Volume 8, No. 1, Art. 25 – Januar 2007

Eine Reise durch die Grounded Theory

Paula Krüger & Imke K. Meyer

Review Essay:

Kathy Charmaz (2006). Constructing Grounded Theory. A Practical Guide Through Qualitative Analysis. London: Sage, 224 Seiten, ISBN: 0-7619-7353-2, $ 34,95 (pbk)

Zusammenfassung: In "Constructing Grounded Theory" begleitet Kathy CHARMAZ die Leser(innen) durch den Forschungsprozess. Ausgehend von einem historischen Rückblick auf die Entwicklung der Grounded Theory Methodologie führt sie die Lesenden von der Datenerfassung über das Kodieren zum Schreiben von Memos und schließlich zum ersten Entwurf der eigenen Grounded Theory. Durch die zahlreichen Beispiele aus ihrer eigenen Forschung erhalten Lesende jedoch mehr als einen theoretischen Überblick; sie haben vielmehr die Chance zu verfolgen, wie zentrale Konzepte entwickelt werden, sich weitere Fragen im Laufe der Analyse auftun und eine neue Theorie entsteht. Durch das Hervorheben zentraler Konzepte, Definitionen und hilfreicher Fragen an die eigenen Daten bietet CHARMAZ den Lesenden flexible Richtlinien, nach denen ein Forschungsprojekt entworfen und durchgeführt werden kann. Das Buch ist ein Muss für alle, die mit (konstruktivistischer) Grounded Theory Methodologie arbeiten bzw. arbeiten möchten. Es ist sowohl für Studierende als auch für (fortgeschrittene) Forschende geeignet.

Keywords: Grounded Theory Methodologie, qualitative Analyse, Interview, Konstruktivismus, Grounded Theory, Theorienentwicklung

Inhaltsverzeichnis

1. Allgemeine Einführung

2. Informationen zur Autorin

3. Inhalt des Buches

3.1 Einladung zur Grounded Theory

3.2 Sammeln "reichhaltiger" Daten

3.3 Daten-Kodierung

3.4 Memos

3.5 Theoretisches Sampling, Daten-Sättigung und Sortierung

3.6 Rekonstruktion von "Theorie"

3.7 Schreiben des ersten Theorieentwurfs

3.8 Reflektionen des Forschungsprozesses

4. CHARMAZ' konstruktivistischer Ansatz – eine Grounded Theory Methodologie?

5. Zusammenfassung: Stärken und Schwächen

Literatur

Zu den Autorinnen

Zitation

 

1. Allgemeine Einführung

Grounded Theory Methodologie ist ein Forschungsparadigma, das in den 1960er Jahren von Anselm STRAUSS und Barney GLASER entwickelt wurde – in einer Zeit, in der quantitative Methoden in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften an Dominanz gewannen. Entgegen diesem Trend versuchten GLASER und STRAUSS (1967), eine Theoriebildung zu etablieren, die von den Daten ausgeht und somit Theorien schafft, die in den Daten "verankert" sind (daher wird Grounded Theory im deutschen Sprachraum oft mit "gegenstandsverankerte Theoriebildung" übersetzt). Sie wendeten sich damit gegen das bloße Ableiten überprüfbarer Hypothesen von bereits bestehenden Theorien. Heute sind zentrale Gedanken der Grounded Theory Methodologie Grundlage vieler Ansätze qualitativer Forschung. So liegen z.B. dem "Zirkulären Dekonstruieren" von JAEGGI, FAAS und MRUCK (1998) – einer Auswertungsmethode, die speziell für Abschlussarbeiten in der Psychologie entwickelt wurde – explizit Ideen der Grounded Theory Methodologie zugrunde. Und auch in anderen Disziplinen werden ähnliche Methoden zur Erforschung unterschiedlichster Themen genutzt. Die resultierende Vielfalt der Verwendungsweise von Grounded Theory Methodologie ist nach STRÜBING (2002, S.319)

"einerseits der erforderlichen situativen Anpassung von Regeln an das Forschungshandeln geschuldet, sie resultieren andererseits aber auch aus der eher unerfreulichen Angewohnheit mancher Forscher, jede methodologisch nicht ganz zuzuordnende Arbeit mit qualitativen Daten ex post mit dem Verweis auf die GT [Grounded Theory, P.K. & I.K.M.] zu legitimieren." [1]

Bei dem vorliegenden, von CHARMAZ entwickelten Ansatz ist dies sicher nicht der Fall. Sie bezieht sich auf die pragmatistischen, interaktionistischen Wurzeln der Grounded Theory Methodologie (vgl. u.a. STRAUSS & CORBIN 1990), hat aber darauf aufbauend einen eigenen konstruktivistischen Ansatz entwickelt, den sie in diesem Buch vorstellt. Das heißt, sie geht nicht wie GLASER (2002) davon aus, dass die Daten und die daraus entstehenden Theorien unabhängig von den Beobachtenden bzw. Forschenden sind; vielmehr ist sie der Überzeugung "[that] we are part of the world we study and the data we collect" (S.10). [2]

Durch den gewählten konstruktivistischen Ansatz berührt das Buch jedoch nicht nur methodologische Fragen, sondern auch eine breitere epistemologische Debatte, die vor allem im deutschsprachigen Raum in und zwischen unterschiedlichen Disziplinen stattgefunden hat bzw. stattfindet (vgl. z.B. GLASERSFELD 1996; ROTH 2003; FLICK 2000). Die Relevanz dieser Diskussionen zeigen auch die beiden FQS Ausgaben (MRUCK, BREUER & ROTH 2002; ROTH, BREUER & MRUCK 2003) zum Thema "Subjektivität und Selbstreflexivität im qualitativen Forschungsprozess". [3]

