndon B. JOHNSON jeden Monat ein Bild aus den Fotoabteilungen seines Verwaltungsapparats aus – "The President's choice". DUGANNEs Untersuchung dieser Kampagne weist auf, wie die Unvereinbarkeit propagandistischer und formalästhetischer Kriterien der Bildauswahl zum Scheitern dieser Kampagne führte. Die Autorin kann zeigen, wie sowohl ästhetische Diskurse als auch Macht- und Entscheidungsstrukturen im Verwaltungsapparat den Auswahlprozess lenkten – und schließlich blockierten –, der Bilder für die visuelle Repräsentation von Regierungsprogrammen bereitstellen sollte. Bilder erweisen sich in dieser Perspektive einerseits als strategisch einsetzbar, andererseits widersetzen sie sich der einfachen Instrumentalisierung. [4]

3. Fotografie in der Ethnografie

Drei Aufsätze des Bandes thematisieren die Verwendung von Fotografie in der ethnografischen Forschung. Steven GOLD plädiert dafür, Bilder nicht nur als Datenquelle zu betrachten, sondern als "tools that facilitate the process of research more generally" (S.143). Foto- und Videografie helfe dabei, Kontakt mit Befragten herzustellen, den Untersuchungsgegenstand zu präzisieren, die Befragten als "menschlich" darzustellen und die Kommunikation mit KollegInnen und Publika über die Forschung zu erleichtern. Marisol CLARK-IBANEZ geht auf einen speziellen Aspekt dieser "forschungserleichternden" bzw. "forschungsbegleitenden" Rolle der Fotografie in Ethnografien ein: der Gestaltung von Befragung am Leitfaden von Bildern. Für sie sind Bilder insbesondere ein Schlüssel für die Forschungsarbeit mit Kindern, die durch konventionelle Befragungen ihre Interpretationen und Anliegen oft nicht zur Sprache bringen können. Jeffrey SAMUELS verfolgt einen ähnlichen Ansatz, konzentriert sich aber auf sogenannte "autodriven photo elicitation" (S.198), d.h. er bittet seine Gesprächspartner (junge Mönche in Sri Lanka), ihren Alltag selbst zu dokumentieren und diese Bilder mit ihm zu besprechen. Der Autor wirbt für die ("autodriven") Foto-Elizitation vor allem mit der Annahme, die er durch Beispiele zu belegen sucht, dass diese Methode die "Wahrscheinlichkeit" steigere, dass InterviewpartnerInnen wesentlichen Anteil an der Bedeutungskonstruktion haben und dass sie ihre subjektive Perspektive klarer zum Ausdruck bringen, als dies im Rahmen einer Interviewmethodologie möglich wäre. [5]

4. Ethnografie der Bilder

Emmanuel DAVID schlägt eine "ethnography of images" (S.231) als Möglichkeit vor, die sozialen Konflikte um die Markierung und Nutzung öffentlichen Raums, beispielsweise durch Graffiti und politische Propaganda zu dokumentieren. Ruth HOLLIDAYs Aufsatz "Performances, Confession, and Identities" befasst sich mit Videografie, genauer: mit Video-Tagebüchern. Die Autorin schildert, wie sie ihre Gesprächspartnerinnen und -partner mit Videokameras ausstattete und sie aufforderte, Video-Tagebücher anzufertigen ("video diary method", S.276). Ihre Strategie, durch von den InformantInnen ihrer Forschung selbst angefertigte Videoaufzeichnung die Performativität von Geschlechterinszenierungen einzufangen, ist methodisch innovativ. Ihr Beitrag bleibt in Bezug auf die Implikationen ihrer Aufforderung zur Selbstaufzeichnung, die die Normalität der gesellschaftlichen Anforderung an Selbstdarstellung ja nicht nur problematisiert, sondern auch reproduziert, leider etwas vage, begreift sie doch die Anordnung von Sichtbarkeiten, die sie selbst herstellt, als "unique space", der den Befragten die Möglichkeit verschaffe, "to fix the meanings of what they say" (S.265). [6]

Die Thematisierung der (Re-) Visualisierung postmoderner Kultur und Sozialität insgesamt gehört nicht zu den Stärken des Bandes, obwohl einzelne Beiträge, z.B. DUGANNEs Aufsatz, einen empirischen Beitrag zu dieser Problematik beisteuern und andere, vor allem HERNANDEZ-ALBUJARs Aufsatz, diesem Thema theoretisch begegnen. Dies mag unter anderem daran liegen, dass die historische Perspektive auf den Wandel von Bildmedien und Darstellungspraktiken im Band auf die Diskussion über den dokumentarischen Status von Archivmaterial beschränkt bleibt, ohne die Geschichte etwa des ethnografischen Films zu berücksichtigen. Die Autorinnen und Autoren bleiben weitgehend bei einer Analyse der "visual traces of historical change", wie etwa Graffiti (MILLER, S.83ff). Andererseits sprechen verschiedene Autorinnen und Autoren (insbesondere HERNANDEZ-ALBUJAR) über den zunehmenden Sog visueller Medien, dem gegenüber das Textmedium verblasse, sodass die Verwendung von Videografie in der Forschung als Möglichkeit begriffen wird, mit den Darstellungszwängen und -möglichkeiten der massenmedialen Blickkultur Schritt zu halten – und möglicherweise Anleihen bei künstlerischen Praktiken zu machen (vgl. hierzu auch JONES et al. 2008). [7]

