Volume 26, No. 2, Art. 23 – Mai 2025
Rezension:
Paolo Raile
Kurt Greiner (2024). Lehrbuch Experimentelle Psychotherapiewissenschaft. Innovative Therapieschulenforschung an der SFU Wien seit 2007. Wien: SFU Press; 360 Seiten; ISBN 978-3-902626-88-2; EUR 25,00.
Zusammenfassung: Das Lehrbuch "Experimentelle Psychotherapiewissenschaft" von Kurt GREINER bietet eine umfassende Einführung in eine neuartige Forschungsdisziplin, die sich aus psychotherapiewissenschaftlichen, wissenschaftstheoretischen und künstlerisch-kreativen Überlegungen speist. Basierend auf dem konstruktiven Realismus von Friedrich G. WALLNER (1992) entwickelt GREINER vier Analyseprogramme zur reflexiven Untersuchung psychotherapeutischer Wissenssysteme. Dabei verbindet er experimentelle Trans-Kontextualisation mit imaginativ-hermeneutischen Methoden und plädiert für einen konsequenten Paradigmenpluralismus in der Psychotherapieforschung. In dem Lehrbuch werden nicht nur theoretische Grundlagen und methodische Innovationen vorgestellt, sondern es bietet auch zahlreiche Einblicke in die praktische Anwendung dieser Ansätze. In meiner Rezension werden die zentralen Thesen und Methoden GREINERs analysiert, ihr Beitrag zur akademischen Psychotherapie gewürdigt und die Anschlussfähigkeit seines Ansatzes an die internationale qualitative Forschung kritisch diskutiert.
Keywords: experimentelle Psychotherapiewissenschaft; Paradigmenpluralismus; Hermeneutik; konstruktiver Realismus; Therapieschulenforschung; imaginativ-hermeneutische Methodologie
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Aufbau und Anliegen des Buches
3. Wissenschaftstheoretischer Hintergrund
4. Methodologische Innovationen
4.1 Der standardisierte Therapieschulendialog (TSD/ExTK)
4.2 Die Text-Puzzle-Verfahren (P-T-P, I.PTP, ITTP)
4.3 Psycho-Bild-Methoden (PBP, ITBP, PBS/k+g, TBA)
4.4 Medien-Spiel-Techniken (PMS, ITMS)
4.5 Methodologische Einordnung und Bewertung
5. Rezeption und Anschlussfähigkeit
6. Kritische Würdigung
7. Fazit
Die experimentelle Psychotherapiewissenschaft, wie sie von Kurt GREINER an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien konzipiert wurde, stellt eine bemerkenswerte Innovation innerhalb der psychotherapiewissenschaftlichen Grundlagenforschung dar. In seinem Lehrbuch "Experimentelle Psychotherapiewissenschaft. Innovative Therapieschulenforschung an der SFU Wien seit 2007" legt GREINER nicht nur die philosophischen und wissenschaftstheoretischen Fundamente dieser Disziplin offen, sondern entwickelt zugleich neuartige methodologische Instrumentarien zur Analyse psychotherapeutischer Wissenssysteme. [1]
Dabei positioniert er das Buch dezidiert außerhalb einer naturwissenschaftlich geprägten Experimentaltradition und knüpft stattdessen an den konstruktiven Realismus von Friedrich G. WALLNER (1992) an, um eine eigenständige text- und bedeutungsorientierte Forschungsperspektive zu eröffnen. Das Buch versteht er als programmatischen Beitrag zur Stärkung des Paradigmenpluralismus innerhalb der akademischen Psychotherapie, indem er experimentelle und imaginativ-hermeneutische Verfahren als zentrale methodische Innovationsleistung elaboriert. [2]
In dem Review werde ich zunächst in den Abschnitten 2 und 3 die zentralen Thesen, Strukturen und methodischen Ansätze in GREINERs Lehrbuch und dessen Beitrag zur Weiterentwicklung der Psychotherapiewissenschaft herausarbeiten. In den Abschnitten 5 und 6 diskutiere ich kritisch die Anschlussfähigkeit an den aktuellen internationalen Forschungsdiskurs im Bereich der qualitativen Sozial- und Humanwissenschaften sowie den Innovationsgrad der psychotherapiewissenschaftlichen Ansätze. Besonderes Augenmerk liegt auf der in Abschnitt 4 vorgenommenen Darstellung der vier entwickelten Analyseprogramme sowie auf der philosophischen und methodologischen Positionierung der experimentellen Psychotherapiewissenschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kunst und Reflexion. Den Abschluss bildet das Fazit in Abschnitt 7. [3]