2. Informationen zur Autorin

Kathy CHARMAZ ist derzeit Professorin für Soziologie an der Sonoma State University (Kalifornien, USA). Sie ist eine führende Theoretikerin und Anwenderin der Grounded Theory Methodologie, die noch bei GLASER und STRAUSS gelernt hat. Ihre Lehre und ihre Veröffentlichungen erstrecken sich nicht nur auf die Bereiche der (medizinischen) Soziologie und Sozialpsychologie, sondern auch auf didaktische Ansätze zur Lehre der Grounded Theory Methodologie (vgl. z.B. CHARMAZ 1991, 2000, 2003). [4]

3. Inhalt des Buches

"Constructing Grounded Theory" umfasst acht Kapitel, die jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung beginnen und mit abschließenden Gedanken zu den Ausführungen des Kapitels enden. Die von CHARMAZ als "Reise" durch die Grounded Theory Methodologie konzipierte bzw. formulierte Darstellung beginnt mit einem Rückblick auf deren Geschichte. In den folgenden Kapiteln begleitet CHARMAZ die Lesenden durch den Forschungsprozess: Ausgehend von der Sammlung der Daten erklärt sie die einzelnen Schritte bis zum ersten Entwurf der Theorie. Die zahlreichen Beispiele aus ihrer eigenen Forschung zum Umgang mit chronischen Krankheiten (CHARMAZ 1991, 2002) erleichtern der/dem Leser(in) das Verständnis der theoretischen Ausführungen. Im achten und letzten Kapitel kehrt CHARMAZ schließlich an den Anfang zurück, indem sie über den beschrittenen Forschungsweg reflektiert. Der sich anschließende Glossar erklärt noch einmal die wichtigsten Begriffe und Konzepte. [5]

Mit ihrem Buch verfolgt CHARMAZ fünf Ziele: Erstens möchte sie Richtlinien für die Konstruktion einer Grounded Theory anbieten und zweitens gängige Missverständnisse in Bezug auf die Grounded Theory Methodologie klären. Ihr drittes Ziel besteht in der Vorstellung verschiedener Versionen der Grounded Theory Methodologie und von Veränderungen innerhalb derselben; viertens versucht sie, die von ihr entwickelten Richtlinien auf eine möglichst leicht nachvollziehbare Art und Weise zu erklären. Ihr fünftes und letztes Ziel ist es schließlich, angehende und erfahrene Forschende zu animieren und zu inspirieren, mit der Grounded Theory Methodologie zu arbeiten. Dabei wirbt sie explizit für ihren konstruktivistischen Ansatz; ein Ansatz, der von der ursprünglich von GLASER und STRAUSS entworfenen Grounded Theory Methodologie (in Teilen) abweicht. [6]

3.1 Einladung zur Grounded Theory

Zu Beginn ihrer Reise durch die Grounded Theory (Methodologie) wirft CHARMAZ mit den Lesenden einen Blick zurück auf deren Entwicklung und erläutert grundsätzliche Prinzipien derselben, bevor sie ihren eigenen Ansatz vorstellt und einen ersten groben Überblick über die kommenden Kapitel und den Forschungsprozess gibt. [7]

1967 traten GLASER und STRAUSS mit ihrem Buch "The Discovery of Grounded Theory" gegen mehrere Überzeugungen in Bezug auf qualitative Forschung an, von denen auch heute noch einige kursieren: So meinen nach CHARMAZ (S.6) immer noch viele, dass qualitative Forschung ungenau und unsystematisch sei und/oder dass sie keine Theorien erzeugen könne, sondern nur als Vorläufer für quantitative Studien diene. [8]

Nach ihrer gemeinsamen Veröffentlichung im Jahre 1967 trennten sich GLASER und STRAUSS jedoch. Während Ersterer von der positivistisch-funktionalistisch geprägten Columbia School inspiriert war, entwickelte STRAUSS (zusammen mit CORBIN) einen pragmatistisch-interaktionistischen Ansatz (vgl. S.7). Aber nicht nur die beiden Begründer entwickelten die Theorie weiter. Auch andere Forschende (u.a. HOOD 1983) veränderten den ursprünglichen Entwurf, wie eben auch CHARMAZ: "Like any container into which different contents can be poured, researchers can use basic grounded guidelines [...] for theory development" (CHARMAZ 2006, S.9). Von der Grounded Theory Methodologie kann somit schon lange nicht mehr gesprochen werden. [9]

3.2 Sammeln "reichhaltiger" Daten

Im zweiten Kapitel geht es um die Sammlung "reichhaltiger" (rich) Daten, die das Fundament einer Grounded Theory bilden. Reichhaltige Daten bestehen beispielsweise aus Feldnotizen und/oder detaillierten Erzählungen (Interviewtranskripten). CHARMAZ beschreibt den Prozess des Findens reichhaltiger Daten als Suchen nach "dichten Beschreibungen" (GEERTZ 1973, 1983). Hierfür ist das Eintauchen in die Welt der Untersuchungsteilnehmenden erforderlich. [10]