5. Fazit: Visualität in der ethnografischen Forschung

Die versammelten Texte thematisieren in außergewöhnlicher Ausführlichkeit die Modifikation der ethnografischen Forschungssituation durch die Kamera, die oft forschungsethisch, beinahe im Sinn der Aktionsforschung aufgeladen wird: "The camera may facilitate a switch from the detached, positivist study of an object to a localized, critical, and collaborative interpretation of subjects' experience" (HERNANDEZ-ALBUJAR, S.286). Bildmedien seien in dieser Perspektive eine vermittelnde Instanz, die die Aushandlung von Wahrheitsansprüchen zwischen Befragten, Forschenden, Gesellschaft und AkademikerInnen erleichtere und dieser Aushandlung zugleich eine Gestalt gebe in Form eines "Dialogs" zwischen visuellen Künsten und sozialwissenschaftlichem Diskurs. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbands bleiben in der Mehrzahl allerdings eher einem (in ihren eigenen Worten) "realistischen" und "narrativen" Paradigma verpflichtet (mit Ausnahme von HOLLIDAY und HERNANDEZ-ALBUJAR), diskutieren aber die Probleme und Grenzen dieser methodologischen Ausgangsposition ausführlich. Daran zeigt sich, dass die wissenspolitische Prämisse sozialwissenschaftlicher Forschung, soziale Wirklichkeit eindeutiger (sicher nicht: besser) als die darstellenden Künste oder Literatur zu repräsentieren, auch bei Einnahme einer reflexiven und skeptischen Haltung gegenüber den epistemologischen Paradoxien dieser Annahme nicht ohne Weiteres aufgegeben werden kann und muss. [8]

Der Band bietet eine gute Orientierung für Lesende, die sich in Bezug auf die Potenziale und Probleme der Verwendung visueller Methoden in ethnografischen Untersuchungen einen Überblick verschaffen möchten. Die Vielzahl der angesprochenen Dimensionen von Visualität und die Hinweise zur methodischen Handhabung der methodologischen und praktischen Probleme der Forschung mit und über Fotografien machen die Beiträge durchaus lesenswert. Lesende, die eine Diskussion über Visualität und insbesondere das Bewegungsbild als Strukturmerkmal (post-) moderner Gesellschaft erwarten (vgl. z. B. LAZZARATO 2002; REICHERT 2007), werden nur vereinzelte Hinweise finden. [9]

Literatur

Jones, Kip; Gergen, Mary; Guiney Yallop, John J.; Lopez de Vallejo, Irene; Roberts, Brian & Wright, Peter R. (Hrsg.) (2008). Performative Sozialwissenschaft. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(2), http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/issue/view/10.

Knoblauch, Hubert; Baer, Alejandro; Laurier, Eric; Petschke, Sabine &Schnettler, Bernt (Hrsg.) (2008). Visuelle Verfahren. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(3), http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/issue/view/11.

Lazzarato, Maurizio (2002). Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus. Berlin: b_books.

Maasen, Sabine; Mayerhauser, Torsten & Renggli, Cornelia (Hrsg.) (2006). Bilder als Diskurse. Bilddiskurse. Weilerswist: Velbrück.

Raab, Jürgen (2008). Visuelle Wissenssoziologie. Konstanz: UVK.

Reichert, Ramon (2007). Im Kino der Humanwissenschaften. Studienzur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens. Bielefeld: transcript.

Reichertz, Jo (2000). Die frohe Botschaft des Fernsehens. Kulturwissenschaftliche Untersuchung medialer Diesseitsreligion. Konstanz: UVK.

Schnettler, Bernt & Knoblauch, Hubert (Hrsg.) (2007). Powerpoint-Präsentationen. Neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation von Wissen. Konstanz: UVK.

Zum Autor

Boris TRAUE; Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Arbeitsschwerpunkte: Wissens- und Kultursoziologie, Geschichte der Subjektivität und Subjektivierungsformen , Gouvernementalität und Gouvernemedialität, Professionssoziologie, Industriesoziologie, visuelle Kultur, interpretative Methodologie

Kontakt:

Boris Traue

TU Berlin

Institut für Soziologie
Fachgebiet Allgemeine Soziologie und Theorie moderner Gesellschaften
Franklinstr. 28/29
D-10557 Berlin

Tel.: 030/314-29115
Fax: 030/314-794 94

E-Mail: boris.traue@tu-berlin.de
URL: http://www2.tu-berlin.de/~soziologie/AllgSoz/mitarbeiter/traue/index.php

Zitation

Traue, Boris (2009). Review: Gregory C. Stanczak (Hrsg.) (2007). Visual Research Methods [9 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(2), Art. 6, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs090265.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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