2. Aufbau und Anliegen des Buches
GREINERs Lehrbuch "Experimentelle Psychotherapiewissenschaft" gliedert sich in drei Hauptteile, in denen die jeweils zentrale Aspekte der jungen Disziplin behandelt werden: die philosophische und erkenntnistheoretische Basis (Teil I), die methodologische Ausarbeitung der Analyseprogramme (Teil II) sowie eine umfangreiche Forschungsdokumentation (Teil III). [4]
Im ersten Teil "Psychologische Basislehre" (S.20-86) entwickelt GREINER die wissenschaftstheoretische Verortung der experimentellen Psychotherapiewissenschaft im Rahmen eines konstruktiv-realistischen Ansatzes. Er stellt dar, dass sich die Psychotherapie als akademische Disziplin nicht (allein) auf naturwissenschaftliche Paradigmen stützen könne, sondern sich vielmehr durch kritische Reflexion und bewussten Paradigmenpluralismus legitimieren müsse. Die Psychotherapiewissenschaft wird dabei als eine Form der angewandten Textwissenschaft konzipiert, in der Sinnsysteme, Theorien und Praxismodelle imaginiert, irritiert und analysiert werden. [5]
In dem zweiten Teil "Psychotextologie Methodenlehre" (S.87-280) widmet GREINER sich der systematischen Vorstellung von vier Analyseprogrammen, die er als methodische Kernstücke versteht. Alle Verfahren basieren auf einem Prinzip der Verfremdung und dienen der bewussten Irritation und Reflexion psychotherapeutischer Wissenssysteme.
der "Standardisierte Therapieschulendialog" (TSD/ExTK),
die "Text-Puzzle-Verfahren" (P-T-P, I.PTP, ITTP),
die "Psycho-Bild-Methoden" (PBP, ITBP, PBS/k+g, TBA) sowie
die "Medien-Spiel-Techniken" (PMS, ITMS). [6]
In dem dritten Teil "Psychotextologische Forschungsdokumentation" (S.281-333) wird schließlich eine Vielzahl von Forschungsarbeiten vorgestellt, die auf Grundlage der entwickelten Methoden an der SFU Wien durchgeführt wurden (Brigitte Petra PASCHINGER schrieb beispielsweise 2009 eine Dissertation, Mishal AL-FAIZ 2018 eine Bachelorarbeit und Julia HOCHREITER 2019 eine Magisterarbeit). GREINER gibt nicht nur einen Überblick über die empirische Erprobung der Methoden auf Bakkalaureats-, Magister- und Doktoratsebene, sondern illustriert auch die kreative Vielfalt der Forschungsanwendungen. [7]
Mit dem Buch verbindet GREINER als zentrales Anliegen, eine eigenständige epistemologische Position für die Psychotherapiewissenschaft zu begründen, mit der er sich explizit gegen vereinheitlichende oder normierende Tendenzen stellt. Stattdessen betrachtet er die Vielfalt der psychotherapeutischen Schulen und Paradigmen als produktive Ressource wissenschaftlicher Erkenntnis. Insofern plädiert GREINER für eine offene, kreative und reflexive Forschungspraxis, bei der die Grenzen traditioneller Wissenschaftsverständnisse bewusst überschritten werden. [8]
3. Wissenschaftstheoretischer Hintergrund
Das wissenschaftstheoretische Fundament von GREINERs experimenteller Psychotherapiewissenschaft bildet der konstruktive Realismus, wie er von WALLNER (1992) entwickelt wurde. Hierbei wird davon ausgegangen, dass wissenschaftliche Erkenntnis keine direkte Abbildung einer objektiven Realität darstellt, sondern ein von Beobachter*innen konstruiertes, kontextgebundenes Sinnsystem ist. Wissenschaft wird damit nicht als Entdeckung von Wahrheit im klassischen Sinn verstanden, sondern als reflexive Praxis der Konstruktion und Rechtfertigung von Wirklichkeitsmodellen. [9]