Bevor hiermit jedoch begonnen werden kann, muss man sich für eine Methode bzw. für Methoden entscheiden. Der Vorteil qualitativer Studien ist nach CHARMAZ deren Flexibilität. So können u.a. noch während der Datenerhebung und -analyse Instrumente angepasst und verbessert werden. Diese Möglichkeit fehlt bei einem quantitativ ausgerichteten Design. Ein weiterer Vorteil ist die benötigte Stichprobengröße. Während statistische Auswertungen häufig eine sehr große Stichprobe voraussetzen, benötigen qualitative Studien keine Stichproben von über 100 Proband(inn)en oder mehr, da das Ziel nicht in der Prüfung von Hypothesen, sondern in der Entwicklung von Kategorien besteht. Folglich sind auch andere Fragen für die Bewertung der Daten relevant, wie z.B. "Erlauben mir meine Daten analytische Kategorien zu entwickeln?", oder "Habe ich ausreichend Hintergrundinformationen?" (vgl. S.18f.) [11]

Als ein Instrument zur Datengewinnung bespricht CHARMAZ das "intensive" Interview (intensive interviewing). Durch seine Offenheit bei gleichzeitiger Zielgerichtetheit ist es ihrer Meinung zufolge ideal für die Datenerhebung in der Grounded Theory Methodologie. Weiteres Datenmaterial können z.B. offizielle Dokumente oder Autobiografien sein. Das Risiko, das diese Datenquellen beinhalten, ist jedoch, dass sie oft als Fakten interpretiert werden. CHARMAZ betont deshalb, dass Forscher(innen) kritische Fragen an die Art und Quelle dieser Informationen stellen sollten, da auch diese Daten letztendlich Produkte der jeweiligen Autor(inn)en sind. [12]

3.3 Daten-Kodierung

Der erste "Analysestopp" auf der Reise durch die Grounded Theory Methodologie ist das Kodieren der erfassten Daten, d.h. das Kategorisieren von Datensegmenten durch die Auswahl von kurzen Bezeichnungen, die gleichzeitig den Inhalt des Abschnitts wiedergeben. Beim Kodieren werden einerseits analytische Fragen an die gesammelten Daten gestellt und andererseits Daten miteinander und Daten mit Kodierungen verglichen. CHARMAZ betont, dass das Kodieren die Basis der weiteren Analysearbeit darstellt, also elementar für das weitere Vorgehen ist. Kodes sind im Prinzip nie endgültig, Kodieren ist damit ein "offenes Spiel". [13]

Im Rahmen ihrer konstruktivistischen Grounded Theory Methodologie unterteilt CHARMAZ das Kodieren in zwei Stufen: eine anfängliche (initial) und eine fokussierte Kodierphase. Während im ersten Schritt Zeile für Zeile (und/oder Wort für Wort, Abschnitt für Abschnitt) vorgegangen wird, wird im zweiten Schritt bereits versucht, die Daten zu sortieren und zu synthetisieren. Beim anfänglichen Kodieren folgt sie GLASER (1967, 1978) sowie STRAUSS und CORBIN (1990). Als Beispiele für weitere Kodierungstechniken diskutiert CHARMAZ (kritisch) das Axial Coding (vgl. u.a. STRAUSS & CORBIN 1998; STRAUSS 1987) sowie das theoretische Kodieren (theoretical coding) (vgl. u.a. GLASER 1978): Ersteres dient dem Ordnen und Synthetisieren der Daten, die beim anfänglichen Kodieren "zerstückelt" wurden, d.h. hier werden die Kategorien mit Subkategorien in Verbindung gesetzt, um die Inhalte zu präzisieren. STRAUSS und CORBIN (1998) verwenden hierzu ein sog. Paradigma-Modell (paradigm model), d.h. ein Ordnungsschema, in dem Bedingungen (warum, wo und wann?), Handlungen bzw. Interaktionen (durch wen und wie?) und die Konsequenzen der Handlungen der Interviewpartner(innen) (was?) unterschieden werden. Die Äußerungen der Interviewten werden diesem Schema entsprechend gruppiert. CHARMAZ setzt mit ihrer Kritik hier an, da die Gefahr darin bestehe, dass Forschende dazu ermutigt würden, die Daten in einen analytischen Rahmen zu pressen, was sie beim Konstruieren von Kodes einschränke (vgl. S.62). Auch wenn eine Mahnung zur Vorsicht im Umgang mit solchen Schemata berechtigt ist, scheint CHARMAZ an dieser Stelle nicht zu berücksichtigen, dass STRAUSS und CORBIN für ein Hin- und Herwechseln zwischen offenem und axialem Kodieren plädieren (vgl. STRAUSS & CORBIN 1996, S.77); d.h., es findet immer wieder eine Rückbindung an die Daten statt. [14]

Das Theoretical Coding wurde von GLASER (u.a. 1978) vorgeschlagen und dient ebenfalls der Verbindung einzelner Kategorien: Theoretische Kodes sollen helfen, die gefundenen Kategorien so zu formieren, dass sie eine kohärente analytische Geschichte erzählen (vgl. CHARMAZ 2006, S.63). GLASER (1978) schlägt 18 Familien von theoretischen Kodes vor, wie z.B. seine sechs Cs: "Causes, Contexts, Contingencies, Consequences, Covariances, [...und] Conditions" (CHARMAZ 2006, S.63). Unklar bleibt nach CHARMAZ jedoch die Definition einer solchen Familie: nicht nur, dass sich einige überschneiden (worauf auch GLASER selbst hinweist), einige fehlen auch. CHARMAZ mahnt Lesende deshalb zur Vorsicht, da diese theoretischen Kodes der Analyse zwar eine "Aura der Objektivität" verleihen könnten, ohne tatsächlich objektiv oder allgemein akzeptiert zu sein. Abschließend rät sie: "[w]hen your analysis indicates, use theoretical codes to help you clarify and sharpen your analysis but avoid imposing a forced framework on it with them" (S.66). [15]