GREINER adaptiert diese erkenntnistheoretische Position, um die Eigenart psychotherapiewissenschaftlicher Erkenntnis zu bestimmen: Psychotherapeutisches Wissen ist demnach nicht "objektiv" im Sinne eines empiristischen Wissenschaftsideals, sondern immer kulturell, historisch und paradigmenabhängig konstruiert. Jede Therapieschule – ob psychoanalytisch, humanistisch oder systemisch – stellt für ihn ein eigenes symbolisches Universum dar, dessen Geltung nicht universell, sondern kontextuell begründet ist. [10]
Vor diesem Hintergrund plädiert GREINER für einen konsequenten Paradigmenpluralismus in der Psychotherapieforschung. Statt einen "richtigen" Ansatz zu favorisieren, sollen unterschiedliche Therapieschulen als gleichwertige, alternative Konfigurationen von Wissen verstanden und untersucht werden. Mit diesem Konzept folgt er – z.B. unter Rekurs auf CHARMAZ (2017) – einer post-positivistischen Wissenschaftsauffassung, in der Reflexivität, Kontextsensibilität und multiperspektivisches Denken zentrale Prinzipien darstellen. [11]
Durch die Bezugnahme auf konstruktivistische Wissenschaftstheorie und Paradigmenpluralismus positioniert GREINER seinen Ansatz auch im internationalen wissenschaftlichen Diskurs. Ähnliche Impulse finden sich etwa in der qualitativen Forschungstradition, wo Subjektivität, Kontextabhängigkeit und methodologische Offenheit als Stärken wissenschaftlicher Arbeit gewertet werden (BERGER 2015; MRUCK, ROTH & BREUER 2002; ROTH, BREUER & MRUCK 2003). [12]
Die Konsequenz aus dieser Positionierung ist eine radikale Abkehr von klassischen Vorstellungen experimenteller Forschung, wie sie etwa in der Experimentalpsychologie vertreten werden. Experimentieren bedeutet bei GREINER nicht das Testen von Hypothesen unter kontrollierten Bedingungen, sondern die gezielte Konfrontation bestehender Wissenssysteme mit fremden Kontexten, um neue Deutungsmöglichkeiten und Reflexionsräume zu eröffnen. [13]
4. Methodologische Innovationen
Die methodologische Kernleistung von GREINERs experimenteller Psychotherapiewissenschaft liegt in der Entwicklung und Systematisierung von vier Analyseprogrammen, bei denen er experimentelle und imaginativ-hermeneutische Verfahren miteinander verbindet. Mit diesen Programmen zielt er darauf ab, psychotherapeutische Wissenssysteme nicht durch empirische Überprüfung oder klassische Theoriekritik, sondern durch kontrollierte Kontextverschiebungen und Bedeutungsirrationen reflexiv zu untersuchen. [14]
4.1 Der standardisierte Therapieschulendialog (TSD/ExTK)
Mit dem ersten Analyseprogramm, dem standardisierten Therapieschulendialog (TSD/ExTK), verbindet sich die Idee, unterschiedliche therapeutische Paradigmen in einen simulierten Dialog zu bringen. Dabei werden zentrale Annahmen und Praktiken der jeweiligen Schule in standardisierter Form miteinander konfrontiert. Ziel ist es, die impliziten Selbstverständlichkeiten und Grenzziehungen der Paradigmen offenzulegen und einen transkontextuellen Reflexionsraum zu eröffnen. Dieses Verfahren operiert nach festen Regeln, unter anderem durch die Begrenzung von Argumentationslängen, die Festlegung auf bestimmte Rollenmuster und die iterative Durchführung von Konfrontationen. [15]
4.2 Die Text-Puzzle-Verfahren (P-T-P, I.PTP, ITTP)
Die Text-Puzzle-Verfahren basieren auf der fragmentarischen Rekombination von Textmaterialien unterschiedlicher Therapierichtungen. Forscher*innen wählen Auszüge aus verschiedenen theoretischen Texten und sind aufgefordert, daraus neue, kohärente Argumentationsstrukturen zu entwickeln. Durch diese kreative Rekombination werden die Grenzlinien zwischen Paradigmen bewusst verwischt, um die oft unterschätzte Kompatibilität oder Hybridität psychotherapeutischer Ansätze sichtbar zu machen. Durch Varianten wie das interdisziplinäre Psycho-Text-Puzzle (I.PTP) oder das intertherapeutische Text-Puzzle (ITTP) wird die Grundidee des Verfremdens um kreative, interpretative Spielräume erweitert. [16]
4.3 Psycho-Bild-Methoden (PBP, ITBP, PBS/k+g, TBA)
Mittels der Psycho-Bild-Methoden wird mit der Visualisierung und Transformation psychotherapeutischer Theorien und Konzepte in bildhafte Darstellungen gearbeitet. Forscher*innen gestalten beispielsweise Skizzen oder Collagen zu zentralen Konzepten einer Therapierichtung. Im intertherapeutischen Bild-Prozess (ITBP) werden Textbausteine und Bilder kombiniert, um neue Sinnzusammenhänge herzustellen. Ziel ist es, die symbolische Dichte psychotherapeutischer Theorien erfahrbar zu machen und neue Interpretationsansätze zu ermöglichen. [17]
4.4 Medien-Spiel-Techniken (PMS, ITMS)
Schließlich werden über die Medien-Spiel-Techniken komplexe szenische oder multimediale Simulationen therapeutischer Paradigmen entwickelt. In improvisierten Rollenspielen, kurzen Musikstücken oder medial inszenierten Tanz-Performances werden paradigmatische Kernaussagen in neue, oft provokante Kontexte gestellt. Die Anwendung dieser Verfahren sollen die imaginative Reflexionskompetenz fördern und eine emotionale wie kognitive Auseinandersetzung mit den epistemologischen Grundlagen therapeutischen Handelns erlauben. [18]
4.5 Methodologische Einordnung und Bewertung
Mit allen vier Analyseprogramme folgt GREINER einem gemeinsamen methodologischen Prinzip: der gezielten Irritation bestehender Wissenssysteme durch experimentelle Kontextverschiebungen. Diese Irritation soll die Reflexionsfähigkeit fördern, blinde Flecken aufdecken und kreative Reinterpretationen ermöglichen. Die Verfahren lassen sich damit in einer Tradition verstehen, die in der qualitativen Forschung unter Begriffen wie kreative Methodologie (TIAN 2023) oder experimentelle Hermeneutik (SOENTGEN 1994) diskutiert werden. Gleichzeitig markieren sie eine eigenständige Position, da künstlerische Ausdrucksformen systematisch in den wissenschaftlichen Reflexionsprozess integriert werden. [19]
Aus methodologischer Sicht sind diese Innovationen interessant, weil regelbasierte Strenge (z.B. im standardisierten Therapieschulendialog) und die bewusste Offenheit für Imagination und Kreativität (z.B. in den Bild- und Medientechniken) miteinander verbunden werden. Diese Doppelstruktur stellt hohe Anforderungen an die Forscher*innen, eröffnet jedoch zugleich wichtige Reflexionspotenziale für die Psychotherapiewissenschaft. [20]
5. Rezeption und Anschlussfähigkeit
GREINERs experimentelle Psychotherapiewissenschaft ist ein genuin innovatives Projekt innerhalb der psychotherapiewissenschaftlichen Methodologie. Ihre Anschlussfähigkeit an den internationalen Forschungsdiskurs, insbesondere im Bereich qualitativer und interpretativer Wissenschaftsansätze, zeigt sich jedoch ambivalent: Auf der einen Seite ist die Orientierung an konstruktivistischen und interpretativen Paradigmen klar anschlussfähig an zentrale Strömungen der qualitativen Sozialforschung. Insbesondere die Betonung von Kontextgebundenheit, Multiperspektivität und Reflexivität entspricht den Prinzipien, die etwa von CHARMAZ (2017) und OLMOS-VEGA, STALMEIJER, VARPIO & KAHLKE (2022) als Markenzeichen qualitativer Forschung hervorgehoben werden (vgl. auch MRUCK et al. 2002; ROTH et al. 2003). Auch die explizite Integration kreativer Verfahren erinnert an neuere Entwicklungen, die unter Begriffen wie Arts-Based Research (LEAVY 2024; SCHREIER 2017; WARD & SHORTT 2020) oder performativer Sozialwissenschaft (JONES et al. 2008; MEY 2020) firmieren. [21]