Allgemein lässt sich in Bezug auf das Kodieren der Daten festhalten, dass es auf den ersten Blick mühevoll, aber einfach wirkt. Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch mögliche Fehler und Fallen. Besonders hebt CHARMAZ hier das Problem der (theoretischen) Voreingenommenheit der Forschenden hervor; aus diesem Grund sollte man sich immer wieder die eigenen Konzepte und Theorien, die an die Daten herangetragen werden, bewusst machen und die erarbeiteten Kodierungen nicht als objektiv ansehen und unkritisch annehmen. [16]

3.4 Memos

Im vierten Kapitel stellt CHARMAZ das Schreiben von Memos vor, wie es bereits bei STRAUSS und CORBIN (1990) diskutiert wird. Hierbei werden Gedanken schriftlich fixiert, Kodierungen werden mit Bedeutungen gefüllt. Diese Memos stellen für sie ein Kernstück der Grounded Theory Methodologie dar, da sie die Forschenden zwingen, die Daten und Kodes frühzeitig zu analysieren. Anhand von Beispielen aus der eigenen Forschung verdeutlicht CHARMAZ diese Methode (vgl. Abb.1):



Abb.1: Ausschnitt aus einem early memo (nach CHARMAZ 2006, S.73f.) [17]

Diese Darstellung eines Memos beinhaltet kurze überblicksartige Beschreibungen, die bei CHARMAZ im Anschluss noch detaillierter ausgeführt werden. Sie macht hierbei deutlich, dass das Schreiben von Memos grundsätzlich ein langer Prozess ist, in dem aus frühen Versionen (early memos) durch Erweiterungen und Modifikationen fortgeschrittene Versionen (advanced memos) werden. [18]

Da Memos in informeller Sprache geschrieben werden (und daher hauptsächlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt sind), sollte CHARMAZ zufolge so früh wie möglich mit dem Memo-Schreiben begonnen werden. In späteren Phasen des Forschungsprozesses können Memos dann das Fundament des Theorieentwurfs bilden. [19]

Um Anfänger(inne)n (aber auch Fortgeschrittenen) die ersten "Schreibschritte" zu erleichtern, stellt CHARMAZ zwei allgemeine Schreibübungen vor: Clustering und freies Schreiben. Clustering erlaubt, das eigene Material flexibel zu visualisieren und zu sortieren. Es entsteht eine Daten-Landkarte, in dem ein zentraler Aspekt in der Mitte des Blattes notiert wird und Ideen damit verbunden werden – ähnlich wie bei Verästelungen an einem Baum (vgl. Abb.2):



Abb.2: Auszug aus einem Cluster (nach CHARMAZ 2006, S.89) [20]

Das freie Schreiben, als weitere Schreibübung, ist eine Art "Aufwärmübung", bei der es darum geht, für wenigstens acht Minuten zu schreiben. Hierdurch kann neues Material geordnet und eingefahrene (Schreib-) Gewohnheiten können abgelegt werden. Beide Übungen gehören somit nicht genuin zur Methodologie der Grounded Theory, sondern dienen grundsätzlich dem Einstieg ins Schreiben und/oder der Überwindung von Schreibblockaden. [21]

3.5 Theoretisches Sampling, Daten-Sättigung und Sortierung

Wie bereits erwähnt, ist ein Vorteil qualitativer Forschung deren Flexibilität; Forschende haben die Möglichkeit, sich zwischen Datenerhebung und -analyse hin- und herzubewegen. Durch das gezielte Sammeln von zusätzlichen Daten können unsichere Kategorien gestärkt oder auch ganz neue Kategorien aufgedeckt werden. Dieser Schritt wird theoretisches Sampling (theoretical sampling) genannt und wurde bereits von GLASER und STRAUSS (1967) eingeführt: "Theoretisches Sampling garantiert das Aufspüren von Variation, Prozeß und auch Dichte" (STRAUSS & CORBIN 1996, S.150), wodurch die sich entwickelnde Theorie eine größere Reichweite erhält. Dementsprechend müssen Forschende flexibel sein, d.h., auch neue und unvorhergesehene Perspektiven des Forschungsgegenstandes beleuchten. Nach CHARMAZ kann und sollte das theoretische Sampling auch in frühen Phasen des Forschungsprozesses eingesetzt werden – wenn man geeignete Kategorien hat. Während es zu Beginn hilft, Kategorien mit Inhalt zu füllen und somit zu definieren, hilft es später, Verbindungen zwischen Kategorien aufzudecken. Wichtig ist hierbei jedoch, dass nicht wahllos Daten gesammelt werden, sondern systematisch vorgegangen wird. [22]

Letztlich versteht CHARMAZ theoretisches Sampling als eine Strategie, die an die jeweilige Studie angepasst werden kann. Folglich können auch die Methoden des theoretischen Samplings variieren (vgl. S.107). Es sind die bei der Analyse entstehenden Ideen, die das Vorgehen und die Fragen beim theoretischen Sampling bestimmen. [23]