GREINER erweitert mit seinem Ansatz diese Tradition jedoch um eine systematische Verfahrensstruktur, in der die künstlerischen und wissenschaftlichen Reflexionsmodi nicht nur kombiniert, sondern methodologisch operationalisiert werden. Damit geht er über traditionell-qualitativen Methoden (z.B. Grounded-Theory-Methodologie, Narrationsanalyse) oder sich rein künstlerisch verstehende Ansätze hinaus, da es ihm um eine kontrollierte, regelgeleitete Experimentation mit Paradigmen geht und er so einen sehr spezifischen Fokus auf die explizite Formalisierung und Regelbindung experimenteller Irritationsprozesse legt. [22]
Auf der anderen Seite stellen sich hinsichtlich der internationalen Anschlussfähigkeit auch Herausforderungen:
Begriffliche Spezifik: Viele der von GREINER eingeführten Begriffe (z.B. Psychotextologie, Trans-Kontextualisierung) sind hochspezifisch und im internationalen Diskurs wenig etabliert. Dies könnte eine Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raums erschweren.
Komplexität und Zugang: Die elaborierte wissenschaftstheoretische Rahmung und die hohe methodologische Komplexität der Analyseprogramme setzen eine erhebliche theoretische Vorbildung voraus. Dies könnte insbesondere die Anwendung außerhalb akademischer Eliten oder im breiten psychotherapeutischen Feld begrenzen.
Feldspezifische Eingrenzung: Die Methoden sind dezidiert auf die Untersuchung von Therapieschulen und psychotherapeutischen Wissenssystemen zugeschnitten. Ihre Übertragbarkeit auf andere Felder (z.B. Bildungs- oder Organisationsforschung) wäre prinzipiell möglich, wird jedoch im Buch selbst nicht systematisch diskutiert. [23]
Trotz dieser Einschränkungen bietet GREINERs Ansatz wertvolle Impulse für aktuelle Diskussionen um die Erweiterung qualitativer Methodologien, insbesondere im Hinblick auf kreative und reflexive Verfahren. Seine Arbeit kann als Plädoyer dafür gelesen werden, wissenschaftliche Erkenntnis nicht als bloße Repräsentation, sondern als kreative und produktive Konstruktion von Wirklichkeit zu begreifen. [24]
GREINERs Lehrbuch "Experimentelle Psychotherapiewissenschaft" stellt einen bedeutenden Innovationsversuch innerhalb der akademischen Psychotherapieforschung dar. Besonders hervorzuheben ist der Mut, etablierte wissenschaftliche Paradigmen infrage zu stellen und neue methodologische Wege zu beschreiten, bei denen künstlerische, philosophische und wissenschaftliche Elemente miteinander verknüpft werden. [25]
Die Stärke des Ansatzes liegt in der konsequenten Reflexion der Bedingungen psychotherapiewissenschaftlicher Erkenntnis. GREINER gelingt es, die Problematik einer vereinheitlichenden Wissenschaftsauffassung im Bereich der Psychotherapie präzise zu analysieren und methodologisch produktive Alternativen aufzuzeigen. Mit seinen Analyseprogramme eröffnet er innovative Wege zur Untersuchung von Therapieschulen, mit denen sowohl reflexive als auch kreative Kompetenzen der Forschenden gefördert werden. [26]
Zudem zeigt das Buch eine bemerkenswerte methodologische Strenge: Trotz der Betonung von Kreativität und Imagination sind die Verfahren klar strukturiert und durch explizite Regelsysteme operationalisiert. Diese Balance zwischen Offenheit und Regelhaftigkeit ist selten und zeugt von einer hohen wissenschaftlichen Durchdringung des Gegenstandes. [27]
Kritisch ist festzuhalten, dass die Komplexität der theoretischen Fundierung und der methodologischen Verfahren eine breite Rezeption erschweren könnte. Die Konzepte und Begriffe setzen ein erhebliches Maß an Vorwissen in Wissenschaftstheorie und Hermeneutik voraus. Damit könnte die Anschlussfähigkeit an breitere psychotherapeutische Communities, in denen stärker praxisorientiert gearbeitet wird, begrenzt sein. Auch könnte der hohe Grad an Reflexivität und Experimentation in der praktischen Forschungspraxis Herausforderungen mit sich bringen: Die Anwendung der Verfahren erfordert erhebliche methodische und hermeneutische Kompetenz, die nicht in allen Ausbildungszusammenhängen vorausgesetzt werden kann. Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die erwähnte begrenzte Internationalisierung des Ansatzes. Obwohl GREINERs Methoden prinzipiell mit internationalen qualitativen Forschungsströmungen kompatibel sind, wird diese Anschlussfähigkeit im Lehrbuch selbst nicht systematisch herausgearbeitet. Begriffe und Konzepte bleiben weitgehend im deutschsprachigen Diskursrahmen verhaftet. [28]
Trotz dieser Einschränkungen stellt GREINERs Lehrbuch einen äußerst wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung der Psychotherapiewissenschaft dar. Es werden neue Horizonte für die qualitative Erforschung therapeutischer Wissenssysteme eröffnet und es wird eine inspirierende Grundlage für Forscher*innen geboten, die bereit sind, sich auf kreative und reflexive Wege der Erkenntnisgewinnung einzulassen. [29]
GREINERs "Experimentelle Psychotherapiewissenschaft" ist ein beeindruckender Versuch, die akademische Psychotherapieforschung um eine eigenständige, kreative und reflexive Methodologie zu erweitern. Durch die Verbindung von konstruktivistischem Wissenschaftsverständnis, paradigmatischer Vielfalt und imaginativ-experimentellen Analyseverfahren wird ein neuer Zugang zum Verständnis therapeutischer Wissenssysteme eröffnet, mit dem GREINER sich bewusst gegen standardisierte Forschungsparadigmen stellt: Er demonstriert eindrucksvoll, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht nur eine Angelegenheit kontrollierter Beobachtung und empirischer Überprüfung sein muss, sondern auch kreativer Irritation, imaginativer Re-Konstruktion und reflexiver Selbstbefragung bedarf. Seine vier Analyseprogramme bieten hierfür gut strukturierte Werkzeuge, bei denen er methodische Strenge und kreative Offenheit miteinander verbindet. [30]
Das Buch ist in erster Linie an Forschende, Lehrende und Studierende der Psychotherapiewissenschaft adressiert, die bereit sind, traditionelle methodologische Wege zu hinterfragen und neue Formen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung zu erkunden. Besonders geeignet ist es für diejenigen, die in der Therapieschulenforschung, in der Wissenschaftstheorie oder in der qualitativen Psychotherapieforschung tätig sind. [31]
Gleichzeitig bleibt zu berücksichtigen, dass die theoretische und methodologische Komplexität des Ansatzes hohe Anforderungen an die Leser*innen stellt und seine internationale Anschlussfähigkeit bislang begrenzt ist. Eine weitere systematische Erschließung des Ansatzes für den internationalen Forschungsdiskurs wäre ein lohnendes Desiderat. [32]
Insgesamt stellt GREINERs "Experimentelle Psychotherapiewissenschaft" einen wichtigen und inspirierenden Beitrag zur Weiterentwicklung der Psychotherapiewissenschaft dar, der sowohl theoretisch fundiert als auch methodologisch innovativ ist – und der Mut macht, Wissenschaft als kreatives, reflexives und offenes Unternehmen zu denken. [33]
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Priv.-Doz. Dr. Dr. Paolo RAILE, MSc., studierte Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien (SFU), Soziale Arbeit an der Donau Universität Krems und Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Er forscht an der SFU, ist Autor wissenschaftlicher Texte, Psychotherapeut, Sozialarbeiter, Lebens- und Sozialberater sowie Gründer und Leiter zweier psychosozialer Organisationen in Wien. |
Kontakt: Paolo Raile Sigmund Freud PrivatUniversität Wien Tel.: 004369917216186 E-Mail: paolo.raile@sfu.ac.at |
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