CHARMAZ beklagt, dass diese Methode häufig missverstanden werde. Es gehe nicht darum, solange Daten zu sammeln, bis sich ein bestimmtes Muster wiederholt, und es gehe nicht um das Erzielen von Generalisierbarkeit; Ziel sei vielmehr die Verbesserung der Kategorien. Ein Mehr an Daten bedeutet nicht gleich ein Mehr an Ergebnis und Qualität. Aber wann kann man aufhören, neue Daten zu sammeln? Die Antwort lautet: wenn die Kategorien "gesättigt" sind, d.h., wenn weitere Daten keine neuen Einsichten mehr erbringen. Der Begriff der Sättigung wird von CHARMAZ in Anlehnung an DEY (1999) kritisch diskutiert: Zum einen sei die Metapher falsch gewählt. Aus diesem Grund schlägt DEY als Alternative "theoretische Hinlänglichkeit" (theoretical sufficiency) vor. Zum anderen warnt CHARMAZ vor einem verfrühten Abbruch der Kategoriensättigung. Zu einem solchen vorschnellen Abbruch und somit einer oberflächlichen Analyse können – wie weiter oben bereits ausgeführt – ihrer Meinung nach das axiale Kodieren (STRAUSS & CORBIN 1990) sowie die theoretischen Kodes von GLASER (1978) führen. CHARMAZ will die Lesenden ermutigen, offen zu sein für das, was im Feld passiert, und gegebenenfalls noch einmal zurückzugehen und die Daten zu rekodieren (vgl. S.115). Die Methode sollte nicht als "Maschine" verstanden werden, die die Arbeit für den Forschenden macht, sie sollte es den Forschenden vielmehr ermöglichen, aktiv mit den Daten umzugehen. [24]

Sind die Kategorien gesättigt, besteht der nächste Schritt im Ordnen der Memos: "Grounded Theory sorting gives you a logic for organizing your analysis and a way of creating and refining theoretical links that prompts you to make comparisons between categories" (S.115). Als zwei Möglichkeiten des Sortierens schlägt CHARMAZ – ganz im Einklang mit STRAUSS und CORBIN (1990) – das Erstellen von Diagrammen (diagramming) und die Bedingungsmatrix (conditional/consequential matrix) vor, die Forschenden helfen sollen, Schwächen von und Beziehungen zwischen Memos zu visualisieren. Diagramme dienen dazu, Kategorien und Verbindungen zwischen denselben zu visualisieren. Die Bedingungsmatrix von STRAUSS und CORBIN (1998) soll Forschenden helfen, mikro- und makrostrukturelle Einflüsse zu identifizieren, die in dem zu untersuchenden Kontext wirken. STRAUSS und CORBIN (1998, S.163) stellen eine solche Matrix als konzentrische, aber verbundene Kreise dar, wobei das Individuum in der Mitte der Abbildung platziert wird. Beide Methoden vereinfachen die anschließende Integration der Memos in die entstehende Theorie. [25]

3.6 Rekonstruktion von "Theorie"

Was verstehen "grounded theorists" unter einer Theorie? CHARMAZ' Motivation zu dieser Frage ergibt sich daraus, dass alle Forscher(innen), die mit dieser Methode arbeiten, von Theorien sprechen, aber nicht definieren, was sie unter Theorie versteht. Ist eine Theorie eine Annahme oder ein Set an Hypothesen? Um zu erläutern, was Grounded Theories sind oder sein können, stellt CHARMAZ dem positivistischen Theoriebegriff einen interpretativen gegenüber sowie dem objektivistischen einen konstruktivistischen. Während positivistische Theoretiker(innen) versuchen, eindeutige Erklärungen zu finden und die Generalisierbarkeit bzw. Universalität ihrer Theorien betonen, geht man bei der Konzeption interpretativer Theorien von multiplen Wirklichkeiten aus, von der Vergänglichkeit von Wahrheiten; soziale Lebenswelten werden als prozessual betrachtet. [26]

Ein konstruktivistischer Ansatz geht in die Richtung interpretativer Theorien, "and sees data and analysis as created from shared experiences and relationships with participants and other sources of data" (S.130). Eine objektivistische Grounded Theory hingegen stimmt mit positivistischen Annahmen überein, geht also davon aus, dass die Daten nicht zu hinterfragende Fakten darstellen. [27]

CHARMAZ führt zwei Beispiele für eher objektivistische Grounded Theories an: Jane HOODs "Becoming a Two-job Family" (1983) und Patrick BIERNACKIs "Pathways from Heroin Addiction" (1986). Daneben stellt sie ihren konstruktivistischen Ansatz und betont, die Analyse "results from the researcher's involvement at every point in the research process." (S.148). Forschende beeinflussen also nicht nur die Analyse der Daten, sondern bereits die Erhebungen derselben. Daten, Kategorien, Konzepte und Theorien sind von Forschenden konstruiert und stellen somit nicht die Wahrheit dar. Sie sind vielmehr als eine mögliche Spielart der Wirklichkeit zu begreifen. [28]

In der Praxis ist eine solche klare Trennung der Ansätze jedoch oft nicht möglich. Dennoch erscheint es ihr und uns für die eigene Theoriebildung oder das Verständnis fremder Theorien hilfreich und wichtig, sich die zugrunde liegenden Annahmen und Traditionen vor Augen zu halten. Ähnlich meint auch STRÜBING (2002, S.320) im Zusammenhang mit der Debatte um Gütekriterien in der qualitativen Sozialforschung, es müsse bei der Bewertung von Verfahrensregeln ausgeschlossen werden, dass diese "auf Basis einer Epistemologie erfolgen, auf die sich die Vertreterinnen dieses Verfahrens gerade nicht berufen". Denn: Das "ausgewählte" Modell einer bestimmten Grounded Theory und die daraus resultierende Prozesslogik, hat Auswirkungen auf die Gütekriterien, die dazu dienen, die Adäquatheit der Regelanwendungen zu überprüfen und die entstehende Theorie aus den gesammelten Daten zu legitimieren. [29]

3.7 Schreiben des ersten Theorieentwurfs

Das Schreiben des ersten Entwurfs bedeutet noch keine Fixierung der Theorie. Es stellt vielmehr eine weitere Möglichkeit dar, Neues zu entdecken (z.B. durch den Austausch mit anderen Wissenschaftler[inne]n). Im siebten Kapitel bietet CHARMAZ den Lesenden Richtlinien an, wie die Bausteine der Theorie zusammengeführt, Argumente konstruiert und Kategorien vertieft werden können. Dabei betont sie, es gebe viele Möglichkeiten, eine Grounded Theory zu schreiben und hält drei Punkte fest, die ihr besonders wichtig zu sein scheinen: 1. Man sollte das Neue und Originelle der Arbeit betonen. 2. Das Schreiben der einzelnen Textentwürfe sei als Teil des Analyseprozesses zu verstehen, wobei dem Schreibprozess genauso vertraut werden müsse wie dem Forschungsprozess. 3. Es sei wichtig, wie das Material präsentiert wird. Zuerst sollte auf Grundlage der vorsortierten Memos der Kern der Arbeit geschrieben werden, d.h. die Grounded Theory; erst dann sollten Einleitung und Fazit verfasst werden. Die Analyse sollte dabei so eingearbeitet werden, dass sie das zentrale Argument des Textes unterstützt. Handelt es sich dabei um ein starkes Argument, kann es die "So what?"-Frage beantworten (vgl. S.156): Warum sollte sich die Leserin oder der Leser für die Ergebnisse interessieren? Welche Relevanz hat die entwickelte Theorie? [30]

Schließlich gibt CHARMAZ noch Tipps zur Vertiefung der Kategorien. Hierbei helfen Fragen, wie "Welchen Zweck erfüllen die Kategorien an dieser Stelle?" Kommt man dabei zu dem Schluss, dass eine Kategorie für ein Argument oder für das Zielpublikum nicht relevant ist, sollte sie schlicht weggelassen werden, um den Kern der Arbeit nicht zu überfrachten. [31]

Im Anschluss daran geht CHARMAZ auf das Schreiben von Literaturreviews und den theoretischen Rahmen der eigenen Grounded Theory ein. Beide geben den Forschenden die Möglichkeit, die eigene Position und den eigenen Entwurf zu verorten, zu evaluieren und zu verteidigen. Dabei sollte es nicht bei Zusammenfassungen bleiben. Wichtiger ist es für CHARMAZ, mit Literatur und Theorie zu begründen, warum man sich für oder auch gegen bestimmte ausgewählte Argumente entschieden hat und wie dieser Entscheidungsprozess verlaufen ist. Im Prinzip stellt dieses Kapitel somit einen Einführungskurs in das Schreiben einer Grounded Theory dar. [32]

Zwei Aspekte scheinen dabei besonders wichtig zu sein: 1. die imaginären Leser(innen) im Auge zu haben und 2. nicht zu vergessen, dass der theoretische Rahmen einer Grounded Theory anders aussieht als bei einer quantitativen, hypothesentestenden Arbeit (vgl. S.169). Während bei Letzterer (in der Regel fremde) Theorien vor der Datenerhebung zur Herleitung von Hypothesen verwendet werden, bleiben sie bei der Bildung einer Grounded Theory eher im Hintergrund, bis sie an bestimmten (kritischen) Punkten relevant werden. [33]

3.8 Reflektionen des Forschungsprozesses

CHARMAZ’ "Reise" endet mit einer Reflektion des Analyseprozesses, d.h. der Schritte, die in den vorherigen Kapiteln beschrieben wurden. Die folgenden Fragen werden dabei beantwortet: [34]

1. Was definiert eine Grounded Theory?

"[Grounded theory] means learning about the specific and the general – and seeing what is new in them – then exploring their links to larger issues or creating larger unrecognized issues in entirety. […] Grounded theory methods can provide a route to see beyond the obvious and a path to reach imaginative interpretations" (S.181). [35]

2. Wie kann eine Grounded Theory bewertet werden?

"Criteria for evaluating research depend on who forms them and what purposes he or she invokes" (p.182). CHARMAZ hebt vier Kriterien zur Bewertung einer empirischen Studie bzw. von Theorieentwicklung hervor: Glaubwürdigkeit, Originalität, Resonanz (resonance) und Nutzen, wobei "[a] strong combination of originality and credibility increases resonance, usefulness, and the subsequent value of the contribution" (S.183). Diese Kriterien sind jedoch nicht die einzig möglichen. Und so weist auch CHARMAZ darauf hin, dass die Erwartungen an eine Grounded Theory (z.B. je nach Disziplin) verschieden sein können. STRAUSS und CORBIN (1990) z.B. unterscheiden zwischen Kriterien, die 1. die Validität, Reliabilität und Glaubwürdigkeit der Daten beurteilen sollen; 2. solchen, die den Forschungsprozess beurteilen sollen; und solchen, die 3. die empirische Verankerung der Forschungsergebnisse bewerten. In Bezug auf die letzten beiden Punkte formulieren sie jeweils sieben Kriterien. So sollen nach STRAUSS und CORBIN (1996, S.217) die folgenden Kriterien Lesenden helfen, die Schritte des Forschungsprozesses zu beurteilen und die Angemessenheit der Ergebnisse nachzuvollziehen:

Vergleicht man die von CHARMAZ hervorgehobenen Kriterien mit dem Kriterienkatalog, den STRAUSS und CORBIN (1996, 1998) aufführen, zeigt sich, dass CHARMAZ sich vor allem auf die Bewertung der empirischen Verankerung der Forschungsergebnisse konzentriert, wobei sich die meisten der von ihr aufgeführten Aspekte mit den entsprechenden Kriterien von STRAUSS und CORBIN (1998, S.254-257) überschneiden. Und auch wenn sie darauf hinweist, dass ihre Kriterien nicht die einzig richtigen sind, so lässt sich an dieser Stelle doch kritisieren, dass sie den wichtigen Aspekt der Bewertung des Forschungsprozesses vernachlässigt bzw. ausspart. [37]

3. Welchem Zweck dient die entwickelte Grounded Theory?

Im letzten Paragraphen des Buches plädiert CHARMAZ dafür, dass Grounded Theories nicht als Karrierehilfe missbraucht werden sollten: "We can use grounded theory methods to do more than score career points. Through using grounded theory, you can realize impassioned goals" (S.185). Grounded Theory Methodologie sollte demnach vielmehr helfen, neues Wissen in den unterschiedlichsten Bereichen zu gewinnen; Grounded Theories sollten der Veränderung sozialer Prozesse und Strukturen dienen, sie sollten einen Einfluss darauf haben, was und wie wir forschen (S.185). Zusammenfassend hält sie fest: "Make it matter!" (S.151). [38]

4. CHARMAZ' konstruktivistischer Ansatz – eine Grounded Theory Methodologie?

Neben den genannten offiziellen Zielen des Buches dient "Constructing Grounded Theory" klar der Verbreitung ihres konstruktivistischen Ansatzes. Doch repräsentiert dieser Ansatz überhaupt eine Grounded Theory Methodologie? Dem Ansatz von STRAUSS und CORBIN (1990) kommt ihr Ansatz sicherlich sehr nahe. So meinen STRAUSS und CORBIN (1994) in Bezug auf das Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit: "A theory is not the formulation of some discovered aspect of a preexisting reality 'out there' " (zit. n. STRÜBING 2002, S.321). [39]

GLASER (2002) hingegen weist CHARMAZ' Ansatz (2000) klar zurück. Seiner Meinung nach ist ihre "konstruktivistische Vision" keine Grounded Theory Methodologie, sondern nur eine weitere Methode zur Analyse qualitativer Daten, die das Ziel der Exaktheit verfolgt. Nur wenn

"the data is garnered through an interview guide that forces and feeds interviewee responses then it is constructed to a degree by interviewer imposed interactive bias. But […] with the passive, non structured interviewing or listening of the GT [grounded theory, P.K. & I.K.M.] interview-observation method, constructivism is held to a minimum" (GLASER 2002, Abs.10). [40]

Folgt man also GLASER ist CHARMAZ' konstruktivistischer Ansatz keine Grounded Theory Methodologie, da hierbei keine konzeptuelle Theorieentwicklung betrieben, sondern nur eine möglichst genaue Beschreibung gegeben werde. Was er dabei jedoch übersieht, ist, dass ihr konstruktivistischer Ansatz viel weiter geht. Zum einen verharrt CHARMAZ unseres Erachtens nicht auf einer deskriptiven Ebene; zum anderen kann der konstruktive Anteil an der Theoriebildung nicht durch eine Interviewtechnik oder eine genügend große Menge an Daten (oder Befragten) reduziert werden. Von einem konstruktivistischen Standpunkt aus nehmen wir die Welt, die uns umgibt (Realität), nicht (unbedingt) so wahr, wie sie ist, sondern konstruieren unsere individuelle(n) Wirklichkeit(en). Alles, was wir wahrnehmen, ist beeinflusst durch unsere Erfahrungen und unser Wissen. Dabei leugnen Konstruktivisten nicht die Existenz einer Realität. CHARMAZ macht dies deutlich, wenn sie sagt:

"[A] constructivist view assumes an obdurate, yet ever-changing world but recognizes diverse local worlds and multiple realities, and addresses how people's actions affect their local and larger worlds. Thus, those who take a constructivist approach aim to show the complexities of particular worlds, views, and actions" (S.132). [41]

Und dies gilt auch für Methoden. Dementsprechend schreibt CHARMAZ auch niemandem ihren Ansatz vor, sondern betont, dass es sich um ihre Interpretation der Grounded Theory Methodologie handelt und somit ein möglicher Weg ist, Grounded Theory Methodologie zu betreiben. Zudem ließe sich ihr konstruktivistischer Ansatz mit anderen Ansätzen, wie z.B. feministischen Theorien oder Ansätzen der Kulturwissenschaften, vereinbaren. BYRANT (2003) geht sogar davon aus, dass

"the positivist stance of a neutral observer, gathering data about the world, from which theories somehow emerge is now so severely discredited that one of the few places in which one can find such unreconstructed positivism is in the work of some of those claiming adherence to GTM [grounded theory method, P.K. & I.K.M.] – including, but not restricted to, Barney GLASER." [42]

Und diese "Plätze", von denen BYRANT spricht, sind heute wohl auch im deutschsprachigen Raum schwer zu finden, wenn man sich z.B. die Debatten um den Konstruktivismus anschaut, die in und zwischen unterschiedlichen Disziplinen geführt wurden und werden (siehe Abschnitt 1). Und diese Diskussion betrifft nicht nur die von CHARMAZ angesprochenen Disziplinen, sondern auch naturwissenschaftliche Fächer, wie z.B. die Neurobiologie (vgl. u.a. ROTH 2003). Vor diesem Hintergrund ist ihr Vorschlag einer konstruktivistischen Grounded Theory Methodologie höchst aktuell und viel versprechend. Was beim Lesen des Buches jedoch nicht genügend deutlich wird ist, was ihren Ansatz von dem pragmatistischen Ansatz von STRAUSS und CORBIN abgrenzt und zu einem konstruktivistischen macht. [43]

5. Zusammenfassung: Stärken und Schwächen

Kathy CHARMAZ' Buch ist im wahrsten Sinne des Wortes ein practical guide. Es ist praktisch aufgrund der vielen Beispiele aus ihrer Forschung zum Umgang mit chronischen Krankheiten, und es ist ein Führer aufgrund der klaren Gliederung und der vielen Fragen, die den Lesenden eindeutige und dennoch flexible Richtlinien an die Hand geben. Die abgesetzten Kästchen mit Definitionen und die Boxen, die Teile ihrer eigenen Forschungen zeigen, betonen wichtige Inhalte ihrer Ausführungen. Und auch das Glossar hilft noch einmal beim Verständnis zentraler Konzepte. Trotz der von ihr angebotenen Richtlinien führt CHARMAZ die Lesenden an einer langen Leine, indem sie betont, dass dies nur eine Möglichkeit ist, Grounded Theory Methodologie zu betreiben. All dies macht das Buch nicht nur für Anfänger(innen) interessant, sondern auch für Forschende, die bereits mit dieser Methode arbeiten, oder für Doktorand(inn)en in fortgeschritteneren Stadien der Arbeit. Während Erstere das Buch von vorne nach hinten durcharbeiten sollten, können Letztere Kapitel überspringen und selektiv vorgehen. [44]

Eine weitere Stärke des Buches ist, dass CHARMAZ explizit unterschiedliche Ansätze und Forschungen vorstellt. Wenn sie auch deutlich einen konstruktivistischen Ansatz verfolgt, wertet sie eher objektivistisch orientierte Arbeiten nicht ab und lässt den Lesenden so die Freiheit, sich selber zu positionieren. [45]

Unterstützt wird der Lesefluss durch das Layout des Buches. Sowohl Schriftgröße als auch Rand sind angenehm groß und lassen Platz für Notizen. Die fehlende Nummerierung der einzelnen Kapitel und Unterkapitel könnte jedoch bei einigen Lesenden beim Durcharbeiten des Buches zu einem kurzfristigen Orientierungsverlust führen, gerade wenn nur Ausschnitte des Buches vertieft werden sollen. [46]

Einige dieser Stärken können für manche Leser(innen) jedoch auch zu Schwächen werden. So sind häufige Wiederholungen zwar ein beliebtes didaktisches Mittel, sie können jedoch auch langweilen. Zudem ziehen die Beispiele aus ihrer Forschung die Kapitel zum Teil unnötig in die Länge. [47]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Stärken des Buches klar überwiegen. Ausdrücke, wie "exciting" (S.72) oder "discovery" (S.82) spiegeln die Freude wider, mit der CHARMAZ die Methode präsentiert; eine Begeisterung, die sich beim Lesen auch auf uns (als Lesende) übertragen hat. CHARMAZ hat alle ihre genannten fünf Ziele erreicht; "Constructing Grounded Theory" ist ein Muss für alle, die mit der (konstruktivistischen) Grounded Theory Methodologie arbeiten oder arbeiten wollen. [48]

Literatur

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Zu den Autorinnen

Paula KRÜGER und Imke K. MEYER promovieren beide im Doktorandenkolleg "Prozessualität in transkulturellen Kontexten: Dynamik und Resistenz" an der Universität Bremen (http://www.wsp-kultur.uni-bremen.de/). Beide arbeiten mit einer Kombination qualitativer und quantitativer Erhebungsinstrumente und haben gemeinsam den Herausgeberband "Transcultural Studies. Interdisziplinarität trifft Transkulturalität" (2005) veröffentlicht.

Paula KRÜGER arbeitet derzeit an einem konstruktivistischen Spracherwerbsmodell in Bezug auf erwachsene Lerner(inne)n. Die zugrunde liegende empirische Studie hat sie an der University of Alberta (Edmonton, AB, Kanada) durchgeführt. Ihre Forschungsinteressen liegen – neben der Fremdsprachenerwerbsforschung – im Bereich der Kanada-Studien, der Neuropsychologie sowie (qualitativer und quantitativer) Methoden der empirischen Sozialforschung.

Kontakt:

Paula Krüger

Universität Bremen
FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften
Postfach 33 04 40
D-28334 Bremen

E-Mail: paula.krueger@gmx.de
URL: http://www.wsp-kultur.uni-bremen.de/

 

Imke K. MEYER arbeitet in der Sportwissenschaft ebenfalls an ihrem Promotionsprojekt und beschäftigt sich darin mit dem kulturellen Einfluss auf Bewegung. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Bewegungswissenschaft, Sportsoziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung und Kulturanthropologie. Ihr Forschungsprojekt umfasst u.a. Untersuchungen an der Nippon Sport Science University (Tokio, Japan).

Kontakt:

Imke K. Meyer

Universität Bremen
FB 9: Kulturwissenschaften
Institut für Sportwissenschaft
Postfach 33 04 40
D-28334 Bremen

E-Mail: ikm@uni-bremen.de
URL: http://www.spowi.uni-bremen.de/

Zitation

Krüger, Paula & Meyer, Imke K. (2007). Eine Reise durch die Grounded Theory. Review Essay: Kathy Charmaz (2006). Constructing Grounded Theory. A Practical Guide Through Qualitative Analysis [48 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(1), Art. 25, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0701256.

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